Archiv der Kategorie: Belletristik

Schami, Rafik – dunkle Seite der Liebe, Die

_Inhalt_

Damaskus, 1969: Über dem Tor der Pauluskapelle wird in dem Korb, in dem ein Märtyrer einst sein Leben aushauchte, ein Toter gefunden. Allerdings handelt es sich nicht um einen Christen, sondern um einen muslimischen Offizier. Kommissar Barudi steht vor einem Rätsel, das ihn reizt, in das er sich aber nicht verbeißen darf: Er wird von höherer Stelle aus zurückgepfiffen. Heimlich ermittelt er weiter und kommt dahinter, dass der Tote in Verbindung mit einer Familienfehde stand, die seit Generationen zwischen den Muschtaks und den Schahins tobt: 1907 nimmt eine blutige, traurige, unversöhnliche Geschichte ihren Anfang mit einer Liebe, die nicht sein darf, sich aber nicht darum schert und trotzdem blüht.

Der Beginn ist märchenhaft, doch der Preis ist hoch, denn wer von Hass und Rachegelüsten zerfressen ist, lebt selten glücklich bis an sein Lebensende. Auch die nächsten Generationen können sich aus den Banden der Feindschaft nicht lösen; sie saugen den Hass auf die andere Partei mit der Muttermilch auf, können gar nicht anders, als ihn als Naturgesetz zu betrachten. 1953 aber, als Farid Muschtak und Rana Schahin aufeinandertreffen, steht die Welt still in ihrem Lauf, hebt die Naturgesetze aus den Angeln und verwandelt für diese beiden Hass in Liebe.

Liebe allerdings hat es schwer in diesen Zeiten der Wut und der Rache, wo die innerfamiliäre Art der Auseinandersetzung mit Renegaten die politische des ganzen Landes widerspiegelt: Mit äußerster Gewalt wird durchgesetzt, was gerade Regel ist. Und Farid macht alles noch komplizierter, indem er zum Kommunisten wird: Er verrät nicht nur seine Familie, sondern obendrein die Regierung. Und während er für seine Überzeugungen in verschiedenen Gefängnissen unter der Folter zu leiden hat, ereilt Rana die Vergeltung des Clans – sie wird nicht wie ihre geliebte Tante erschossen, aber es wird ihr unmissverständlich klargemacht, dass Abweichler nicht geduldet werden. Was die Schahins jedoch nicht wissen, ist, dass es für Rana so lange Hoffnung gibt, wie sie und Farid am Leben sind. Irgendwann wird die Welt wieder innehalten und die Naturgesetze für sie ändern, denn Liebe ist größer als Hass. Der Tote von der Pauluskapelle ist ein Dominostein, einer der letzten in einer langen Reihe, die unausweichlich fallen mussten. Doch selbst Dominosteine können zu Stolpersteinen werden …

_Kritik_

Die lange Sage der beiden verfeindeten Familien bietet ein Gerüst für unendlich viele kleine Geschichten und Anekdoten, die ein facettenreiches, kunterbuntes Bild Syriens und speziell Damaskus‘ zeigen. Das Rot in all dem Kunterbunt ist leider meistens Blut, und so feinsinnig, amüsant und sanft manche der Geschichten sein mögen, so derb, brutal und abartig sind andere. Aber das ist gut so, es ist die Mischung, die die Faszination ausmacht, und wenn man gerade ganz nah an eine der Geschichten herangetreten ist, so trifft die nächste umso unmittelbarer, während man bar jeglicher geistiger Deckung ist.

Schami bietet Geschichten – nun, nicht für tausendundeine Nacht, aber doch immerhin für einige Nächte hintereinander, selbst, wenn man das Buch gar nicht weglegen mag. Er betört mit einem Stil, der die schrecklichsten Dinge wunderschön verpackt und liebevoll präsentiert, so dass man ihm danken möchte, während er eigentlich die Geißel in der Hand hält.

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist Poesie in Prosa, wenn man so will: Es nimmt den Leser nach wenigen Seiten an der Hand und führt ihn weit, weit fort, stellt ihn neuen Freunden vor und zeigt ihm das hässliche Antlitz der Feinde. Man ist so nahe an den Figuren, dass man mit ihnen interagieren möchte, und das ist es einfach, was einen guten Erzähler ausmacht. Rafik Schami erzählt zauberhaft, knüpft aus tausenden unterschiedlicher Fäden von zart bis hart einen Teppich, auf dem die Gedanken fliegen lernen.

_Fazit_

„Die dunkle Seite der Liebe“ ist einer der ganz großen Romane der letzten Jahre. Dass der Autor vom ersten kläglichen Versuch als Jungspund bis zur Veröffentlichung 39 Jahre lang daran gefeilt hat, hat sich gelohnt. Zu Recht gibt es bisher so viele gute Kritiken, doch wurden auch andere Stimmen laut: Zu lang sei der Roman, zu unverständlich, man hätte locker fünfhundert Seiten rauskürzen können. Das ist, mit Verlaub, Schwachsinn. Wem tausend Seiten zu viel sind, der möge etwas anderes lesen. Wer hier mal eben fünfhundert Seiten fortkürzte, der beschnitte dieses Werk herab zu einem normalen Krimi bzw. einer normalen Familiengeschichte und zerbräche dieses unglaubliche Füllhorn an Bildern, Eindrücken und Anekdoten, und schon wäre die Welt wieder ein wenig ärmer. „Die dunkle Seite der Liebe“ ist wundervoll, so wie es ist.

|Taschenbuch: 1040 Seiten
ISBN-13: 9783423135207|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de
[www.rafik-schami.de]http://www.rafik-schami.de

_Rafik Schami bei |Buchwurm.info|:_
[„Die dunkle Seite der Liebe“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2102
[„Märchen aus Lalula“ (Lesung)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=2868

Bammes, Michael – Absinth-Geschichten – Im Bann der Grünen Fee

_Inhalt:_

Absinth – das geheimnisumwitterte Getränk der Alchemisten, der Denker und Schriftsteller. Mythenvoll beladen, dank seiner ursprünglich halluzinogenen Wirkung immer wieder vergöttert, gleichzeitig verteufelt und verurteilt, in jedem Fall aber bis heute Protagonist eines eigens für dieses Getränk erschaffenen Mysteriums, welches den Genießer, egal in welcher Form, nicht selten in die Grenzbereiche von Realität oder Phantasie zu führen vermag. So auch verwundert es nicht, dass das Geheimnis der Grünen Fee bis heute die Phantasie belebt, deren Zauber sich in den hier zusammen getragenen Geschichten mannigfach zu entladen versteht. Beängstigend, beunruhigend, erotisch, immer aber auch mit einem Eigenleben beseelt, welches Besitz ergreift und mit jedem Schluck tiefer in eine Welt hineinführt, deren Realitäten kaum abschätzbare Folgen haben können.

In diesem Buch nun lädt Michael Bammes ein, sich diesem Zauber, dessen Wundern wie Gefahren, hinzugeben und Welten zu begehen, welche dem realen Bewusstsein und unserer Wahrnehmungsfähigkeit, glücklicher- oder bedauerlicherweise, verschlossen bleiben.

Erheben Sie Ihr Glas und seien Sie herzlich willkommen – in der weiten, geheimnisvollen Welt der Grünen Fee.
(Verlagsinfo)

_Überblick und Meinung:_

Michael Bammes fasst in seinem Kurzgeschichtenband acht ABSINTH-Geschichten zusammen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

In dem Opener „Unterwegs“ erzählt er von Josh, einem Hartz-IV-Empfänger, der zur Jobvermittlung radelt, wo ihm ein neuer Job winkt: Ein Vertrieb für ausgewählte Spirituosen sucht einen jungen Mann für den Außendienst. Und Josh erlebt fortan auf seiner Absinth-Verkaufstour groteske Situationen.

Tim und Jake irren in der Folgestory „Durch die Nacht“ im Absinth-Rausch durch eben jene und begegnen merkwürdigen Gestalten/Geschöpfen.

In „Kostbares Grün“ saugt 1763 der Vampir Jaron Wald in einem Gasthaus zwei Männer aus – der Wirt schlägt Jaron einen Handel vor, damit er ihn verschont: Er bietet ihm eine Flasche mit einem besonderen Trank an – die grüne Erlösung … doch ist sie das wirklich?

Der alte Jaques de la Paix entdeckt in „Abgefüllt“ in einer Nacht Ungewöhnliches in einer Spirituosen-Manufaktur. Wollen Außerirdische den kostbaren Absinth stehlen? Oder ist das magische Gestränk, bzw. dessen Substanz, lebendig geworden?

„Grüner Sand“ entführt den Leser mit einer Reisegruppe in die Wüste. Reiseleiter und Fahrer erzählen abends am Feuer eine alte Sage, in der Absinth eine Rolle spielt und davon handelt, dass ein Bann über die Händler des hochprozentigen Getränks ausgesprochen wurde. Wirkt er auch heute noch?

Die Studentin Melanie bewirbt sich in „Grünanlage“ als Aushilfe in einer Bar. Schon am Abend fängt sie dort an und Sven, der Wirt, lässt sie allein. Melanie genehmigt sich selbst den ein oder anderen Absinth und erlebt Verstörendes.

In „Ein bunter Abend“ nehmen Tom und seine Freunde Chris, Mark und Paul an wilden Partys mit Absinth in einem baufälligen Fabrikgebeäude teil – mit einem feurigen Ende.

Gaby und Kai treffen sich in „Game over“, und Kai erzählt von einem Spirituosenhändler, der Absinth im Sonderangebot anbietet, und davon, dass jeder, der eine Literflasche bestellt, an einem neuen Onlinespiel teilnimmt. Die beiden beschließen, mit Freunden das Spiel zu testen – unter Absinthgenuss …

Michael Bammes entführt in dem kleinen Kurzgeschichtenband den Leser in die Welt der Phantastik und den Bann des Absinths. Dabei bietet er eine wilde Plotpalette, die das Lesen der acht Geschichten kurzweilig macht. Somit eignen sie sich wunderbar für den „kleinen Lesegenuss“ zwischendurch. Vielleicht mit einem köstlichen Absinth? Es muss ja nicht immer der Grüne sein!

Die Aufmachung ist hübsch: Ein kleiner schwarzer Band mit einem ansprechenden Foto, das zum Thema passt (Absinthglas und -löffel, Wasserkaraffe und Bücher) und vom Autor selbst geschossen wurde. Papier und Satz sind auch ansprechend. Da kann man nicht meckern.

_Fazit:_

Kurzweiliger Band phantastischer Absinth-Geschichten. Nicht nur für Liebhaber des aromatischen Getränks geeignet!

|Taschenbuch: 84 Seiten
Titelfoto von Michael Bammes
Titelgestaltung von Nina Kresse, Leipzig
ISBN-13: 9783939398493|
[www.EditionPaperONE.de]http://www.EditionPaperONE.de
[www.michael-bammes.de]http://www.michael-bammes.de

Cossé, Laurence – Zauber der ersten Seite, Der

_Inhalt_

Es gibt Träume, die bestimmte Menschengruppen verbinden. Man muss nicht über sie reden, aber sie sind da. Und dann, eines Tages, wenn jemand sie erwähnt, strahlen die Gesichter der Ähnlichdenkenden auf, und die allgemeine Antwort ist: Das habe ich immer schon gewollt.

Ein solcher Traum vieler Bücherwürmer ist eine Buchhandlung, in der man nicht nach guten, anrührenden, lebensverändernden Büchern suchen muss, weil das ganze Sortiment nur solche Perlen umfasst. Ivan Georg, seines Zeichens idealistischer Buchhändler, und Francesca Aldo-Valbelli, betuchte Bibliophile, wagen es, diesen Traum in die Realität umzusetzen. Die Bücher werden von einem streng geheim gehaltenen Komitee ausgewählt, das sich aus großen Schriftstellern zusammensetzt.

Die Reaktionen auf das neue Geschäft „Der gute Roman“ in Paris sind zwiespältig: Die Freunde guter Bücher kommen gern, kaufen viel, verlieren sich lesend zwischen den Regalen und den Realitäten, bis man sie sanft in die Wirklichkeit zurückholt und auf den Ladenschluss hinweist. Aber wie üblich gibt es auch die Gegenstimmen: Wer sich denn erdreiste, gute Bücher von anderen zu unterscheiden? Warum sei dieses oder jenes Buch nicht im Bestand? Was seien das überhaupt für Menschen, die dieses elitär-faschistische Denken in die Buchwelt brächten?

Die Idealisten sehen sich plötzlich von einer Welle wilder Diffamierungen und persönlicher Anfeindungen überrollt, mit der sie nicht gerechnet hatten, und dann werden einzelne Komiteemitglieder physisch angegriffen. Wer hat ein Interesse daran, Buchliebhabern zu schaden? Der belesene und daher in diesem Fall sehr eifrige Kommissar Heffner taucht ein in eine Welt aus Worten, Schein und Sein …

_Kritik_

Kennt ihr diese Art Bücher, bei deren Lektüre ihr euch erst wieder in der Wirklichkeit zurechtfinden müsst, wenn ihr mitten im Lesen aufschaut, weil ihr ganz weit fort getragen wart? Das hier ist eines davon. Wer ein gutes Buch liebt und um seine Macht weiß, begrüßt den Einfall der spezialisierten Buchhandlung natürlich jubelnd, und der Kampf, der um sie tobt, geht entsprechend unter die Haut. Aber oh, das ist ja nur der Anfang! Die Charaktere sind aufs filigranste geschnitzt – man ist sofort befreundet mit dem für seine Ideale lebenden Ivan und mit der ätherisch-traurigen Francesca, die in behutsamer Weise und mit unglaublich schönen Bildern beschrieben werden. Wie die Lebensgeschichten sich auf den Punkt hinbewegen, an dem letztendlich die Anschläge geschehen und die Polizei eingeschaltet wird, ist trotz aller Stille und Unaufgeregtheit herzzerreißend spannend gemacht.

Die Büchervernarrtheit der Autorin spricht aus jeder Seite; man nimmt Anregungen über Anregungen mit, und wenn ein bestimmtes Buch mit den wärmsten Tönen bedacht wird, setzt man es sofort auf die geistige Liste. Das war in diesem Falle für mich besonders spannend, als es sich häufig um französische Bücher handelt, von denen ich nur wenige kenne. Die angesprochenen internationalen Klassiker allerdings lassen vermuten, dass es sich auch bei den erwähnten Franzosen um wirkliche Kleinode handelt.

Aber Geschichte, Charaktere, wundervoller Stil und Anregungen sind nur die Einzelteile dessen, was „Der Zauber der ersten Seite“ ausmacht: Es berührt Geist und Herz, erfüllt mit Energie, macht traurig und glücklich, kurz: Es schneidet in dein Leben ein. Es ist eines dieser Bücher, zu dem man greifen kann, wenn man sich ansonsten den Strick nähme, von seiner Wirkung – wenn auch nicht vom Inhalt her – ist es direkt neben Alice Walkers „Im Tempel meines Herzens“ anzusiedeln. Es ist ein |gutes| Buch: Das Gute ist darin, und Güte strömt heraus, und es hebt empor und dämpft und tröstet, alles auf einmal. Es umschmeichelt den gesamten Menschen. Es ist ein so liebevolles Stück Literatur, dass mir wirklich und tatsächlich die passenden Worte fehlen. Man kann ihm nicht gerecht werden, indem man es zu beschreiben versucht.

