Alle Beiträge von Maren Strauss

Kellerman, Jonathan – Exit

Bei „Exit“ handelt es sich um einen Thriller mit Kellermans Serienhelden Alex Delaware, der selbstständiger Psychologe in New York ist, aber zusammen mit seinem Freund Milos Sturgis, einem Polizisten, der es nicht immer so genau nimmt, schon den einen oder anderen Fall gelöst hat.

Dieses Mal wird Alex von seiner ehemaligen Arbeitskollegin Stephanie Eves, die auf der Kinderstation des Western Pediatric Medical Centers arbeitet, zu Rate gezogen. Die knapp zwei Jahre alte Cassie Jones wird immer wieder ins Krankenhaus eingeliefert, weil sie mysteriöse Anfälle erleidet, ohne dass die Ärzte eine Diagnose stellen können. Die Mutter des Kindes ist verunsichert. Nachdem ihr erster Sohn dem plötzlichen Kindstod erlegen ist, kümmert sie sich beinahe schon übertrieben um ihre Tochter und sehr schnell kommt Alex der Verdacht, dass sie am Münchhausensyndrom leiden könnte. Bei der erweiterten Form dieser Störung täuschen Eltern, zumeist die Mütter, Krankheiten an ihrem Nachwuchs vor, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder eigene Traumata auf das Kind zu projizieren. Die Fakten in Cassies Fall sind erdrückend. Die Mutter hat einen Kindstod durchgemacht, was sehr oft bei Münchhausens vorkommt, und die Vergangenheit der Ehefrau eines angesehenen Uniprofessors, der zudem der Sohn des Krankenhausvorstands ist, ist auch nicht ganz sauber. Dabei macht die Familie Jones eigentlich einen sehr netten Eindruck. Delawares Neugierde ist geweckt; er macht sich auf die Suche nach dem Schuldigen und muss dabei gegen die Zeit kämpfen. Als ein Arzt des Krankenhauses, der Cassie ebenfalls untersucht hatte, im Parkhaus des Krankenhauses getötet wird, eröffnen sich ganz neue Dimensionen …

Zuerst einmal die schlechte Nachricht: Jonathan Kellerman produziert amerikanische Durchschnittsliteratur. Solche, die vielleicht irgendwann mal Oberklasse war, aber aufgrund der inflationären Anzahl von Büchern im ähnlichen Stil zum Durchschnitt wurde. Ein nüchterner Schreibstil, frei von Eigenheiten, und glatt gebürstete Protagonisten, ein solider Spannungsaufbau – das ist es, worüber wir hier reden.

Trotzdem kann Kellerman mit ein paar Überaschungen punkten. Vielleicht nicht gerade mit seinem stilistisch einwandfreien, aber nicht besonders aufregenden Schreibstil, der mit viel Wissen gespickt ist, das in transusige Dialoge gepackt wurde. Und vielleicht auch nicht gerade mit dem Angestelltengeseufze über weggefallene Arbeitsplätze und immer schlechter werdende Arbeitsbedingungen, denn das ist ja beinahe schon obligatorisch in jedem Krimi – sei es jetzt bei der Polizei oder in der Medizin. Blasse Charaktere mit wenig Tiefgang sind ebenso nicht besonders schicklich. Auch Kellermans leichter Hang zu übertriebener Detailbeschreibung (zum Beispiel die ausführliche Darstellung der Ohrringe von Alex‘ Freundin) trägt nicht gerade zum Genuss bei, hält sich aber im Vergleich mit einigen Kollegen noch in einem gewissen Rahmen.

Dagegen nimmt Kellerman in anderen Bereichen eine Vorbildfunktion ein. Er belästigt den Leser nur wenig mit dem Seelenleben seines Protagonisten, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf den Fall, der trotz wenig Action mit der Zeit an Fahrt und Spannung gewinnt. Letztere bezieht er hauptsächlich daraus, dass Delaware mit der Zeit ein Netz von möglichen Tätern präsentiert, ohne sich wirklich festzulegen. Der Leser kann wunderbar mitraten und wird am Schluss doch noch überrascht. Allerdings muss er davor einige Längen hinnehmen und die Tatsache, dass die Handlung von der eigentlichen Geschichte, nämlich Cassies Leiden, etwas zu sehr abrückt und wirr wird.

In der Summe handelt es sich bei „Exit“ trotzdem um einen der besseren Thriller. Kellerman lässt das Privatleben seines Protagonisten zum größten Teil außen vor und konzentriert sich stattdessen darauf, einen auf weiten Strecken überzeugenden Plot zu basteln. Schreibstil und Längen in der Handlung verhindern ein besseres Ergebnis, aber trotzdem kann Kellerman auf einem Teil der Lesestrecke überzeugen.

Tamora Pierce – Lia – Die Prophezeiung der Königin

Tamora Pierce ist zurück! Die Mutter der Romanzyklen um Alanna, die Löwin und erste Ritterin im Reich von Tortall seit sehr langer Zeit, und Dhana, das Mädchen, das mit den Tieren reden kann, hat dieses Jahr einen neuen Roman in der Welt von Alanna und Dhana veröffentlicht: „Lia – Die Prophezeihung der Königin“.

Wir treffen darin auf viele alte Bekannte, denn Lia ist niemand Geringeres als die sechzehnjährige Tochter von Alanna und George Cooper, dem Meisterdieb. Um zu verhindern, dass der Leser nach zwei Romanzyklen den Überblick verliert, sind im Anhang des Buches ein Personenverzeichnis und ein Glossar beigefügt, die Neueinsteigern das Lesen erleichtern.

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Emily Maguire – Zähme mich!

Auf jeder Schule gibt es sie: Die Schülerinnen, die heimlich für diesen einen niedlichen Referendar oder Lehrer schwärmen. Diese Konstellation hat die Australierin Emily Maguire genutzt, um daraus ein ganzes Buch zu entwickeln. Allerdings geht sie in „Zähme mich!“ einen ganzen Schritt weiter …

Sarah Clark ist vierzehn, als ihre erotische Beziehung zu Mr. Carr beginnt. Er ist ihr Englischlehrer und verheirateter Vater, sie ist eine kleines Mädchen, das sich schwer in seinen Lehrer verliebt und von Sex nicht genug kriegen kann. Zwei Jahre lang treffen sie sich jeden Nachmittag und Sarah erlebt die Wonnen der Liebe, während sie gleichzeitig eine Menge über Shakespeare lernt.

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Spencer-Fleming, Julia – rote Spur des Zorns, Die

Julia Spencer-Flemings Krimiprotagonistin Clare Fergusson, ihres Zeichens ehemalige Helikopterpilotin bei der Army und nun Pastorin der Episkopalkirche, ist in den USA derart beliebt, dass dort demnächst das fünfte Buch mit ihr erscheint. In Deutschland hat sie derartigen Ruhm noch nicht erlangt. Der |Knaur|-Verlag veröffentlichte im August erst das zweite Buch mit der jungen Dame, das den bedeutungsschwangeren Titel „Die rote Spur des Zorns“ trägt.

Das kleine Örtchen Miller‘s Kill, nördlich von New York, ist eigentlich ganz beschaulich. Clare Fergusson muss sich auf eine Reihe von Trauungen vorbereiten und hat ansonsten nicht viel zu tun, außer an den Sheriff Russ Van Alstyne zu denken, mit dem sie in ihrem ersten Buch zu tun hatte und zu dem sie sich, obwohl er verheiratet ist, stark hingezogen fühlt.

Der Frieden in Miller‘s Kill wird empfindlich gestört, als bei einem Volkswettlauf, der vom Bauriesen BWI finanziert wird, eine Gruppe radikaler Bürger gegen den Bau eines Erholungszentrums demonstriert. Das Zentrum wird von BWI gebaut, und zwar auf Boden, der früher mit PCB verseucht war. Nun befürchten einige Bürger, dass der Bau die alten Chemikalien wieder aufwühlen und an die Oberfläche bringen wird. Russ Van Alstyne ist gezwungen, bei dieser Demonstration seine eigene Mutter festzunehmen, was ihm sichtlich schwer fällt.

Gleichzeitig geschehen aber noch weit schlimmere Dinge in Miller‘s Kill. Mehrere Homosexuelle werden Opfer von Überfällen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung, bis schließlich Bill Ingraham bei einem solchen Überfall sogar zu Tode kommt. Dass er in der Chefetage bei BWI gesessen hat, bleibt zuerst unbeachtet, aber schließlich häufen sich die Hinweise, dass er vielleicht gar nicht wegen seiner Homosexualität sterben musste …

Das Ermittlerpärchen wider Willen – Clare und Russ – ist natürlich moralischer als moralisch. Sie als Gottesdienerin und er als verheirateter Sheriff. Trotzdem können die beiden es nicht lassen, immer wieder kleine Anspielungen auf ihre gegenseitigen Gefühle zu machen, ohne dass sich daraus aber etwas entwickelt. Dieser Zustand erinnert etwas an die Telenovelas, die nur deswegen existieren, weil sich die Protagonisten lieben, ohne sich dazu zu bekennen.

Für die Handlung eine Kriminalromans bringt diese Konstellation allerdings herzlich wenig. Das kann natürlich auch daran liegen, weil insgesamt nur wenig Spannung in „Die rote Spur des Zorns“ aufkommt. Zu oft schweift die Autorin vom eigentlichen Kriminalstrang ab und widmet sich dem Alltag der Protagonisten. Ein ordentlicher Spannungsaufbau fehlt beinahe gänzlich. Die Überfälle und Morde passieren derart nebenbei, dass man sich gar nicht so wirklich dafür interessiert, wer jetzt eigentlich schuld ist. Dafür fehlt es an geschickt ausgelegten Ködern, die Skepsis und Neugierde beim Leser wecken.

Der Schreibstil ist eigentlich keiner Erwähnung wert. Ohne großen Wiedererkennungswert reiht Spencer-Fleming Wort an Wort. Handlung und Gedanken halten sich die Waage und sind von wenig Tiefgang geprägt, rhetorische Mittel wie Metaphern sind sehr reduziert und fallen nicht auf. Das Buch lässt sich glatt herunterlesen, ohne dass man die Stirn runzeln, den Mund verziehen oder die Augenbrauen bewegen muss.

Insgesamt erinnert „Die rote Spur des Zorns“ eher an einen amerikanischen Kriminalroman von der Stange. Nette Charaktere, die zwar den einen oder anderen Dreck am Stecken, ansonsten aber wenig Tiefgang haben, eine schöne Landschaft, ein seichter Kriminalfall und ein beliebiger Schreibstil ohne Ecken und Kanten. Wem‘s gefällt, dem wird’s gefallen, aber gepflegte Spannungsliteratur darf man von Ms Spencer-Fleming nicht erwarten.

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Cleave, Chris – Lieber Osama

„Lieber Osama“ – ein Titel, der provoziert und der nicht nur „nach den jüngsten Anschlägen auf die Londoner U-Bahn, von Furcht erregender Aktualität“ ist, wie es auf dem Klappentext heißt. Schließlich liegen die Beinaheanschläge auf britische Flugzeuge und die beiden Kofferbomben in Deutschland noch nicht besonders weit zurück, wodurch Chris Cleaves Roman noch mehr an Brisanz gewonnen hat.

In seinem Debütroman inszeniert Cleave einen islamistischen Anschlag während eines Fußballspiels zwischen Arsenal und Chelsea. Während die charmant-naive Ich-Erzählerin ein kleines Techtel-Mechtel mit ihrem Nachbarn, dem reichen und egoistischen Journalisten Japser Black, hat, kann sie im Fernsehen beobachten, wie ihr Mann und ihr vier Jahre und drei Monate alter Sohn in die Luft fliegen. Schockiert von den Bildern, zwingt sie Jasper, sie zum Tatort zu fahren, wo sie sich im zerstörten Arsenalfanblock auf die Suche nach ihren Liebsten macht. Doch alles, was sie findet, ist Mr. Rabbit, das Kuscheltier ihres Sohns.

