Paolo Bacigalupi – Versunkene Städte (Schiffsdiebe 2)

Zwei junge Helden vor dem Weltuntergang

Unsere Welt ist in 50 Jahren nicht mehr dieselbe. Nach der Klimakatastrophe und dem Anstieg des Meeresspiegels sind zahlreiche Küstenregionen überflutet. Rohstoffmangel, genetische Manipulationen und politische Wirren haben ihr Übriges getan, um die Welt ins Chaos zu stürzen.

Die beiden Kinder Mahlia und Mouse sind Flüchtlinge, die das Gebiet der Versunkenen Städte verlassen wollen – die Gegend, die früher einmal Washington DC genannt wurde. Im angrenzenden Dschungel treffen sie auf einen schwer verletzten Halbmenschen namens Tool und wollen ihm helfen, als sie von einem Trupp Kindersoldaten entdeckt und voneinander getrennt werden.

Auf einmal steht Mahlia vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens: Soll sie alles für ihren Freund riskieren? Oder soll sie nach dem einen Ort suchen, an dem Frieden und Freiheit noch möglich zu sein scheinen … (Verlagsinfo)

Der Autor

Paolo Bacigalupi wurde in Paonia, Colorado geboren. Er ist bereits als Kurzgeschichtenautor in Erscheinung getreten, bevor er mit „Biokrieg“ (The Windup Girl) seinen ersten Roman veröffentlichte, der vom „Time Magazine“ in die Top Ten der besten Romane des Jahres aufgenommen wurde. Auch für seine Kurzgeschichten erhielt Paolo Bacigalupi schon mehrere Auszeichnungen.

„Schiffsdiebe“ (Ship Breakers) ist sein erster Jugendroman (siehe meinen Bericht). Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in West Colorado. (erweiterte Verlagsinfo) Inzwischen sind auch die Fortsetzungen „Versunkene Städte“ und „Tool“ bei Heyne erschienen. Zusammen lassen sich die drei Jugendromane als kontinuierliche Trilogie lesen.

Handlung

Mahlia und Mouse versuchen, im Dorf, wo Dr. Mahfouz als Mediziner arbeitet, zu überleben. Die Zivilisation ist in den versunkenen Städten, zu denen auch Washington, D.C., zählt, in die Binsen gegangen, seit das Meer über seine gewohnten Ufer trat und Quadratkilometer um Quadratkilometer verschlungen hat. Aus Jersey und Manhattan ist ein neues New Orleans geworden, aus Boston eine Seenlandschaft.

Aber Washington, D.C., schon bei seiner Gründung ein Sumpfgebiet, war nicht zu retten. Mit dem Zusammenbruch der Infrastruktur und der Polizeigewalt rotteten sich die Überlebenden der Plünderungen und Vergewaltigungen zu Milizen und Räuberbanden zusammen, die sich gegenseitig massakrierten. Als die chinesische Friedenstruppe eintraf, um Frieden zu stiften und Wiederaufbau voranzutreiben, konnte sie zwar zunächst Erfolge erzielen, etwa mit erneuerbaren Energiequellen. Doch irgendwann wurde China die Mission zu teuer und gab den Abzugsbefehl. Im Rückzug wurden die Chinesen sofort angegriffen. Mahlias Vater überließ und ihre Mutter ihrem Schicksal.

Chinesen

Der General der Friedenstruppe war Mahlias Vater, ihre Mutter war eine schwarzhäutige Einheimische aus den Versunkenen Städten – eine „Unzivilisierte“, wie Dad sagte. Mahlia wird weiterhin als Chinesin beschimpft, und dass ihr die Milizen der Gottearmee eine Hand abgehackt haben, hilft nicht gerade, sie in dem Dorf Banyan Town beliebt zu machen, wo Dr. Mahfouz, der einst für die Friedenswächter arbeitete, seine kleine ambulante Arztpraxis betreibt.

Sie ist als seine medizinische Assistentin tätig, um sich das Obdach, ihr der Arzt gewährt, zu verdienen. Genau wie Mouse, einem Waisenjungen aus der Vorstadt, der seine Eltern durch eine marodierende Patrouille verloren hat. Wenigstens hat Mouse noch beide Hände und seinen Verstand beisammen. Zusammen nehmen sie sich vor den genmanipulierten Kojwölfen, Alligatoren und Sumpfpanthern in Acht, die die überlebende Zivilbevölkerung dezimieren. Doch eines Tages stoßen sie auf Schlimmeres als diese Monster und die Minenfelder.