_Fazit_

„Der Zauber der ersten Seite“ schoss binnen kürzester Frist in meine Ewigen Favoriten. Ich werde es hundertmal verschenken, aber ich werde nie zulassen, dass ich kein Exemplar besitze. Es ist eines der wundervollsten Bücher, die ich in den letzten Jahren gelesen habe, und ich werde es wieder lesen, bis ich es auswendig kann. Als ich es zugeklappt habe, hatte ich das Gefühl, ein lieber Freund sei eben weggegangen. Laurence Cossé ist eine Magierin an der Feder, und sie muss einen beeindruckend schönen Geist haben. Lesen, Leute, lest es – vor der Lektüre dieses Buches ist euer Leben ärmer als danach!

|Gebundene Ausgabe: 464 Seiten
Originaltitel: Au bon roman (2009)
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
ISBN-13: 978-3809025900|
[www.randomhouse.de/limes]http://www.randomhouse.de/limes

Tropper, Jonathan – Sieben verdammt lange Tage

_Inhalt:_

Ich bin deine Mutter und ich liebe dich.“ Das sagt Mom immer. Das nächste Wort lautet stets: „Aber …“

Die Familientreffen der Foxmans enden stets mit Türenschlagen und quietschenden Reifen, wenn Judd und seine Geschwister so schnell wie möglich einen Sicherheitsabstand zwischen sich und das Elternhaus bringen. Doch nun ist ihr Vater gestorben. Sein letzter Wunsch treibt allen den Angstschweiß auf die Stirn: Die Foxmans sollen Schiwa sitzen, sieben Tage die traditionelle Totenwache halten. Das bedeutet, dass sie auf unbequemen Stühlen in einem kleinen Raum gefangen sind und nicht davonlaufen können. Nicht vor dem, was zwischen ihnen passiert ist – und nicht vor dem, was die Zukunft für sie bereithält …

_Meinung:_

New York – Judd Foxman (34) steht vor den Trümmern seiner Ehe, als er seine Frau in flagranti mit seinem Boss erwischt. Damit nicht genug, Judds Schwester Wendy ruft ihn an, um ihm mitzuteilen, dass sein Vater gestorben und dessen letzter Wille gewesen sei, dass seine Frau und Kinder eine sieben Tage lange währende Totenwache abhalten sollen. Judd, ohnehin privat gebeutelt, verspürt wenig Lust auf ein Treffen mit seinen untereinander zerstrittenen Geschwistern oder seiner extrovertierten Mutter. Aber er folgt dem letzten Wunsch seines Vaters und fährt zur Beerdigung und Totenwache in den Schoß der Familie.

Jonathan Tropper entwickelt daraufhin ein amüsantes, teils bissig-ironisches und immer höchst unterhaltsames Bild einer Familie, die die eigene sein könnte oder die „von nebenan“. Die Charaktere sind different, sehr lebendig, und vor allem authentisch gezeichnet, sodass sich der Leser sehr schnell als „Bestandteil“ des Kreises fühlen wird.

Da sind Paul und Philipp, Judds Brüder und ihre Schwester Wendy und die schrille Mutter, ihres Zeichens Psychiaterin. Judds Geschwister rücken alle mit ihren Partnern und Kindern an, und sehr schnell werden alle Konflikte spürbar, aber auch, dass die Familie (bis auf die Mutter) immer meisterhaft darin war, Gefühle zu unterdrücken.

Die ersten drei Kapitel des Romans lässt der Autor zum Einstieg den Leser am Scheitern von Judds Ehe (nach neun Jahren) teilhaben. Judds Erinnerungen sind so lebensnah, so menschlich und nachvollziehbar, dass man sofort von dem Roman gepackt wird. Besonders erfrischend ist dabei die offene Sprache des Autors, die aber niemals Partei (für ihn oder seine Frau) ergreift oder Klischees bedient – sie allenfalls auf die Schippe nimmt. Ab dem vierten Kapitel beginnt nach der Beerdigung des Vaters die Totenwache, und fortan wechselt die Handlung zwischen Gegenwart und Rückblicken auf Kinderheitserinnerungen, aber auch Judds Ehe.

Philipp, das Nesthäkchen der Familie, ist der Einzige, der auf der Beerdigung Gefühle zeigt und zusammenklappt – dann finden sich alle in ihrem Elternhaus wieder. Während der siebentägigen Zwangsnähe der Geschwister und der Mutter brechen die alten Konflikte deutlich aus, wird all der gegenseitige Groll endlich freigelassen – aber auch alte Verbundenheiten flackert auf. Judd stellt sehr schnell fest, dass der Tod „anstrengend“ ist und diese zwanghafte Totenwache erst recht.

Sympathisch ist auch zu sehen, dass Judd ähnliche Probleme hat, die man sie sonst Frauen nachsagt. Er hat als Mann nach dem Scheitern ähnliche Ängste. Finden ihn andere Frauen attraktiv? Wird er sexuell versagen, wenn er mit anderen Frauen schläft? Finden sie seinen Körper vielleicht zu „schwabbelig“? Er stellt sich aber auch ähnliche Fragen zum Scheitern seiner Ehe: Hat der andere einen größeren Schwanz? Vögelt er besser? Kann er länger? Und vieles mehr. Und genau |das| macht Judd sympathisch und „nah“. Darüber hinaus kämpft er seit seiner Trennung beim Anblick jeder hübschen Frau mit seinen sexuellen Phantasien … und begegnet der gutaussehenden Penny Moore wieder, einer Jugendliebe.

Innerhalb der Familie/Totenwache überschlagen sich die Ereignisse: Es entbrennt ein Geschwisterstreit wegen der geerbten Familienfirma und Judds Noch-Frau taucht auf, um ihm zu eröffnen, dass er der Vater des Kindes sei, das sie erwarte, und nicht ihr Liebhaber, da dieser zeugungsunfähig wäre. Turbulenter kann ein Leben nicht verlaufen. Erfrischend auch immer wieder die freizügige Mutter, für die Diskretion ein Fremdwort ist und die immer wieder übers Ziel hinausschießt, selbst in der Wahl ihrer Kleidung bei der Totenwache, wenn sie in Röcken auftaucht, die breite Gürtel sein könnten oder ihren Silikonbusen zur Schau trägt.

Und so mancher Leser wird heftig bei der Feststellung des Autors nicken: „Ich liebe meine Familie. Jeden einzelnen. Aber ich liebe sie mehr, wenn sie nicht in meiner Nähe sind.“ Aber dennoch, zeigt sich auch in Judds Familie mehr Verbundenheit, als es anfangs vermuten lässt. Ich wiederum habe bei einem Satz besonders geschmunzelt: „Frausein ist ein brutales Geschäft.“

„Sieben verdammt lange Tage“ ist locker und flockig geschrieben. Dieser Roman ist ein wahrer Pageturner mit wundervoll lebendigen, menschlichen Charakteren, die wie aus dem wahren Leben gegriffen sind. Da stimmt alles, der Stil, der Plot bis hin zum Ende.

Auch die Aufmachung weiß – wie immer bei |Knaur| – zu überzeugen. Schönes Hardcover, gutes Papier und Satz. Leserherz, was willst du mehr?

_Fazit:_

Humorvoller, flotter Familienroman, der sehr nah am Leser ist und kurzweilig, aber nicht oberflächlich unterhält. Absolut empfehlenswert.

|Hardcover: 447 Seiten
Originaltitel: This is Where I Leave You (Dutton, New York, 2009)
Aus dem Amerikanischen von Birigt Moosmüller
Titelfoto von FinePic, München
Titelgestaltung von ZERO Werbeagentur, München
ISBN-13: 9783426662731|
[www.knaur.de]http://www.knaur.de

_Jonathan Tropper bei |Buchwurm.info|:_
[„Mein fast perfektes Leben“ (Hörbuch)]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4330

Böldl, Klaus – nächtliche Lehrer, Der

_Inhalt_

Lennart ist 25 Jahre alt, als er zu einem Vorstellungsgespräch aus Stockholm in den winzigen Ort Sandvika in der schwedischen Provinz reist. Im Vorfeld ist er skeptisch: Soll er sich wirklich von nun an in dieser absoluten Einöde verkriechen, um den wenigen Kindern Religion und Kunst nahe zu bringen?

Doch irgendetwas an dem kleinen Nest packt ihn: Ob es der See ist oder die Ruhe – man kann es nicht sagen, als aber die Zusage kommt, packt er ohne zu zögern seine Koffer und verlegt seinen Lebensmittelpunkt ans Ende der Welt. Hier passiert so wenig von dem Schrecklichen, das Lennart in der Großstadt zu sehen und sonst über die Nachrichten zu erfahren pflegte.

Der junge Mann ist ruhig, zurückhaltend, schüchtern. Einen der anderen Lehrer kann er ganz gut leiden, und mit dem am Sinn seines Berufes zweifelnden Pfarrer Lukas verbindet ihn eine stille Freundschaft. Als er schließlich auch noch die Bibliothekarin Elisabeth kennen- und lieben lernt, scheint sein Weg vorgezeichnet. Elisabeth ist bald schwanger, die Hochzeit folgt auf dem Fuße. Lennart ist es bestimmt, hier, am Weltende, eine fröhliche kleine Schar Lehrerkinder aufzuziehen, zusammen mit einer Frau, der er sehr zugetan ist. Doch dann wird Elisabeths kleines Auto von einem Zug erfasst. Sie und das Ungeborene sind auf der Stelle tot. Für alle anderen unbegreiflich bleibt Lennart, wo er ist, und führt sein Leben weiter, als sei nichts geschehen, Jahr um Jahr. Doch selbst am Ende der Welt ergeben sich immer wieder Ausbruchsmöglichkeiten, sei es nun die Bekanntschaft einer weiteren jungen Frau oder die Reise in fremde Länder. Es kommt nur darauf an, ob man diese Chancen ergreifen oder sie ungenutzt verstreichen lassen möchte.

_Kritik_

Wäre Klaus Böldls Erzählung ein Bild, so ordnete man es dem Impressionismus zu. Der Protagonist ist so still und zurückhaltend, die Blicke in seine Gedanken, die dem Leser zugestanden werden, gehen immer so haarscharf am Wichtigen vorbei, dass er geisterhaft bleibt und fern.

„Klaus Böldl schreibt mit absoluter Souveränität über Sehnsucht und Trauer“, heißt es im Klappentext. So hat sich mir dieses Buch aber nicht dargestellt. Vielmehr schien es mir, als trauere Lennart nicht sehr, als finde er sich schnell mit der Situation ab und entscheide aus freiem Willen, nicht ins aktive Leben zurückzukehren. Elisabeth starb nur wenig mehr als ein Jahr nach dem Kennenlernen, und schon in dieser kurzen Phase erfahren wir, dass sie ihrem Gatten manchmal fern ist. Lennart hätte sich mit der Ehe und der Vaterschaft abgefunden, hätte sich in die Rolle gefügt und wäre vermutlich ganz glücklich geworden, aber die Würfel fielen anders, und Lennart ergriff seine Chance auf ein lebenslanges Eigenbrötlerdasein, indem er alle Chancen auf ein aktives, soziales Leben ungenutzt verstreichen ließ.

„Der nächtliche Lehrer“ ist alles andere als uninteressant; es ist das Porträt eines totalen Außenseiters, der seine Rolle selbst gewählt hat. Der knappe Stil, die mit kurzen Sätzen detailliert beschriebenen Äußerlichkeiten, die so viel Inhalt verdecken, der nicht erwähnt wird, sind dem Geheimnis des Mannes durchaus angemessen.

Die stillschweigende Negation fast allen menschlichen Miteinanders, das Ungerührtsein Lennarts durch Erfahrungen, wie sie nicht jedem vergönnt sind, und das stete, stille Dahinplätschern seiner Lebensjahre machen fast ein wenig fassungslos. Auf jeden Fall aber zermürbt diese kleine Schrift; man wird regelrecht müde angesichts all dieser nutzlos verpuffenden Energie. Aber es fesselt doch, wenn auch unmerklich. Es sind spinnwebfeine Fesseln, die man kaum wahrnimmt, und so ist man stets aufs Neue überrascht, wenn unversehens die ruhige, etwas dickliche Person Lennarts doch noch einmal im Gedächtnis auftaucht, sachte spazierend, schweigend, noch immer fremd.

_Fazit_

„Der nächtliche Lehrer“ ist kein Buch für die breite Masse. Niemand erschießt irgendwen, es gibt keine herzzerreißende Familiensaga, kein Drama, keine Intrigen, keine Pest, keinen Krieg. Es ist ein Buch vom Rande der Welt über einen Mann vom Rande der Gesellschaft. Wenn Stille Sie anspricht, lesen Sie es. Wenn Sie dem Leben am liebsten als Zuschauer beiwohnen, ist es das Richtige für Sie. Wenn Sie naturnaher, grüblerischer Einzelgänger sind, spricht es Sie sicherlich an. Sie müssen, um dieses Buch zu schätzen, eine Vorliebe für die leisen, melancholischen Töne hegen.

|Gebundene Ausgabe: 128 Seiten
ISBN-13: 978-3100076274|
[www.fischerverlage.de]http://www.fischerverlage.de

Larson, Reif – Karte meiner Träume, Die

_Der 12-jährige Tecumseh Sparrow Spivet_, von allen nur T.S. genannt, wohnt mit seiner Familie auf der Coppertop-Ranch in Divide, Montana. Sein Vater ist ein schweigsamer Cowboy durch und durch, seine Mutter eine Käferforscherin, die seit Jahren erfolglos nach dem Tigermönchskäfer forscht, den noch nie jemand gesehen hat. Seine Schwestern Gracie ist 16 Jahre alt und mitten in der Pubertät und sein Bruder Layton ist vor kurzem bei einem Gewehrunfall gestorben, für den sich T.S. die Schuld gibt.

Seit T.S. zeichnen kann, tut er kaum etwas anderes. Er fertigt von allem, was rund um ihn herum passiert, Karten, Diagramme und Zeichnungen an. Auch von seiner Schwester, wie sie Maiskolben schält und aussortiert. Er zeichnet Skizzen der Käfer seiner Mutter, und sogar die Art, wie sein Vater seinen Whiskey zu trinken pflegt, wird genauestens festgehalten. Ebenso kartographiert er das Land um sich herum. Seine Zeichnungen sind in farblich unterschiedlichen Notizbüchern ordentlich in seinem Zimmer untergebracht.

Seine Schaubilder werden schon in diversen wissenschaftlichen Zeitungen und sogar im Smithsonian Museum in Washington, DC, ausgestellt. Eines Tages bekommt er einen Anruf von Mr. G. H. Jibsen, dem Kurator für Illustration und Design am Smithsonian. Er teilt dem verdutzten T.S. mit, dass dieser, nach Empfehlung seines Mentors Terry Yorn, den begehrten Baid-Preis für die Illustration eines Bomberkäfers gewonnen hat. Er solle bitte in einer Woche dort erscheinen, eine Rede halten und den Preis entgegennehmen. Keiner dort am Smithsonian weiß um das Alter dieses Wunderkindes, denn er wird für einen erwachsenen Wissenschaftler gehalten.

Ohne es seiner Familie zu sagen, macht sich T.S. am nächsten Morgen, lediglich mit den wichtigsten Zeichensachen, seinen für ihn wichtigsten Geräten, etwas frischer Wäsche und einem gestohlenen Notizbuch seiner Mutter ausgestattet, auf die gut 2400 Kilometer lange Reise vom Westen in den Osten. Da er nicht sehr viel Geld besitzt, tritt er die Reise wie ein „Hobo“ an: Er will diese Strecke mit dem Güterzug bewältigen. In Divide besteigt er einen Güterzug, den er erst wieder in Chicago verlassen wird …

_Kritik_

Mit seinem Debüt-Roman „Die Karte meiner Träume“ hat Reif Larsen eine wunderbare Geschichte über das Wunderkind T.S. Spinet geschrieben. Aufgrund der leicht zu lesenden Sprache findet man sich schnell in die Geschichte ein und staunt dann über den großartigen Plot.