Daraufhin fällt sie für drei Tage ins Koma und verbringt geraume Zeit in der Psychatrie, wo sie im Radio vernimmt, wie die Opferzahlen des 1. Mai täglich nach oben korrigiert werden. Sie erhält Besuch von Prinz William und kotzt ihm auf die Schuhe. Schließlich kommt auch Jasper Black zu Besuch, und nachdem sie ihn zuerst abweist, entwickelt sich so etwas wie eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn da nicht Petra wäre, Jaspers gefühlslose, karrieregeile Freundin, die nicht davor zurückschreckt, ihre Freunde auszuspielen, als sie erfährt, dass die Ich-Erzählerin, die im Übrigen in dem ganzen Buch nicht einmal beim Namen genannt wird, an sensible Informationen über den ersten Mai kommen kann

Chris Cleave‘s Roman ist ein wirklich erfrischendes Debüt. Woher kommt überhaupt dieser Titel?, fragt man sich mit berechtiger Gespanntheit, wenn man das erste Mal von diesem Buch hört. Die Antwort ist simpel. Die namenlose Ich-Erzählerin, die dem Leser durch ihre charmant-naive Schreibweise sehr sympathisch ist, addressiert die Geschichte direkt an Osama, dem sie die Schuld am Tod ihres Mannes und Sohns gibt. Immer wieder spricht sie unseren Lieblingsterroristen im Buch direkt an, fragt ihn, wie er gehandelt hätte oder ob er sich das vorstellen kann. Anders als erwartet, ermüdet sich dieser Witz nicht im Laufe des Buchs, weil Cleave ihn sparsam und an den richtigen Stellen einsetzt.
Überhaupt ist die ganze Geschichte von einem zynischen, aber unaufdringlichen Humor durchzogen, der oft sehr lakonisch daherkommt, was perfekt in die Geschichte und zur Hauptperson passt.

|“Dann zündeten deine Männer die Bomben. 6 von ihnen trugen Splitterbomben am Leib, die restlichen 5 Brandbomben. Nach Meinung der Experten war so was noch nie zuvor gemacht worden, es seien überhaupt die schrecklichsten Selbstmordbomben in der Geschichte der Menschheit gewesen. Zwar müssen die Bombenpakete unter den Arsenal-Trikots riesig gewesen sein, aber offenbar hat niemand was gesagt, außer vielleicht: Boah, guck dir mal den Fettsack an. Bierbäuche gibt‘s nämlich bei den Arsenal-Fans die Menge. Jetzt vielleicht nicht mehr ganz so viele.“| (Seite 72/73)

Cleave benutzt diesen feinen Humor auch, um Kritik am eigenen Land zu üben. Nach dem Attentat verwandelt sich England mehr und mehr in eine Hochsicherheitsfestung mit Ausgangssperre am Abend und Hubschrauberpatrouillen. Gleichzeitig geraten alle Moslems ins Visier der Ermittler, darunter auch der Hauptperson Lieblingskrankenschwester Mena.

|“Am nächsten Morgen tauchte zwar wie immer die Sonne auf, aber keine Mena. Stattdessen kam eine neue Schwester, eine Australierin. Blond und betont gut drauf. Wenn man sie sah, dachte man unweigerlich: 19-JÄHRIGES PARTY-GIRL SHARLENE BEI KLINIK-BUMS ERWISCHT.
– Hallo. Was ist denn mit Mena?
– Sie darf hier nicht mehr arbeiten, sagte die neue Krankenschwester.
– Wie bitte?
– Sie war doch Moslem, oder?, sagte die Neue. Sicherheitsrisiko. Seit Mitternacht sind alle Moslems beurlaubt. Endlich schnallen sie es in diesem Land. Also, ich will ja nichts sagen, meiner Meinung nach sind 99 % aller Moslems ganz okay, aber wenn du ein paar von ihnen nicht trauen kannst, kannst du keinem trauen, ist doch so, oder?“| (Seite 85/86)

Im Verlauf des Buchs entwickelt sich daraus ein beinahe utopisches Szenario, das zwar dank Überspitzung für Erheiterung sorgt, gleichzeitig aber zum Nachdenken anregt. Könnte es eines Tages wirklich so bei uns aussehen? Würde Elton John tatsächlich einen Song mit dem schönen Titel „England‘s heart is bleeding“ schreiben, der schließlich in jedem hippen Frisiersalon als Clubremix läuft? In diesem Zitat kann man zudem ein weiteres „Stilmittel“ erkennen, das im Buch immer wieder auftaucht. Der Autor streut des Öfteren diese Schlagzeilenüberschriften à la BILD ein, wodurch er die einzelnen Situationen sehr bissig auf den Punkt bringt.

Die Handlung an und für sich ist natürlich fiktiv, allerdings läuft es dem Leser an manchen Stellen kalt den Rücken hinunter, wie nahe derartige Szenarien sein können. Während sich der Anfang hauptsächlich mit dem Attentat und dem Klinikaufenthalt der Ich-Erzählerin beschäftigt, geht es später nur noch um ihr neues Leben und vor allem um die Beziehung zu Jasper Black und seiner Freundin sowie ihrem neuen Chef, einem hohen Tier bei Scotland Yard. Trotzdem schimmert das Terror-Thema immer wieder durch.

Inwiefern der Anschlag als Auslöser für die Folgehandlung gesehen werden kann, ist zweifelhaft. Ohne Frage können derartige Ereignisse das Leben eines Menschen sehr aus der Bahn werfen, doch an manchen Stellen geht der Autor einen Schritt zu weit und das Buch versinkt im wattigen Selbstfindungsjargon (allerdings immer mit unschlagbarem Humor). Manchmal ist die Geschichte ein wenig zu abgedreht, obwohl die meisten Zusammenhänge und Ereignisse sehr alltäglich wirken.

Doch das Über-die-Stränge-Schlagen sei Cleave vergeben. Schließlich hat er das Buch nicht mit dem Anspruch geschrieben, einen humorlosen Schinken zu veröffentlichen. Bissigkeit, Übertreibung und Überspitzung sind schließlich die ständigen Begleiter des Lesers, eingepackt in einen wundervollen, sehr eigenständigen Schreibstil mit einer sehr sympathischen Working-class-Heldin der Herzen. „Lieber Osama“ ist auf jeden Fall ein literarischer Leckerbissen 2006 und sei jedem ans Herzchen gelegt, der humorvolle Literatur mag und vor Zynismus keine Angst hat.

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Pepper, Kate – 7 Minuten zu spät

Kate Pepper scheint es mit Zahlen zu haben. Nach ihrem Debüt „5 Tage im Sommer“ folgt ihr neues Buch, das den Titel „7 Minuten zu spät“ trägt. Etikettiert ist es als „Thriller“, doch inwiefern dieser Begriff zutrifft, werden wir ja noch sehen …

Wie im Titel angedeutet, kommt die mit Zwillingen schwangere Alice zu spät zum Treffen mit ihrer hochschwangeren Freundin Lauren. Doch Lauren ist nicht da und kommt auch nicht. Alice sucht zusammen mit ihren Freunden alle Krankenhäuser ab, in der Hoffnung, dass die Wehen vielleicht frühzeitig eingesetzt haben. Allerdings werden sie nicht fündig. Jedenfalls nicht in einem Krankenhaus, denn wenig später wird Lauren tot aus dem Gowanus-Kanal gezogen. Sie wurde erschossen und das Baby aus ihrem Bauch geschnitten. Es besteht also eine Möglichkeit, dass das Kind, die kleine Ivy, noch lebt. Alice, ihre Freunde und die Polizeibeamtin Frannie machen sich auf die Suche. Alice hat dabei nicht nur mit ihrer Schwangerschaft und einem übervorsichtigen Vater zu kämpfen, sondern auch mit ihrem Vermieter Julius Pollack, der die Wohnung der vierköpfigen Familie Halper gekündigt hat und auch vor Repressalien nicht zurückschreckt …

Thriller also. Nun ja. Dann muss wohl das neue Genre „Frauen-Thriller“ erfunden werden, denn um nichts anderes handelt es sich bei „7 Minuten zu spät“. Schuld daran ist Peppers Erzählstil und nicht etwa die Tatsache, dass die Protagonistinnen nicht nur weiblich, sondern dank Schwangerschaft sogar über-weiblich sind. Vielmehr bettet Pepper ihren Roman in dem Umfeld der „Mädchengespräche bei Latte Macchiatto“-Bücher ein, ohne dem weiblichen Geschlecht jetzt zu sehr auf die Füße treten zu wollen. Die Protagonisten sind liebende Familienmütter mit wenig Tiefgang und noch wenigeren schlechten Charaktermerkmalen, wenn selbige überhaupt erkennbar sind. Ihr Leben findet zum Großteil auf einer bonbonrosa Wattewolke statt und wird nur durch den Mord an ihrer Freundin überschattet. Natürlich trauern sie, jedoch können sie den Leser damit kaum berühren, zu banal wirkt ihre Trauer.

Ein wichtiges Merkmal von Thrillern ist die Spannung. Allerdings findet man davon nur sehr wenig in Kate Peppers Zweitling. Die Kriminalhandlung – die Suche nach Laurens Mörder und ihrem Baby – findet nur sehr am Rande statt. Zwar ist die Kriminalhandlung als Gedanke in Alices Kopf immer präsent, aber das macht noch lange keinen Thriller. Aktionstechnisch unternimmt Alice nämlich kaum etwas in diese Richtung – die Elemente der Geschichte, die Spannungspotenzial haben, werden also nur gestreift. Stattdessen hält sich die Autorin mit alltäglichen Kleinigkeiten auf, wie dem Geschäftsprinzip von Alices Schuhladen oder dem Zustand ihres Fruchtwassers. Ein weiterer Beweis für die Zugehörigkeit zur Frauenromankaste.

Zu der minimalen Spannung gesellen sich einige, an den Haaren herbeigezogene Szenen. Der Vermieter Julius Pollack zum Beispiel wirkt wie eine Karrikatur in einem sonst seriösen Buch. Während er auf der einen Seite seine Mieter triezt, hat er auf der anderen natürlich ein dunkles Geheimnis, das allerdings weniger dunkel als lächerlich wirkt.
Ebenso lächerlich ist die Auflösung der so genannten Kriminalhandlung. Ich habe selten etwas an den Haaren Herbeigezogeneres gelesen. Hier hängt fast jedes Rädchen im Getriebe. Die sehr unglaubwürdige Auflösung hinterlässt außerdem offene Fragen und kommt sehr überraschend, da vorher nur wenige Bröckchen an den Leser verfüttert wurden, die eine Spur zu diesem Ende gelegt hätten.

Der Schreibstil fügt sich nahtlos in die vorhergehende Kritik ein. Seicht und nicht besonders anspruchsvoll. „Mädchengespräche bei Caffè Latte“ eben. Keine Ich-Perspektive, sondern Alice in der dritten Person und immer schön weich ohne negative Gedanken oder gar Vulgärausdrücke. Bringt wenig Freude, tut aber auch nicht weh.

Bei „7 Minuten zu spät“ handelt es sich um ein kleines Schaf im Wolfspelz. Oder soll ich Wölfin sagen? Der so genannte Thriller entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Frauenlektüre mit thrillerähnlichen Elementen, Spannung ist kaum spürbar und insgesamt ist der Roman sehr oberflächlich. Und eben doch irgendwie ein bisschen wie ein Buch von Ildikó von Kürthy.

|Zuerst erschienen 2005 bei ONYX/Penguin, New York, unter dem Titel „Seven Minutes to Noon“
2006 als Taschenbuch bei Rowohlt
Übersetzt von Theda Krohm-Linke
348 Seiten|

Thielking, Helge – Destino

Lust auf Urlaub zu Hause? Helge Thielking entführt uns mit seinem zweiten Roman „Destino“ in die Karibik – Spannung und Action inklusive!

Die neunundzwanzigjährige Jette Colberg setzt sich gegen eine Menge ältere und erfahrenere (und vor allem männliche) Mitbewerber um einen Posten als Managerin des Touristikunternehmens STO durch. Verwunderlich, bringt sie doch nicht die richten Schlüsselqualifikationen für so einen harten Job mit. Ob ihr ehemaliger Professor Kurt Jacobi da seine Finger im Spiel hatte?

Jette macht sich darüber keine weiteren Gedanken. Stattdessen lebt sie sich in Bremen ein, nachdem sie beinahe ihr ganzes Leben von einem Ort zum anderen gezogen ist. Sie hofft, in der Geburtsstadt ihrer Mutter die Heimat zu finden, die sie die ganze Zeit vermisst hat. Anfangs scheint das auch ganz gut zu klappen. Sie findet schnell Freunde und an ihrem Arbeitsplatz läuft auch alles bestens. In dem kaltherzigen, karrieregeilen Kramer findet sie schnell einen Gegenspieler, doch sie merkt erst wesentlich später, dass seine Repressalien mehr sind als ein firmeninterner Kampf. Spätestens als ihre Sekretärin bei einem Briefbombenattentat schwer verletzt wird.