Zwei Monster

Auf ihrer Suche nach Essbarem stoßen Mahlia und Mouse im Sumpf auf Spuren eines furchtbaren Kampfes. Ein Alligator hat sich in einen genmanipulierten Tigermenschen verbissen, der sich jedoch als ebenbürtig erwies, denn beide scheinen tot zu sein. Als sich Mouse die Zähne des Tigermenschen sichern will, um sie an die Milizionäre zu verkaufen, macht der vermeintlich tote Tigermensch die Augen auf und öffnet sein zähnestarrendes Maul.

Tool ist ein genmanipulierter Mensch, der die nützlichsten Eigenschaften von Raubtieren wie Tigern, Hyänen und Wölfen in sich vereint. Früher hat er seinen Herren wie ein braver „Hund“ gedient, um Flüchtlinge und Abtrünnige an der Ostküste der USA zu jagen und zur Strecke zu bringen. Doch die Zeiten haben sich geändert: Jetzt ist Tool ein „böser Hund“, hat für die falsche Seite gekämpft und ist von den verfeindeten Kriegsherren, die sich um die Oberherrschaft über die Ostküste streiten, um ein Haar gefangengenommen worden. Verfolgt von den Spürhunden hat er sich in den Sumpf geflüchtet, wo ihn prompt ein Alligator anfiel. Offenbar hat er gesiegt, gerade noch.

Kojwölfe

Tool schnappt sich Mouse als Geisel. Mahlia entscheidet, dass Tool Besseres verdient hat als den Tod. Also muss sie Dr. Mahfouz‘ Medikamente holen. Tool gibt ihr nur wenige Stunden Zeit, bis Mouse sterben muss. Mahlia beeilt sich, doch inzwischen haben die Kindersoldaten der Vereinigten Patrioten-Front (VPF) das Dorf besetzt: Sie suchen nach dem Tigermenschen, den sie gejagt haben. Angeführt werden sie von dem etwas älteren Leutnant Sayle. Der lässt Mahlia sofort gefangennehmen: Sie ist eine aus den Versunkenen Städten Verstoßene, ein Chinesenbastard und obendrein auch noch verstümmelt. Wozu soll sie also taugen?

Doch einige der Kindersoldaten sind von Tool verletzt worden, und gegen den Willen von Dr. Mahfouz bietet Mahlia an, sie zu versorgen. Als aber die Feindseligkeit in Lt. Sayles Augen nicht nachlässt, greift Mahlia zum letzten Mittel: Unauffällig beträufelt sie die Verletzten mit dem Duft von Kojwölfen, also Hybriden aus Kojoten und Wölfen. Obwohl der Duft auffällt, kann ihn keiner zuordnen – bis es zu spät ist. Im Durcheinander wütenden Attacken der Raubtiere gelingt Mahlia und Dr. Mahfouz die Flucht in den Sumpf.

Überläufer

Sie erreichen Tool gerade noch rechtzeitig, bevor er Mouse umbringt, und verabreichen ihm die Medikamente. Binnen weniger Stunden verfolgen sie das erstaunliche rasche Verschwinden der Wunden und das Wiederherstellen der Widerstandskräfte des Tigermenschen. Während ringsum nach ihnen gesucht wird, müssen sie sich für eine Zukunft entscheiden.

Dr. Mahfouz trifft die falsche Wahl, geht zu den VPF-Soldaten zurück und wird sofort abgeknallt. Mouse geht in den Sumpf, wird aber gefangengenommen und von den VPF-Soldaten rekrutiert. Sie machen ihn zu einem der Ihren und taufen ihn Ghost. Weil er ihnen auch nicht sagen kann, wo Mahlia ist, brechen sie mit ihm und einem Dutzend Gefangenen in die Versunkenen Städte auf, wo ihr Oberbefehlshaber, Oberst Stern, sein Hauptquartier hat…

Mahlia aber bleibt bei Tool, denn der ist wie sie selbst ein Überlebenstyp. Jeden Soldaten, der ihm zu nahekommt, schaltet er mit einem Prankenhieb aus. Er scheint einen sehr feinen Geruchssinn zu haben und führt Mahlia aus der Gefahrenzone. Doch Mahlia plagt das Gewissen: Sie hat Mouse in Gefahr gebracht und an die Soldaten verloren, obwohl er ihr doch mal das Leben gerettet hat. Sie will ihre Schuld begleichen und Mouse ihrerseits befreien.

