Archiv der Kategorie: Belletristik

Restrepo, Laura – Land der Geister

In Laura Restrepos 2004 in Kolumbien veröffentlichten und jetzt auf deutsch erschienenen Roman „Land der Geister“ geht es um ein Geheimnis – ein durchaus würdiges Thema für eine Erzählung. Aguilar, ein Ex-Literaturprofessor in Bogotá und momentan Tierfutterausfahrer, besucht für ein verlängertes Wochenende seine zwei Söhne aus erster Ehe. Seine jetzige Ehefrau Agustina bleibt derweil allein zu Hause. Und obwohl sie in bester Stimmung ist, als Aguilar aufbricht (sie ist eben dabei, das Wohnzimmer moosgrün zu streichen – eine Farbe, die das Feng-Shui für „Paare wie sie“ empfiehlt), ist sie wie ausgewechselt, als Aguilar nach vier Tagen heimkehrt.

Ein anonymer Anrufer trägt ihm auf, seine Frau aus dem Hotel Wellington abzuholen. Dort findet er sie verwirrt und stumm – kurzum mit psychischem Knacks – vor. Zurück in ihrer Wohnung ändert sich die Situation kaum. Agustina stellt überall Schalen mit Wasser auf und schweigt darüber, was während Aguilars Abwesenheit passiert ist. Dieser wiederum wird vom Gedanken gepeinigt, dass Agustina im Wellington ein Stelldichein mit einem Liebhaber hatte. Doch dann taucht plötzlich Tante Sofi auf, eine verschollene Verwandte Agustinas, die sich ihrer verwirrten Nichte annimmt und sich rührend um sie kümmert. Und so endlich erhält Aguilar erste Einblicke in die Gründe für Agustinas Wahnsinn.

„Land der Geister“ ist ein Roman der Überraschungen und literarischen Winkelzüge, ein Angebot der kolumbianischen Autorin Restrepo zum mitfühlen und mitwundern. Denn das voran gestellte Geheimnis, der seltsame Wahnsinn Agustinas, ist der zentrale Knackpunkt des Romans, an dem sich die gesamte Handlung aufhängt. Dabei geht es nicht nur um Agustina und Aguilar. Vielmehr ist das ungleiche Paar (er – linker Intellektueller, sie – Geldadel, die mit ihrer Familie gebrochen hat) nur der Anlass, um ein breites Panorama zu spannen. So erzählt Restrepo von Agustinas Eltern und Großeltern, beleuchtet deren Lebensumstände und Familien, skizziert Kolumbien in all seiner Widersprüchlichkeit. Und immer wieder unterbricht sie ihre eigenen Erzählfäden, um scheinbar unzusammenhängende Szenen aus verschiedenen Zeiten wie Puzzleteile gegeneinander zu setzen. Nur, um den Leser am Ende erkennen zu lassen, dass all diese kleinen Teile schlussendlich wirklich ein großes Bild ergeben.

Dabei vermutet man als Leser zunächst, dass „Land der Geister“ eine sehr persönliche, sehr kleinteilige Geschichte erzählt – die Geschichte eines Ehepaars oder einer Familie. Wie Aguilar vermutet man den Grund für Agustinas Wahnsinn in einer Affäre, die wohl schief gelaufen ist. Man nimmt an, dass es Restrepos Bestreben ist, Charaktere in ihren Beziehungen zueinander darzustellen – in Liebesbeziehungen, Familienbeziehungen, Abhängigkeiten. Und natürlich ist das tatsächlich ihre Absicht. Doch je länger man liest, desto mehr bricht die Umwelt – Politik, Wirtschaft, Kriminalität – in die Geschichte ein und es wird deutlich, dass die Charaktere nicht unabhängig von dieser Umwelt existieren bzw. existieren können. Was auf der Straße, im Land passiert, beeinflusst Familien und deren Beziehungen und so stellt sich schließlich heraus, dass Agustinas Zustand eben nicht nur eine persönliche Komponente hat.

Denn Restrepos Roman spielt im Bogotà der 1980er Jahre – eine turbulente Zeit für Kolumbien, und zwar nicht im positiven Sinne. Dass das Leben weder einfach noch sicher war, wird an mehreren Stellen deutlich, etwa wenn Charaktere überlegen, ob eine Straße befahrbar ist (Antwort: Nein, denn sie wird von der Guerilla überwacht) oder wenn mitten in der Stadt Bomben explodieren. Zu dieser Zeit befand sich Kolumbien unter dem Einfluss des Medellin-Kartells, einer Drogenorganisation unter Führung von Pablo Escobar, der auch in „Land der Geister“ eine Nebenrolle spielt. Repräsentiert wird die Arbeitsweise des Drogenkartells im Roman allerdings durch Midas MacAlister, einen Ex-Freund von Agustina, der sich aus armen Verhältnissen durch Geldwäsche nach oben gearbeitet hat und nun monetär den alteingesessenen Geldadel des Landes längst überholt hat – eine Tatsache, die ihm ungemeine Befriedigung verschafft. An Midas zeigt Restrepo, wie der Aufstieg um jeden Preis und ohne Gewissen funktioniert, ohne die Figur zum Buhmann zu machen. Er bleibt immer irgendwie sympathisch. Ein echter Gewissenskonflikt für den Leser!

„Land der Geister“ ist allerdings kein einfaches Buch, auch keines, das man in einem Rutsch verschlingen könnte – dafür ist Restrepos Erzählung zu anspruchsvoll und zu dicht. Restrepos Technik, den sie Reportage-Stil nennt, macht das Lesen zu einem besonderen, jedoch auch von Frustrationen geprägten Erlebnis: Es gibt keine Absätze, keine wörtliche Rede und schon gar keine verlässlichen Erzähler. Restrepo schreibt, als würde sie die mündlichen Aussagen ihrer Charaktere stenographieren. Dabei wechselt sie sprunghaft die Perspektive (um vom Ich- zum personalen Erzähler zu wechseln, braucht sie in der Regel nur einen Nebensatz), den Erzähler oder die Zeitform. Lässt man sich auf diese Technik ein, erhält man den Eindruck, die handelnden Figuren erzählten selbst – unverfälscht und damit eben auch fehlerhaft. Gleichzeitig verlangt dieser Stil dem Leser aber auch einiges ab, denn wie in einer mündlichen Erzählung auch gibt es Abschweifungen und Verzögerungen. Um Ermüdungserscheinungen beim Lesen vorzubeugen, empfiehlt es sich daher, sich den Roman in kleinen Dosen zu Gemüte zu führen. Das führt auch dazu, den bis ins letzte geschliffenen Stil der Autorin (der nur eben nicht danach aussieht) besser genießen zu können.

|Taschenbuch: 384 Seiten
ISBN-13: 978-3630621739
Originaltitel:| Delirio|
Deutsch von Elisabeth Müller|
http://www.luchterhand-literaturverlag.de

Torres Blandina, Alberto – Salvador und der Club der unerhörten Wünsche

_Inhalt_

Seit drei Jahrzehnten schon fegt Salvador den Flughafen. Er kennt sich aus mit den Reisenden, weiß, wer wohin fliegt und was in ihnen vorgeht. Ab und zu unterbricht er gern seine Arbeit, um mit den Menschen zu plaudern. Er tröstet, unterhält, gibt Tipps und Warnungen. Gern spricht er auch mit dem übrigen Flughafenpersonal, speziell mit der hübschen Frau am Kiosk.