Die Geschichte spielt in der Gegenwart, auch wenn man anfangs fast das Gefühl hat, einen Roman zu lesen, der vielleicht Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Erst als |moderne| Wörter wie „iPod“ und „Computer“ fallen, merkt man, dass der Roman in der heutigen Zeit spielt.

Die Protagonisten sind allesamt überzeugend beschrieben. T.S. kann man nur mögen, so sympathisch ist dem Leser dieses Wunderkind. Seine Art, seine Geschichte zu erzählen, seine Familie zu beschreiben, die er trotz oder gerade wegen der Verrücktheit der einzelnen Mitglieder liebt, ist einzigartig. Die Art wie das Denken und Handeln der Hauptfigur beschrieben ist, ist beachtenswert.

Anfangs etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen die Zeichnungen am Rand der Seiten. Mitten im Text führt ein Pfeil zu einer Skizze, die dann erklärt wird. Mit jeder weiteren Seite findet der Leser aber mehr und mehr in diese Eigenart hinein und ist schon fast enttäuscht, wenn da plötzlich mal eine Seite ohne diese liebevollen |Randbemerkungen| kommt. Diese machen „Die Karte meiner Träume“ zu etwas wirklich Besonderem.

_Fazit_

„Die Karte meiner Träume“ von Reif Larsen ist ein wunderbarer Roman, der den Leser spannend unterhält und auch zum Nachdenken anregt.

Ich kann diesen Roman ausdrücklich empfehlen – der Lesegenuss ist garantiert.

_Der Autor_

Reif Larsen wurde 1980 geboren und lebt in Brooklyn, New York. Er schreibt, dreht Dokumentarfilme und unterrichtet an der Columbia University. „Die Karte meiner Träume“ ist sein erster Roman, den er noch als Student schrieb und der nun in 30 Ländern erscheint.

|Gebundene Ausgabe: 435 Seiten
Originaltitel: The Selected Works of T.S. Spivet
Übersetzer: Manfred Allié, Gabriele Kempf-Allié
ISBN-13: 978-3100448118|
[www.fischerverlage.de]http://www.fischerverlage.de
[www.tsspivet.com]http://www.tsspivet.com

_Nadine Warnke_

Diechler, Gabriele – Glaub mir, es muss Liebe sein

_Inhalt_

Franziska ist etwa vierzig, als ihr mit einem Mal bewusst wird, was in den Schatten ihrer lieblosen Ehe lange gelauert hatte: So geht es nicht weiter. Du kannst nicht ewig und drei Tage darauf warten, dass dein Mann sich wieder für dich interessiert, nachdem ihr schon mehrere Jahre lang nebeneinanderher gelebt habt. Warum solltet ihr jetzt plötzlich wieder Themen findet, über die ihr sprechen könnt, warum solltet ihr jetzt die Nähe wieder finden, die es einst gab und die unmerklich verschwunden ist? Gerade jetzt, wo er seine Libido in fremde Hände gegeben hat?

Franziska macht einen klaren, schmerzlichen Schnitt und verlässt den fremdelnden Gatten zusammen mit ihrer zwölfjährigen Tochter Melanie. Bei einem alten Schulfreund Franziskas, der sich nach einem Burn-out an den Tegernsee zurückgezogen hatte, finden sie eine neue Bleibe. Maja, die Besitzerin eines kleinen Lokals vor Ort, entwickelt sich rasch zur Freundin. In einer hoffnungsfreudigen Stimmung macht sich die frisch gebackene Single-Mutter daran, ihr Leben neu zu ordnen: Sie schreibt Drehbücher und ist völlig aus dem Häuschen, als das erste wirklich angenommen wird.

Jetzt fehlt ja eigentlich nur noch ein passender Mann, denn so ganz ohne Liebe ist es doch sehr einsam und traurig. Nur wo soll man nach einem angenehmen Exemplar suchen? Franziskas Job führt sie zu Recherchezwecken oder Konferenzen an die verschiedensten Schauplätze, und dadurch – wie auch durch ihr Sozialleben – trifft sie auf die unterschiedlichsten Menschentypen. Und Franziska hat ein großes, freundliches Herz, das gern lieben möchte, es immer wieder versucht und häufig genug Bruchlandung erleidet …

_Kritik_

Wir hatten ein ausgesprochen ambivalentes Verhältnis zueinander, dieses Buch und ich. Gabriele Diechler hat mit ihrer Franziska eine Figur erschaffen, die dem Zeitgeist sehr gut entspricht: Vor einem halben Jahrhundert mag es noch nicht gang und gäbe gewesen sein, sich trotz Kindes aus einer unglücklichen Ehe zu befreien; heute dagegen ist es kaum noch verpönt. Glück wird gesucht, verfolgt, eingefordert – man glaubt, Anspruch darauf zu haben. Das hat alles seine guten und schlechten Seiten, und es ist richtig und notwendig, dass jemand über dieses Thema schreibt, denn es ist ein Eckpfeiler unserer sozialen Gesellschaft. Manchmal zuckte ich jedoch zusammen, wenn eine Situation mit zu billigen Platituden beschrieben wurde: „Das Einzige, was ich machen konnte, war leben!“ (S.9) Urks. Dann wiederum gab es sehr originelle Wortbilder, von denen einige schön und andere eher unpassend waren – wie auch immer, es fiel auf und zeigte einen sehr eigenen Stil.

Die Suche Franziskas nach Liebe und Mister Right wirkt ausgesprochen deprimierend. Fast alle beschriebenen Versuche hinterlassen einen schalen Nachgeschmack, und die Tatsache, dass die Tochter während der mütterlichen Selbstfindungstrips immer beim netten Schulfreund abgeladen wird, verstärkt für mich die Trostlosigkeit des Ganzen. Das ist jetzt keine schlechte Wertung: Diese Entwicklung ist sehr lebensnah beschrieben.

Bedauerlicherweise muss ich sagen, dass die banale Pointe mich verärgert hat – es ist ein ziemlicher Gemeinplatz, der nach der 270 Seiten langen Kontemplation über die Suche nach dem Glück als Antwort präsentiert wird. Den findet man auch in Frauenzeitschriften im Wartezimmer beim Arzt. Gut, vielleicht ist das die Andeutung, dass es nun einmal kein Patentrezept gibt, aber unter diesen Umständen hätte man auf diesen Schmalspurpsychologiespruch auch verzichten können.

_Fazit_

„Ein wunderbares Plädoyer für die Liebe“, schrieb laut Klappentext jemand über diesen Roman. Hm. Vielleicht hat dieser Jemand quergelesen oder war mit den Gedanken nicht bei der Sache: Ein Plädoyer für die Liebe ist „Glaub mir, es muss Liebe sein“ nicht. Es ist ein Plädoyer für die Möglichkeiten, die die Gesellschaft momentan bietet, für die stete Chance zu einem Neuanfang. Außerdem ist es eine Sozialstudie, die späterhin Menschen als Quelle für die Rolle der Frau in der heutigen Zeit dienen mag. Ob man das Buch gut findet oder nicht, muss jeder selbst entscheiden, denke ich. Es polarisiert nicht, es stückelt vielmehr die Ansichten. Aber uninteressant ist es nicht. Gucken Sie ruhig mal, ob Sie damit warmwerden können.

|Broschiert: 276 Seiten
ISBN-13: 978-3839211076|
[www.gmeiner-verlag.de]http://www.gmeiner-verlag.de
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Hyland, Tara – Haus der Melvilles, Das

_Inhalt_

Die junge Irin Katie O’Dwyer ist glücklich, einen Job als Verkäuferin in dem mondänen Modehaus Melville bekommen zu haben – doch sie kann nicht ahnen, dass diese Arbeit ihr Leben für immer verändern wird: Sie lernt den Besitzer William Melville kennen und lieben. Und obwohl sie genau weiß, dass eine Affäre mit einem verheirateten Mann und Familienvater für sie nur schlecht ausgehen kann, kann sie dem Charisma Williams nicht widerstehen.

Das erwartete Ende folgt auf dem Fuße. Schwanger und einsam kehrt Katie nach Irland zurück, um ihr Kind allein aufzuziehen. Anderthalb Jahrzehnte später ist sie tot und hinterlässt eine fünfzehnjährige Tochter, die noch völlig traumatisiert von ihrem unbekannten Vater nach London geholt wird: In ein fremdes, großes Haus, zu einer fremden Frau, zu zwei fremden Schwestern. Caitlin ist einsam, die drei Mädchen grundverschieden. Sie durchlaufen dieselbe Schulausbildung, doch dann werden die Weichen neu gestellt. Ihre Lebenswege ähneln sich kaum, wenn auch alle auf dem Weg zu ihrem jeweiligen Traum durch verschiedene Höhen und Tiefen müssen. Niemand hätte gedacht, dass sich die Wege aller Familienmitglieder später so schicksalhaft wieder kreuzen würden – und doch besteht eine unnennbare Verbundenheit zwischen den Melvilles, eine Bereitschaft zum Kampf Schulter an Schulter, mit der die Initiatoren einer niederen Intrige nicht gerechnet haben …

_Kritik_

Tara Hyland ist eine beachtliche Erzählerin. Sie schafft es, eindrückliche Bilder heraufzubeschwören, ohne bis ins letzte Detail zu beschreiben, so dass der Phantasie des Lesers genug Raum zur freien Entfaltung bleibt. Die Unterschiede in den Charakteren der drei Mädchen sind reizvoll, vor allem, weil sie alle drei letztendlich eines verbindet: Die Suche nach Anerkennung und Liebe. Dass die fast krankhaft ehrgeizige Elizabeth, die zutiefst verkorkste, kreative Caitlin und die leichtfertige Grenzgängerin Amber sich gänzlich verschiedene Wege zum Glück suchen, ist folgerichtig und meist auch nachvollziehbar dargestellt. Und wenn man doch mal über eine Entscheidung der Charaktere stolpern sollte, dann macht das nichts, denn die Geschichte spült die Zweifel schnell wieder fort: Es geschieht nur, was geschehen muss.

Dass das Böse sich mit freundlichem Gesicht nähert, ähnlich natürlich präsent ist wie die Schlange im Garten Eden, erklärt das Vertrauen, mit dem alle annehmen, dass es keine Bedrohung am Horizont gibt außer den ganz persönlichen Sorgen und Ängsten, von denen ja auch jeder sein Bündel zu tragen hat. Dass die Geschichte der Melvilles sich vor dem Hintergrund des riesigen, mondänen, gefährdeten Modeunternehmens abspielt, macht die Familiengeschichte noch reizvoller. Hier gibt es Nischen für jeden und unzählige Ausgangspunkte für neue Seitenarme der Saga.

Schließlich und endlich bleibt zu sagen, dass Tara Hyland sich eines angemessenen Stils bedient: Sie erzählt sicher und sauber, ohne in wilde Wortakrobatik oder in Slang zu verfallen; ihr Schreibstil ist das perfekte Gerüst für einen spannenden, romantischen, schrecklichen, schönen Sommerschmöker.

_Fazit_

Es gibt keinen Grund, aus dem man „Das Haus der Melvilles“ nicht lesen sollte. Hier vereinen sich Spannung, Skandale, Tragödien, Romanzen, Enttäuschungen, wilde Entschlossenheit, Hoffnung, Tränen, Familienbande und -zwistigkeiten sowie wirklich hinreißende Beschreibungen von Kleidern (Hallo, Mädels!) zu einer perfekten Erzählung für den Strand. Oder wahlweise die kuschelige Wolldecke auf dem Sofa, wenn der Sommer sich von seiner regnerischen Seite zeigt.

Ich wage zu prophezeien, dass wir von Tara Hyland noch länger hören werden. Sie hat das Talent, in epischer Breite zu erzählen, ohne langatmig zu werden oder in endlose Introspektionen zu verfallen. Man darf gespannt sein, ob ihre nächsten Ideen wieder so viele ausgefeilte Charaktere beinhalten werden, denn das Imperium, das sie mit der Melville-Firma und der Familie erschaffen hat, ist schon von beträchtlicher Größe. Hut ab!

|Gebundene Ausgabe: 608 Seiten
Originaltitel: Daughters of Fortune (01)
Aus dem Englischen von Christoph Göhler
ISBN-13: 978-3809025825|
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Galchen, Rivka – Atmosphärische Störungen

Rivka Galchens Debutroman „Atmosphärische Störungen“ war in den USA ein Erfolg und heimste positive Rezensionen unter anderem im „New Yorker“ ein. Die Autorin, geboren 1976 in Kanada und aufgewachsen in den USA, verwebt in ihrem ersten Roman Psychiatrie, Meteorologie und ihre eigene Familiengeschichte zu einer höchst seltsamen Geschichte über die Liebe beziehungsweise deren Abwesenheit. Eine illustre literarische Mischung also.

_Es geht um_ Leo Liebenstein. Leo ist Psychiater und sein interessantester Patient im Moment ist Harvey, der sich einbildet eine Art Geheimagent zu sein. Von seinem Arbeitgeber, der Royal Academy of Meteorology, erhält er Aufträge, die verschlüsselt auf Seite 6 der Tageszeitung zu lesen sind. Dann verschwindet er oftmals für Tage, um seinen Auftrag auszuführen, während seine Mutter – wenig überraschend – umkommt vor Sorge. Doch das soll fürs Erste nicht so wichtig sein.

Statt dessen sieht sich Leo eines Tages bei seiner Heimkehr mit einer bösen Überraschung konfrontiert: Die junge, hübsche Frau, die plötzlich die Wohnung betritt, sieht zwar aus wie seine Ehefrau Rema. Trotzdem ist er überzeugt, dass sie es nicht ist. Sie hat einen Hundewelpen dabei – dabei mag Rema doch gar keine Hunde. Und andere Details stimmen ebenfalls nicht, kleine Ticks der „alten“ Rema, die die neue eben nicht besitzt. Kurzum, Leo ist überzeugt, seine Frau sei verschwunden, während eine Doppelgängerin mit ihm Tisch und Bett teilt. Also macht er sich schließlich auf die Suche nach der echten Rema. Eine Suche, die ihn in deren Heimatland Argentinien, zu Remas Mutter und schlussendlich zur Royal Academy of Meteorology führt, die ihm prompt einen Job anbietet. Und da wird dann auch Harvey wieder wichtig.

_Das Zentrum der_ Geschichte bildet Leo, er ist Galchens Versuchsobjekt. An ihm arbeitet sich die Autorin ab und schickt ihn abwärts in die unlogischen Tiefen der menschlichen Psyche, um dem Leser eines zu zeigen: Leo, der Ich-Erzähler, ist unzuverlässig. Das wird relativ schnell klar, denn erste Zweifel stellen sich bereits ein, als er steif und fest behauptet, die Rema in seinem Bett sei eine Doppelgängerin. Seine erzählerische Unzuverlässigkeit potenziert sich im Verlauf des Romans und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, hier in Echtzeit zu beobachten, wie ein Mensch dem Wahnsinn anheim fällt. Ironie des Schicksals: Leo ist eben Psychiater. „Es gab eine Zeit, da glaubte man, alle, die sich um Geisteskranke kümmern, würden selbst geisteskrank, und als Harveys Nachricht eintraf, streckte diese Vorstellung – die Ansteckung – ihre leichenblasse Hand aus der Vergangenheit nach meinem Geist aus“, sinniert Leo an einer Stelle des Romans. Was Leo lange nicht realisiert, ist, dass diese „leichenblasse Hand“ nicht nur nach ihm ausgestreckt wird, sondern dass sie ihn auch berührt, ihn packt und nicht mehr loslässt. Zwar wird er irgendwann Zweifel an seiner geistigen Gesundheit hegen, doch er ist Wissenschaftler. Und mit logischen Argumenten – oder dem, was er als logisch empfindet – kommt er zu dem Schluss, dass er eben nicht an einer Psychose leidet.