In Jette wächst die dunkle Ahnung, dass der Anschlag ihr gegolten hat, da er an ihre Abteilung, die für die Karibik zuständig ist, addressiert war. Schnell kommt ihr der Verdacht, dass die Bombe vielleicht in Zusammenhang mit den Ungereimtheiten steht, die sie in ihrem Bereich entdeckt hat. Strände, die verschwinden, Unfälle, Beschwerden, die nicht weitergereicht werden – was zur Hölle ist in der Karibik los? Und wieso weiß sie als Leiterin des Bereichs „Karibik“ nichts davon? Enthält man ihr mit Absicht Informationen vor?

Jette recherchiert selbst, doch als sie genug Informationen zusammengesammelt hat, um sie der Staatsanwaltschaft zu übergeben, geht ihr Haus in Flammen auf und Jette sieht ein, dass es der einzige Weg ist, direkt vor Ort zu ermitteln. Allerdings gibt es da einige Leute, die mit ihrem Tatendrang nicht einverstanden sind und die auch nicht davor zurückschrecken, ihr Leben aufs Spiel zu setzen …

Da Thielking Tourismuswirtschaft studiert hat, weiß er, worüber er redet. Er schildert ansehnlich die Vorgänge in dem großen fiktiven Touristikunternehmen STO und schafft es, die geschäftliche Seite, auf der es nicht immer mit rechten Dingen zugeht, auch für den Laien zugänglich zu machen. Wer hofft, dass sich das Buch später in pathetischen Naturbeschreibungen der Karibik ergeht, wird enttäuscht. Vielmehr schildert der Autor das knallharte Geschäft mit den Inseln und den dortigen Tourismus.

Trotz des Fachwissens möchte auf weiten Strecken des Buchs nur wenig Spannung aufkommen. Zäh wälzt sich die Geschichte auf 460 Seiten voran, wobei die eine oder andere Seite weniger vielleicht von Nutzen gewesen wäre. Dabei schreibt Thielking noch nicht mal zu ausschweifend, er versucht nur zu viele Fakten in seine Geschichte unterzubringen, was ihm leider nicht so ganz gelingt. Zu weit klaffen teilweise diese Fakten auseinander und diese Lücken sorgen wiederum dafür, dass dem Buch sehr schnell die Puste ausgeht.

Ein wenig lieblos wirken die Charaktere. Sie besitzen zwar eine Vergangenheit – und besonders mit Jettes kann man sich gut identifzieren -, diese geht jedoch nicht besonders tief und das Fehlen von wirklichen Eigenschaften, darunter auch Macken, trägt dazu bei, dass die Figuren sehr oberflächlich erscheinen.

Thielkings Schreibstil schließt sich der Oberflächlichkeit der Protagonisten an. Geübt, aber ohne einen eigenen Stempel pflügt er sich durch das Buch, ohne Eindruck zu hinterlassen. Das ist nicht unangenehm, sorgt aber für eine wenig interessante Lektüre.

Die Urlaubsvorfreude muss also einen kleinen Dämpfer einstecken, denn in Bezug auf Handlung, Personen und Schreibstil muss man bei „Destino“ ein paar Abstriche machen. Trotzdem ist das Buch ein Durchschnittsthriller, der nicht schmerzt, aber auch keine euphorischen Jubelstürme auslöst.

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Millet, Catherine – sexuelle Leben der Catherine M., Das

Es scheint, als ob es modern sei, sein Sexualleben der breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Bereits vor der „sizilianischen Lolita“ Melissa P. hat die französische Kunstkritikerin und Chefredakteurin einer Kunstzeitschrift Catherine Millet ihren Rückblick auf die wilden Jahre mit dem Titel „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ veröffentlicht.

Da ich das Buch im Kontext mit den Werken der kleinen Italienerin las, kam ich nicht umhin, beide zu vergleichen. Ist das gerecht? Schließlich bestehen beinahe vierzig Jahre Altersunterschied zwischen den beiden und dementsprechend gesetzter und weiser kann Madame Millet über ihre Eskapaden schreiben.

Was allerdings nicht zwangsläufig bedeuten soll, dass ihr Buch spannender ist. Inhaltlich hat es beinahe noch weniger zu erzählen als „Mit geschlossenen Augen“, wo wenigstens etwas Abwechslung vorkommt. Der Fokus von Catherine Millets Sexleben liegt hauptsächlich auf (analem) Verkehr in allen möglichen Varianten und Orten mit einer variierenden Anzahl von Männern und Frauen.
Glücklicherweise erzählt sie nicht chronologisch, sondern nach Themen geordnet, was immerhin ein wenig Abwechslung schafft. Außerdem erzählt sie mit einer angenehmen Distanz, die es ihr erlaubt, subjektiv zu werten und zu kommentieren. Es findet sehr viel Selbstreflexion statt, ohne selbstzerstörerisch oder unaufrichtig zu wirken. Im Gegenteil. Millet erzählt ohne Scham und Reue von ihrem früheren Sexualleben und wirkt trotz des expliziten Inhalts reif und selbstbewusst.

Dazu trägt sicherlich bei, dass Millet sich nicht auf die bloße Beschreibung der Szenen verlässt, sondern sie teilweise in einen allgemeineren Kontext setzt, mit der Meinung der Gesellschaft vergleicht oder gar eine kleine psychologische Selbstanalyse wagt. Wie gesagt, das trägt dazu bei, dass „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ sehr interessant wird, aber auch sehr sympatisch. Manchmal hat man eher das Gefühl, persönlich ein Interview mit der Autorin zu führen als eine Autobiografie zu lesen. Einige Stellen werden fast schon philosopisch, wenn sie zum Beispiel darüber redet, was Paarbeziehungen in ihren Augen ausmacht.

|“Aus diesen Notizen ziehe ich zwei Schlüsse. Erstens bringt ein jeder in seine Paarbeziehung seine eigene Begierde und seine Fantasien ein, und beide verbinden sie in gemeinsamen Angewohnheiten. Dabei verändern sie sich, passen sich einander an, je nach der von jedem Einzelnen erwarteten Konkretisierung übertreten sie die Grenze zwischen Traum und Realität, ohne an Intensität zu verlieren.“| (Seite 151)

Wie man sieht, erzählt Millet in einer geradlinigen, nüchternen Sprache, die weniger wie Prosa denn manchmal sogar wissenschaftlich wirkt. Das verstärkt das Gefühl der Distanz natürlich noch. An der Art, wie sie mit der Sprache umgeht, ohne dabei hochgestochen zu klingen, aber trotzdem ein hohes Niveau zu halten, erkennt man, dass sie sich durch ihre Arbeit als Chefredakteurin damit auskennt, den Leser zu unterhalten, ihn zu fordern, aber nicht zu überfordern. Ich empfand diesen Schreibstil als sehr gelungen, da er leicht verständlich, aber dennoch intellektuell ist.

Das Buch wurde bei seinem Erscheinen heiß diskutiert. Millet selbst gibt im Vorwort einen Einblick in die Diskussionen, die sie auslöste. Millet als „Schlampe“ oder „Nymphomanin“ (Seite 16) zu bezeichnen, kann ich nicht so ganz nachvollziehen, denn wer dermaßen distanziert über seine Erlebnisse schreibt, wirkt alles andere als vulgär, sondern vielmehr intelligent. Eben gerade die Selbstreflexion und die nüchterne Erzählweise bar aller reißerischen Beschreibungen lassen „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ eher zu einem akademischen Bericht als zu Pornografie werden.

Doch auch wenn ich das Buch in diesem Bezug in Schutz nehme – das tröstet nicht darüber weg, dass viele Wiederholungen und nur wenig konkreter Inhalt es stellenweise zu einem zähen Leseerlebnis werden lassen. Selbst der sympathische Schreibstil hilft da nicht immer. Trotzdem liest sich „Das sexuelle Leben der Catherine M.“ wesentlich angenehmer als die Sexbeichte unserer kleinen „sizilianischen Lolita“ – und hat auch wesentlich mehr Seiten!

P., Melissa – Dich lieben

Zwei Jahre hat sich Melissa P. Zeit gelassen, um den Nachfolger zu ihrem heiß diskutierten, erotischen Tagebuch [„Mit geschlossenen Augen“ 2733 zu schreiben. Nun ist es da und in Anbetracht des jungen Alters der Autorin – sie wird dieses Jahr einundzwanzig – stellt man sich die Frage, ob sich „Siziliens Lolita“ weiterentwickelt hat.

„Dich lieben“ ist nach eigenen Angaben ebenfalls autobiografisch, aber nicht in Tagebuchform. Stattdessen präsentieren sich die kurzen, abgehackten und dadurch zusammenhangslos wirkenden Kapitel als Briefe an ihre Mutter. Allerdings dauert es seine Zeit, bis man herausfindet, wer das Du im Buch überhaupt ist. Erst zur Hälfte wird der Mutter-Tochter-Bezug klar, was dem Buch nicht unbedingt gut tut. Zu verwirrend sind die kurzen Episteln, deren Inhalte keinerlei Konzept zu folgen scheinen.

Worum geht es überhaupt? Das lässt sich nicht so einfach erkennen. Im Großen und Ganzen wird die Beziehung von Melissa und Thomas beschrieben, die einen zerstörerischen Charakter annimmt, als Melissa eine SMS von einem Mädchen namens Viola auf Thomas Handy entdeckt. Sie beginnt sich Rachefantasien für das Mädchen auszudenken – aus Liebe zu Thomas – und geht so weit, dass sie Thomas verlassen muss, weil sie ihn so sehr liebt.

Und wieso sollte das Melissas Mutter interessieren? Gute Frage. Vielleicht, weil sie neben dem aktuellen Strang auch immer wieder Kindheitserlebnisse einwebt, die sie recht plastisch und schön zu beschreiben weiß. Allerdings klingen einige der Episoden wie eine pathetische Abrechnung mit der eigenen Kindheit.

Wer erwartet, dass Fräulein Paranello mal wieder aus dem Bettkästchen plaudern wird, liegt überraschendweise daneben. Ihre sexuellen Eskapaden hat sie zurückgefahren, stattdessen beschreibt sie hauptsächlich ihr düsteres Innenleben, erzählt Geschichtlein aus ihrer Kindheit und lässt alles andere außen vor. Das tut dem Buch nicht gerade gut, denn Melissas zähes Gefühlsleben, in dem es nur wenig Veränderung gibt, langweilt noch mehr als ihre jugendliche Nymphomanie von damals.

Was den bunten Ringelreigen aneinandergereihter Langeweile alias Briefe an eine Mutter noch schlimmer macht, ist das Ende. Hier beschreibt sich Melissa P. als ein Mädchen, das vor Liebe verrückt geworden ist und dazu benutzt sie märchenhafte Elemente wie zum Beispiel eine Libelle für das Gefühl der Eifersucht. Das Buch endet schließlich in einem abstrakten Ende, bei dem der Leser überhaupt nicht mehr durchblickt, was nun Wahrheit und was Traum ist. Ob die Autorin dadurch bezweckte, den Leser an ihrem leicht wahnsinnigen Ich teilhaben zu lassen? Nun gut. Das wäre eine Erklärung, allerdings sollten derartige Passagen trotzdem eine gewisse Struktur besitzen, die es dem Leser erlauben durchzublicken.

Der Inhalt ist folglich beinahe noch weniger gelungen als der Debütroman. In dem gebundenen Büchlein mit knapp 125 Seiten passiert so gut wie gar nichts. Das einzig Nette sind die Kindheitserinnerungen, die schön beschrieben werden und eine gute Identifikationsmöglichkeit bieten. Außerdem gibt es hier einige Momente, bei denen man sich denkt: Ja, das könnte ich auch so gesagt haben.

Der aktuelle Erzählstrang dagegen ist konfus, langweilig und alles andere als überzeugend. Melissas Gefühlsleben weist keine Struktur auf, kein Anfang, kein Ende, sondern ist nur ein gleichbleibender düsterer Sumpf negativer Gedanken. Es ist nicht so, als ob man nicht auch darüber schreiben könnte, allerdings haben das andere Leute schon besser gemacht.