Salvador hat für jeden die passende Geschichte auf Lager, und sein Fundus vergrößert sich mit der Zeit: Seine Gesprächspartner revanchieren sich gern. Und so lernt Salvador durch die schönen, traurigen, absurden und melancholischen Geschichten in seinem Mikrokosmos Flughafen die ganze Welt kennen. Er gibt sie weiter an alle, die sie haben wollen. Ob es um die Liebe geht oder um Menschen, die mit der Welt nicht klarkommen, ob es um Grenzgänger geht oder um den ominösen Club der unerhörten Wünsche: Salvadors Gehirn ist ein wohlgeordnetes Regal mit vielen kleinen Bändchen voller Anekdoten, die zum Nachdenken anregen, zum Schmunzeln, zum Seufzen oder zum Schaudern.

Salvador ist der Kitt, der den Flughafen zusammenhält und zu einer Einheit formt, er ist der Zauberer, der den Menschen durch seine Zuwendung ein Lächeln aufs Gesicht malt. Und sie hier und da um eine Zigarette bittet. Obwohl er ja nicht raucht, eigentlich. Nur hin und wieder.

_Kritik_

„Salvador und der Club der unerhörten Wünsche“ ist ein langer Monolog des Kehrers. Was seine Gesprächspartner antworten, geht aus dem hervor, was Salvador sagt. Der Fokus liegt klar auf dem älteren Herrn – und doch erfahren wir nicht nur über ihn, sein Leben und seine verstorbene Frau eine Menge, sondern auch über die Menschen, die auf dem Flughafen sitzen und auf ihre Flüge warten. Und über Salvadors Kollegen, die Tag für Tag mit ihm dafür sorgen, dass der Betrieb reibungslos läuft.

Die Geschichten sind kurz gehalten, in einzelnen Kapitelchen reihen sie sich aneinander, bauen aufeinander auf. Manchmal gibt es Fortsetzungen, die erst nach anderen Anekdoten folgen, so wie auch die Informationen über den Protagonisten nur häppchenweise preisgegeben werden. Das führt dazu, dass man theoretisch viele Einschnitte hätte, an denen man das Buch aus der Hand legen könnte – tut man aber nicht. Viel zu gern möchte man wissen, was weiterhin passiert, wie es zu bestimmten Umständen kommen konnte. Spannung und Leichtigkeit mischen sich in der Anekdotensammlung mit Freude, Trauer, Wehmut, Sehnsucht, Abscheu und Reisefieber zu einem filigranen, vielschichtigen Gewebe, aus dem die Figur des Salvador bescheiden wie facettenreich hervortritt.

Der Stil des Buches ist dem Rahmen angemessen. Er hält sich strikt an das Medium der Erzählung, ohne Capricen und Ausfälle, so dass die Figur des Sprechenden nicht nur glaubwürdig erscheint, sondern fast vor dem Leserauge Gestalt annehmen möchte: Zwinkernd, lächelnd, auf den Besen gestützt.

Es ist schwer zu glauben, dass Alberto Torres Blandina erst 1976 geboren wurde: Seine Geschichten sind von so tiefer Weisheit und trotz den teilweise abstrusen, gemeinen und traurigen Einsprengseln von so umfassender Philanthropie, dass die Erzählergestalt des älteren Herren Salvador viel besser zu ihnen passt als die eines so jungen Mannes.

_Fazit_

„Salvador und der Club der unerhörten Wünsche“ ist ein zauberhaftes Buch. Es ist keine schwere Lektüre und nicht von eherner Wucht, aber sein zarter Abdruck im Gehirn ist deutlich und hält lange vor. Man erinnert sich und lächelt, und man kann nicht anders, als den Kehrer ein bisschen lieb zu gewinnen. Tatsächlich ist das kleine Buch eines der schönsten, die ich seit langem gelesen habe, und ich werde es noch oft zur Hand nehmen: Zum Wiederlesen, zum Verschenken.
Ich kann es nur jedem ans Herz legen, ebenso, wie das weitere Schaffen des jungen Autors mitzuverfolgen: Das vorliegende Buch war sein preisgekrönter Erstling, und in Spanien wurden seine nächsten beiden ebenfalls mit Preisen ausgezeichnet. Es wird sich lohnen, auf die Übersetzungen zu lauern und sofort zuzuschlagen

|Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Originaltitel: Cosas que nunca occurirían en Tokio
Aus dem Spanischen von Petra Zickmann
ISBN-13: 978-3421044488|
[www.randomhouse.de/dva]http://www.randomhouse.de/dva/

Kinsella, Sophie – Charleston Girl

Seit ihren Romanen rund um die Schnäppchenjägerin Rebecca Bloomwood hat sich Sophie Kinsella in die Herzen der Frauenroman-Fans geschrieben – so auch in meines. Entsprechend gespannt war ich auf ihr neuestes Werk, denn jede Figur, die Kinsella ins Leben ruft, misst man doch unweigerlich an der sympathischen und völlig chaotischen Becky Bloomwood.

In „Charleston Girl“ steht Lara Lington im Mittelpunkt des Geschehens. Sie ist Anfang 30 und stolpert gerade von einem Unglück ins nächste. Erst hat ihr Freund Josh aus unerfindlichen Gründen mit ihr Schluss gemacht und reagiert nun nicht einmal auf ihre immer verzweifelter werdenden SMS und dann ist auch noch ihre Freundin Natalie nach Goa entschwunden, mit der sie kürzlich eine Headhunting-Agentur aufgemacht hat. Nur leider ist Natalie die Expertin auf diesem Gebiet, nicht aber Lara. So klingeln immer mehr erboste Kunden an, die Lara kaum noch besänftigen kann. Schließlich muss Lara zum Begräbnis ihrer Großtante Sadie, die im gesegneten Alter von 105 gestorben ist. Die Beerdigung wird zum Wendepunkt in Laras Leben, erscheint ihr dort doch plötzlich der Geist ihrer verstorbenen Großtante – und zwar nicht im Greisenalter, sondern als putzmuntere und sehr aufsässige 23-Jährige, die Hände ringend eine Perlenkette mit einem Libellenanhänger sucht, die ihr vor Jahrzehnten abhanden gekommen ist.