Nichts ist also eindeutig. Bedeutungen werden den Dingen immer von Menschen zugeschrieben und diese bringen ihre eigene Geschichte und Mentalität mit, die die Bedeutungsfindung beeinflusst. Dass nichts festgeschrieben, nichts eindeutig zuzuordnen ist, ist ein immer wiederkehrendes Thema in „Atmosphärische Störungen“. Harvey reinterpretiert die Artikel auf Seite 6, bis sie für ihn eine geheime Botschaft ergeben – einen meteorologischen Auftrag, den es zu erfüllen gilt. Leo macht es genauso. Das Diagramm eines Modellsturms, das er bei seiner Suche nach Rema in einem meteorologischen Artikel findet, wird zum Rorschach-Test. Immer wieder zieht es ihn zu dieser Grafik und jedes Mal schreibt er ihr neue Bedeutungen zu: Mal sieht sie aus wie Rema, mal wie ein einsamer Mann in einer Landschaft. Nie jedoch sieht sie für Leo aus wie das, was sie eigentlich ist: eben der Querschnitt eines Modellsturms. Und so wimmelt es im Roman nur so von Verständnisproblemen, von Freudschen Fehlleistungen und Bedeutungsübertragungen. Am enthüllendsten ist das Prinzip, wenn Leo sich einer schlecht übersetzten Speisekarte gegenüber sieht, wo aus einem Sangria Grande im Englischen plötzlich „bloody great“ wird. Ein Übersetzungsfehler und die Bedeutung hat sich vollkommen gewandelt – so wie sich Bedeutungen in „Atmosphärische Störungen“ eben auch ständig im Wandel befinden, wenn sie die Übersetzungsmaschine Leo Liebenstein durchlaufen.

Als Erzähler ist Leo also unzuverlässig. Der Leser kann nicht darauf vertrauen, dass Leo die Wirklichkeit genau – und eben wirklich – abbildet. Die Frage, die sich daraufhin geradezu aufdrängt, ist: Geht das überhaupt? Kann man Wirklichkeit objektiv abbilden? Gibt es eine Wirklichkeit oder ist es nicht eher so, dass es für jedes Individuum eine eigene Wirklichkeit gibt, eine Rorschach-Wirklichkeit, der immer wieder neue Bedeutungen eingeschrieben werden können? Das zumindest ist Galchens Überzeugung und um diese zu illustrieren, zieht sie Vergleiche zwischen der Realität, der Psychiatrie und der Meteorologie, dem Fachgebiet ihres Vaters Tzvi Gal-Chen, der ebenfalls im Roman auftaucht. Wiederholt erfährt der Leser nämlich, dass es unmöglich ist, das Wetter präzise vorauszusagen, weil man nicht einmal genug Daten hat, um sagen zu können, wie das Wetter in diesem Moment ist. Galchen möchte diesen Grundsatz auf unser Leben übertragen wissen: Nichts ist gewiss.

Nichts ist gewiss, schon gar nicht die Liebe. Denn darum geht es ja im Grunde: Leo liebt Rema, doch Rema ist plötzlich weg. Oder ist es vielleicht genau andersherum? Weil die Liebe sich verflüchtigt, bildet Leo sich ein, dass sei gar nicht die echte Rema, die da durch die Tür kommt. Er vermisst seine Frau mit ganzer Hingabe oder vermisst er vielleicht eher, was er einmal mit ihr hatte? All diese Gedankengänge drängen sich auf, doch ist Leo eben auch hier eine erzählerische Niete. Zwar analysiert er seine Situation wieder und wieder aufs genaueste. Doch kommt er eben zu Erkenntnissen, die verschoben, verschroben – eben ver-rückt klingen.

_Rivka Galchens Debut_ ist in seiner literarischen Methode faszinierend und überaus ambitioniert. Zwar ist der Roman gleichzeitig unglaublich kopflastig, doch versucht Galchen die intellektuellen Kapriolen ihrer Prosa mit kleinen Witzen aufzulockern. Dazu gehört eben auch, dass sie ihren eigenen Vater auftauchen lässt, der aus dem Jenseits mit Leo via BlackBerry kommuniziert. Da muss man schon schmunzeln, keine Frage!

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3498025120
Originaltitel: |Atmospheric Disturbances|
Deutsch von Grete Osterwald|
http://www.rowohlt.de/

Safier, David – Plötzlich Shakespeare

David Safier hat sich im deutschen Sprachraum einen Namen mit leicht lesbaren Komödien gemacht, die auf fantastischen und vollkommen abtrusen Grundideen basieren. In seinem Erstling [„Mieses Karma“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3977 ging es um Kim, die von einem Waschbecken erschlagen und – wegen Ansammlung schlechten Karmas – nur als Ameise wiedergeboren wurde.

In [„Jesus liebt mich“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=5337 traf Marie (!) auf Jesus, der (natürlich in seinem Erstjob als Zimmermann) den Dachstuhl ihres Vaters reparieren sollte. An abwegigen Ideen mangelt es Safier also nicht. Das beweist er erneut in „Plötzlich Shakespeare“, wo er eine weibliche Protagonistin in ein total verrücktes Abenteuer wirft.

_Es geht um_ Rosa. Diese ist ziemlich deprimiert, da ihre große Liebe Jan demnächst das Ehegelübde ablegen will – allerdings mit einer anderen Frau. Ihr Plan, Jan mit einer großen Szene zurückzugewinnen, geht gründlich schief und so sitzt sie auf ihrer heimischen Couch und bläst Trübsal. Einzig Holgi, Rosas schwuler Freund, hält ihr das Händchen und empfiehlt ihr als Therapie einen One-Night-Stand. Rosa hat zwar ihre Zweifel, trotzdem lässt sie sich mit dem Schürzenjäger Axel ein. Die beiden gehen in den Zirkus, wo die Nummer des Hypnotiseurs Prospero Rosas Aufmerksamkeit erregt. Vor Publikum führt er Rückführungen durch, um Menschen ihre eigentliche Bestimmung aufzuzeigen. Rosa, die bestimmungstechnisch gerade absolut in den Seilen hängt, fühlt sich angesprochen. Nach der Vorführung landet sie in Prosperos Wohnwagen und der schickt sie prompt in ein früheres Leben.

Und klar, Rosa war natürlich nicht irgendwer: Sie findet sich im Körper von William Shakespeare wieder, der gerade versucht, einem Duell aus dem Weg zu gehen, ein Liebesgedicht für den Geheimdienstchef von England zu schreiben und den Earl of Essex mit der Gräfin Maria zu verkuppeln (Dramatiker zu sein, ist eben auch kein einfacher Job). Rosa ist ziemlich überfordert: Sie findet sich nicht nur in einem anderen Jahrhundert, sondern auch in einem männlichen Körper wieder. Und darüber hinaus soll sie auch noch gute Reime schreiben. Zwar wollte sie als Kind immer Musicalautorin werden, doch hatte es dafür eben nicht gereicht – aus gutem Grund, wie sie bisher dachte.

Shakespeare – als körperlose Stimme in Rosas Kopf – und Rosa raufen sich schließlich zusammen und bestehen alle möglichen Abenteuer bis Rosa die von Prospero gestellte Aufgabe erfüllt und herausfindet, was die wahre Liebe ist. Und der Leser darf abwechselnd schmunzeln oder laut loslachen, wenn Rosa mal wieder in ein Fettnäppchen tritt.

_Safier bringt in_ seinem Roman gleich zwei Erfolg versprechende literarische Konzepte zum Einsatz: Zum Einen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Zeitreisegeschichte mit all den Fallstricken, die so etwas mit sich bringt. Rosa hat keine Ahnung vom England des 16. Jahrhunderts. Ständig eckt sie mit Modernismen an oder ist unfähig, der Queen den nötigen Respekt entgegen zu bringen. Der Clash von Moderne und Vergangenheit ist immer wieder faszinierend zu beobachten, wobei man anmerken muss, dass Safier sich nicht wirklich lange mit historischer Recherche aufgehalten hat. Es gibt auffallend wenige historische Details und kaum etwas, dass man nicht aus „Shakespeare in Love“ oder auch „The Tudors“ hätte lernen können. Dadurch bleibt die historische Kulisse eben nur das – eine Kulisse, die kaum mit Leben gefüllt wird. Daraus hätte man definitiv mehr machen und damit dem Zeitreiseaspekt mehr Würze geben können.

Zum Anderen ist „Plötzlich Shakespeare“ eine Genderswap-Geschichte, es geht also darum, dass ein Charakter das Geschlecht wechselt. Und auch hieraus erwächst natürlich Komik. Shakespeare der Schürzenjäger wird, nachdem Rosa quasi „in ihn gefahren ist“ plötzlich zum Mönch. Rosa mag ihren neuen Körper nicht nackt sehen, sie mag ihn weder waschen, geschweige denn in ihm Sex haben. Während Shakespeare von den Möglichkeiten schwer angetan ist (wäre das doch die Gelegenheit, mal herauszufinden, wie sich Sex aus der anderen Perspektive anfühlt), ist Rosa hauptsächlich peinlich berührt.

Leider ergeht sich Safier häufig in Klischees oder wenig überraschenden Handlungselementen. Daraus macht er auch keinen Hehl, schließlich startet der Roman mit den Worten: „Au Mann, ich war ja so etwas von einem Frauenklischee!“ Und ja, Rosa ist eine Figur, die man so schon hundertmal gesehen hat. Sie ist ein bisschen pummelig, unglücklich verliebt, hängt in einem unbefriedigenden Job fest und ihr bester Freund ist schwul und dick (Marke Dirk Bach – knuddelig, aber harmlos). Darum liest sich „Plötzlich Shakespeare“ auch wie eine bunte Mischung aus „Bridget Jones“ und „Shakespeare in Love“. Tiefgang braucht der Leser also nicht zu erwarten und auch sprachlich ist dieses Potpourrie reichlich anspruchslos. Rosas Text ist mit Lachern gewürzt und betont flapsig dahin geschrieben. Shakespeare allerdings ist weit weniger gelungen, schließlich fühlte sich Safier offensichtlich nicht bemüßigt, ihm wenigstens die Anmutung eines historischen Charakters zu geben. Zu allem Überfluss ist Safier als Lösung für das Genderswap-Problem nichts besseres eingefallen, als Rosas und Shakepeares Erzählung nebeneinander zu stellen – wobei Shakepeare durch kursiven Text gekennzeichnet ist. Das reißt den Text künstlich auseinander und unterbricht den Lesefluss – ständig muss man sich mitten in einer Szene mit einem Wechsel des Erzählers auseinandersetzen. Das macht keinen Spaß und wirkt irgendwie uninspiriert. Das Problem des Perspektivwechsels hätte man sicherlich auch eleganter lösen können.

_“Plötzlich Shakespeare“ ist_ ein Buch für alle, die leichte Kost mit Lachergarantie suchen und denen es auch nichts ausmacht, wenn ein Roman gegen Ende ins Süßliche abdriftet (gerade gegen Ende greift Safier mit Genuss in den Schmalztopf). Als Urlaubslektüre ist Safiers Roman durchaus geeignet – wer allerdings eine wirklich überzeugende Zeitreisegeschichte erwartet, wird enttäuscht.

Bessette, Alicia – Weiß der Himmel von dir

_Rose-Ellen Carmichael-Roy_, genannt Zell, ist seit einem Jahr und vier Monaten Witwe. Ihr Mann Nick Roy kam bei einem Unfall während eines Hilfseinsatzes in New Orleans ums Leben. Seitdem lebt Zell total zurückgezogen in dem gemeinsamen Haus in dem Städtchen Wippamunk. Sie redet allein mit ihrem Greyhound Captain Ahab, kein anderer vermag noch Zugang zu Zell zu bekommen.

Als Zell in einer Zeitschrift der Fernsehköchin Polly Pinch von einem Backwettbewerb liest, in dem es $20,000 zu gewinnen gibt – genau die Summe die Nick gerne in New Orleans gespendet hätte -, löst sie beim ersten Versuch einen Küchenbrand aus, da sie nicht wusste, dass im Ofen ein Geschenk von Nick liegt. Sie kann nämlich eigentlich weder Kochen noch Backen.

Durch diesen Brand lernt Zell ihre neuen Nachbarn, den alleinerziehenden Vater Garrett und seine 9-jährige Tochter Ingrid, kennen. Ingrid, die ihre Mutter nicht kennt und der festen Überzeugung ist, diese sei Polly Pinch, überredet Zell dazu, mit ihr an dem Wettbewerb gemeinsam teilzunehmen.

Durch den Kontakt zu Ingrid findet Zell langsam in ihr Leben zurück, auch wenn es immer mal wieder Rückschläge für sie gibt.

Im zweiten Erzählstrang wird von EJ erzählt. Er war bei dem Unfall dabei und macht sich schwere Vorwürfe, dass es Nick, und nicht ihn getroffen hat. Er befürchtet, dass Zell ihn infolgedessen hasst.

_Kritik_

Mit ihrem Erstlingswerk „Weiß der Himmel von dir“ hat Alicia Bessette einen liebenswerten Roman geschrieben. Im Vordergrund steht die junge Witwe Zell, die in der Trauerphase feststeckt und kaum aus dieser herauszufinden scheint. Die Autorin hat das Thema der Trauer und Hoffnung dabei sehr gefühlvoll umgesetzt. Sehr lebensnah und detailliert beschreibt sie das Leben in dem Städtchen Wippamunk und die Gefühle und Leben der einzelnen Charaktere.

Trotz dieses traurigen Themas hat die Autorin es geschafft, auch durchaus lustige Szenen in die Geschichte einfließen zu lassen, um nicht in unerträgliche Klischees abzugleiten. Die Handlung spielt hauptsächlich im Hier und Jetzt, allerdings werden auch Rückblenden in die Kindheit und Ehejahre von Zell und Nick eingespielt. Der Hauptplot wird aus der Perspektive von Zell erzählt, was dem Leser ihre Gefühle natürlich noch mal näherbringt. Auch EJ, Nicks Freund und sogar Nick selber – durch E-Mails, die er in der Zeit in New Orleans geschrieben hat – kommen in diesem Roman zu Wort, und man begreift schnell, wie sehr auch das Umfeld mitleidet. Alles in allem ist der Roman sehr ergreifend und dabei flüssig zu lesen, besonders anspruchsvoll ist er dabei allerdings nicht.

Die Protagonisten sind alle durchweg liebevoll und sehr sympathisch beschrieben. Zell, die teilweise wie ein alter Pirat redet, wirkt leicht verschroben und dabei sehr liebenswert. In ihrer Haut möchte man allerdings nicht stecken, hat sie doch einen der schlimmsten Verluste durchlitten, den man sich vorstellen kann. Die kleine Ingrid wurde sehr lebensnah und bezaubernd konzipiert, und so fliegen ihr die Herzen der Leserschaft schon bald zu. Mit EJ leidet man ebenfalls; er hat so viele Schuldgefühle und befürchtet, dass Zell ihn hasst, weil er noch lebt und Nick tot ist. Auch die Nebendarsteller, allen voran die alte „Küchenhexe“, sind in ihrer Art realistisch und sehr einnehmend ausgearbeitet.

Alles in allem ein gut umgesetzter, leichter Roman, der zwar manch einen Anfängerfehler beinhaltet, trotzdem aber durchaus lesenswert ist.