Wie das? Na ja, vermutlich haben sie einfach einen angenehmeren Schreibstil verwendet. Man muss der Autorin zwar zugestehen, dass durchaus eine Steigerung stattgefunden hat, aber auch wenn sie an einigen Stellen wirklich sehr schön auf den Punkt kommt, ist das Gros der Seiten doch eher Reißwolfnahrung. Den mädchenhaften Tagebuchstil hat sie jedenfalls abgelegt. Stattdessen versteigt sie sich in einer erhabenen, teils schwülstigen Sprache, die von einem riesigen Haufen meist geschmackloser Metaphern beinahe erdrückt wird.

|“Meine Eierstöcke sind zwei in der Luft hängende Kichererbsen. Eine ist größer als die andere und hängt tiefer, da sich meine Regel ankündigt. Eine zähe rote Flüssigkeit wälzt sich darin wie in den Automaten mit Fruchtsaft. […] Das Herz. Das Herz klopft in seiner Nylonstrumpfhüle von der Art, wie sie sich Bankräuber übers Gesicht ziehen. Ein kleines Präservativ zum Schutz vor dem Leben.“| (Seite 29)

Melissa P. legt des Öfteren eine solche bemühte Pseudointellektualität an den Tag, dass man das Buch nur noch zuklappen möchte. Möglicherweise hat sie Potenzial. Man kann auf jeden Fall ein Gehirn und einen gewissen Wortschatz erahnen, allerdings ist auf weiten Strecken nicht viel davon zu spüren. Vielleicht wäre es besser gewesen, Madame Paranello noch eine Weile wie einen guten Wein reifen zu lassen anstatt ihr spärliches Talent unter Zuhilfenahme eines Skandals namens „Mit geschlossenen Augen“ zu verschleudern.

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P., Melissa – Mit geschlossenen Augen

Melissa P.s jugendliche Sexbeichte war ein Riesenskandal im Jahr 2003 in Italien. In Deutschland schlug das Buch zwar nicht ganz so große Wellen, aber trotzdem erlangte es einiges an Aufmerksamkeit.

Ist das ein Wunder bei diesem Inhalt? In einem Zeitraum von ihrem 14. bis zum 16. Lebensjahr erzählt die Ich-Erzählerin Melissa (es darf also spekuliert werden, wie viel wahr und wie viel Fiktion ist) von ihren sexuellen Eskapaden, die sich alle in einem Punkt treffen: Melissa verfällt auf der Suche nach echter Liebe immer wieder in das gleiche destruktive Muster, bei dem sie sich von Männern, die sie nur als Objekt sehen, ausnutzen und erniedrigen lässt. Alles fängt mit Daniele an, den sie auf einer Geburtstagsparty kennen lernt und in den sie sehr verliebt ist. Er nutzt das junge Mädchen allerdings aus. Als sie ihm sagt, dass sie mit ihm schlafen möchte, befiehlt er ihr zuerst, fünf Minuten vor seiner Wohnung zu warten, weil sie zu früh dran ist und er den Ton angibt, und schließlich entjungfert er sie, während ein Kumpel am Telefonhörer im Nebenzimmer darauf wartet, dass Daniele ihm Bericht erstattet.

Ansonsten erlebt Melissa immer wieder regelrechte Orgien. Sie schläft mit älteren Männern, die von ihr verlangen, sich als Domina zu verkleiden. Sie lässt sich von jedem Kerl ausnutzen, der ihr über den Weg läuft und ist fest davon überzeugt, das Herz eines Mannes nur dadurch gewinnen zu können, dass sie sich ihm körperlich hingibt…

Ist „Mit geschlossenen Augen“ wirklich der große literarische Wurf, als den manche Kritiker ihn bezeichnen? Nun, eine Schwalbe macht noch lange keinen Sommer. Gleiches gilt für einen expliziten Inhalt. Natürlich kann man in einer „Sex sells“-Kultur die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wenn man davon erzählt, wie man einen Mann im zarten Alter von vierzehn Jahren oral befriedigt hat, aber wie viel Direktheit verträgt der Leser?

Melissa P.s Buch besteht hauptsächlich aus derartigen Szenen. Die anderen Gefühle, die ein fünfzehnjähriges Mädchen hat, werden kaum angeschnitten. So erfährt man zum Beispiel herzlich wenig über das Familienleben von Melissa oder von Freundinnen, von der Schule. Es dreht sich immer nur um ein Thema und abgesehen davon, dass einige Erlebnisse doch ein wenig an den Haaren herbeigezogen wirken (wenn sie zum Beispiel einen notgeilen Familienvater im Dominakostüm gegenübertritt), fängt das doch irgendwann an zu langweilen. Das Buch hat zwar nur knapp 160 Seiten, aber nach einem uninteressanten Einstieg gelingt es der Autorin kaum, ansatzweise Spannung oder wenigstens Stimmung und Atmosphäre aufzubauen.

Das liegt vor allem daran, dass der Schreibstil von „Mit geschlossenen Augen“ die Nerven des Lesers ganz schön strapazieren kann. Und nein, das hängt nicht damit zusammen, dass Fräulein P. so vulgär schreibt, dass einem die Augen tränen. Im Gegenteil. Die sechzehnjährige Autorin stattet ihr fünfzehnjähriges, tagebuchschreibendes Ich mit einer dermaßen schwülstigen, altklugen Schreibweise aus, dass man sich teilweise in einen historischen Kitschroman versetzt fühlt:

|“Vor dem Spiegel stehend bewundere ich mich und bin entzückt von den Kurven, die zunehmend runder werden, von den immer harmonischer und sicherer geformten Muskeln, von dem Busen, der sich unter meinem T-Shirt abzuzeichen beginnt und mit jedem Schritt sanft wogt. Da meine Mutter zu Hause schon immer gern nackt herumgelaufen ist, bin ich mit dem weiblichen Körper von klein auf vertraut. Die Formen einer erwachsenen Frau waren für mich noch nie ein Geheimnis, doch ihr Allerheiligstes liegt in den Schamhaaren verborgen wie in einem undurchdringlichen Urwald und entzieht sich dem Blick.“| (Seite 9)

Mädchenhaft und gleichzeitig übertrieben poetisch-schwülstig und hochgestochen präsentiert sich die Italienerin mehr als einmal als Diana Gabaldon für Arme. Nun kann so etwas natürlich auch an der Übersetzung liegen, dann geht die Rüge an das deutsche Lektorat, jedoch kann ich mir nicht vorstellen, dass die bloße Übertragung in eine andere Sprache so viel Negatives bewirken kann.

Wobei man Melissa P. zugestehen muss, dass nicht alles schlecht ist. Manche Stellen in dem Buch offenbaren keine altkluge, sondern sehr gereifte, dem Alter jedoch immer noch entsprechende Persönlichkeit. Die eine oder andere Metapher versinkt nicht im Sumpf des Kitsches, sondern präsentiert sich schön rund und anschaulich, wie zum Beispiel auf Seite 67:

|“Danach legte er sich zu mir aufs Sofa, wir umarmten uns und schliefen ein, während Marylin [in diesem Fall ein T-Shirt mit der Hollywoodikone; Anmerkung der Rezensentin] ihr Auge an der kleinen Perle von Ernestos goldenem Top rieb.“|

Diese Silberstreifen am Horizont sind allerdings in der Unterzahl. Der Großteil des Buches setzt sich daher aus nicht immer glaubwürdigen Sexszenen, einem nicht alterskonformen, schwülstigen Schreibstil und einer eindeutig überschätzten Autorin zusammen, „Siziliens Lolita“, wie die Lobeshymne von „La Sicilia“ auf dem Buchrücken besagt.

Chaplet, Anne – Russisch Blut

Anne Chaplet gehört zu den besten Krimiautorinnen Deutschlands und hat sich seit ihrem Debüt „Caruso singt nicht mehr“ eine große Fangemeinde erschrieben. Der Krimi „Russisch Blut“, den |Piper| 2006 als Taschenbuch herausbringt, kommt ohne das bekannte Ermittlerduo Paul Bremer und Karin Stark aus, spielt aber ebenfalls in einer ländlichen Gegend.

Die junge Tierärztin Katalina Cavic flieht vor Erlebnissen ihrer Vergangenheit in den verschlafenen Ort Blanckenburg, der seinen Namen dem barocken Schloss verdankt, das majetästisch auf einem Hügel thront. Allerdings wohnt dort kein Adel mehr, sondern eine Gruppe neureicher Menschen, die so gar nicht dorthin passen wollen. Da wäre Alex Kemper, ein erfolgreicher Anwalt, der ein Verhältnis mit seiner Schwägerin, der Kunsthistorikerin Sophie hat, Peer Gunderson, ein ein Banker, Erin, die Frau Kempers und die gute Seele Alma mit ihrer halbwüchsigen Tochter Noa.

Katalina, die erstmal im Schloss einen Schlafplatz findet, bevor sie in die alte Praxis im Ort ziehen kann, merkt sehr schnell, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Neben dem Verhältnis zwischen Alex und Sophie bereitet ihr vor allem eine Sache Kopfzerbrechen: Mysteriöse Lichtzeichen in einem stillgelegten Trakt des Schlosses. Schon bald findet sie heraus, dass Schloss Blanckenburg einen Bewohner mehr hat als geahnt und dass dieser, obwohl er sich gebrechlich gibt, es faustdick hinter den Ohren hat. Doch wie faustdick?, muss sie sich fragen, als der angesehene Archäologe Sigurd Rust, der auf Blanckenburg wertvolle Schätze vermutet hat, stirbt. Was treibt einen so angesehenen Wissenschaftler überhaupt nach Blanckenburg? Und was hat Kempers nervöse Friesenstute damit zutun?

Haben wir es hier wirklich mit einem „Kriminalroman“ zu tun? Gerade zu Anfang wirkt es doch ganz anders. Im ersten Teil des Buches wird nämlich zweistrangig erzählt. Neben Katalinas Perspektive, die sie bei ihrem Einzug und ihren ersten Schritten auf Schloss Blanckenburg begleitet, erzählt ein Mädchen namens Mathilde, das sich zur Zeit des Zweiten Weltkriegs auf der Flucht befindet, von ihrem Alltag und von ihrer Zuflucht auf Schloss Blanckenburg. Allerdings gibt es zwischen diesen beiden Strängen keinen Knotenpunkt, was das Ganze etwas halbseiden erscheinen lässt.

Glücklicherweise konzentriert sich das Buch im weiteren Verlauf auf die aktuellen Geschehnisse rund um Katalina. Es geht dabei zumeist weniger um die Kriminalhandlung als um das Leben der Tierärztin und wie sie in dem neuen Ort aufgenommen wird. Die eine oder andere delikate Entdeckung der Vorgänge auf Blanckenburg und der Mord bringen etwas Würze ins Spiel. Allerdings verläuft die Handlung ein wenig im Sande. Die Spannungskurve will nicht so, wie sie soll, anders als man das sonst von Chaplet gewöhnt ist. Das könnte daran liegen, dass dieses Motiv mit dem Schloss und den Zugezogenen, die nicht ganz koscher sind, nicht gerade als neu bezeichnet werden kann.

Die Mischung aus Geschichte und Gegenwart ist auch nicht gerade frisch, hat allerdings in anderen Büchern schon besser funktioniert. Hier fehlt letztendlich einfach der Bezug der beiden Stränge, so dass der Leser das Buch nicht wirklich befriedigt schließen kann.

Was ebenfalls enttäuschend ist, sind in diesem Roman die Personen. Ich vermisse doch sehr die Tiefe und Persönlichkeit, die ich von der Autorin gewohnt bin. Stattdessen serviert sie uns besonders bei der Schlossbevölkerung das eine oder andere Klischee, was nun mal nicht die beste Leseempfehlung ist.

Der Schreibstil dagegen ist so lockerluftigleicht wie gewohnt und beschert ein sommerliches Lesevergnügen – wenn die Handlung und die Personen doch etwas besser gelungen wären …

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Massey, Sujata – Japanische Perlen

Ein Restaurant zu eröffnen, ist gar nicht so einfach, wie man sich das immer vorstellt. Diese Erfahrung muss auch Rei Shimura machen, die junge Halbjapanerin, die in Sujata Masseys Büchern die Hauptrolle spielt.

Allerdings ist es nicht Rei, die das Restaurant eröffnet. Rei, die mit ihrem Verlobten Hugh in Washington wohnt, seit sie ein Einreiseverbot in Japan hat, unterhält einen kleinen Antiquitätenhandel und bekommt den Auftrag, bei dem neuen asiatische Restaurant „Bento“ die Inneneinrichtung zu übernehmen. Froh über die Beschäftigung, wirft sie sich in die Arbeit und ist sehr zufrieden, als sie mit ihrer Cousine Kendall, einer eifrigen Spendensammlerin für den demokratischen Senator Harp Snowden, am Eröffnungstag dort speist. Allerdings verläuft der Abend anders als geplant. Als Kendall zum Telefonieren in den Hinterhof geht, wird sie entführt. Sie kann zwar unbeschadet befreit werden, aber die negativen Schlagzeilen interessiert das nicht.