Zunächst zweifelt Lara an ihrem Verstand – handelt es sich bei Sadies Geist um eine Halluzination? Doch dafür ist die Erscheinung zu lebendig und allzu präsent, denn lautstark fordert Sadie ihr Recht ein und kommandiert Lara fortan herum. Ohne diese spezielle Kette kann Sadie keine Ruhe finden, und so macht sich Lara auf die Suche nach der verschollenen Kette und verhindert dafür zunächst einmal unter einem sehr abstrusen Vorwand Sadies Einäscherung. Und wo Sadie schon einmal in Laras Leben getreten ist, verändert sie dieses gehörig: Sie sagt Lara ihre ehrliche Meinung über Josh und sorgt dafür, dass Lara einen wildfremden Mann – Ed – um ein Date bittet – nur damit Sadie mit ihm zum Tanzen gehen kann. Und da es ja Sadies Verabredung ist, stylt sie Lara ganz nach ihren Wünschen – mit wasserfestem 20er-Jahre Make-up, Brennscheren-gewellten Haaren und einem Flapper-Kleid. Auch die Kommunikation bei dem Date mit dem spießigen Typen mit der dicken Sorgenfalte auf der Stirn übernimmt Sadie und bringt Lara damit manchmal ziemlich in Verlegenheit. Als Sadie dafür sorgt, dass Ed Lara zu einer zweiten Verabredung einlädt, ahnt sie nicht, wie sie damit Laras Leben auf den Kopf stellt …

_Dein ständiger Begleiter_

Zunächst war ich völlig irritiert von Sophie Kinsellas Idee, ihrer Hauptfigur Lara einen Geist an die Seite zu stellen, der permanent dabei ist und sich in jede Unterhaltung lautstark einmischt. Manchmal ging mir Sadie im wahrsten Sinne des Wortes auf den Geist mit ihrer Penetranz, ihrem mangelnden Einfühlungsvermögen und ihren ständigen Einmischungen. Und auch Lara hat sie mit diesem Verhalten häufig auf die Palme gebracht. Irgendwann aber gewinnt man Sadie lieb, wenn sie beginnt, auch an andere zu denken, sich um Lara zu kümmern und ihr Leben in die richtige Bahn zu lenken. Doch die Gratwanderung, die Sophie Kinsella hier unternimmt, ist aus meiner Sicht nicht immer gelungen. Bis man an den Punkt kommt, an dem man Sadie ins Herz schließt, hat man vor Ärger bereits einige graue Haare bekommen.

Lara Lington trägt die gleichen Züge wie die meisten Heldinnen in Frauenromanen: Sie ist Anfang 30, unglücklich verliebt, unzufrieden mit ihrem Job und ziemlich naiv, wenn es darum geht zu akzeptieren, dass der Ex einen vielleicht doch nicht zurück haben möchte und es auch nichts bringt, ihm nach der Trennung alle fünf Minuten eine verzweifelte SMS zu schicken, bis der Ex gezwungen ist, sich eine neue Handynummer zu besorgen. Diese Phase macht auch Lara durch, glücklicherweise aber übertreibt es Kinsella nicht. Diese nervigen und naiven Charakterzüge, die einer über 30-jährigen Frau im übrigen nicht sonderlich gut anstehen, treten relativ selten in den Vordergrund. Daher dauert es nicht lange, bis Lara beim Leser (bzw. bei der Leserin) Sympathiepunkte sammelt, denn sie muss dank Sadie zunächst einiges ertragen und auch im Job läuft es alles andere als rund, da ihre Partnerin Natalie sie unverhofft im Stich gelassen hat und Lara keine geeigneten Marketing-Direktoren auftreiben kann.

Im Laufe des Buches emanzipiert Lara sich sichtbar: Sie schickt Josh endgültig in die Wüste, kümmert sich herzensgut um Sadie und hängt ihren Job an den Nagel, obwohl sie all ihre Ersparnisse in die Firma gesteckt hat. Diese Wendung kommt zwar nicht völlig überraschend, passt aber wunderbar zu der Geschichte, die Sophie Kinsella erzählt.

_Erfrischend anders_

Auch wenn Lara Lington sich kaum von anderen Figuren in der Frauenliteratur unterscheidet, so schafft es doch die Geschichte, sich vom Durchschnitt deutlich abzuheben. Natürlich geht es auch hier um Männer, Liebe und Karriere, aber gewürzt hat Sophie Kinsella diese alltägliche Geschichte mit dem Geist Sadie, der für allerlei Trubel in Laras Leben sorgt und auch die ganze Handlung belebt. So befremdlich ich es zunächst fand, hier einen Geist präsentiert zu bekommen, so erfrischend anders fand ich diese Wendung im Laufe der Zeit. Zudem sorgt Sadie für allerlei komische, merkwürdige und abstruse Situationen, die mir immer wieder ein breites Grinsen ins Gesicht gezaubert haben. Allein die Vorstellung, dass Lara zu ihrem Date in voller 20er-Jahre-Montur erscheint und sich dafür in Grund und Boden schämen muss, war schon ziemlich komisch. Aber auch die vermeintlichen Selbstgespräche, die Lara mit Sadie führt, machen die Geschichte lebendig, da natürlich in Laras Umfeld niemand ahnen kann, dass sie mit einem Geist kommuniziert.

_Unter dem Strich_ gefiel mir „Charleston Girl“ mit kleinen Abstrichen sehr gut. Als ich mich an Sadie und ihre Eigenarten gewöhnt hatte und Sadie vor allem nicht mehr ganz so egoistisch in alle Gespräche und Verabredungen hinein geplatzt ist, wurde das Buch zu einer echten Wohlfühllektüre, die mich wunderbar unterhalten und mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht gezaubert hat. Es bleibt dabei: Sophie Kinsella ist in ihrem Genre eine sichere Bank!

|Gebundene Ausgabe: 496 Seiten
ISBN-13: 978-3442546473
Originaltitel: |Twenties Girl|
Deutsch von Jörn Ingwersen|

Birkegaard, Mikkel – Bibliothek der Schatten, Die

Bücher sind magisch. Einmal zur Hand genommen, können sie im Kopf des Lesers ganze Welten erstehen lassen. Sie können entführen, verzaubern und gefangen nehmen. Das Medium Buch verdient also selbst die literarische Betrachtung. Das dachte sich auch der dänische Autor Mikkel Birkegaard, der mit seinem Debutroman „Die Bibliothek der Schatten“ 2007 in seinem Heimatland einen Überraschungserfolg landete. Nun ist sein literarischer Thriller auch auf deutsch erschienen: ein Schmöker von 500 Seiten, der zum Eintauchen einlädt. Denn Birkegaards Grundidee ist zunächst durchaus interessant:

_In seinem Universum gibt_ es ganz besondere Menschen, die sogenannten Lettori, die die Fähigkeit haben, Leseerfahrungen zu beeinflussen. Manche dieser Lettori sind Sender – begabte Vorleser, die die Reaktion des Zuhörers auf den Text bewusst steuern können. Andere hingegen sind Empfänger – sie hören jeden gelesenen Text und können dadurch Einfluss auf den Leser nehmen.

Luca Campelli, seines Zeichens Antiquitätenhändler, ist ein solcher Lettore. Gleich zu Beginn des Romans ereilt ihn jedoch der Tod und so wird sein Sohn Jon, ein erfolgreicher Anwalt, in die Geschichte hinein gezogen. Er erfährt, dass sein Vater eine ganze Schar Lettori um sich gesammelt hatte und schließlich stellt sich heraus, dass Jon selbst der bisher fähigste Sender ist. Er kann nicht nur Emotionen im Zuhörer, sondern sogar physische Manifestationen hervor rufen.