_Fazit_

„Weiß der Himmel von dir“ von Alicia Bessette ist ein ergreifender, aber trotzdem auch heiterer Roman, der sich nicht in der Trauer verliert, sondern auch die Chance auf ein Leben „danach“ zeigt. Mir hat dieser Roman sehr gut gefallen und ich würde ihn trotz einiger kleiner Schwächten auf jeden Fall weiterempfehlen.

Es würde mich auf jeden Fall freuen, noch mehr aus der Feder dieser Autorin zu lesen.

_Autor_

Alicia Bessette, geboren 1975, mag Kung-Fu-Filme, lehrt Yoga, ist Pianistin und Komponistin und hat mehrere CDs veröffentlicht. Sie arbeitet als Reporterin und Journalistin. Ihr Debütroman erschien in vielen Ländern gleichzeitig. Zusammen mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Matthew Quick, und ihrer Greyhound-Hündin Stella B. Quick lebt Alicia Bessette in der Nähe von Philadelphia. (Verlagsinfo)

|Gebunden: 364 Seiten
Originaltitel: Simply from Scratch
Aus dem Amerikanischen von Andrea Fischer
ISBN-13: 978-3-8105-0265-0|
[www.fischerverlage.de/page/krueger]http://www.fischerverlage.de/page/krueger

_Nadine Warnke_

David Belbin – Der Hochstapler

Wenn man die Inhaltsangabe zu David Belbins Roman „Der Hochstapler“ liest, könnte man schnell auf die Idee kommen, die Geschichte drehe sich um einen gewieften und erfolgreichen Fälscher literarischer Manuskripte. Jemand, der ein seltenes Talent besitzt und in der obskuren Ecke seiner Begabung Millionen scheffelt, schnelle Autos fährt und an jedem Finger eine Blondine hat. Dem ist jedoch mitnichten so, und dass Belbins Protagonist Mark Trace – trotz des Namens, der wie aus einem Spionagethriller gegriffen klingt – kein solcher Held ist, wird schon nach den ersten Seiten klar.

David Belbin – Der Hochstapler weiterlesen

Fortier, Anne – Julia

_Die Eltern von_ Julia Jacobs sind bereits früh durch ungeklärte Unfälle verstorben, und so wachsen Julia und ihre Schwester Janice bei ihrer Tante Rose Jacobs auf. Als Tante Rose plötzlich verstirbt, erwartet Julia eine unangenehme Überraschung: Nachdem es die ganzen Jahre so ausgesehen hat, als hätte Tante Rose sie ihrer Schwester Janice vorgezogen, erbt nun Janice das ganze Vermögen, doch sie bekommt vom Butler Umbero nur einen Brief und einen Schlüssel für ein Bankschließfach in Siena ausgehändigt.

In dem Brief ihrer Tante Rose liest sie, dass ihre Mutter kurz vor ihrem ungeklärten Tod fast ein altes Familienrätsel gelöst hat und einem großen Schatz auf der Spur war. Ebenfalls erfährt sie, dass ihr wahrer Name Giulietta Tolomei und die Geschichte ihrer Ahnen eng mit der von Shakespeares Romeo und Julia verbunden ist.

Um in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten und auch die letzten Geheimnisse und den sagenumwobenen Schatz zu finden, macht Julia sich auf den Weg nach Siena, um die Forschungen ihrer Mutter wieder aufzunehmen.

In dem Bankschießfach findet Julia bzw. Gulietta eine Schatulle, die mit diversen Schriften und einigen Zeichnungen von Giuliettas Mutter gefüllt ist. In ihrem Zimmer schaut sie sich alles genau an und stellt fest, dass die Urgeschichte um Julia und Romeo in Siena stattgefunden hat. Sie lässt bei ihren Nachforschungen nicht locker und gerät in einen Strudel aus Geheimnissen, Verrat, Liebe und Abenteuer.

_Kritik_

Mir ihrem Debütroman „Julia“ hat Anne Fortier gekonnt verschiedene Genres bedient. Zunächst einmal ist er natürlich ein Familienroman, aber auch das historische Genre, eine wunderschöne Liebesgeschichte, Drama und Krimi sind hier vereint.

Der Sprachstil passt sich der Vergangenheit und der Gegenwart an. Spielt die Geschichte in der Vergangenheit, ist er poetisch blumig, spielt sie in der Gegenwart, wirkt er zeitgemäß. Die Erlebnisse von Julia bzw. Giulietta werden aus ihrer Perspektive erzählt, die der Giulietta aus dem 14. Jahrhundert hingegen aus der Perspektive eines Beobachters, was durch diese unterschiedliche Art der Herangehensweise recht ausgereift wirkt.

Mir ihrem Erzählstil schafft es die Autorin, dass der Leser glaubt, sich direkt in Siena zu befinden. Anne Fortier beschreibt die Umgebung so detailreich, dass man sich die Orte und Gebäude bildlich vorstellen kann und Lust darauf bekommt, diese auch tatsächlich zu besuchen.

Gerade in der Geschichte, die in der heutigen Zeit spielt, baut die Autorin einen gelungenen Spannungsbogen auf, der sich beständig steigert. Bis zum Schluss ist man sich nie zu hundert Prozent sicher, wer auf wessen Seite steht. Man kann das Buch aufgrund des Verwirrspiels und des fließenden Schreibstils der Autorin nur schwer aus der Hand legen.

Auch wenn der Part der Giulietta aus dem 14. Jahrhundert dem Leser vermutlich vertraut ist, wird dieser interessant genug aufgebaut, und Lesern, die Shakespeares „Romeo und Julia“ nicht kennen sollten, wird diese romantische Geschichte nähergebracht.

Die Protagonisten aus Gegenwart und Vergangenheit sind ausnahmslos greifbar, lebendig und detailreich konzipiert. Keinesfalls eindimensional, bietet jeder Darsteller eine Fülle von Stärken und Schwächen, die so lebensnah ausgearbeitet sind, dass man sich mit den Personen durchaus identifizieren kann. Auch die Beziehung zwischen Julia bzw. Giulietta und Alessandro (Romeo oder Paris?) ist hervorragend ausgearbeitet und hält den Leser bis zum Schluss in Atem.

In ihrem Nachwort geht die Autorin noch auf die Ursprünge von Romeo und Julia ein – diese Geschichte hat ihre Anfänge wohl tatsächlich in Siena.

_Die Autorin_

Anne Fortier wuchs in Dänemark auf, wo sie im Fach Ideengeschichte promovierte. Mit ihrem Mann, den sie in Oxford kennenlernte, ging sie nach Amerika. Sie war Co-Produzentin von Dokumentarfilmen und lehrte Philosophie und Europäische Geschichte an verschiedenen Universitäten. Sie fühlt sich auf beiden Seiten des Atlantiks zu Hause. Seit der Kindheit von Shakespeares Heldin fasziniert, forschte sie für ihren Roman in Sienas Archiven und Museen. (Verlagsinfo)

_Fazit_

Anne Fortiers Debütroman „Julia“ ist auf jeden Fall zu empfehlen. Leser der verschiedenen Genres kommen voll auf ihre Kosten, und auch die Männerwelt wird diesen Roman durchaus gerne lesen. Mit ihrem Stil hat die Autorin mich voll überzeugt und ich hoffe darauf, noch viel aus ihrer Feder lesen zu können.

|Gebunden: 637 Seiten
Originaltitel: Juliet
Aus dem Amerikanischen von Birgit Moosmüller
ISBN-13: 978-3810506788|
[www.fischerverlage.de/page/krueger]http://www.fischerverlage.de/page/krueger

_Nadine Warnke_

Boudinot, Ryan – Sperm & Egg. Eine Liebesgeschichte

Erwachsenwerden ist nicht leicht. Probleme mit sich selbst, Probleme mit den Eltern und die erste Liebe sind alleine schon schwer zu bewältigen, aber wenn diese drei Dinge zusammen treffen, dann steckt man wahrlich in einem Schlamassel. Schlamassel machen allerdings ziemlich gute Bücher. Ein aktuelles Beispiel ist „Sperm & Egg – Eine Liebesgeschichte“, der Debütroman von Ryan Boudinot.

_Um seine große_ Liebe Kat Daniels zu beeindrucken bringt Cedar sein Sperma zum Mikroskopieren in den Biologieunterricht mit. Und tatsächlich! Es funktioniert. Die beiden kommen zusammen, doch so einfach, wie er sich das mit der ersten Liebe vorgestellt hat, ist sie nicht. So richtig klappt das mit dem Sex leider nicht – und als Kat von einer Urlaubsreise zurück kommt und plötzlich schwanger ist, läuten bei Cedar die Alarmglocken. Er ist sich ziemlich sicher, dass er es nicht war, doch Kat möchte nicht damit heraus rücken, wer sonst in Frage kommt. Also reimt sich Cedar zusammen, dass es George gewesen sein muss, der Freund von Kats Mutter, den diese nicht besonders leiden kann.

Er steigert sich in diese Theorie rein und steht Kat natürlich hilfreich zur Seite, als sie beschließt, das Baby abzutreiben. Doch die dankt es ihm nicht. Nach der Abtreibung zieht sie sich immer mehr von ihm zurück bis die Beziehung auseinander bricht. Dabei hätte Cedar eine Schulter zum Anlehnen gebrauchen können. Seine Eltern sind nämlich auf die Idee gekommen, sich scheiden zu lassen. In seiner Wut konzentriert er sich auf den mutmaßlichen Vergewaltiger George und heckt einen teuflischen Plan aus …

_“Sperm & Egg“ lässt_ einen als Leser etwas ratlos zurück. Boudinot hat gute Ideen und auch sein Erzählstil mit den sehr konkreten, häufig überraschenden Metaphern und dem unterschwelligen Humor kann sich sehen lassen. Die Handlung des Buches lässt allerdings Fragen offen. Obwohl die oben erwähnten Ereignisse aus dem Teenagerleben von Cedar und Kat im Mittelpunkt stehen, konstruiert Boudinot eine Rahmenhandlung außenrum, die mehr oder weniger unnötig ist. Zwanzig Jahre später treffen Kat und Cedar sich, da Kat ein Buch über diese Phase ihrer Jugend geschrieben hat und sich absichern will, dass Cedar sie nicht wegen der darin beschriebenen Ereignisse verklagen wird. In dieser Rahmenhandlung passiert aber nichts Wichtiges außer ein bisschen Geplänkel zwischen den Ex-Geliebten. Umso störender ist es da, dass die Kerngeschichte dadurch nicht nur unterbrochen wird, sondern auch seltsam komprimiert wirkt. Sie hätte alleine genug Kraft gehabt, um ein ziemlich gutes Buch zu werden, wenn Boudinot sie entsprechend noch etwas erweitert hätte. Sie ist komisch, dramatisch und mitreißend. Sie hat alles, was man sich von einem guten Coming-Of-Age-Roman wünscht und da ist es mehr als schade, dass der Autor den Leser mit Fragezeichen in den Augen und einer unpassenden Rahmenhandlung abspeist.

Cedar und Kat, aus deren Ich-Perspektive abwechselnd berichtet wird, sind zwei charmante Charaktere, die neben viel Witz auch eine gewisse Ernsthaftigkeit besitzen. Dadurch ähneln sie Figuren aus anderen Pubertätsromanen nicht besonders, was gut ist. Obwohl Boudinot sie immer wieder in skurrile Situationen schickt, wirken die beiden echt und lebensnah. Es macht Spaß, ihnen zu folgen – auch als erwachsener Leser. Die unbedarfte und unverfälschte Sichtweise der zwei auf das Leben und vor allem auf die Erwachsenen, gerade ihre Eltern, ist stellenweise wie ein Spiegel. So ist es kein Wunder, dass gerade diese am Negativsten betrachtet und häufig beinahe ins Lächerliche gezogen werden. Das ist zum Einen der jugendlichen Perspektive geschuldet, die die eigenen Probleme als wichtiger erachtet als die Scheidung der Eltern. Zum Anderen treffen sie dabei auch den einen oder anderen wunden Punkt.

Sprachlich findet Boudinot einen guten Mittelweg zwischen Humor und Ernsthaftigkeit. Seine Schreibweise ist nicht gewollt witzig. Vielmehr entstehen Scherze aus der Situation heraus, als Reaktion auf Gesagtes oder ein Ereignis. Der Autor übertreibt es dabei aber nicht. Er zieht weder die Geschichte noch deren Charaktere ins Lächerliche. Außerdem verlässt er sich nicht auf den Humor, sondern hat auch sonst einiges zu bieten. Sein lockerer Umgang mit Metaphern, die teilweise ungewöhnlich sind, und anderen Sprachbildern lassen „Sperm & Egg“ zu einem fluffigen Lesevergnügen werden, das man schon alleine deshalb in einem Rutsch liest, weil man gespannt auf die nächste sprachliche Raffinesse ist.

_“Sperm & Egg“ macht_ definitiv einen guten ersten Eindruck auf dem Büchermarkt. Die lockere, witzige Schreibweise und die gut durchdachte Kerngeschichte zeigen, dass Boudinot sein Handwerk beherrscht. Die Rahmenhandlung allerdings schmälert den Genuss etwas.

|Taschenbuch: 224 Seiten
Originaltitel: |Misconception|
Deutsch von Silke Jellinghaus
ISBN-13: 978-3499253744|
http://www.rowohlt.de

Moravia, Alberto – Römische Erzählungen

_Kurzweilige Reise in die jüngere Vergangenheit Roms_

Über die Vampire und Zauberer, von denen es in der zeitgenössischen Literatur nur so wimmelt, über historische Romane und andere überwiegend unterhaltenden Literatur vergisst man fast, dass es auch noch Schriftsteller gab und gibt, die sich durchaus realistisch mit der sie umgebenen Welt auseinandergesetzt haben. So ist es leicht möglich, dass man sich Alberto Moravias „Römische Erzählungen“ in Vorfreude auf einen Italienurlaub in der Buchhandlung greift und überrascht wird. Rot wie der Mohn zwischen den Steinen im Forum Romanum dominiert die Zeichnung eines leichten Schals den Einband von Luchterhands Wiederauflage. Sie zeigt bereits, wo die Reise hingeht: in undurchsichtige, in erotische, sogar in blutige Gefilde. „Meisterhafte literarische Momentaufnahmen (…) Ein Buch über Rom, über die Liebe, die Tragödien des Alltags und die Labyrinthe der menschlichen Seele.“ verspricht der Umschlagtext. Und er hält, was er verspricht.

Mit seinen 1954 und 1959 zum erstem Mal veröffentlichten „Racconti romani“ nimmt Moravia den Leser mit in das Nachkriegsitalien der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts. Bereits die erste Geschichte „Der Dickschädel“ skizziert das Milieu, in dem sich alle Erzählungen bewegen. Der männliche Ich-Erzähler, ein römischer Taxifahrer, lässt sich in der Hoffnung auf ein amouröses Abenteuer darauf ein, zwei Männer und eine Frau nach außerhalb von Rom ans Meer zubringen. Obwohl die Frau wie eine Schlange wirkt, sind ihr roter und voller Mund sowie ihre schwarzen leuchtenden Augen zu verführerisch, um die Fahrt abzulehnen. Schnell stellt sich jedoch heraus, dass die Bande ihn erschießen und sein Auto stehlen will. Der Mordversuch missglückt, weil selbst die Pistole zu heruntergekommen ist, als dass sie noch richtig funktionieren würde. So recht trauen sich die Männer einen Mord auch gar nicht zu. Nach einer absurden Diskussion fährt der Taxifahrer nur mit der Frau nach Rom zurück und muss unterwegs auch noch feststellen, dass diese ihn die ganze Zeit an der Nase herumgeführt hat und es kein amouröses Abenteuer geben wird. Ganz im Gegenteil – er, der Arbeitszeit und Benzin vergeudet hat, wird am Ende noch als „Dickschädel“ beschimpft.