Doch das ist nicht das Einzige, was im „Bento“ im Argen liegt. Eines Tages kommt die Angestellte Andrea auf Rei zu und bittet sie um Hilfe. Weil sie mitbekommen hat, wie gut Rei bei der Entführung ihrer Cousine gehandelt hat, glaubt sie, dass sie die Richtige wäre, um ihr bei der Suche nach ihrer asiatischen Mutter zu helfen. Sadoko, so der Name von Andreas Mutter, verschwand eines Tages spurlos, nachdem sie ihre zweijährige Tochter mit der Begründung, sie müsse schnell zum Arzt, bei Nachbarn abgegeben hatte. Man fand ihre Klamotten am Fluss, der durch ihren Wohnort floss, und Andreas Vater, ein amerikanischer Soldat, der seine Frau während des Vietnamkriegs kennen gelernt hatte, heiratete sehr bald eine alte Schulfreundin und gab Andrea zu Pflegeeltern.

Nun ist die junge Frau auf der Suche nach ihrer Mutter, die offiziell als vermisst gemeldet ist und von der man annimmt, dass sie verstorben ist. Doch Andrea glaubt nicht, dass es da mit rechten Dingen zugeht, und Reis Ermittlernase kann es nicht lassen, die Spur aufzunehmen. Ehe sie es sich versieht, steckt sie tiefer in mysteriösen Machenschaften drin, als ihr lieb ist…

„Japanische Perlen“ ist bereits das sechste Buch Masseys mit Rei Shimura. Sie bietet darin einen leicht bekömmlichen Mix aus fernöstlicher Exotik, Kriminalroman und Frauenlektüre. Ersteres basiert natürlich auf dem Thema des Buchs und auf Reis Herkunft. Ihre Mutter ist zwar Amerikanerin, aber Rei hat lange Zeit in Tokyo gewohnt und kennt sich mit der dortigen Kultur sehr gut aus, was auch immer wieder in die Geschichte einfließt. Zudem kommt in der Geschichte ihre Tante Norie zu Besuch, eine ältere, sehr hilfsbereite Dame, die sich mit der amerikanischen Kultur konfrontiert sieht und für das eine oder andere verschmitzte Grinsen sorgt.

„Kriminalroman“ steht nicht nur vorne auf dem Buch, sondern zeigt sich auch in der Handlung. Allerdings haben wir es hier weniger mit einem knallharten Ermittlerkrimi zu tun als viel mehr mit einem „Alltagskrimi“. Das spricht auf der einen Seite für die Autorin, weil es bedeutet, dass sie sehr authentisch schreibt. Auf der anderen Seite muss man aber auch damit rechnen, dass wir es hier nicht mit einem geladenen, actionreichen Buch zu tun haben, in dem auf jeder zweiten Seite Mord und Totschlag herrschen. Das sowieso nicht, denn Massey kommt ganz ohne Leiche aus. Ob das der Grund ist, dass es an einigen Stellen an Spannung fehlt? Allerdings ist es auch sehr erleichternd, dass Shimura-San keine übertriebene Ermittlerin, sondern auf dem Boden geblieben ist.

Was das Buch aber letztendlich zu einem Pageturner macht, ist der Frauenfaktor. Massey schreibt aus der Ich-Perspektive Rei Shimuras mit einer sehr einfachen und schönen Sprache, die subjektiv und manchmal humorvoll gefärbt ist. Sie spiegelt die japanische Freundlichkeit sehr schön wider und lässt dem Innenleben ihrer Protagonistin viel Raum, manchmal vielleicht sogar zu viel. Immerhin erspart sie uns übertriebene Sexszenen, auch wenn die Verlobung der guten Rei nicht zu kurz kommt. Sie schafft es, die Seiten so dicht zu füllen, dass sie zum Weiterlesen einladen und dazu noch nicht mal eine reißerische Menge Blut brauchen.

Letztendlich ist „Japanische Perlen“ wohl eher gute Unterhaltung als ein wirklicher Kriminalroman. Dazu erinnern die Protagonistin und der Schreibstil der Autorin zu sehr an einschlägige Frauenromane. Jedoch wird das Buch angenehm frei von Klischees gehalten, so dass es sich leicht lesen lässt und dank des Schreibstils auch mit einer geringen Menge Spannung auskommt, um dem Leser zu gefallen.

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Brac, Virginie – In den Nächten brütet still der Tod

In Frankreich ist Virginie Brac mit ihrer Heldin, der Kriminalpsychiaterin Véra Cabral, schon längst keine Unbekannte mehr. In Deutschland kennt man sie bislang noch nicht, doch der Rowohltverlag dachte sich, dass es an der Zeit wäre, dies zu ändern und bringt deshalb „In den Nächten brütet still der Tod“ heraus.

Véra, eine attraktive Mitdreißigern, arbeitet im psychiatrischen Kriseninterventionszentrum, dessen Aufgabe darin besteht, bei Geiselnahmen und Ähnlichem für Deeskalation zu sorgen, wenn die Polizei nicht mehr weiterkommt.

Eines Nachts, nachdem sie ihre Nachtschicht beendet hat, wird Véra zu einem Fall gerufen, der selbst für sie keine Routine ist. Fred, der Sohn ihres Chefs Edouard Russel, hat im Drogenrausch seine Freundin zerstückelt und Russel will eine Expertenmeinung hören.

Ohne Hintergedanken tut Véra, wie ihr geheißen wird. Selbst als Russel sie zur persönlichen Psychiaterin ihres Sohns macht, riecht sie keine Lunte. Sie glaubt an das Gute, doch je mehr sie sich selbst mit dem Fall beschäftigt, um Freds Schuldunfähigkeit zu beweisen und anhand ihrer psychiatrischen Fähigkeiten erklären zu können, desto mehr stellt sie fest, dass in der Familie Russel das eine oder andere Geheimnis bewahrt wird und dass nicht jeder in dieser schicksalhaften Nacht die Wahrheit gesagt hat …

Véra Cabral ist eine ziemlich sympathische Romanheldin. Ihre Ich-Perspektive ist sehr beschwingt geschrieben, mit richtig Biss in Form von frechem, manchmal derbem Humor. Trotzdem gleitet die sehr subjektiv gefärbte Perspektive nie ins Ordinäre ab, sondern bewegt sich auf hohem literarischem Niveau, das eine authentische, junge Frau präsentiert. Einziger Wermutstropfen: Das obligatorische düstere Geheimnis von Véra ist doch etwas überzogen.

Doch das ist nicht das Einzige. Die Inspektorin Sanchez, welche die Ermittlungen im Fall Russel führt, ist eine einzige aufgeblasene Comicfigur. Es ist schwer zu begreifen, wie sich eine solche Gestalt in einen „seriösen“ Thriller verirren konnte. Das sehr beleibte Mannsweib steht kurz vor der Pension, trägt eine mit Klebeband geflickte Brille und Blümchenkleider und lebte bis vor kurzem immer noch mit seiner Mutter zusammen. Sie ist ein echtes Raubein, mit einer vorgefertigen Meinung und einer unschlagbaren Geheimwaffe, mit der sie sich lästige Kollegen vom Leib hält und Aufrührer bestraft: ihre Darmwinde.

Das wäre dann aber auch der einzige Schwachpunkt in der Besetzung. Alle anderen Personen sind gut ausgearbeitet, auch wenn sie teilweise einen leichten Hang zum Klischee haben, wie zum Beispiel Véras portugiesische Großfamilie.

Mit der Handlung verhält es sich ähnlich. Sie hat ihre guten, aber auch ihre schlechten Seiten. Auf der einen Seite ist sie kurzatmig und geht zügig voran, bringt fast in jedem Kapitel neue Erkenntnise. Auf der anderen Seite ist sie für dieses Vorgehen überraschend unspannend. Die Handlung tritt trotzdem oft auf der Stelle, was damit zusammenhängt, dass es sehr oft zwischen Véras Analyse von Fred und der eigentlichen Handlung keinen großen Zusammenhang gibt. Im Gegenteil wirkt es so, als ob Fred mit der Zeit so sehr in den Hintergrund rückt, dass er nur noch Statist in seinem eigenen Fall ist. Überhaupt ist das Psychologische, das doch vermutlich im Vordergrund stehen sollte, auffällig wenig vorhanden.

Vielmehr präsentiert sich „In den Nächten brütet still der Tod“ des Öfteren als Krimi, der seinen Tiefgang nur aus dem Seelenleben der Protagonistin bezieht. Trotzdem ist das Buch lesenswert, da die fehlenden Spannungsbausteine bei dem frischen, linearen Schreibstil nicht so sehr ins Gewicht fallen.

Ying, Hong – Pfau weint, Der

Hong Yings „Der Pfau weint“ verbindet die Schicksale von drei Frauen verschiedener Generationen untereinander und taucht dabei tief in die Geschichte des Landes ein.

Die Wissenschaftlerin Liu Cui ist mit Li verheiratet, welcher Direktor des großen Jangtsestaudammprojekts ist und den sie so gut wie nie sieht. Eines Tages schickt er ihr ein Geschenk. Ein teures Parfüm, obwohl er ihr noch nie Geschenke geschickt hat. Sie versteht nicht, was das soll, doch ihre praktische Mutter hat sofort eine Lösung parat: Das Geschenk ist eine Herausforderung, um zu sehen, ob Liu immer noch eine Frau ist, die sich für ihren Mann interessiert. Ihre Mutter drängt sie, zum Jangtse zu fahren und Li zu besuchen, doch als sie dort ankommt, muss sie die bittere Erkenntnis akzeptieren, dass ihr Mann sie betrügt.

Sie hält es nicht länger an diesem Ort aus und fährt stattdessen zum Kreis Liang, wo sie geboren wurde. Aufgewachsen ist sie allerdings in der Stadt und die Umstände ihrer Geburt kennt sie nicht. Auf Bitte ihrer Mutter besucht sie deren alte Freundin Tante Chen, zu der sie seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Doch während Lius Mutter das dankbare Leben der Pekinger Mittelschicht führt, schlägt sich Tante Chen mit Armut herum. Liu ist geschockt, in welchen Zuständen die Freundin ihrer Mutter lebt, doch als Tante Chen beginnt, aus der gemeinsamen Vergangenheit zu erzählen, ist Liu noch geschockter.

Denn plötzlich wandelt sich das Bild, das sie von ihrem Vater, der damals Präfekt des Kreises war, hat, und gleichzeitig geschehen Dinge im Kreis Liang, die zudem den Glauben an ihren Ehemann erschüttern. Der Kreis Liang liegt nämlich in dem Bereich, der in ein paar Monaten von den Fluten des Jangtse verschlungen werden wird, doch die Dorfbewohner sind alles andere als einverstanden damit …

Das Verbinden von Geschichte und Neuzeit durch das tragische Schicksal eines kleinen Menschen, der zu jung ist, um die Begleitumstände zu verstehen, ist sicherlich nichts Neues. Allerdings gibt es eine lange Liste von Autoren, die es besser gemacht haben als Hong Ying.

Es beginnt schon damit, dass der Grund, warum Liu an den Stausee fährt, an den Haaren herbeigezogen ist. Mir erschließt sich, um ehrlich zu sein, nicht, wie ein Parfüm ein Hinweis darauf sein kann, dass der Ehemann fremdgeht. Der Roman baut also auf sehr unsicherem Gelände auf.

Was folgt, ist auch nicht gerade mit Spannung geschwängert. Abgesehen davon, dass es dem Buch an Emotionalität fehlt und es leblos wirkt, ist die Handlung an vielen Stellen sehr fade. Es kommt selten Spannung auf, einige Elemente sind nicht nachvollziehbar und die Absicht, die hinter der Geschichte steckt, nämlich die Schicksale dreier Frauen im Kreis Liang literarisch darzustellen, ist kaum erkennbar.

Die bereits erwähnte Leblosigkeit findet man nicht nur in der Handlung. Auch die Personen selbst wirken blutleer und scheinen keine wirklichen Gefühle zu besitzen. Liu Cui präsentiert sich als prüde Ehefrau, die nur wenige Interessen hat und deren Wut auf ihren Mann wirkt wie Wattebauschwerfen. Hong Ying gelingt es nicht, den Protagonisten authentische Ecken und Kanten zu verpassen. Selbst Tante Chen, von der man denken könnte, sie wäre nach all den Jahren von der Armut gezeichnet, wirkt merkwürdig oberflächlich. Ähnliches gilt für Liu Cuis Mutter, die Dritte im Bunde, deren aktive Rolle allerdings sehr klein gehalten ist.