Wie sich bald herausstellt, bedeutet der Plan, einen der Kindersoldaten mit Tools Hilfe zu befreien, nichts Geringeres als den Untergang der VPF…

Mein Eindruck

Der Roman bietet eine Endzeitvision, die deprimierend wirken könnte, wenn es nicht solche aufmüpfigen Menschen wie Mahlia und solche mächtigen Superwesen wie Tool gäbe. Sie können eine andere Zukunft herbeiführen las eine einstige US-Metropole namens Washington, D.C., die nun systematisch in Schutt und Asche gelegt wird. Mahlia und Tool durchschauen als einzige die Lügen von Oberst Stern, der eine friedliche Zukunft verspricht – natürlich unter seinem Kommando.

Mörderische Gegenwart

Doch wie sieht die Gegenwart aus? Aus den Versunkenen Städten – Washington, Alexandria und Baltimore – plündern die drei dominierenden Milizen alle Rohstoffe, die ihre Kindersoldaten finden können. Doch nicht etwa, um sie für irgendeinen nebulösen Wiederaufbauplan zu verwenden, sondern um das Rohmaterial mit Sklaven-gezogenen Kähnen zum Hafen zu schaffen, wo schon Schmuggler warten, um das Zeug zu den großen Häfen zu transportieren. Diese Schmuggler arbeiten für die großen Logistikunternehmen der Welt – im Vorgängerband haben wir Patel kennengelernt. Für den Erlös kaufen die Kriegsherren natürlich wieder bloß Waffen und Munition, um den ewigen Krieg weiterzunähren.

Der Wandel

Der schleichende Prozess, der infolge des Klimawandels zu diesem höllischen Zustand geführt hat, erwähnt der Autor in den Gedanken und Erinnerungen seiner jungen Teenager-Protagonisten nur zusammengerafft. Schließlich hat er bereits in „Schiffsdiebe“ ziemlich deutlich beschrieben, was passiert: Das Wasser steigt, immer stärkere Hurrikane wüten, die Deiche brechen, Salzwasser vernichtet Ernten und Böden, Fluchtbewegungen setzen ein – die staatliche Ordnung bricht zusammen und Milizen übernehmen die Kontrolle.

Gemeinschaften

Jede der Milizen achtet darauf, dass sie nur willige und würdige Mitglieder aufnimmt und ernährt. Das auf die Wangen eingebrannte Abzeichen kennzeichnet Ghost, vormals Mouse, als einen der Ihren. Doch es gibt eine Probephase, in der er sich beweisen muss. Dass er nicht nur vertrauenswürdig, sondern auch ein nützlicher Kämpfer ist. Das gelingt ihm, denn im Gegensatz zu anderen Kämpfern behält er die Nerven und befolgt Mahlias Lehren. Die hat die Maximen ihrerseits von einem uralten Kriegsmeister namens Sun Tzu, den heute kein Schwein mehr kennt, dessen Lehren aber ihr Vater beherzigte. Für den Trick, die christlichen Gotteskrieger sich selbst beschießen zu lassen, bekommt er eine Belobigung. Er ahnt nicht, dass der Verrat durch Oberst Stern bereits um die Ecke lauert…

Das Gegenteil der Soldaten sind die Dörfler von Banyan Town, die Sklaven in den Städten und natürlich die Schmuggler, die mit den Transportunternehmen zusammenarbeiten. Alle träumen davon, diesem ewigen Kriegsalptraum zu entkommen. Ihr Ziel sind Seascape Boston oder Manhattan Metro (ja Manhattan ist noch nicht abgesoffen). Nördlich davon locken lukrative Transportwege wie die längst eisfreie Nordwest-Passage, die nach Alaska führt.