So oder ähnlich sind auch die Protagonisten der anderen Erzählungen gelagert. Man bekommt es mit leichten Mädchen, mit Mördern, Dieben, Messerstechern, Krüppeln, Kleinhändlern und merkwürdigen Figuren zu tun, die sich mehr schlecht als recht durch das Leben schlagen. Wie der Lastwagenfahrer aus der gleichnamigen Erzählung oder Gino aus „Das Double“ sind sie auf der Suche nach Freundschaft und Liebe. Dabei blickt Moravia auch in die Abgründe der menschlichen Seele, in der sich auch Hass und der Wunsch nach Rache ausbreiten können. Doch wie in der Erzählung „Das perfekte Verbrechen“ schlägt die bedrohliche Atmosphäre häufig ins Komische um und macht das perfekte Verbrechen auf ironische Weiser zu einem Verbrechen, das gar nicht erst geschieht.

Der Leser schmunzelt immer wieder über die Fehlinterpretation der Situationen durch die durchweg männlichen Ich-Erzähler Moravias. Diese sind nicht in der Lage, ihr Leben zu reflektieren, und versuchen nie, den Ursachen der ihnen widerfahrenden Schicksale auf den Grund zu gehen. Am Ende stehen sie meist so gewollt ahnungslos da wie der Erzähler aus „Laß es gut sein“, der bis zum Schluss der Geschichte nicht versteht, warum ihn seine Frau verlassen hat, obwohl durch die Schilderung des Charakters und der Taten des Protagonisten dem Leser auf didaktisch anschauliche Weise ganz genau vermittelt wird, dass es sich um einen Mann handelt, der seine Frau Tag und Nacht nicht für eine Minute allein gelassen hat und ihr in seiner „Anhänglichkeit“ sogar bis auf öffentliche Toiletten nachgelaufen ist. In seiner Verzweiflung wirkt er, der sich für den besten Ehemann hält, schon fast tragisch. Doch auch der Leser erkennt, dass es für diesen selbstverliebten Menschen nur den einen Rat gibt: „Lass es gut sein.“

Tatsächlich wirken die Geschichten, auch wenn sie von Versagen, Zurückweisung und Misserfolg erzählen, nie sentimental, sondern amüsant; bestes Beispiel ist auch die Geschichte des Müllmanns Luigi aus „Und du bist dran“, der seinen Beruf vor seiner Freundin geheimhalten will, weil er denkt, dass Frauen keine Müllmänner mögen, bis er schließlich seinen Job aufgibt und arbeitslos wird, woraufhin sie schließlich jemand anderen heiratet – einen Müllmann nämlich.

Einen beispielhaft mustergültigen Menschen gibt es trotz der didaktischen Absichten Moravias nicht. Seine Figuren sind nicht nur moralisch fehlerbehaftet wie jeder gewöhnliche Mensch. Sie sind auch äußerlich nicht perfekt und stehen dem Leser gerade deshalb nahe. Die Männer verlieben sich nicht in wunderschöne weibliche Überwesen, sondern beispielsweise in „ein kräftiges, nicht sehr großes Mädchen mit einem breiten, frischen, von Sommersprossen übersäten Gesicht und einer Brille für Kurzsichtige“ („Die Krankenschwester“) oder „dralle Mädchen, klein und krumm“ („Tarzans Revanche“).

Moravia, der in Rom geboren wurde und viele Jahre seines Lebens in dieser Stadt verbrachte, skizziert in den kurzen Geschichten eine bunte Stadt voller Leben. Sein Rom besteht aus kleinen Cafés und Bars, schmuddeligen Straßen, nachtfinsteren Parks, der braunen Dreckbrühe des trägen Tibers, dem hinter sonnenverbrannten Gräsern und trockenen Sträuchern gelegenem Meer sowie Wohnungen der Unter- und Mittelschicht. Es gibt kleine Geschäfte, mit denen sich die Inhaber gerade so über Wasser halten können. Die Menschen müssen im Kampf ums tägliche Überleben erfinderisch sein. Vom beginnenden Nachkriegsaufschwung hingegen zeugen Autos, Theater und Kinos. Man amüsiert sich beim Spazieren, bei Pferde- oder Windhundrennen oder bei einer Partie Billard, während man auf dem Land „die Hühner zwischen den Beinen hat“ und noch auf Pferde als Fortbewegungsmittel angewiesen ist. Solchermaßen kontrastierend erhält Rom seine Gestalt als Magnet für alle, die sich nach Fortschritt und einem besseren Leben sehnen. Die Landbevölkerung schneidet in Moravias Geschichten dabei schlechter ab als die Variation recht schlitzohriger oder trotteliger Römer. Tuda, das „Mädchen aus Ciociaria“, kann beispielsweise weder lesen noch schreiben und ist so einfältig, dass sie den Wert von Büchern allein an deren Anzahl und nicht an ihrem Inhalt misst.

So einfach wie die Menschen selbst und ihre Lebenswelt ist auch ihre Sprache. Schwarze Augen werden mit Kohlen verglichen; Körper mit Kohlköpfen. Schimpfwörter wie Nichtsnutz, Drückeberger, Faulpelz, Schurke, Hundsfott, gerissenes Luder oder Hexe begegnen dem Leser allenthalben. Sie klingen im Deutschen fast zahm, aber wenn man sie sich zusammen mit lebhaften Gesten und der leidenschaftlichen Intonation der Italiener vorstellt, ahnt man das Unbehagen, das die Darstellung der ungeschminkten Realität der einfachen Bevölkerung in ihren Entstehungsjahren ausgelöst hat. In diesem Sinne ist dieser moderne Klassiker der italienischen Literaturgeschichte dann doch wieder richtig aufgehoben im Urlaubsreisegepäck; als eine kurzweilige Reise in Roms jüngere Vergangenheit und die italienische Kultur, sicherlich keine ganz leichte Kost, aber in Häppchen dargeboten und daher gut verdaulich.

|Originaltitel: Racconti romani, 1954
Übersetzung: Michael von Killisch-Horn
476 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-630-62180-7|
http://www.Luchterhand-Literaturverlag.de

Fedler, Joanne – Weiberabend

_Inhalt_

Acht Freundinnen, alle etwa um die vierzig Jahre alt und alle Mütter, treffen sich zu einer Übernachtungsparty. Das ist eine kostbare Ausnahme im stressigen Alltag, die entsprechend zelebriert wird: Mit Unmengen hervorragenden Essens, mit Erdbeer-Daiquiris und Karamelllikör, mit Frauenfilmen und jeder Menge Gesprächen.

Die Mutterschaft ist das bindende Glied zwischen der Ich-Erzählerin Joanne und ihren Freundinnen. Einstellungen und Anschauungen weichen voneinander ab und erzeugen durchaus Reibungsflächen. Doch da ist diese eine Erfahrung, diese Mutterschaftserfahrung, die sie verbindet und die ihnen genügend Plattform bietet, um sich immer wieder zusammenzuraufen und um ihre seltenen Auszeiten zu genießen. Selbst, wenn man dafür großmütig über Makel hinwegsehen muss, die man an den anderen findet.

Acht unterschiedliche Frauen bringen ihre Geschichten, ihre Hoffnungen, Ängste und Träume mit und tauschen sich aus: Der Abend schwankt zwischen Lachen und Weinen, zwischen Wehmut und Albernheit, zwischen der Ausnahme-Zigarette und dem Dinnermarathon. Geheimnisse werden verraten oder zumindest angedeutet, Schwächen aufgedeckt, Eingeständnisse gemacht. Kleine Lästereien fehlen ebenfalls nicht, aber vorrangig geht es um größere Eintracht: Die größere Eintracht, die entsteht, wenn man merkt, dass man nicht allein ist mit den persönlichen Katastrophen, den kleinen Siegen.
Es geht darum, einmal von der Familie wegzukommen, sich einen Abend lang nicht nur um andere zu kümmern, das eigene, zurückgestellte Selbst hervorzukramen und es ein bisschen zu pflegen. Es geht darum, sich eine Auszeit zu gönnen, um am nächsten Tag voller Liebe und Sehnsucht und mit einem leichten Kater in den Schoß der Familie zurückkehren zu können.

_Kritik_

Acht Frauen, acht Leben, eine Nacht und Erdbeer-Daiquiris – natürlich ist das spannend. Für Frauen jedenfalls. Ich konnte schon beim Lesen des Klappentextes vor meinem inneren Auge die kleine Staubwolke sehen, die der letzte Mann hinterlassen hat, der umgehend die Flucht ergriffen hat, sobald er diese Zusammenfassung gelesen hatte. Nein, „Weiberabend“ ist ein Weiberbuch.

Schnell wird „frau“ also warm mit der Authentizität, die sie aus diesen Seiten anspringt: Frauen, die essen, reden, trinken, reden, kichern, reden, weinen, reden … Das kennen wir alle. Wahrscheinlich ist ein schönes Männeräquivalent zu einem solchen Abend ein spannendes Fußballspiel, ein Kasten kalten Biers und ein, zwei Kumpel, mit denen man nur unter Verwendung des Wortes „Alter“ kommuniziert, das auch je nach Betonung eine Menge aussagen kann.

Joanne Fedler schreibt ungekünstelt, und das ist gut so. Sie will ja keine bedeutungsschwangere Literatur verfassen, sie will das Leben zeigen. Zwar hat sie einen angenehmen Stil, aber sie übertreibt es nicht, lässt die Frauen für sich selbst sprechen.
So weit, so schön. Allerdings fehlt mir der letzte Funke des Verständnisses, da ich selbst nicht Mutter bin. Da ich mich noch auf der Seite des Unwissens befinde, kann ich also nur Vermutungen anstellen, was den Wahrheitsgehalt der Aussagen angeht, und mir kam da so das eine oder andere ein bisschen fatalistisch vor. Andererseits – wer bin ich denn, zu urteilen? Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal die Klappe halten.

Ahnung habe ich lediglich von dem Thementeil des „Frauen unter sich“, und der ist schön gemacht, wenn ich auch nicht jede erzählte Aktion mitmachen würde, und von der Darreichungsform, und daran gibt es nichts auszusetzen.

_Fazit_

„Weiberabend“ ist ein Buch, das ich jederzeit einer Freundin weiterreichen würde. Es ist lebensnah und unmittelbar geschrieben und verfügt über ein sorgsam ausgewogenes Verhältnis von Kichern und Tränen. Da ich zum Hauptthema des Ganzen wenig sagen kann, bleibt mir nur, die Mütter unter euch aufzufordern, sich selbst ein Bild zu machen. Schon für Stil und Atmosphäre lohnt sich die Lektüre, also gebt ihr eine Chance.

|Broschiert: 409 Seiten
Originaltitel: Secret Mothers‘ Business
Aus dem Englischen von Katharina Volk
ISBN-13: 978-3426637975|
[www.droemer-knaur.de ]http://www.droemer-knaur.de
[www.joannefedler.com]http://www.joannefedler.com

Weidler, Christoph (Hg.) – Glück Saramees, Das

_Inhalt:_

Saramee – eine Stadt unzähliger Schicksale, Abenteuer und Geschichten. Einige hiervon werden in dieser Anthologie erzählt.

_Meinung: _

Den Opener der Anthologie stellt das Vorwort des Herausgebers Chris Weidler dar. Dieser kündigt an, dass sich die Serie künftig auf Kurzgeschichtensammlungen konzentrieren wird, was hoffentlich nicht bedeutet, dass es keine komplexen Romane mehr gibt! Doch diese Anthologie beweist, dass auch die Kurzgeschichte zu unterhalten weiß.

Daher einige Worte zu denen von „Das Glück Saramees“:

|Das Glück Saramees| – Stephan R. Bellem

Die Titelstory eröffnet den Geschichtenreigen rund um die Stadt der Abenteurer und ist auch eine der stilistisch besten Stories. „Jeder findet sein Glück in Saramee”, sagte der Vater des Protagonisten der Eröffnungsstory immer. Er ist jung, fremd in der Stadt und mittellos. In Saramee trifft er auf einen Fremden, der ihn mit einem Botendienst beauftragt – und ihn in ein gefährliches Abenteuer stürzt, das ihm zeigt wofür sein Herz schlägt.

|Mit Brief und Siegel| – Katja Brandis

Shira Jatam, eine Schreiberin, steht der Liebe sehr skeptisch gegenüber. Da taucht ein Fremder bei ihr auf, um ihr einen Erpresserbrief zu diktieren, unter Einsatz seines Dolches. Nur einen Tag später findet Shira den Unbekannten in einer Blutlache liegend und erfährt von ihm an wen der Brief gegangen ist. Shira kennt den Empfänger – das ruft unliebsame Erinnerungen in ihr wach.

|Das Götzenloch| – Tom Cohel

In der Taverne „Sperberhöhle“ lebt Zenja, die tönerne Götterfiguren verkauft und es mit der Eifersucht ihrer „Kollegin“ zu tun bekommt. Doch Zenja verfolgt längst eigene Pläne.

|Abu Risas zweite Chance| – Andrea Tillmanns

Milo Londe bittet Meister Abu Risa (Arzt) darum, ihm einen Platz in seinem Labor zu geben, da er glaubt eine Pflanze zu haben, die das Sumpffieber heilt. Abu Risa sieht eine zweite Chance, seine seit seiner Heirat gesunkene Reputation wieder zu steigern …

|Der Glanz der Durtone| – Michael Schmidt
Adyra, ein Vogelwesen, bittet den Geldwechsler Balduin Baal eine Handvoll Münzen zu schätzen. Der feilscht Adyra die Münzen ab, mit dem Gefühl ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Doch an den Münzen klebt das Unglück und das bekommt auch Balduin Baal sehr bald zu spüren.

|Goldrausch| – Guido Krain

Viona Makanar, leitet ein Waisenhaus in Saramee und steht im Ruf, dank ihrer Spendeneintreibung, über einen großen Reichtum zu verfügen. Fellon, der Dieb, will sich etwas davon aneignen, bricht in das Heim steht, steht bald vor einem Goldschatz – und Vionda Makanar.

|Neue Wege| – Chris Schlicht

Der Straßenjunge Balay ist ein geschickter Kletterer und landet auf der Flucht vor Verfolgern im Haus des Baumeisters Gerakas – eine Begegnung, die beider Leben zu verändert scheint.

|Das 226. Elixier| – Tobias Radloff

Sinton will den Meister der Giftmischergilde töten und dessen Platz einnehmen und das Rezept eines Elixiers (Trank der Unsterblichkeit) an sich bringen. Als der Meister den Verrat bemerkt, erzählt er Sinton zur Abschreckung seine Geschichte.

|Turm der Fallen| – Markus K. Korb

Kronn, zu dem Markus K. Korb bereits Romane zur Serie verfasste, schlägt sich nach seiner ehrlosen Entlassung aus dem Dienst der Stadtwache, mehr schlecht als recht durch und gibt sich immer mehr dem Suff hin. Doch das hat seinen Grund: Kronn weiß von einem Tier in Menschengestalt, das in Saramee unter ihnen lebt und von dem Gefahr ausgeht. Und Kronns Gesanken kreisen um den Roten Turm. Dort soll der Hauptteil des Stadtschatzes liegen, den ein furchtbarer Dämon bewacht – Kronn geht dem nach …

|In den Gärten von Bol D’Agon| – Arthur Gordon Wolf

Der Geldwechsler Thallek Yur wird von einem Mitglied der obskuren Sekte „Hüter des Opalwaldes“ aufgesucht, der eine Art Smaragd zu Geld machen will. Dadurch wird Thalleks Gier geweckt und er macht sich auf die Suche nach dem sagenumwobenen Opalwald, die finsteren Gärten des Alten Volkes.

|Helden der Nacht| – Christian Endres

Der Heiler Miravles wird abends von zwei Glisk (Baumbewohner) überfallen, doch ihm kommt ein Fremder mit heiserer Stimme zu Hilfe – Schattenschwinge. Von einem Kampf im Dienste der Gerechtigkeit als selbsternannter Rächer Saramees verletzt, sucht Schattenschwinge erneut Hilfe bei Miravles. Als dieser entführt wird kreuzen sich erneut ihre Wege …

|Träume, Blüten und Liköre| – Martin Clauß

Liwend ist der schönen Saheya verfallen, die er seit zehn Jahren kennt und der er einmal die Woche neue Liköre aus der Brennerei seines Dienstherrn Horoun verkauft. Saheya gehört zu den kostspieligsten Freudenmädchen der Stadt und Liwend spart eisern um nur einmal ein oder zwei Stunden mit ihr verbringen zu können – doch die beiden verbindet auch ein Geheimnis.

|Dschungelatem| – Linda Budinger

Dariu erinnert sich nicht mehr an seine Herkunft, steht gegen seinen Willen bei dem Alchemisten Royard im Dienst und sehnt sich nach nichts mehr als seiner Freiheit. Als Fremde in Royards Anwesen auftauchen, wittert Dariu seine Chance der Gefangenschaft und den Schrecken in dem Labor des Alchemisten zu entgehen.

|Das Geheimnis der Schatulle| – Alfred Bekker & Hendrik M. Bekker

Darisel schleicht sich heimlich auf ein Schiff des Imperiums – er soll das Schiff und andere zerstören und will eine wertvolle Schatulle an sich bringen – und erlebt sein blaues Wunder.