Der Schreibstil Yings erinnert an den typisch asiatischen Prototyp: Glatt und uninteressant. Sie benutzt ein gehobeneres Vokabular, das sie manchmal in umständliche Satzbauten einbettet. Metaphern wie „Der Himmel war plötzlich bleich wie die Augen eines toten Fisches.“ (Seite 89) oder „Das Fenster war wie bestickt mit Millionen Wasserperlen …“ (Seite 44) wirken sich nicht gerade positiv aufs Gesamtbild aus, ebensowenig wie die teilweise sehr üppigen Beschreibungen.

„Der Pfau weint“ ist zwar handwerklich perfekt ausgearbeitet, wie sich in dem sauberen Schreibstil zeigt, aber genau das ist das Problem. Ein steriler Schreibstil ist nicht besonders gut geeignet, um Gefühle beim Leser hervorzurufen und auch nicht gerade das beste Fundament, um eine Geschichte spannend herüberzubringen. Da es in diesem Fall aber nichts Spannendes herüberzubringen gibt, kann man dieses Argument unter den Tisch fallen lassen.

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Felixa, Magdalena – Fremde, Die

Berlin, Berlin … Magdalena Felixa hat ein Buch geschrieben, in dem die Stadt eine Nebenrolle spielt und das sich wie ein modernes Großstadtmärchen liest – nur ohne den Kitsch und den Prinzessinnentüllquatsch.

Die Ich-Erzählerin ist dem Leser ganz nahe – schließlich breitet sie ihr Leben vor ihm aus – und doch wieder so entfernt. Das Ich in diesem Buch nennt noch nicht mal ihren Namen, sagt wenig über ihr Äußeres, zeigt kaum Gefühle und doch ist es das Beste, was diesem Buch passieren konnte. Selena, Hanna, Mimi oder Alice – um nur einige ihrer Namen zu nennen – ist immer auf der Flucht. Ihre Heimat liegt irgendwo im Osten und sie hält sich illegal in Berlin auf. Sie schlägt sich mit kleinen Jobs herum, wohnt bei einer der vielen Freunde, die sie kennt und die es zumeist nicht besser haben als sie selbst. Sie ist eine Schattenexistenz, die sofort weghuscht, wenn ein Lichtstrahl auf sie gerichtet wird.

Genau das passiert, als plötzlich zwei Männer auftauchen, die sie nach einem ehemaligen Chef von ihr befragen und nicht gerade zimperlich mit ihr umgehen. Doch es kommt noch schlimmer, denn die Polizei ist ebenfalls auf den Fersen von Roman, dem ehemaligen Chef. Immer wieder wird sie von ihren Verfolgern aufgespürt, doch schließlich bietet sich ihr eine Chance, um für immer aus der Stadt zu fliehen …

Magdalena Felixa hat ein großartiges kleines Buch geschrieben. Nüchtern und doch intensiv. Leuchtend, obwohl es im Halbdunkeln der Illegalität spielt. Ein Kleinod in den dreckigen Straßen Berlins. Ihre namenlose Hauptperson setzt sie nach dem Prinzip „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ ein. Der Leser erfährt wenig von ihr oder von ihrer Vergangenheit, sondern begleitet sie eine Weile durch ihr beschwerliches Leben, ohne dass sie ihn dabei zu nahe heranlassen würde. Distanz ist das Zauberwort, welches das ganze Buch zu tragen scheint und obwohl es Schlimmes erahnen lässt, ein sehr geschickter Schachzug ist, denn diese Distanz verleiht der Hauptperson eine tragische Seriösität, die einem eine Gänsehaut auf den Rücken zaubert.

Diese Distanz, diese Bodenständigkeit, die Selena oder wie auch immer umgibt, schlägt sich auch im Schreibstil nieder, der sehr graziös und gleichzeitig trocken ist. Felixa braucht nur wenige Worte und eine Hand voll kurzer, einfacher Sätze, um in dem knapp 200 Seiten umfassenden Buch ein eigenes kleines Universum zu schaffen. Anders als man vielleicht vermutet, bedarf sie dafür keiner Gossensprache, sondern greift auf ein leicht verständliches, poetisches Deutsch zurück. Die Dichte von Metaphern und wunderschönen Beschreibungen ist hoch. Trotzdem drängen sie sich dem Leser niemals auf.

|“Um den Platz herum, wo einst die Grenze war, ist es seltsam still. Ich liebe die stummen Baustellen, die nachts mit offenen Augen schlafen, wie ich es tue.“| (Seite 5)

Der ganze Roman ist sehr unaufdringlich, distanziert eben, was sich schon bei den kurzen Kapiteln mit den teilweise sehr poetischen Titeln zeigt. Sie sind episodenhaft, wie herausgerissen aus dem Großstadtleben. Sie demonstrieren die Rastlosigkeit der Fremden, die überall und nirgendwo zu sein scheint.

|“Meine Freunde sind Neger, Kanaken, Schwule, Fliehende, Fremde. So wie ich. Ich mag Menschen, für die ich austauschbar bin, die nicht heucheln, verliebt zu sein. Ich sehe lieber ihre Begierden, als in ihre Seelen zu blicken. Ich will keine Fragen stellen. Ich mag, wen sie um mich herum sind und mir aus ihrem Leben erzählen. Ich selbst bleibe lieber unsichtbar, ziehe es vor, daß man sich nicht an mich erinnert. Das Zuhören ist keine tugendhafte Eigenschaft meines Charakters. Es ist ganz eigennützig. Das Stakkato beruhigt micht. Ich schließe die Augen und höre zu. Hunderte Geschichten vom verpaßten Glück. Berlin, Stadt der Entzauberten.“| (Seite 6)

Magdalena Felixa hat mit „Die Fremde“ ein beachtliches Buch geschaffen. Ein kleines, trauriges Großstadtmärchen mit einer wundervollen Hauptperson und einer klaren, poetischen Sprache, welche die Stimmung, die das Buch durchzieht, direkt auf den Punkt bringt. Bravo!

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Villatoro, Marcos M. – Minos

Neue Ermittler-Helden sprießen wie Pilze aus dem Boden und selten ist eine Person mit wirklich Substanz dabei. Anders Romilia Chacón, die temperamentvolle Latina aus der Feder von Marcos M. Villatoro, die sich schon alleine aufgrund ihres ethnischen Hintergrunds von den Tempe Brennans dieser Welt abhebt.

Romilia stammt eigentlich aus El Salvador, doch sie lebt schon seit längerem in Amerika und hat dort auch studiert. Sie arbeitet als Detective in Nashville, wo sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn Sergio und ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung lebt. Romilia ist dafür bekannt, gerne mal die Nerven zu verlieren und auszurasten. Sie ist alles andere als frei von Fehlern und eigentlich nur von einer Aufgabe getrieben: den Mord an ihrer älteren Schwester Catalina von vor sechs Jahren zu rächen. Damals fand man sie, zusammen mit ihrem verheirateten Geliebten, aufgespießt in ihrem Bett, in eindeutiger Stellung. Der Mörder wurde niemals gefasst, obwohl er noch zwei weitere, bestialische Morde verübte.

Wir schreiben den Winter 2001, als er beschließt, erneut zu morden. Romilia ist gerade zur lokalen Heldin geworden, weil sie den gefürchteten Jadepyramidenmörder dingfest gemacht hat. Dabei hat sie einen Fan gewonnen, den sie lieber wieder loswerden möchte. Tekún Umán, der Drogenboss, verdankt ihr sein Leben und empfindet außerdem tiefere Gefühle für sie, die sie aber niemals zulassen würde, nachdem er einen ihrer Informanten, eine sechzehnjährigen Jungen, gefoltert hat. Zum Dank hackt er sich in die Datenbanken des FBI und besorgt Romina Informationen zum Mörder ihrer Schwester. Sie erfährt, dass es weit mehr Opfer gegeben hat als angenommen und außerdem muss sie ohnmächtig mitansehen, wie „Minos“, wie sie ihn wenig später taufen wird, weil er sich an Holzstichen von Dante orientiert, weitermordet. Ihr sind die Hände gebunden, denn wie sollte sie erklären, dass sie an solch wohlgehütetes Material kommt? Und doch geht sie aufs Ganze, von der Rache und dem Zorn angetrieben, bis sie eines Tages einen Schritt zu weit geht …

Romilia Chacón besticht. Sie ist eine starke Frau, eine Powerfrau, eine Sportskanone. Und sie ist intelligent. Und schlagfertig. Und eine temperamentvolle Latina, wenn es sein muss. Hm. Klingt ja fast so wie eine dieser perfekten Ermittlerinnen, deren Namen wir jetzt nicht nennen wollen, deren Charaktere so aalglatt gestaltet sind, dass man schon auf den ersten Seiten darauf ausrutscht.

Ob es daran liegt, dass hier ein Mann am Werke war? Marcos M. Villatoro hat es jedenfalls geschafft, eine sehr authentische Frauenfigur zu basteln, die durch und durch Mensch ist. Trotz der oben erwähnten Charaktereigenschaften ist sie alles andere als perfekt. Sie ist sehr auf dem Boden geblieben, schon alleine durch ihre Rolle als alleinerziehende Mutter, die nicht immer für ihren Sohn dasein kann. Romilia hat viel in ihrem Leben verloren, aber sie beweist, dass sie eine Kämpferin ist.

Auch die anderen Charaktere können sich sehen lassen. Sie sind liebevoll ausgearbeitet, auch wenn Romilias Mutter wohl ein wenig dem Klischee der lateinamerikanischen Matrone entspricht. Tekún dagegen ist weder ganz böse noch ganz lieb und seine „Beziehung“ zu Romilia ist alles andere als einfach. Und zuletzt wäre da noch der Mörder, der immer wieder ein Kapitel zwischen Romilias Ich-Perspektiven einschieben darf. Seine Charakterisierung unterscheidet sich kaum von denen anderer „Psychopathen“, doch da seine Auftritte selten sind, fällt das kaum auf.

Villatoro lässt den Leser virtuos ins Buch einsteigen, indem er den Mörder von den letzten Stunden vor dem Mord an Romilias Schwester erzählen lässt. Was genau passiert ist, erfährt man erst viel später, als Romilia die geheimen FBI-Daten von Tekún liest. Folglich gibt es keine blutrünstige, detailreiche Ausschlachtung der Morde, sondern der Fokus liegt beinahe völlig auf Romilias Ermittlerarbeit.

Trotzdem ist das Buch weit davon entfernt, langweilig zu sein. Spannung wird beinahe in jedem Kapitel aufgebaut und wenn nicht, gibt es ja immer noch unsere Ich-Erzählerin, die durch eine schöne, manchmal flappsige Sprache besticht. Villatoro verzichtet glücklicherweise auf lange Denkphasen oder ausschweifende private Ausrutscher, wodurch die Handlung wunderbar straff ist. Villatoro lässt uns nicht durchatmen. Er peitscht uns bis zum Ende des Buches, wo wir einem fulminanten Abschluss entgegenfiebern dürfen.

Bei der Schwemme von Neuveröffentlichungen, die im Bereich Thriller jeden Monat auf den Markt kommen, ist es kein Wunder, dass vieles wie von der Stange wirkt. „Minos“ hat sicherlich einige Elemente, die ebenfalls „von der Stange“ wirken, doch im Großen und Ganzen begeistert der Autor mit einem Buch, das durchgehend spannend ist und eine wirklich tolle Ermittlerin und Frau im Mittelpunkt zu stehen hat. „Minos“ ist ein Pageturner erster Güte und es ist schön zu hören, dass dies nicht das einzige Buch mit Romilia Chacón bleiben soll.

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Freund, Peter – Stadt der vergessenen Träume, Die (Die Legenden von Phantásien)

„Die Legenden von Phantásien“ – klingt das bekannt? Yep. Peter Freund lehnt sich mit dem Roman „Die Stadt der vergessenen Träume“ an keinen geringeren Fantasyklassiker als „Die unendliche Geschichte“ von Michael Ende an.

Auch ich habe „Die unendliche Geschichte“ natürlich gelesen, doch das liegt mittlerweile so weit zurück, dass die Erinnerungen in meinem alternden Gehirn nur noch sehr blass vorhanden sind. Ich leide quasi am Großen Vergessen, einer Krankheit, die das Völkchen der Insomnier ebenfalls befällt. Doch anders als bei mir, bei der nur die Gehirnareale geputzt werden, verschwinden die Insomnier, sobald das Vergessen Besitz von ihnen ergreift. Die einzige Hoffnung, die sie haben, ist die Stadt Seperanza, wo sie sicher sind, bis sie den Ruf hören, der ihnen erlaubt, die Stadt wieder zu verlassen.