Das ruft eine weitere, bisher im geheimen agierende Lettori-Organisation auf den Plan, die aus ihren Talenten praktischen Nutzen ziehen will. Mit den Mitgliedern an der richtigen Stelle (z. B. in der Nähe eines Politikers oder Wirtschaftsbosses) könnten sie das Weltgeschehen nach ihrem Gutdünken dirigieren. Und natürlich möchten sie Jon in die Finger bekommen, denn seine Fähigkeiten wären bei ihren Weltübernahmeplänen äußerst hilfreich!

_Das Positive zuerst_: Der Roman ist bei dem Verlag Page & Turner erschienen und der Name ist hier Programm. Tatsächlich liest sich „Die Bibliothek der Schatten“ durchaus flüssig und man hat selten Gelegenheit, sich zu langweilen. Birkegaard ist ein passabler Erzähler und fähig, den Leser bei der Stange zu halten. Sein erzählerisches Können rangiert allerdings im Mittelfeld, einen Sprühregen an originellen Einfällen darf man nicht erwarten.

Tatsächlich scheut sich Birkegaard nicht, eine ganze Reihe Klischees zu bedienen. Das beginnt mit einer reichlich uninspirierten Liebesgeschichte und endet mit der Tatsache, dass er als Gegenspieler für Jon eine uralte Geheimorganisation aus dem Hut zaubert, die die Weltherrschaft übernehmen will und sich bei ihren Zusammenkünften Umhänge mit Kapuze anzieht. Dass zwischen diesen Polen dann nicht mehr viel Originelles passiert, versteht sich von selbst. Auch nimmt er den logischen Aufbau seiner Thriller-Elemente etwas zu ernst. Er weiß um die wichtige Regel, dass Hilfsmittel, Erkenntnisse oder Figuren nicht einfach aus dem Nichts auftauchen dürfen. Sie müssen bereits an früherer Stelle eingeführt worden sein, damit sie später mit einem Knall wichtig werden dürfen. Birkegaard befolgt diese Regel mit geradezu penibler Akribie, was allerdings dazu führt, dass der Leser diesen Kniff bald durchschaut. Ab diesem Moment, der mit der Erkenntnis einher geht, dass der Roman keinen Überschuss enthält und stattdessen jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss, fällt es leicht, Birkegaards nächste Schritte und die Wendungen der Geschichte vorauszusagen. Eine Tatsache, die naturgemäß das Tempo aus der Erzählung nimmt und Überraschungsmomente eliminiert.

Ein viel größeres Problem ist jedoch die Idee der Lettori selbst. So charmant und zauberhaft sie anfangs auch klingt, ist sie leider nicht tragfähig genug für einen Roman dieser Dimension. Birkegaard nimmt sich selbst den Wind aus den Segeln, indem er versucht, die Wirkkraft der Lettori psychologisch bzw. wissenschaftlich zu erklären. Das wirkt bemüht und keineswegs überzeugend, vor allem, da es einfacher gewesen wäre, die Lettori einfach als fantastisches Element zu akzeptieren und entsprechend auszugestalten. Auch ist Birkegaard leider nicht in der Lage, den Zauber des Lesens in Worte zu fassen bzw. das Eintauchen in einen Text literarisch überzeugend zu gestalten. Trotzdem widmet er sich diesem Element wiederholt und ausführlich, was beim Leser zu Ermüdungserscheinungen führt. Am deutlichsten wird dies während des Showdowns in der Bibliothek von Alexandria, in dem mehrere Lettori aus einem Buch lesen und im Kopf der jeweils anderen Empfindungen entstehen lassen. Das erscheint als Auflösung eines Verschwörungsthrillers unglaublich abstrakt und statisch. Diese Szene – durchaus lang und komplex – führt über weite Stellen nämlich nirgendwohin und Birkegaard verwirrt den Leser nur, indem er ständig zwischen der Realität (einige Männer stehen auf der Bühne und lesen) und der Lettore-Empfindung (Gewitterwolken, Sturm, Blitze – das ganze Repertoire) hin und her springt. Diese beiden Handlungsebenen gelingen Birkegaard kaum, eine Tatsache, die sich im gesamten Roman widerspiegelt. Mehrdeutigkeiten, Anspielungen, literarische Witze oder gar Intertextualität sind seine Sache nicht, jedoch sind dies alles Zutaten, die man in einem Buch über Bücher erwarten würde. Stattdessen ist bei Birkegaard alles wörtlich zu nehmen und wenn er auf andere Werke Bezug nimmt, dann passiert auch das nur deutlich und eindimensional ausgesprochen, nämlich zum Beispiel, wenn jemand die Titel in einem Bücherregal vorliest. So erklärt der Autor dem Leser vollkommen unverschlüsselt, in welcher Tradition er sein Buch gesehen haben will (Stichwort: „Der Club Dumas“ oder „Der Name der Rose“ – beide Titel werden namentlich erwähnt), anstatt dem Leser Hinweise zu bieten und ihm selbst die Deutung zu überlassen. Dergestalt enthält er dem Leser viel Genuss vor, denn er ist im Ganzen zu deutlich und spricht zu viel aus. Denn als Leser eines literarischen Rätsels wie „Die Bibliothek der Schatten“ eines sein will, möchte man gefordert werden und sein eigenes literarisches Wissen mit dem des Autors messen. Birkegaard jedoch ist übervorsichtig und erklärt lieber einen Großteil der Faszination seiner Geschichte weg.

_Und so ist_ „Die Bibliothek der Schatten“ zwar ein unterhaltsames und spannendes, aber eben auch ziemlich eindimensionales Werk geworden. Buchliebhaber sollten das bedenken, wenn sie sich auf die Lektüre einlassen. Wer sich einen angenehmen Abend mit Verschwörungstheorien und Geheimnissen machen will, den wird Birkegaards Erstling nicht enttäuschen. Wer darüber hinaus jedoch auch literarische Happen genießen möchte, dem wird wahrscheinlich beim Lesen der Magen knurren.

|Gebundene Ausgabe: 512 Seiten
ISBN-13: 978-3442203628
Originaltitel: |Libri di Luca|
Deutsch von Günther Frauenlob und Maike Dörries|

Sethi, Ali – Meister der Wünsche

_Inhalt:_

Zaki und seine Cousine Samar Api wachsen zusammen in einem Haus in Lahore auf. Der Alltag wird dominiert von Reibereien zwischen Zakia, Zakis unabhängiger, revolutionär denkender Mutter und ihrer Schwiegermutter, der konservativen Daadi.