Diese Anthologie bietet kurzweilige und phantasievolle neue Abenteuer aus der Vielfalt der Stadt Saramee. Dabei bewegen sich die Texte – bis auf eine einzige Ausnahme – auf gleich gutem Level und bieten eine unterhaltsame Bandbreite. Ein Band mehr, der beweist, dass die Anthologie zu unrecht ein solches Schattendasein führt. Man kann nur hoffen, dass das Interesse der Leser das ändert.

Die Aufmachung ist wie bei dem Titel „Geweckte Hunde“ wieder sehr künstlerisch und aufwändig. Seien es die gezeichneten Bordüren als Kopf- und Fußzeilen oder die Vitae aller Beteiligter. Im Anschluss an den Text und zu jeder Story gibt es als Entry eine Illustration von Chris Schlicht, die die Serie grafisch betreut und ihr damit eine besondere Note gibt. Diese Serie birgt enormes Potential und es bleibt nur zu hoffen, dass Herausgeber und Verlag dieses auch nutzen und wie aus einem Füllhorn daraus schöpfen werden. Und die Leser das auch honorieren – es wäre eine Schande, wenn nicht.

_Fazit:_

Textlich und optisch gelungener Kurzgeschichtenband aus Saramee, der Lust auf mehr macht – dennoch bleibt zu hoffen, dass es auch weiterhin komplexe Romane geben wird. Denn diese Anthologie aber auch alle anderen Bände der Serie sind absolut empfehlenswert!

|Taschenbuch: 172 Seiten
Mit Innenillustrationen von Chris Schlicht
Layout: Timo Kümmel
ISBN-13: 9783941258174|
[www.atlantis-verlag.de]http://www.atlantis-verlag.de

Sabatini, Irene – Geteiltes Herz

_Inhalt_

Als aus Rhodesien Simbabwe wird, ist die Schwarze Lindiwe noch ein Kind. Ein Kind, das von den Geschehnissen in seiner unmittelbaren Umgebung mehr betroffen ist als von umwälzender Politik. Und es geschieht ja auch etwas extrem Gruseliges: ihre Nachbarin, die weiße, rassistische Mrs. MacKenzie, verbrennt bei lebendigem Leibe. Ihr Stiefsohn Ian, ein Jugendlicher, der eben erst aus Südafrika zum Begräbnis seines Vaters gekommen ist, wird verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt.

Lindiwe ist verängstigt und fasziniert gleichermaßen: Was bringt einen Menschen dazu, so etwas zu tun? Zwei Jahre später kommt Ian aus dem Gefängnis frei und kehrt zurück in das Nachbarhaus Lindiwes. Deren Mutter verbietet ihr den Umgang mit dem Jungen, doch heimlich freunden die beiden sich an, obwohl sie mehr als nur die Hautfarbe trennt: Ian hat die Schule abgebrochen, während Lindiwe immer Klassenbeste war.

Die beiden überwinden zwar ihre Differenzen, aber der Bürgerkrieg hat das Land fest im Griff. Nach einigen traumatischen Erfahrungen beschließt Ian, wieder nach Südafrika zu gehen. Lindiwe möchte ihn begleiten, doch nach nur einer gemeinsamen Nacht lässt Ian sie in einem Hotel an der Grenze zurück.

Die beiden halten über Briefe Kontakt, und als sie sich eigentlich schon in ihren neuen Leben eingerichtet haben, laufen sie sich wieder über den Weg. Was einst so zart begann, hat trotz der Jahre und der Entfernung an Stärke gewonnen. Die neue Nähe und die neuen Umstände schweißen sie zusammen und zwingt sie, sich in einem völlig neuen, gemeinsamen, von Unterschieden geprägten Leben zurechtzufinden – und das in einem Land, das einem Pulverfass gleicht. Während die Lunte schon brennt, kämpfen Lindiwe und Ian verbissen um ihr Glück …

_Kritik_

Irene Sabatini hat eine ganz besondere Liebesgeschichte erschaffen: Zarte Gefühle überwinden Seidenfäden gleich Diskrepanzen, die dafür zu groß erscheinen, und haben nicht lange Zeit, sich zu entwickeln. Viel zu schnell muss die Romanze plötzlich den Härten eines von Komplikationen geplagten Lebens standhalten.

An sich wäre das schon Stoff genug für eine wirklich interessante Geschichte, aber der Hintergrund des vom Bürgerkrieg gebeutelten Simbabwe macht die Liebesgeschichte des ungleichen Paares zu einer einmaligen Lektüre. Die stilistischen Unterschiede in der Redeweise des cleveren, aber ungebildeten Ian und der Akademikerin Lindiwe bilden einen reizvollen Kontrast. Im Anhang befindet sich eine Liste der im Roman verwendeten typischen Ausdrücke, die die authentische Wirkung des Buches noch unterstreichen.
Da Lindiwes und Ians Lebensgeschichte mit dem Aufstieg Mugabes zur Macht verknüpft ist, lernt der Leser ganz nebenbei etwas über die ersten Tage des jetzigen Diktators: Kaum vorstellbar, dass dieser Mann einst als Hoffnungsträger angesehen worden ist.

Politik, Liebe, Verletzungen, Verzeihungen, Tod, Geburt, Glück und Verzweiflung verwebt Irene Sabatini stilistisch wunderschön zu einem atmosphärisch dichten Roman, der eine Art nostalgische Liebeserklärung an eine gestorbene Hoffnung zu sein scheint.

_Fazit_

„Geteiltes Herz“ ist ein Roman, der unter die Haut geht und berührt. Es ist unmöglich, sich dem Zauber zu entziehen, den Sabatini webt: Zwar ist es nicht das geheimnisvolle, urtümliche Afrika, das so gern benutzt wird, um ein romantisches Bild des Kontinents zu zeichnen, aber es ist ebenso unbegreiflich in seiner Gewalt, seinem Hass und seiner Zerstörungswut. Die unerbittliche Lebenslust Lindiwes und Ians hingegen, ihre starken Gefühle füreinander und ihre Hoffnung auf ein besseres Morgen ziehen sich wie eine positive Macht durch all die Verwüstungen, die das instabile Staatenkonstrukt Simbabwes darstellt.

Ein dringender Tipp: Lesen Sie dieses Buch. Es wird Ihnen Einblicke gewähren, die Sie noch nicht hatten.

|Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: The Boy Next Door
Aus dem Englischen von Judith Schwaab
ISBN-13: 978-3442740956|
[www.randomhouse.de/btb ]http://www.randomhouse.de/btb/
[www.irenesabatini.com]http://www.irenesabatini.com

Magnason, Andri Snaer – LoveStar

_Bissige Satire: Love & Death Incorporated_

Der internationale Konzern LoveStar hat in Island den größten Freizeitpark errichtet, den es je gab. LoveStar ist es gelungen, die Träume der Menschen zu entschlüsseln, die sich vor allem um die Liebe und den Tod drehen. Doch nicht alle lassen sich bei der Beglückung gleichschalten – ein junges Paar schafft es, seine ganz individuelle Liebe zu retten.

Bis ein größenwahnsinniger Mitarbeiter des Konzerns eine noch nie dagewesene Begräbniszeremonie organisiert, das „Millionensternefestival“, bei dem eine Million Tote ins All geschossen werden – um dann gleichzeitig weltweit als Sternschnuppen vom Himmel zu fallen. Allerdings geht dieser Plan nicht so ganz auf wie vorgesehen … (abgewandelte Verlagsinfo)

_Der Autor_

Andri Snær Magnason, geboren 1973 in Reykjavík, studierte Physik an der Isländischen Universität mit dem Abschluss Bachelor 1997.

Sein erstes veröffentlichtes Werk war der Gedichtband „Ljóðasmygl og skáldarán“ 1995. Es folgten der Gedichtband „Bónusljóð“ und der Kurzgeschichtenband „Engar smá sögur“. Sein bekanntestes Werk sind wohl seine Kinderbücher so wie „Blái hnötturinn“ oder „Sagan af bláa hnettinum“, deutsch: „Die Geschichte vom blauen Planeten“. Dieses wurde in zwölf Sprachen übersetzt und die isländische Band |múm| komponierte dazu 2001 einen Soundtrack. Sein Roman „LoveStar“ wurde im Jahr 2002 veröffentlicht und gewann zahlreiche Auszeichnungen.

Im März 2006 gab Andri Snær Magnason das Buch „Draumalandið – sjálfshjálparbók handa hræddri þjóð“ heraus, auf Englisch „Dreamland: A Self-Help Manual for a Frightened Nation“. Dafür erhielt er 2006 den Isländischen Literaturpreis. Im Februar 2010 erhielt er nach anderen Ehrungen den hoch dotierten Kairos-Preis. Er ist verheiratet und hat vier Kinder. Er bekämpft die Zerstörung des isländischen Hochlands durch das Eindämmen der Flüsse, das zur Aluminiumverhüttung vorangetrieben wird.

_Handlung_

Örvar Arnason ist ein Mann mit einer Vision. Der isländische Vogelforscher hat die sonderbaren Wellen von Vögeln und Schmetterlingen studiert und dabei ein neuartige elektronische Methode zur Markierung von Einzelwesen entwickelt. Das entsprechende Gerät ist winzig und kann sowohl senden als auch empfangen. Diese Entsprechung eines Handys lässt sich auch beim Menschen einsetzen, entdeckt er zu seiner Freude. Und ohne Handy hätten die Menschen endlich wieder beide Hände frei, um andere, sinnvollere Dinge zu tun, als ständig mit einem Hörer am Kopf herumzulaufen.

Nachdem er das Patent erhalten hat, nennt sich Örvar LOVE-STAR und gründet die gleichnamige Firma zwecks Vermarktung von Geschäftsmodellen, die auf diesem Gerät basieren. Weil die Vogelwellen die Satellitenübertragungen stören, ist seinem „Digitalfunk“ Erfolg beschieden. Natürlich nutzt er zunächst sein Heimatland als Versuchsfeld, bevor er den Rest der Welt beglückt. Schon bald stutzen die Isländer über neuartige Phänomene.

|Marketing für Handfreie|

Da gibt es beispielsweise die KRÄHER. Sie sind die neuzeitliche Entsprechung zum Marktschreier. Allerdings geben sie nur Werbesprüche von sich, die ihnen die LoveStar-Zentrale, an die sie ihr Sprachzentrum vermietet haben, auch eingegeben hat – wandelnde Litfasssäulen also. Und es gibt die GEHEIMWIRTE. Sie streuen im Sinne des viralen Marketings Werbeparolen, empfehlen selbst schlechteste Filme in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis, betreiben also bezahlte Mundpropaganda – gegen Cash versteht sich. Beide, Kräher und Geheimwirte, erwerben sowohl Geld als auch Bewertungspunkte im System von LoveStar, so dass sie sich ihren Aufstieg im aufstrebenden Konzern verdienen können. Demokratisch und gerecht, oder nicht?

|LoveDeath|

Eine weitere Idee, welche Örvar Arnason gekommen ist, vermarktet er jetzt als LoveDeath: Er schießt Verstorbene mit Billigraketen in die Umlaufbahn und lässt sie wieder abstürzen. Bei Wiedereintritt in die Atmosphäre verglüht die Rakete und schickt als aufflammendes Feuerwerk einen letzten Gruß an die auf der Erde andächtig zuschauenden Hinterbliebenen. Nach fünf Jahren braucht LoveStar ganze Flotten von Frachtern aus aller Herren Länder, um die vielen Toten, die seinem Konzern anvertraut werden, transportieren und in den Himmel zu schießen zu können. Die weltweite Markteinführung LoveDeaths steht kurz bevor.

Die Konzernzentrale ist in einen Berg hineingebaut worden. Jeder, der sie mit dem Touristenbus in der isländischen Heide besucht, staunt Bauklötze über die himmelhohe Eingangshalle, die in die Bergflanke eingelassen ist, die Aussegnungsräume und über die zahlreichen Abschussrampen für die Verblichenen. Es vergeht keine isländische Nacht mehr ohne Feuerwerk. Und die Telefonseelsorge REUE sorgt dafür, dass sich immer mehr Isländer vor dem Tod fürchten. Sie beginnen, diejenigen zu beneiden, die den „Absprung“ geschafft haben.

|LoveStar|

Örvar will seinem Land etwas zurückgeben. Zu diesem Zweck hat er LoveStar eigentlich gegründet, sagt er: zur wissenschaftlich fundierten Anbahnung der Liebe. Das Verlieben ist von nun an wegen der ausgeklügelten Computerauswahlverfahren keine Lotterie mehr, keine Iteration aus Verlieben und Entlieben, bis der oder die Nächste kommt, sondern eine verlässliche Zuweisung von WAHREN PARTNERN. Immer mehr Isländer vertrauen darauf, ganz ehrlich, da kannst du jeder Kräher und jeden Geheimwirt fragen.

Und so kommt es, dass auch das Liebespaar Indridi und Sigrídur nach fast genau fünf Jahren und sieben Monaten erfährt, dass es für Sigrídur den WAHREN PARTNER gibt: Per Möller. Indridi, seines Zeichen ein Gärtner auf einer Pflanzenfarm von LoveStar, ist wie vor den Kopf geschlagen. Aber genauso wenig wie die Altenpflegerin Sigrídur will er von seiner Liebe lassen. Zusammen, denken sie, sind sie stärker als der Konzern LoveStar.

|Liebesproben|

Doch der Konzern verfügt über modernste Mittel und Wege. Schon bald macht er den beiden unvernünftigen, UNWISSENSCHAFTLICHEN Turteltauben das Leben erheblich schwererer. Als auch der Einsatz eines Geheimwirts nicht fruchtet, sieht Indridi alsbald in wirtschaftlichen Schwierigkeiten und wird kurzerhand als Kräher rekrutiert. Wenn ein Kerl seiner einzig wahren Liebe ständig ins Ohr trällert, wie TOLL er ihr SCHICKES Kleid findet, wo es doch von ihrer Oma stammen könnte, stellt das auch seine beste Glaubwürdigkeit auf eine harte Probe.