Doch etwas hat sich geändert. Niemanden erreicht mehr der Ruf und die Stadt der vergessenen Träume platzt aus allen Nähten, obwohl sie die Pforten für weitere Insomnier bereits geschlossen hat. Trotzdem versucht Kayún mit seiner Schwester die Stadt zu erreichen, nachdem ihre Eltern vom Vergessen dahingerafft worden sind und sich einfach in Luft aufgelöst haben. Die Reise nach Seperanza ist beschwerlich, denn sie führt über das Eisige Gebirge, und große, düstere Gestalten, die Traumfänger genannt werden, verfolgen sie. Doch in Phantásien gibt es nicht nur üble Wesen. Der eine oder andere ist den Geschwistern auch wohlgesonnen oder scheint es jedenfalls zu sein …

Unabhängig davon erzählt ein zweiter Erzählstrang von dem Mädchen Saranya, das in Seperanza wohnt und das Kind des höchsten Stadtherrn ist. Eines Tages findet sie heraus, dass sie gar nicht dessen echte Tochter, sondern ein Findelkind ist. Ihre Welt bricht zusammen, und weil ihre Zieheltern auf ihr Warum? nur Ausflüchte vorbringen, ahnt sie, dass etwas Größeres hinter dieser Geschichte steckt. Gibt es etwa einen Zusammenhäng zwischen dem Geheimnis ihrer Herkunft und dem einzigen Bürger, der jemals der Stadt verwiesen wurde? Magister Philonius Philippo Phantastus, der sich mit dem Ruf und dem Phänomen des Vergessens auseinander gesetzt hatte, ein weiteres Geheimnis, auf das niemand ihr eine Antwort geben kann …

„Die Stadt der vergessenen Träume“ baut explizit auf der unendlichen Geschichte auf, so dass der Vorwurf mangelnder Eigenkreativität, wie ich ihn gerne an frühere Bücher von Peter Freund gestellt habe, sich von selbst aufhebt. Die Handlung, die in einer sehr detailverliebten Fantasiewelt stattfindet, die manchmal schon fast wieder zu überborden mit Fantasiewesen wie Rasenden Gerüchten oder Lawinenwichteln besetzt ist, hat durchaus ihre Momente, auch wenn Saranyas Geschichte dem Leser ziemlich schnell klar wird. Kayúns Reise baut ebenfalls kaum auf Spannung auf, doch immerhin wird der Weg der beiden Geschwister sehr schön beschrieben und über Langeweile kann man sich nicht beklagen. Einzig – worauf der Autor hinauswill, bleibt mir etwas schleierhaft. An manchen Stellen wirkt das Buch hier doch etwas diffus.

Die Charaktere sind nicht wirklich ausgearbeitet, werden aber liebevoll in Szene gesetzt. Immerhin hat Freund damit aufgehört, seine Helden mit übertriebenen Kräften auszustatten, was mich an Laura Leander, der Romanfigur, die ihn bekannt machte, immer gestört hat. Saranya, Kayún und Elea benehmen sich wie normale Kinder und haben weder großartige Macken noch fallen sie durch Besonderheiten auf. Das ist natürlich schade, doch fällt es nur wenig ins Gewicht.

Was mich viel mehr irritiert, ist der Schreibstil. Das Buch ist als Kinderbuch ausgezeichnet und für junge Leser ab 12 Jahren, laut Verlag, geeignet. Der erhabene, stellenweise geschwollene Schreibstil spricht allerdings eine andere Sprache. Freund lehnt sich an diese gewisse bedeutungsschwangere Stimmung mit einem Hang zu Archaismen an, die gerade Fantasyschinken gerne durchzieht. Ob das wirklich kindgerecht ist, stelle ich in Frage. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit zwölf Jahren Wörter wie „Unbilden der Witterung“ (Seite 15), „Folianten“ (Seite 138) oder „Äonen“ (Seite 260) gekannt hätte. Natürlich kann man auf der Gegenseite anführen, dass der Horizont der jungen Leser dadurch erweitert wird, doch welches Kind würde ein Buch freiwillig lesen, wenn ständig Begriffe vorkommen, mit denen es nichts anfangen kann?

Trotz dieses nicht unerheblichen Mankos ist „Die Stadt der vergessenen Träume“ ein lesenswertes Buch für Fans von kindlicher Fantasie, d.h. für jene, die gern in völlig fremde, magische Welten eintauchen. Peter Freund ist zwar nicht der große Wurf gelungen, doch diese Legende aus Phantásien ist nette Unterhaltung für ein paar Stunden.

Hammesfahr, Petra – Am Anfang sind sie noch Kinder

Petra Hammesfahr, die Grand Dame der deutschen Literaturszene, veröffentlichte im März ihren neuen Roman „Am Anfang sind sie noch Kinder“, der zu Zeiten von Hartz IV eine starke Brisanz hat.

Protagonistin in dem Buch ist, wie bei Hammesfahr üblich, eine starke Frau. Kathi Lenzen, eine Mittvierzigerin, hat das Leben übel mitgespielt. Sowohl ihr Mann als auch ihr siebzehnjähriger Sohn sind Opfer von Autounfällen geworden und die Firma ihres Mannes, ihre Einnahmequelle, ist beinahe pleite gegangen nach dessen Tod. Doch die resolute Kathi hat sich nicht unterkriegen lassen, und auch wenn die seelischen Narben bis heute nicht verheilt sind, schafft sie es, die Kulisse aufrechtzuerhalten.

Doch diese bröckelt, als sie eines Tages einen sechzehnjährigen, verwahrlosten Jungen im Supermarkt beim Klauen beobachtet. Sie überlegt hin und her, ob sie ihn darauf ansprechen soll, aber stattdessen folgt sie ihm am Ende und findet heraus, dass er alleine in einem leer stehenden Haus kampiert. Sie wendet sich an das Jugendamt, doch der Schuss geht nach hinten los, denn der engagierte Sozialarbeiter Dr. T. Engelbrecht bringt sie dazu, den Jungen, der sich Breaker nennt, für eine Weile bei sich aufzunehmen. Den Sinn dieses „Experiments“ erklärt er so, dass der zurückgezogene Streuner einmal sehen soll, wie das Leben auch sein kann. Kathi lässt sich breitschlagen, obwohl sie spürt, dass ihr diese Entscheidung noch sehr weh tun wird. Schließlich liegt der Tod ihres Sohnes erst zwanzig Monate zurück und sie ist beileibe nicht bereit, mit einem „Asi“ umzugehen …

An manchen Stellen klingt „Am Anfang sind sie noch Kinder“ wie Deutschlands gefürchtete Sozialbücher. Mitleidige Monologe über das Leben der Unterschicht sollen wohl die Augen für das Elend öffnen, gehen aber aufgrund ihrer Pathetik eher auf die Nerven. Manche Stellen klingen wie an den Haaren herbeigezogen und in das Korsett der eigentlich gar nicht so schlechten Geschichte gezwängt. Stellenweise lesen sich Absätze wie aus dem Propagandakatalog für Missstände in der deutschen Jugendarbeit, das bedeutet: trocken, einseitig und „sozialarbeitermäßig“. Hat das wirklich sein müssen? Anstatt dieses Anliegen durch Monologe Engelbrechts zum Ausdruck zu bringen, wäre es vermutlich wesentlich taktvoller gewesen, die angeprangerten Missstände mehr oder weniger unkommentiert in die Geschichte einfließen zu lassen.

Ich muss sagen, dass mir ein Hammesfahr ohne Krimi-/Thrillerelemente besser gefällt als mit. Das Buch hat nur wenig Spannung und beruht hauptsächlich auf der schwierigen, da distanzierten Beziehung zwischen Kathi und Breaker, die die beiden Perspektiven bilden. Breakers ist dabei sehr gut gelungen, wie ich finde. Gedanken und Gefühle eines Jungen, der in einer Dreizimmerwohnung mit dem versoffenen Vater und drei Geschwistern aufgewachsen ist, werden sehr authentisch dargestellt. Ihr nüchterner Schreibstil, der manchmal beinahe sachlich wirkt, so wenig Gefühl steckt in ihm, passt wie die Faust aufs Auge – bei Breaker.

Kathis Perspektive dagegen hat sicherlich auch ihre sonnigen Seiten, aber gerade in der Anfangsphase des „Experiments“ gibt es einige hölzerne Dialoge, wenn sie Breaker erklärt, wie der Hase läuft. Sie klingt aufgrund des Schreibstils dabei sehr kühl, sehr unberührt und dadurch grausam unauthentisch. In diesen Moment wird „Am Anfang sind sie noch Kinder“ tatsächlich zu einem der gefürchteten Sozialbücher, auch wenn es sich ansonsten ganz gut durchschlägt. Traurig, dass Hammesfahr hier nicht die Kurve kriegt.

Insgesamt weist der Schreibstil einige Mängel auf. Die akribischen Erläuterungen von Handlungen und Ereignissen mögen ein gutes Gesamtbild schaffen, doch an einigen Stellen ziehen sie die Lektüre einfach nur furchtbar in die Länge. Außerdem sind einige der Genauigkeiten wirklich unnötig. Wenn Kathi Kuchen kauft, interessiert es weniger, um welche Sorte es sich genau handelt, ob mit oder ohne Streusel und wo er gekauft wurde und wie Kathis Meinung über diese Bäckerei ist. Irritierend ist die Tatsache, dass Personen, selbst die Hauptpersonen, also jene, die dem Leser eigentlich ans Herz wachsen sollten, immer sehr distanziert mit ihrem Vor- und Nachnamen genannt werden. Besonders bei einem Sechzehnjährigen wirkt das merkwürdig „abweisend“.

Überhaupt macht Hammesfahr es uns sehr schwer, Zugang zu den Personen zu finden. Es fehlt den Charakteren an Tiefe. Erinnerungen und Gefühle, ein wichtiger Faktor, werden zwar nicht ausgeklammert, aber sie wirken immer merkwürdig kühl und sachlich, so als ob sie nicht zu der entsprechenden Person gehören würden. Bei Breaker weniger, bei Kathi mehr tritt dieses Manko zu Tage und ist schuld, dass am Ende der Lektüre ein unbefriedigendes Gefühl zurückbleibt.

Die Handlung an und für sich weist nur einen sehr dünnen Strang auf, der zudem sehr vorhersehbar ist. Allerdings schadet das dem Buch nicht, denn das Minimum an Handlung lässt genug Platz für die Entwicklung der Beziehung zwischen Kathi und Breaker. Was mich allerdings stört, ist das Ende, das wirklich überflüssig ist – aber nun gut. Es ist die Entscheidung der Autorin, wann und wo sie die Geschichte enden lässt.

Jedoch ist es die Entscheidung des Lesers, was er davon hält. Ich finde, dass „Am Anfang sind sie noch Kinder“ in der Summe immer noch zu den besseren Büchern von Petra Hammesfahr gehört. Sie überrascht mit einem ausgesprochen guten Händchen für den Problemjugendlichen Breaker, auf der anderen Seite konstruiert sie aber eine Frau, die aufgrund ihrer Distanziertheit und der fehlenden Tiefe sehr oberflächlich und austauschbar wirkt. In einem Buch, das hauptsächlich auf der Beziehung zwischen den Protagonisten aufbaut, ist das nicht wirklich gelungen. Den Schreibstil hat sie leider auch beibehalten, der aufgrund seiner kühlen Sachlichkeit und der akribischen Genauigkeit eine große Schlucht zwischen Leser und Protagonisten entstehen lässt. Trotzdem lässt sich das Buch flüssig lesen und die Lektüre macht an einigen Stellen sogar Spaß.

Wang, Annie – Peking Girls

Zeit, über den Tellerrand zu schauen. Und nein, ich erwähne an dieser Stelle nicht die WM. Es ist auch so mal an der Zeit, sich anderen Kulturen zu widmen.

Wieso nicht mal ein wenig in China reinschnuppern? Schließlich bekommt dieses Land auf dem Buchmarkt herzlich wenig Beachtung, dafür, dass dort so viele unserer täglichen Bedarfsgüter hergestellt werden. Annie Wang möchte das mit ihren „Peking Girls“ ändern und konzentriert sich dabei auf die Upper-Class im heutigen China, das nach der Lektüre dieses Buches noch weit oberflächlicher und materialistischer scheint als die Vereinigten Staaten.