Wie üblich empfinden die Heranwachsenden die Zeit, in der sie leben, nicht als besonders. Benazir Bhutto kommt an die Macht und scheidet die Geister – wen interessiert das, wenn Samar Api das erste Mal verliebt ist? Warum sollte man über das Alkoholverbot klagen, wenn es doch überall Schmuggler gibt? In der Welt von Zaki und Samar Api geschehen mehr Abenteuer, als die neuen islamischen Verbote und Gesetze jemals zugelassen hätten: Individuelle Triumphe, Intrigen, Freund- und Feindschaften lassen den beiden jungen Leuten nur wenig Raum, sich über Politik Gedanken zu machen. Außerdem tut das ja schon die ältere Generation und streitet sich andauernd. Zakia gibt gar ein Frauenjournal heraus, in dem sie kein Blatt vor den Mund nimmt.

Die Jahre vergehen, Jammer und Freude wechseln einander ab. Freude folgt auf Enttäuschung, und Menschen werden wie Blätter im Wind in verschiedene Richtungen geweht. Zaki besucht verschiedene Schulen, sticht durch Talent zum Schreiben hervor und studiert schließlich in Boston. Als er zur Hochzeit seiner Cousine nach Hause kommt, ist es eine Reise in die Vergangenheit, die durch seine Erinnerungen führt.

_Kritik:_

Ali Sethi hat eine berührende und schöne Familiensage geschrieben. Die Ängste, Zwänge und wilden Freiheiten des Heranwachsens sind unmittelbar und eindringlich geschildert. Dass sie sich vor dem Hintergrund des politisch gebeutelten Pakistan abspielen, gibt dem Ganzen eine besondere Würze.

Ali Sethi verfügt über eine stilistische Kunst, die seine Bilder beeindruckend hervortreten lässt. Der Mann kann |schreiben|! Ohne mit erhobenem Zeigefinger zu belehren, führt Sethi durch ein interessantes und beängstigendes Kapitel von Pakistans Geschichte. Durch die lebenden, atmenden, hoffenden und ringenden Menschen erhält auch dieser Hintergrund Farbe und Leben, und plötzlich ist Pakistan nicht mehr nur eine Krisenregion aus den Nachrichten, sondern der Platz, an dem Zaki mit seinen beiden älteren Cousins nachts Auto fährt und Samar Api sich heimlich aus dem Haus schleicht, um ihren Freund zu treffen.

Sethi verwendet keine Gemeinplätze, all seine Bilder und Geschichten sind frisch, eindringlich und anrührend. Natürlich bleibt naturgemäß auch der Jammer des Umsturzes nicht aus, aber er reiht sich ein in die privaten Sorgen und Nöte, vermengt sich mit ihnen und wird dadurch auf eine viel weniger abstrakte Ebene gehoben, als stures Aufzählen von Daten und Fakten das jemals vermöchte. Und Zakis Aufbruch in die fremde Welt jenseits des Meeres erscheint vor diesem Hintergrund wie ein großes Abenteuer.

_Fazit:_

Man möchte „Meister der Wünsche“ nehmen und es jedem geben, den man trifft. Es ist ein gutes, ein eindringliches und liebevolles Buch, das verschiedene komplizierte Themen in sich vereint und auf zarte Weise dem Leser nahe bringt. Khaled Hosseini, Autor des „Drachenläufer“, zeigte sich begeistert und erklärte: „Ali Sethi […] schenkt uns eine differenzierte, oft komische und immer völlig überraschende Sicht auf das Leben im heutigen Pakistan.“ Dem bleibt nur mehr wenig hinzuzufügen.

Wenn Sie sich für dieses gebeutelte Land interessieren, wenn Sie gern Geschichten von interessanten Menschen lesen, die wunderschön erzählt sind, dann kommen Sie am „Meister der Wünsche“ kaum vorbei. Das Glossar, das sich im Anhang befindet und das die im Text verwendeten landestypischen Ausdrücke erklärt, ist umfassend und hilft beim tieferen Eintauchen in diese fremde Kultur.

|Taschenbuch: 495 Seiten
Originaltitel: The Wish Maker
Aus dem Englischen von Claudia Wenner
ISBN-13: 9783423247894|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de/
[www.alisethi.com]http://www.alisethi.com

Goldstein, Rebecca – 36 Argumente für die Existenz Gottes

_Inhalt:_

Professor Cass Seltzer ist ziemlich überrumpelt. Der freundliche, zurückhaltende Mann ist Religionspsychologe und damit, wie die wunderschöne Psychologin Lucinda Mandelbaum meint, ganz weit am falschen Ende der Psychologie angesiedelt. Lucinda selbst glaubt an Statistiken, am Logik und Mathematik, um den schwammigen Bereich „Psychologie“ zu befrieden und urbar zu machen. „Religionspsychologie“ – hah!

Allerdings ist sie von Cass’ Buch angetan. Cass hatte eine sehr intensive Studienphase bei einem Professor, dessen Genie nahe dem Wahnsinn ankerte und der halb verächtlich und halb ehrfürchtig betrachtet worden war. Cass hatte zu den Ehrfürchtlern gehört, ehe der Professor schließlich völlig überzuschnappen schien, was einen schmerzhaften Abnabelungsprozess ausgelöst hatte. Cass hatte irgendwann zu all den ungeklärten und in seinem Inneren gärenden Fragen aus jener Zeit eine Antwort schreiben wollen.

Heraus kam ein Buch, das die Bestsellerlisten nur so stürmte und Cass völlig unvorhergesehen in die Führungsposition der Atheisten erhob. Der „Atheist mit Herz“, wie sie ihn nennen, weiß nicht so recht, was er mit dem Rampenlicht anfangen soll. Er weiß auch nicht, warum Lucinda ihn liebt. Er nimmt nur beides an, so gut es geht.

Während der Strom der Ereignisse ihn mit fortspült, rekapituliert er, wie es so weit kommen konnte. Und mitten in seine Gedanken platzt Roz, seine Exfreundin aus dem Studium, die immer kommt und geht wie ein Herbststurm. Das Einzige, worauf man sich bei ihr verlassen kann, ist die Tatsache, dass sie immer im Begriff steht, etwas Unkonventionelles zu tun. Der irgendwie gemeinsame Weg der selbstbewussten Frau und des stillen Mannes, der auf verschlungenen Pfaden in skurrilste Situationen führte, wird hier nachgezeichnet. Und alles andere auch: Das Gestern, das Heute, und vielleicht ein bisschen vom Morgen. Und nebenher: 36 Argumente für die Existenz Gottes.

_Kritik:_

Dieser Roman ist ein Appell: Wenn auch schon ersichtlich ist, dass Rebecca Goldstein eher den Gegenargumenten Glauben schenkt, als den Argumenten FÜR die Existenz Gottes, so erklärt sie doch, dass das moralische Handeln im Menschen fest verankert ist. Dieses Buch appelliert ans Gutsein, ohne darauf hinzuweisen.

Wie Goldstein aus Mathematik, Physik, Metaphysik, Philosophie, Psychologie, Lyrik und den Geheimnissen der Kabbala einen Roman gewoben hat, der so menschlich und unmittelbar nah erscheint, dass man die Figuren vor Augen zu haben meint, ist wundervoll. Die Kapitel strotzen nur so vor Wissen. Die Autorin hat sich nicht mit halben Sachen zufrieden gegeben. Die Dozentin für Psychologie, die ihre Promotion in Philosophie gemacht hatte, hat fleißig Recherche betrieben und schön allgemein verständlich ein dichtes Netz aus Zusammenhängen gewoben, um die Zauberhaftigkeit der Welt darzustellen.