Aber das ist erst der Anfang …

_Mein Eindruck_

Auf der einen Seite erscheint das Utopia, das LoveStar alias Örvar Arnason errichtet, zunehmend finsterer in seinen Folgen, auf der anderen Seite erscheint uns die Liebe zwischen Indridi und Sigrídur zunehmend in Gefahr zu sein – eben durch die LoveStar-Utopie. Spätestens nach zwei Dritteln des Buches ist klar, wo unsere Sympathien liegen sollten – bei den beiden Liebenden.

Doch so einfach macht es uns der Autor nicht: LoveStar ist ein Visionär, der ein wertvolles Geschenk erhalten hat, ein Samenkorn mit einem ganz besonderen, nahezu magischen Ursprung. Und Sigrídur scheint sich endgültig in die Arme von inLOVE begeben zu haben, um den ihr zugemessenen Mann kennenzulernen. Kann all dies zu einem guten Ende gelangen? Wahrscheinlich nur im Märchen. Und so kommt es auch.

|Fabel-haft|

Aber dies ist nicht irgendein ein Märchen von den Brüdern Grimm, o nein. Vielmehr haben die Isländer ganz spezielle Märchen, Sagen, Legenden, Fabeln und natürlich epische Sagas – ein ungeheurer Reichtum an Geschichten, den schon Professor Tolkien auszuschlachten wusste, um sein Privatuniversum aufzubauen (er war Spezialist für Altisländisch und Altenglisch). Deshalb sind unsere Liebenden zwar füreinander bestimmt, doch die Liebe muss zuerst über den Teufel und den Tod triumphieren. Darunter läuft gar nichts.

|Die Zauberlehrlinge|

Teufel gibt es genügend in LoveStars Imperium der Liebe. Hier ist alles von der Wissenschaft der Gentechnik, der Fernkommunikation und des verhaltensgestützten Marketings durchdrungen. Die fleißigen Zauberlehrlinge LoveStars haben das Geheimnis der Liebe ebenso ergründet, wie sie den Tod durchorganisiert haben. Nun öffnet sich ihrem suchenden Blick auf das allerletzte Geheimnis: Wohin sich die Gebete aller Menschen richten – es ist ein ganz bestimmter Ort irgendwo in Ostafrika. Mit anderen Worten: Dort wohnt Gott, was alle praktischen Zwecke angeht. Stracks verfügt sich LoveStar dorthin. Nur um auf ein noch größeres Geheimnis zu stoßen – und ein Samenkorn.

|Der Widersacher und das Ende der Welt|

Doch er hat einen Teufel geschaffen, der ihm an Einfallsreichtum ebenbürtig ist: Ragnar. Indem er dessen Ideenreichtum erst von inLOVE, der Vermarktung der Liebe, abgezogen und auf LoveDeath abgeschoben hat, schuf er eine unheilvolle Allianz aus Genialität und Morbidität. Das Ergebnis ist – tadaaa! – das „Millionensternefestival“. Dabei sollen eine Million Tote gleichzeitig erst auf eine Kreisbahn um die Erde gebracht werden – dabei entsteht eine Art Saturnring – und diese dann alle auf ein Kommando hin in die Atmosphäre der Erde abgeschossen werden. Theoretisch sollen sie alle darin wie Meteore verglühen, sozusagen als das ultimative Feuerwerk. Doch leider ist bei der Berechnung der Brenndauer etwas schiefgegangen.

Werden unsere Liebenden, Verkörperungen der Unschuld und Zuneigung, diesen Weltuntergang überdauern oder wie fast der gesamte Rest der Welt unter den Überresten der nicht verglühten Toten begraben werden? Das soll hier nicht verraten werden. Nur eines: Sie haben einen mächtigen und nicht gerade alltäglichen Beistand.

Ein satirisches Märchen also zwischen Utopie und Apokalypse – ist dies die Essenz des Buches? Wäre dies alles, was der Leser mitnehmen könnte, dann würde die Geschichte auf nicht mehr als ein hübsche Idee hinauslaufen. In Wahrheit handelt es sich jedoch aufgrund der Kraft der Satire um einen bissigen, wenn auch charmant vorgetragenen Angriff auf zahlreiche Werte, die die heutige Welt bestimmen.

|Der Teufel in der Maschine|

Der Erfindungsreichtum LoveStars, der die Menschen von Handys, Liebesirrtümern, elenden Siechtum usw. befreien soll, läuft auf eine Entmündigung hinaus, im Falle von Indridis und Sigrídurs Schicksal gar auf kriminelle Machenschaften. Doch die Firmenleiter haben im Geist der Maschine einen Teufel geschaffen, der sich nur zu bereitwillig gegen die Ziele der Wohlmeinenden und zur Verfolgung egoistischer Ziele einsetzen lässt. Der Computermanipulation ist, wie jeder weiß, stets Tür und Tor geöffnet. Der Autor verteufelt nicht die Rechenknechte, sondern ihre fahrlässigen Bediener und Verwalter.

|Tödliches Marketing |

Ein weiteres Angriffsziel, das der Autor aufs Korn nimmt, ist das Marketing. Hier kennt er sich offenbar bestens und womöglich aus eigener Anschauung aus. Die Mechanismen, die die Marketingabteilung LoveStars anwendet, sind heute alle bereits im Einsatz. Doch aufgrund der (mehr oder weniger freiwillig gewährten) Übernahme des Sprachzentrums von Mitarbeitern lassen sich den Werbebotschaften weitaus glaubwürdigere Übermittler zugesellen: Der Mensch ist das Medium! Marshall McLuhan, der Künder des Slogans „Das Medium ist die Botschaft!“, würde sich im Grabe umdrehen. Aber der Autor folgt lediglich der Logik der Entwicklung zur letzten Konsequenz.

|Liebe und Tod GmbH|

Ein drittes Ziel ist die profitorientierte Bewirtschaftung der letzten tabuisierten Lebensbereiche: Tod und Liebe. Da karren die Isländer Mütterchen und Väterchen zur Festung von LoveStar, um sie abschießen zu lassen und als Feuerwerk zu genießen – eine Wachstumsbranche. Von inLOVE werden die Liebenden neu berechnet, um den wahren Geliebten zu finden. Dieser Schuss geht allerdings nach hinten los: Wunschlos glücklichen Menschen kann man einfach nichts mehr verkaufen, mit dem sie ihre Unzufriedenheit besänftigen könnten, beispielsweise ein dickeres Auto oder eine schickere Waschmaschine (oder ein Apple iPad). Dumm gelaufen, LoveStar. Tatsächlich erinnert sein Imperium stark an das von Kultfirmen wie Apple, Virgin (Richard Branson) oder Microsoft.

|Mickey der Fleischfresser|

Es gibt noch zahlreiche weitere Einfälle, die Seitenhiebe auf liebgewordene Kulturikonen austeilen. In einer grotesken Szene stellen uns LoveStars Zauberlehrlinge das neueste, gentechnisch produzierte (und patentierte) Haustierchen vor: Mickey Mouse! Diese echten Riesenmäuse ähneln Walt Disneys gezeichnetem Vorbild bis aufs runde Näschen und die süüüßen großen Öhrchen. Doch unter dem Fell, das gestreichelt werden will, verbirgt sich ein Raubtier, das am liebsten Kinder anfällt! Daran müssen die Gentechniker noch ein wenig schrauben. Zu dumm, dass einzelne Länder in Fernost bereits Chargen des fehlerhaften Maskottchens erhalten und in Umlauf gebracht haben. Die Zeitungen berichten von ersten Zwischenfällen …

|Eine Schwäche?|

Eine der Schwächen, die ich dem Roman vorwerfen könnte, ist seine Unausgewogenheit. Die Story selbst reicht gerade mal für hundert Seiten, also eine Novelle. Doch der Autor hat sie durch Beschreibungen zahlreicher Nebenfiguren und vor allem durch Meditationen seiner Hauptfigur LoveStar so aufgeblasen, dass die Story eine weltumspannende Bedeutung annimmt und zur Besichtigung eines Zeitalters – verzerrt durch den Spiegel eines warnenden Narren – gerät.

Kein Wunder also, dass die meiste Action im ersten und im letzten Drittel zu finden ist. Zunächst muss der Konflikt herbeigeführt und zuletzt aufgelöst werden – mit den bekannt fatalen Verwicklungen. Gerade das Finale hat mich umgehauen. Hier wartet der Autor mit zwei oder drei netten Ideen auf, die man so noch nirgends gelesen hat. Und so schloss ich das Buch mit einem recht zufriedenen Gefühl und dem Appetit, es noch einmal zu lesen, diesmal in aller Ruhe.

|Die Übersetzung|

Die Übersetzung aus dem Isländischen ist fehlerlos gelungen und es finden sich kaum nennenswerte Druckfehler. Auch der deutsche Stil lässt keine Wünsche offen, es sei denn, man wünscht sich eine etwas flapsigere Ausdrucksweise. Diese beherrschen aber nur sehr wenige Übersetzer sicher, so etwa Bernhard Kempen. Und so wirkt der deutsche Stil zwar korrekt, aber auch ein wenig blass und kraftlos. Manchmal kann man eben nicht beides bekommen.

_Unterm Strich_

Die Satire nutzt sowohl die Mittel der Sciencefiction als auch der reichen Erzählkultur Islands. Im ersten und letzten Drittel überzeugt die Geschichte daher mit einem straffen, ziemlich unvorhersehbaren Plot, der sich zu einem grandiosen Finale aufschwingt. Im Mittelteil kommen der Satiriker und der Werbefachmann zur Geltung, was mitunter zu seitenlangen Rückblenden, Meditationen usw. führt.

Überhaupt bleibt der Mensch Örvar Arnason seltsam blass: Er hat die beste aller Welten gewollt, seine Familie auf dem Altar dieses Ziels geopfert und sich zu Gott aufgeschwungen, aber dennoch einen Teufel und die Hölle auf Erden geschaffen. Dass alles „gut gemeint“ gewesen sei, hilft ihm jetzt auch nicht mehr: Er ist der einsamste Mensch des Planeten, als er den Löffel abgibt. Nicht er schreibt das letzte Kapitel, sondern die Überlebenden. Ob die Liebenden dazugehören werden, soll hier nicht verraten werden.

„LoveStar“ ist keine Thriller- oder SF-Massenware, sondern erfordert schon ein wenig Offenheit und Mitdenken vom Leser, um all die ungewöhnlichen Ideen zu durchdenken. Besonders der Mittelteil kann so zu einer gewissen Durststrecke werden. Doch dafür wird man durch ein fulminantes Finale belohnt. Der Autor wurde dafür nicht ohne Grund mit Preisen ausgezeichnet.

|Originaltitel: LoveStar, 2002
Aus dem Isländischen von Tina Flecken
299 Seiten
ISBN-13: 9783785760284|
http://www.luebbe.de

Andri Magnason

Gallay, Claudie – Brandungswelle, Die

_Inhalt_

La Hague im Nordwesten der Normandie ist ein winziges Dorf, das halb im Niemandsland und halb im Meer zu liegen scheint. Die Protagonistin und Ich-Erzählerin kam hierher, um zu lernen, mit dem Verlust zu leben: Ihr Geliebter starb, und mit seinem Tod kam der Schmerz, und nach dem Schmerz kam die Leere.

Das raue Klima La Hagues passt gut zu dem zerrissenen Seelenleben der Trauernden. Sie darf für ein ornithologisches Institut arbeiten, klettert durch die Klippen, zählt Vögel und Eier und wird miserabel bezahlt. Sie lebt in der oberen Wohnung in einem zweigeschossigen Haus, das beinahe im Meer steht. Unter ihr hausen ein Bildhauer und seine schöne, gelangweilte Schwester. Dann gibt es da noch Max, der geistig etwas langsam ist, und Lilli, die ein Bistro führt. Ihre Eltern, die jeder für sich alt werden und nicht miteinander sprechen. Die alte Nan, die einst all ihre Angehörigen ans Meer verloren hat. Und Monsieur Anselme, der Prévert-Forscher aus Passion.

Es ist ein Mikrokosmos voller stiller Momente, in denen man hört, dass hinter dem Schweigen Worte lauern, Bekenntnisse, Geheimnisse, Verbitterungen. Und doch ist alles eingespielt, jeder hält sich an die Regeln, und die Neue, die Trauernde, ist still genug, um nicht zu stören.

Doch dann kommt Lambert ins Dorf, dessen Familie hier vor langer Zeit bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen ist. Er stellt alte Wahrheiten und glatte Oberflächen in Frage, ist unbequem. Und die Mauer des Schweigens in La Hague bekommt Risse, während die hartnäckigen Fragen alte Wunden aufreißen.

Auch die Trauernde wird aufgestört in ihrer selbst gewählten Einsamkeit. Langsam, unsicher und ängstlich tasten sie und Lambert sich durch die alten Geschichten des Hafenfleckens zur Wahrheit vor – und aufeinander zu.

_Kritik_

„Die Brandungswelle“ ist ein stilistisches Meisterwerk. Der Charakter der Natur, der Menschen und der Stimmungen, die darin beschrieben werden, ist perfekt wiedergegeben: Kurze Sätze beschreiben ein schönes, dürftiges Bild: Möwen, Wellen, Klippen. Ein paar Häuser, nicht mehr neu. Tiere, die im Dorf herumwandern. Menschen, denen langes Leid oder langer Groll das Leben verbittert und die Gesichter gezeichnet hat.

Der hilflose Schmerz der Trauernden, die die Leere in sich nicht zu füllen weiß und schreiend im Wind auf den Klippen steht, geht unter die Haut. Ebenso wie die lange Einsamkeit von Menschen, die nicht zu verzeihen verstehen oder kein Interesse daran haben. Die Sinnlosigkeit einseitiger Liebe wird mit ebenso klaren, kurzen Sätzen dargelegt wie die Besessenheit des Künstlers. Und trotz dieser Kürze, dieses gerafften Stils wird das langsame Entdecken der Geheimnisse des knorrigen Orts und seiner Menschen nicht langweilig oder platt. Gegenteilig hat man das Gefühl, im Kopf der Trauernden zu sitzen und zu lauschen; mitzuerleben, wie langsam das Interesse an etwas anderem als ihrem Schmerz in ihr erwacht.

Da wir durch ihre Augen sehen und ihre Gedanken lesen, erfahren wir unvoreingenommen, was geschieht: Sie ist eine Außenstehende in diesem Dorf, akzeptiert, aber ohne Partei. Sie bewegt sich zwischen verhärteten Fronten und ist allen fern genug, dass ihr das nicht übel genommen wird.

Trotz aller Härte und Kühle, trotz aller Trauer und Melancholie, trotz Schmerz und Groll unter der Oberfläche La Hagues ist die letztendliche Aussage des Romans eine versöhnliche: Es gibt immer Hoffnung, vor allem, wenn man nicht mehr an sie glauben kann.

_Fazit_

Dieses Buch bezaubert. Wie die innere Entwicklung der Trauernden sich mit dem Geheimnis vermischt, das über dem Dorf lastet, ist absolut faszinierend. Claudie Gallay fertigt ein engmaschiges Gewebe aus Erzählkunst, das sie ganz sachte um den Leser gleiten lässt, ohne dass der es bemerkt, bis er hilflos gefangen ist und sich erst am Ende des Romans wieder befreien kann. „Die Brandungswelle“ ist schön, traurig, spannend und intensiv. Und es ist ein absoluter Volltreffer.

|Gebundene Ausgabe: 560 Seiten
Originaltitel: Les déferlantes
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
ISBN-13: 9783442752423|
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