Wir erleben das Peking der Neuzeit dabei durch die Augen von Niuniu, einer Heimkehrerin, die es nach ihrem Studium in Amerika zurück zu ihren Wurzeln zieht. Der eigentliche Grund für ihren Umzug ist allerdings ihre zerbrochene Beziehung zu einem chinesischstämmigen Amerikaner, was jedoch im Buch kaum eine Bedeutung hat.

Überhaupt sollte man sich bei der Lektüre nicht auf eine großartige Handlung freuen. Annie Wang, die Kolumnen für die China Morning Post schrieb, verzichtet beinahe vollständig auf einen wirklichen Plot und skizziert anhand von kurzen Episoden mit zumeist amüsanter Pointe eine Gesellschaft, in der es wichtig ist, das teuerste Auto zu fahren und die richtigen Schönheits-OPs zu haben. Die Betrachtung durch Niunius westlich gefärbte Brille ist ein geschickter Schachzug, denn natürlich lässt sie es sich nicht nehmen, die Situationen zu kommentieren oder anhand einer subjektiven Darstellung ins Lächerliche zu ziehen.

Aus diesem Zweck hat Wang ihrer Protagonistin, die als Journalistin arbeitet, einen Freundeskreis zur Verfügung gestellt, der alle Bereiche abdeckt. Beibei ist Geschäftsleiterin einer erfolgreichen Staragentur und nimmt sich, obwohl verheiratet, regelmäßig jüngere Liebhaber; Lulu hat eine unglückliche Beziehung zu einem bindungsunwilligen Mann, der heimlich verheiratet ist; die in England aufgewachsene CC fühlt sich in China ebenfalls nicht wohl und hat außerdem einen Mann, der fremdgeht. Das scheint in China nichts Unnatürliches zu sein, denn anscheinend geht jeder fremd bis auf Niunius Freundin Mimi, die sich als Anwältin für sozial Benachteiligte einsetzt und eine Traumehe führt. Sie ist so etwas wie der positive Gegenpol zu all den Verheirateten, die untreu sind, den Zicken, den Machtgeilen, die immer auf die richtigen Beziehungen setzen, Leuten wie Beibei, die versuchen, ihre Stars mit möglichst vielen Intrigen an die Spitze zu bringen … Desweiteren erfahren wir, wie China zum Westen steht, wie man in China am besten überlebt und inwiefern sich die westliche und die moderne chinesische Kultur unterscheiden und wie paradox das teilweise ist.

Wenn es etwas gibt, das den Kauf von „Peking Girls“ wirklich rechtfertigt, dann ist es das pralle Wissen, das Frau Wang in ihrem „Roman“ unterbringt. Sie schafft es auf eine leicht amüsante, aber nur selten wirklich humorvolle Art, ihre Episoden herüberzubringen, und arbeitet die relevanten Fakten punktgenau heraus. Sie braucht dazu nur wenige sprachliche Mittel. Ihr ich-perspektivischer Schreibstil erinnert zum Teil an Tagebucheinträge. Er ist knapp und prägnant und verzichtet auf schmückendes Beiwerk. Zumeist reichen wenige erläuternde Sätze und die leider sehr gestelzt klingenden Dialoge, um das sehr umfassende Bild eines Landes im Umbruch zu vermitteln. Die Sprache ist sehr klar, sehr sauber und vor allem sehr harmlos. Wer erwartet, dass Annie Wang Tabus bricht wie ihre chinesische Kollegin Wei Hui, deren drastischer Roman „Shanghai Baby“ in ihrer Heimat verboten wurde, wird enttäuscht. Die Ankündigung auf dem Klappentext, „Maos Enkelinnen zwischen Sex, Konfuzius und Prada“, erfüllt sich nicht. Das Wort „Sex“ wird so gut wie nie in den Mund genommen, höchstens anhand von schwammigen Beschreibungen umrissen. Auch die Sprache ist frei von Kraftausdrücken und dreckig geht es in diesem Buch erst recht nicht zu.

Die einzelnen Episoden sind sehr kurz und zumeist unspektakulär. Gleiches gilt für die so genannte Handlung. Erst am Ende geht es weniger um Alltagsdinge als um Niunius Leben, was dann schon etwas enttäuschend ist, wenn das Buch als Roman vermarktet wird.

Mit diesem Manko geht einher, dass die Personen, allen voran die Protagonistin und Ich-Erzählerin, sehr austauschbar und oberflächlich wirken. Wirkliche Gefühle spielen kaum eine Rolle und die wenigen Charaktermerkmale, die aufgezeigt werden, bleiben normalerweise in einem sehr trivialen Rahmen. Dadurch wirkt Annie Wangs Debüt noch mehr wie eine Ansammlung kleiner Episoden aus dem Alltagsleben Pekings denn wie ein Roman, der nicht nur die Äußerlichkeiten einer Kultur, sondern auch die „Innerlichkeiten“ darstellt, also die Art, wie die dort lebenden Menschen mit den Äußerlichkeiten umgehen oder wie sie in ihren Gefühlen und Gedanken dadurch geprägt werden.

Wer Insiderwissen über das moderne Peking erwerben möchte statt einer tief gehenden Romanhandlung und wer sich damit zufrieden gibt, mit meist zusammenhangslosen Episoden mit wenig literarischer Güte, dafür aber mit einer gewissen, unterschwelligen Amüsiertheit serviert zu bekommen, möge zugreifen. Liebhaber von Romanen mit wirklichen Geschichten sollten allerdings lieber die Finger von „Peking Girls“ lassen, denn ihre Wünsche können in diesem Buch nicht befriedigt werden.

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Peper, Rascha / Ecke, Andreas – Visions of Hanna

Ein Verlag, dessen Programm sich hauptsächlich mit dem Meer in all seinen Formen beschäftigt? Das klingt auf den ersten Blick wie ein Tummelplatz für Seemannsgarn, doch „Visions of Hanna“ von der Niederländerin Rascha Peper ist weit davon entfernt.

An und für sich spielt das Meer in dem Roman auch nur eine Nebenrolle. Die „Hauptrolle“ kommt der lebenslustigen Mittdreißigerin Hanna zu, die vor zwei Jahren bei einem Schiffsunfall ums Leben kam. Seitdem liegt ihre Leiche in dem gesunkenen Schiff auf dem Meeresboden vor der marokkanischen Küste.
Währenddessen geht das Leben weiter, wenn auch in veränderter Form. Gerard, der in Hanna seine Traumfrau sah, lebt in New York, wo er als Strömungsforscher arbeitet. Er kann Hanna einfach nicht vergessen.

Robin dagegen, der Gerard Hanna ausgespannt hat, kann nicht damit leben, dass sie dort auf dem Meeresboden liegt, obwohl sie sich vor diesem verhängnisvollen Urlaub getrennt hatten. Er stellt eine Expedition auf die Beine, die nach dem Wrack und Hannas Leiche tauchen will.

Hannas Nichte, die fünfzehnjährige Emma, die gerade mitten in der Pubertät und den damit verbundenen Hormonverwirrungen steckt, verehrt ihre Tante auf eine gewisse Art und Weise und möchte Robin bei der Bergung ihrer Leiche behilflich sein. Sie gibt ihm Geld und dabei ihr Herz. Sie verliebt sich in den über zwanzig Jahre älteren Mann, doch obwohl er sich auch zu ihr hingezogen fühlt, lässt er es nicht zu, dass sie ihn verführt. Lange leidet sie an diesem Schmerz, doch dann drängt sich ihr Klassenkamerad Sai Kho in ihr Leben …

Der pensionierte Schneider Alphons LeCoultre, Hannas Vater, der neben seiner Tochter auch seine Frau zu beklagen hat, verbringt seine alten Tage damit, an die Toten zu denken und einen letzten Anzug für den Ministerialbeamten van Waardenburg zu schneidern, der zufällig der Konkurrent seines Schwiegersohns ist.

Herr van Waardenburg kennt Hanna überhaupt nicht. Er hat genug mit seiner heimlichen Obsession zu kämpfen, in fremde Häuser einzusteigen und sich dort an der Unterwäsche der Hausdame zu vergnügen.
Und dann wären da noch die blauen Gummientchen, die Gerard ins Meer hat setzen lassen, um die Strömungen zu erforschen …

Und was hat das jetzt mit Hanna zu tun?, fragt man sich. Zu Recht. Der Klappentext offeriert eigentlich eine sehr interessante Konstellation. Eine tote Frau, die trotz ihrer Abwesenheit immer noch Einfluss auf Menschen hat, die ihr nahe stehen. Schön und gut. In gewissem Sinne stimmt das auch, aber der einzige wirkliche Einfluss, den sie hat, ist der auf Robin, der sie unbedingt bergen möchte und außerdem mit ihrer Nichte zu kämpfen hat. Der gewissenhafte Gerard verschwendet zwar den einen oder anderen Gedanken an seine Ex, doch im Großen und Ganzen wird hauptsächlich von seinem Leben in New York erzählt, bei dem ein großer Wassertank auf dem Dach seines Hauses eine wichtige Rolle spielt. Nicht besonders interessant, wie auch die meisten anderen Perspektiven.

Aber was ist denn das Besondere an Hanna? Eine weitere Frage, bei der es mich wundert, dass sie nur so unbefriedigend beantwort wird. Da der Frau eine derartige Wichtigkeit zugewiesen wird, verstehe ich nicht, dass ihr Wesen, ihre Art nur sehr vage umrissen wird. Nirgends ist von einem besonderen Charisma oder Ähnlichem die Rede. Im Gegenteil scheint sie eine normale Mittdreißigerin zu sein. Manchmal vielleicht ein bisschen wankelmütig, was ihre Liebschaften angeht, aber ansonsten eine normale Frau.

Erschwerend kommt hinzu, dass der Roman keinen linearen Plot hat. Er erzählt vielmehr Abschnitte aus dem Leben der oben genannten Protagonisten, die nur selten wirklich aufregend sind. Oft werden Tätigkeiten wie Robins Taucherei oder LeCoultres Schneiderei bis ins kleinste Detail beschrieben, was zwar eine gute Recherche beweist, aber unnötig in die Länge zieht. Mit der Zeit gewinnt die Geschichte stellenweise, zum Beispiel bei den Verwicklungen zwischen Emma und Robin, an Fahrt, kommt jedoch nicht besonders weit.

Man muss Frau Peper anrechnen, dass sie ihre Figuren authentisch zeichnet. Besonders die fünfzehnjährige Emma ist sehr beeindruckend, weil sie die Pubertät wirklich gut verkörpert. Auch die anderen Personen haben ihren Reiz, auch wenn es hin und wieder an Ecken und Kanten fehlt. Von Hanna wollen wir jetzt gar nicht reden. Wenn ein Buch schon keine ordentliche Handlung hat, sollten wenigstens die Figuren überzeugen, doch auch hier kann Peper nicht wirklich gewinnen. Authentisch ja, aber trotzdem nicht herausragend.

Der Schreibstil reißt auch nicht vom Hocker. Alltägliche, nüchterne Sprache ohne großartige Ausarbeitung trifft auf teilweise sehr komplexe Satzbauten, die das Lesen nicht immer einfach machen. Verbunden mit der bereits erwähnten Langatmigkeit entwickelt sich der Stil zu einem lähmenden Gift für das gesamte Buch, das sicherlich auch seine guten Seiten hat. Einige der Perspektiven, besonders die von Emma und Robin, sind durchaus interessant zu lesen, weil in ihnen etwas passiert. Gerards Gedanken zu Gummienten können dagegen nicht mithalten und so ist „Visions of Hanna“ ein durchwachsenes Buch.

Durchwachsen deshalb, weil es Spannung, schön gezeichnete Personen und flüssig lesbaren Schreibstil auf zu unterschiedlichen Ebenen serviert. Zwischen der Perspektive eines Gerards und der einer Emma liegen einfach Welten. Auf der einen Seite der vierzigjährige Langweiler, der sich mit Gummienten und Vermietern herumschlagen muss, auf der anderen der Teenager, der erste sexuelle Erfahrungen sammelt. Ich gehe so weit, Frau Peper zu empfehlen, doch mal ein Jugendbuch zu schreiben, denn mit Emma hat sie mein Herz gewonnen. Vielleicht kann ich die Seiten mit den langweiligen Perspektiven einfach herausreißen. Sie haben schließlich keine Bedeutung für die so gut wie nicht vorhandene Handlung.

http://www.marebuch.de/