Die tiefen Einblicke, die man ins orthodoxe Judentum erhält, sind für Laien wie mich faszinierend. Die alltägliche Situation, aus der heraus plötzlich aus einem Kind ein Genie wird, und die Schlichtheit, mit der lebensumwälzende Entscheidungen getroffen werden – werden müssen -, berühren ganz besonders.

_Fazit:_

„36 Argumente für die Existenz Gottes“ ist ein Roman, wie es sie nur ganz selten gibt: Er hat die Kraft zu verändern. Er stößt das Gehirn an, zeigt Blickwinkel auf, ist herzerwärmend, komisch, ergreifend, lässt andächtig zurück und belehrt, ohne Lehrbuch zu sein. Zwar musste ich das eine oder andere nachschlagen, aber ich habe es gern gemacht, weil alles sich so harmonisch ins Ganze gefügt hat und ich in dieser bunt schillernden schönen Fläche keine weißen Flecken wissen wollte.

Ganz abgesehen von der fiktiven Geschichte, die ein literarisches Geschenk ist, finden sich am Ende wie im Buch von Professor Cass Seltzer die 36 Argumente für die Existenz Gottes: Von den frühesten philosophischen Versuchen bis hin zu neumodernen Spitzfindigkeiten ist alles vertreten. Und jedes Argument wird gefolgt von seinen Gegenargumenten, da ist also für jeden etwas dabei. Und wenn das letztendlich doch auch müßige Gedankenspielerei ist – warum sollte man argumentativ etwas mit Absolutheitsanspruch zu beweisen versuchen, das nicht beweisbar ist? Glaube ist Glaube, punktum. So ist das Buch eine Bereicherung für jeden, der es liest. Tun Sie sich den Gefallen, es ist wunderschön.

|Gebundene Ausgabe: 559 Seiten
Originaltitel: 36 Arguments for the Existence of
God
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mader
ISBN-13: 978-3896674234|
[http://www.randomhouse.de/blessing]http://http://www.randomhouse.de/blessing
[http://www.rebeccagoldstein.com]http://http://www.rebeccagoldstein.com

Antoine de Saint-Exupéry – Der kleine Prinz

Jubiläumsausgabe eines Weltklassikers

Im Jahre 1943 erschien das moderne Märchen „Der kleine Prinz“ des Berufspiloten Antoine de Saint-Exupéry. Dieser hatte in seinen bis dahin 43 Lebensjahren bereits ein aufregendes und gefahrvolles Leben hinter sich gebracht, von dessen Motiven er in diesem und anderen Büchern zehrte. Wie der Ich-Erzähler im „Kleinen Prinzen“, stürzte er mit Flugzeugen in der Wüste ab. Wie der kleine Prinz musste Saint-Exupéry seinen „Planeten“ verlassen und nach Amerika emigrieren, wobei er seinen „besten Freund auf der ganzen Welt“, welchem er das Buch widmete, im besetzten Frankreich zurückließ. Daher schrieb Saint-Exupéry nicht nur ein philosophisches Märchen, sondern setzte sich in der vordergründig märchenhaften Erzählung mit der politischen Lage und gesellschaftlichen Strömungen seiner Zeit sowie seiner privaten Situation als Emigrant und Berufsflieger auseinander. Obwohl der Autor bis zu seinem Tod im Jahr 1944 noch weitere Texte veröffentlichte, blieb „Der kleine Prinz“ sein bekanntestes Werk und begründete seinen Weltruhm.

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Draesner, Ulrike – Vorliebe

_Inhalt:_

Harriet ist sich sicher, dass sie ihr Leben im Griff hat. Sie ist Astrophysikerin und ihre Arbeit bedeutet ihr viel: Sie hat so viel mit Zahlen zu tun, mit dem Erschaffen von Bildern, die man nicht sehen kann, durch Formeln, die beweisen, dass sie da sein müssen. Harriet liebt Zahlen, hat sie schon immer geliebt. Und darüber hinaus gibt es immer noch die kleine, die winzigkleine Chance, einmal ins All zu kommen.

Die Tests laufen gut, sie ist zwar schon relativ alt, aber ihre Ergebnisse sind überdurchschnittlich. Nur das mit dem Rauchen muss sie noch in den Griff bekommen. So, wie sie ansonsten auch ihr Leben im Griff hat, wie gesagt. Ihr Leben mit Freund Ash und dessen Sohn Ben.

Doch es kommt zu einer Verkettung unglückseliger Umstände: Ash fährt versehentlich eine Frau an, wartet zusammen mit Harriet im Krankenhaus auf Nachricht, die Tür fliegt auf und – Peng! – da steht Peter. Pfarrer Peter Olvaeus, den Harriet seit einundzwanzig Jahren nicht gesehen hat. Peter, der ihre erste, große, unerbittliche Jugendliebe war. Nicht, dass da etwas gelaufen wäre – Harriet war sechzehn und Peter zwanzig Jahre älter. Aber es war auch nicht so, dass da nichts war: seelisch, herzlich. Und während das Mädchen noch hoffte, verlobte sich Peter mit Maria. Mit der Maria, die Ash dann anfuhr, einundzwanzig Jahre später.

Ein zart-nostalgisches Band verbindet Harriet und Peter, und wie von selbst beginnen die Familien, miteinander zu verkehren. Dass sich dabei eine alte Liebe Bahn bricht, war – ja, was? Geplant? Nicht geplant? Unvermeidlich? Ersehnt? Befürchtet? Wohl von allem ein bisschen. Und zwei erwachsene Leben, die schon auf ihren separaten Bahnen dahin zogen, brechen plötzlich aus, springen gewaltsam aus den Schienen, entscheiden sich bewusst, sich Zeit miteinander zu stehlen und nehmen in Kauf, was dabei zu Bruch geht. Und es bleibt nicht bei ein paar Scherben…

_Kritik:_

Mädchen trifft Junge, Mädchen verliert Jungen, Junge heiratet anderes Mädchen, Mädchen findet anderen Jungen, Mädchen und Junge treffen einander wieder und betrügen Mädchen II und Jungen II. Das ist jetzt nicht eben eine neue Geschichte, sondern vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Es kommt also auf die Erzählweise an bei dieser alten Mär.

Und Ulrike Draesner erzählt so introspektiv, dass der Leser sich an ihren Stil erst gewöhnen muss. Gedanken werden manchmal ohne nähere Erklärung aneinander gereiht, so dass man danach die Situation betrachten muss, in der sie gedacht worden sind, um einen Zusammenhang herstellen zu können.

Um die unmittelbare Wucht darzustellen, mit der Harriet vom plötzlichen Wiederauftauchen Peters getroffen wird, wechseln sich Szenen aus dem Jetzt und Hier mit Szenen aus ihrer leidenschaftlichen Jugend ab, als sie noch den Mut hatte, ihre Liebe mit reiner Flamme brennen zu lassen – ehe Peter ihr das Herz brach. Und allein das, allein die Tatsache, dass Ash, der durchaus sympathisch gezeichnet ist, nie die Chance hatte, von Harriet so geliebt zu werden, wie Peter es einst wurde, das ist schon tragisch.