Außenseiter

Und dann gibt es die Außenseiter, die in keinerlei Gemeinschaft passen. Dazu zählen Mahlia und Tool. Dass der Tigermensch stets einen Herrn suche, verweist Tool ins Reich der Legenden. Er hat einen Plan, Oberst Stern, der ihn als „guten Hund“ benutzen will, für frühere Verbrechen zahlen zu lassen. Dass Mahlia als Chinesenmischling in keine Kategorie passt, bedarf wohl keiner gesonderten Erwähnung. Am Schluss hat sie von zehn nur noch vier Finger – genug, um zu überleben, findet sie. Ihr Weg ist einer der Verluste.

Showdown

Ghost, den Mahlia befreien will, ist der geeignete Köder, um Mahlia und Tool in eine Falle zu locken, beschließt Lt. Sayle. Alles klappt wie am Schnürchen. Und so landen die beiden Weltverbesserer zu Füßen von Oberst Stern. Während die Granaten, die die Gottesarmee abfeuert, ins Kapitol einschlagen, versuchen Stern, die beiden für seine Zwecke einzuspannen. Mahlia ist ihm nur insofern wichtig, weil sie das Versteck eines Schatzes kennt, den ihre Mutter, eine Antiquitätenhändlerin, anlegte.

Sein Augenmerk gilt Tool, doch das ist ein Fehler. Als er Ghost verstümmelt, um die Gefangenen zur Kooperation zu bewegen, beginnt einer der Kindersoldaten verrückt zu spielen. Denn der Kommandeur hat soeben eine grundlegendsten Regeln für Kindersoldaten mit Füßen getreten: das Gehorsams- und Fürsorgeprinzip. Das Chaos bricht aus, und Mahlia kann von Glück reden, wenn sie lebend herauskommt…

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist ausgezeichnet gelungen, sehr flüssig lesbar und obendrein frei von Druckfehlern. Es ist hilfreich, aber nicht unerlässlich, den Vorgängerband „Schiffsdiebe“ zu kennen.

Unterm Strich

Wie schon „Schiffsdiebe“ ist „Versunkene Städte“ ein packend erzählter Jugendroman, in denen befreundete Teenager die Handlung vorantreiben. Ihre Welt ist jene, die auf das gegenwärtige Zeitalter der Beschleunigung folgen wird: die titelgebenden Versunkenen Städte klammern sich durch Abschottungsmaßnahmen ans Überleben, während ringsum brutale Verteilungs- und Territorialkriege toben.

Washington, D.C. – das war mal eine stolze, reiche und mächtige Hauptstadt. Nun ist es ein Kriegsgebiet, in dem Kindersoldaten und Sklaven Rohstoffe aus den alten Gebäuden holen, als wären es Steinbrüche. Als Mahlia und Tool eintreffen, steht das Zentrum mit dem einst strahlend weißen Kapitol kurz vorm Zusammenbruch. Mitten in der sich anbahnenden Katastrophe versuchen sich die beiden jungen Helden Mahlia und Mouse zu behaupten, während andere über ihre Zukunft zu bestimmen versuchen. Wie die Sache ausgeht, darf nicht verraten werden.

Wie so häufig schafft es der Autor von „Schiffsdiebe“ auch diesmal den jungen Leser für seine Figuren und ihr unvorhersehbares Schicksal einzunehmen. Es sind seltsame Zeit und was passieren wird, kann keiner voraussehen. Das erzeugt eine gewisse Spannung. Hinzukommt, dass immer wieder Action aufflammt und für ordentliche Dynamik im Geschehen sorgt – aber auch für Gefahr für die Hauptfiguren. Dass die Kapitel mit oft nur drei bis vier Seiten eine leicht verdauliche Kürze aufweisen, macht den Text leicht und flüssig zu lesen. Diesem Text zu vertrauen, ermöglicht die vollständige Abwesenheit von Druck- und Stilfehlern.

Kurz gesagt: Wer als Jugendlicher einen actiongeladenen, aber anrührenden Action-Thriller sucht, wird hier fündig. Wer Romantik sucht, sollte woanders suchen.

Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: The Drowned Cities, 2012;
Aus dem Englischen von Hannes Riffel.
ISBN-13: 9783453534469

www.heyne.de

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