Und es bleibt nicht die einzige Tragik in diesen Zeilen: Es wird ziemlich deutlich gemacht, was die Sehnsucht nach der vergangenen Jugend, nach verpassten Gelegenheiten, nach dem Ausleben etwas einst bewusst Nichtausgelebten anrichten kann. Allerdings wird nicht gewertet, es wird wiedergegeben: Auf verschlungenen Pfaden, auf den Gehirnwindungen der Protagonisten wird erzählt, was passiert ist und was passiert. Und das mit ziemlich großer literarischer Klasse.

_Fazit:_

„Vorliebe“ ist kein lautes Buch. Es ist ein nachdenkliches, reflektierendes Schriftstück, aber es darf nicht falsch verstanden werden. Es ist nicht etwa barmherzig oder milde. Hier werden unvorbereitete Protagonisten aus ihrer zivilisierten Alltagswelt mitten in die rohe Pracht von urtümlichen Empfindungen verpflanzt. Und auch die Tünche vieler Worte und innerer Monologe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier Wunden geschlagen, Empfindungen verletzt, Ungeduld entzügelt und kleine Funken zu brausenden Flammen entfacht werden.

„Vorliebe“ ist ein meisterliches Werk über die Abgründe im Menschen, eine Lockung zum und eine Warnung vor dem Genießen verbotener Früchte gleichermaßen. Hut ab, Ulrike Draesner, das ist schmerzhafte Poesie.

|Gebundene Ausgabe: 253 Seiten
ISBN-13: 9783630872940|
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Forman, Gayle – Wenn ich bleibe

_Inhalt:_

Mias Leben erfährt von der einen Sekunde zur anderen eine einschneidende Veränderung: Eben saß sie noch im Auto, zusammen mit ihrer Familie. Man war ausgelassen: Es gab schneefrei – schneefrei in Oregon! Wie oft kommt das schon vor? – und die Familie wollte Freunde besuchen. Dann gab es einen ohrenbetäubenden Krach, und als Nächstes steht Mia neben den Überresten des Autos, das auf der glatten Straße von einem Laster erfasst worden war, und starrt entsetzt auf die Leichen ihrer Eltern.

In Panik sucht sie Teddy, ihren kleinen Bruder, und findet im Graben – sich selbst. Sich selbst?

Wie im Traum sieht sie zu, wie Rettungskräfte um den letzten Funken Leben in ihrem übel zugerichteten Körper kämpfen. Sie hört, was gesprochen wird, wird selbst aber nicht verstanden. Und sie fühlt die Schmerzen nicht – dafür ist sie sogar dankbar. Sie wird in ein Krankenhaus geflogen und sitzt neben ihrem Körper, während der operiert wird. Sie macht sich Gedanken: Was soll sie tun? Soll sie ohne ihre Eltern und vielleicht ohne den kleinen Bruder weiterleben, mit den ganzen entsetzlichen Verletzungen, oder soll sie aufgeben, auch sterben und Ruhe haben?

Verwandte kommen zu Besuch, ihre engste Freundin Kim und Adam, ihre große Liebe. In Rückblenden werden Geschichten der Familie beschworen, das Kennenlernen von Mia und Kim, Mias Leidenschaft für das Cello spielen und der behutsame Anfang ihrer Liebe zu Adam. Es sind liebevolle Bilder einer unkonventionellen, sympathischen Familie, die Mias Verlust klar vor Augen führen und damit die Ratlosigkeit unterstreichen, mit der Mia vor der drängenden Entscheidung steht.

Jedes Wort, das ihre Verwandten, Kim und Adam zu ihr sagen, fällt mit in die Waagschale: Gehen oder bleiben? Und als Mias Geschichte bis zur Gegenwart erzählt ist, ist der Moment der Entscheidung gekommen.

_Kritik_:

Gayle Forman hat den Schwebezustand zwischen Leben und Tod zum Ausgangspunkt ihrer Erzählung genommen. Das ist zwar keine ganz neue Idee, aber schön umgesetzt.

Die Geschichten über Mias Familie sind detailreich gezeichnet. Die Eltern waren Zeit ihres Lebens Punkrocker, auch wenn der Vater ab der Geburt des kleinen Teddy die Bassgitarre an den Nagel gehängt hatte, um sein Brot als Lehrer zu verdienen. Mia wirkt vor diesem Hintergrund schon ausgesprochen konventionell. Verschiedene Probleme werden angerissen, die bei so unterschiedlichen Personen nicht ausbleiben, aber es steht immer klar im Vordergrund, dass das Verhältnis der einzelnen Personen untereinander ein liebevolles ist.

Genauso ist es mit Kim, die Mia am Anfang mit herzlicher Abneigung betrachtet hatte und die dann zu einer der Hauptbezugspersonen in ihrem Leben geworden war. Und die Romanze zwischen Mia, dem ruhigen, braven, Cello spielenden Mädchen und dem Rockmusiker Adam geht in ihrer Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit ans Herz.

Darüber hinaus wird dem Leser vor Augen geführt, dass das Cellospielen für Mia nicht nur ein Hobby, sondern möglicherweise eine Berufung ist. Ein Punkt, der ihr Sorgen bereitet hatte: Sollte sie dem Cello folgen, würde es sie weg führen, fort von Adam, der in der Gegend bleiben musste, in der seine Band gerade ihren Aufstieg Richtung Profimusikertum erlebte. All das verblasst nun aber vor der Frage: Gehen oder bleiben?

_Fazit:_

„Wenn ich bleibe“ ist ein wunderschön gezeichnetes Familienporträt, eine Liebesgeschichte und ein Drama in einem.

Natürlich geht die Geschichte dem Leser an die Nieren, weil sie von so viel Verlust handelt, aber sie ist gleichzeitig auch ein Ansporn zum Weitermachen, weil sie in so vielen Einzelheiten vor Augen führt, für wie viele Dinge es sich zu leben lohnt. Wie hier verschiedenste Ansichten und Vorlieben unterschiedlichster Menschen selbstverständlich und unprätentiös nebeneinander gestellt werden, ist schon erstaunlich.

Wer gerade ein starkes Bedürfnis nach Harmonie hat, sollte dringend „Wenn ich bleibe“ lesen. Aber Achtung: Gerade in so einer Stimmung sollten Sie eine Packung Taschentücher bereithalten. Gayle Formans Buch ist sehr schön und sehr traurig.

|Gebundene Ausgabe: 270 Seiten
Originaltitel: If I Stay
ISBN-13: 978-3764503512
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Ernst.|
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McNay, Mark – Under Control

Ein gewalttätiger Ex-Fremdenlegionär mit merkwürdigen, sadistischen Gewaltfantasien, eine drogenabhängige Prostituierte und ihr weichherziger Sozialarbeiter beginnen eine Art Dreiecksbeziehung. Kann das gut gehen? Und wer kommt überhaupt auf solche Ideen? Der schottische Autor Mark McNay, dessen Debütroman „Frisch“ mit Preisen ausgezeichnet wurde und den man in einem Atemzug mit Irvine Welsh nennt, beschreibt in „Under Control“, wie eine Sozialarbeiter-Klienten-Beziehung nicht ablaufen sollte.

_Gary leidet an_ einer psychischen Krankheit, aufgrund der er Aggressionen und merkwürdige Wahnvorstellungen hat. Er bekommt Medikamente und wird von dem Sozialarbeiter Nigel betreut, zusammen mit zwei anderen. Ralph ist ein ehemaliger Drogenabhängiger, der rückfällig geworden ist, und Chris leidet an Depressionen und geht nicht gerne unter Menschen. Und dann ist da auch noch Charlie, Garys Freundin. Sie ist ebenfalls drogenabhängig und arbeitet als Prostituierte auf der Straße.

Nigel ist ein weichherziger Kerl, der gerne hilft, aber ein bisschen naiv ist. Als er Charlie trifft und sich in sie verliebt, glaubt er, sie von den Drogen weg bekommen zu können. Das sieht nicht nur Nigels Frau Sarah nicht besonders gerne. Als er Charlie bittet, den Kontakt zu Gary abzubrechen, um die Therapie nicht zu gefährden, hat das für ihn ungeahnte Konsequenzen. Denn der Zustand von Gary hat sich in letzter Zeit verschlechtert …

_Mark McNay siedelt_ sein Buch im Milieu psychisch Erkrankter, Drogenabhängiger und Sozialarbeiter an. Das ist ein interessanter Blickwinkel, den der Autor gut bedient mit seinen Beschreibungen, Charakterdarstellungen und den saloppen Dialogen. Die Mut- und scheinbare Ausweglosigkeit, die den Charakteren anhaftet, wird sehr gut dargestellt. Allerdings darf man trotz allem keine besondere Spannungsdramaturgie erwarten. Es wird hauptsächlich das Alltagsleben der Protagonisten beschrieben, die wenigen konkreten Ereignisse werden in die Geschichte eingestreut, ohne dass sie einer Spannungskurve folgen. Das interessiert sicherlich nicht Jeden. Wer weniger Wert auf Darstellung, aber dafür mehr auf Action legt, ist mit diesem Buch also nicht besonders gut beraten.

Es sei denn, er kann sich für einen interessanten Schreibstil erwärmen, denn Schreiben kann McNay. Seine lässige Erzählweise ohne schwierige Begriffe und einfache Satzstrukturen liest sich flüssig. Überdies besticht er durch den Humor. Auf geradezu ungewollte Art und Weise webt McNay immer wieder witzige Bemerkungen, die eigentlich gar nicht witzig sein wollen und sehr überraschend auftreten, in den Text. Außerdem begeistert der Schriftsteller durch Bildlichkeit. Immer wieder schreibt er über Vorstellungen oder Fantasien der Leute, die er wie selbstverständlich in den Fließtext integriert.

Die Figuren selbst sind ebenfalls lesenswert. Gary wirkt zwar ab und zu wie das Klischee eines Geisteskranken, ist ansonsten aber amüsant und authentisch umgesetzt. Nigel hingegen repräsentiert die Mittelschicht und seine Einfältigkeit gehört zu den größten Pluspunkten des Romans. Zum Einen wird dem Leser aus der gleichen sozialen Schicht dadurch ein Spiegel vor gehalten. Nigel sagt an einer Stelle im Buch, dass er nur deshalb Sozialarbeiter geworden ist, weil seine Eltern ihn dazu erzogen haben, anderen zu helfen. Dass ihm aber echte Einblicke in das Leben seiner Klienten fehlen, wird auf der anderen Seite sehr authentisch gezeigt. Es kommt dabei immer wieder zu Missverständnissen zwischen beiden Gruppen, die aber keiner so recht zu bemerken scheint außer der Leser, was ab und an für prompte Lacher sorgt.

_In der Summe_ ist „Under Control“ amüsante, aber dennoch auf lässige Art und Weise tiefgründige Literatur, die gut geschrieben, aber nicht immer spannend ist.

|Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
318 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3423247481|
http://www.dtv.de

David Safier – Plötzlich Shakespeare

Rosa macht ihrem Namen nicht gerade alle Ehre, denn in ihrem Leben läuft es alles andere als rosarot. Statt dessen ist sie seit Jahren Single, immer noch unglücklich in ihren Exfreund verliebt und ihre biologische Uhr tickt immer lauter. Als sie dann auch noch zur Hochzeit ihrer großen Liebe Jan eingeladen wird, ist Rosa der Verzweiflung nahe. Selbst ihr schwuler bester Freund Holgi kann sie nicht mehr trösten, denn wo kein Selbstbewusstsein vorhanden ist, kann man auch keins aufbauen. Daher rät er ihr zu einem One-Night-Stand. Doch der gemeinsame Abend mit ihrem Kollegen Axel endet nicht im Bett, sondern bereits nach dem Besuch einer Zirkusvorstellung, in der Hypnotiseur Prospero einen Zuschauer in ein früheres Leben versetzt hat. Diesen Ausweg will nun auch Rosa gehen und begibt sich mutig zu Prospero. Tatsächlich versetzt der Hypnotiseur Rosa in ein früheres Leben – nicht ohne ihr mit auf den Weg zu geben, dass sie erst dann zurückkehren kann, wenn sie heraus gefunden hat, was die wahre Liebe ist.

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Melanie Benjamin – Alice und Ich

„Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll ist wohl eins der bekanntesten Kinderbücher. Gerade wurde es von Tim Burton neu verfilmt und ist im Frühjahr mit Stars wie Johnny Depp oder Anne Hathaway im Kino erschienen. Doch über die Entstehung des Buches wissen wohl die wenigsten etwas. Auch nicht darüber, dass es diese Alice tatsächlich gegeben hat. Diesem Umstand nimmt sich die Amerikanerin Melanie Benjamin an. In „Alice und ich“ beschreibt sie das Leben der echten Alice im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Alice Liddell wächst behütet und sorglos in einer Dekansfamilie in Oxford auf. Sie und ihre zwei Schwestern, die ältere Ina und die jüngere Edith, pflegen eine lockere Freundschaft mit Mr. Dodgson, einem Mathematikdozenten. Sie machen häufig Ausflüge mit dem herrischen Kindermädchen Mrs. Prick und Mr. Dodgson zückt dann gerne seine Kamera, um die Kinder zu fotografieren. Besonders Alice mit ihrem lebendigen Charakter und ihrer Altklugheit hat es ihm angetan. Und auch Alice mag Mr. Dodgson sehr gerne, doch da ist sie nicht alleine. Mit ihren Geschwistern buhlt sie um dessen Gunst, nicht ahnend, wohin das später führen wird.

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Ollestad, Norman – Süchtig nach dem Sturm

Mit „Süchtig nach dem Sturm“ hat Norman Ollestad die Geschichte seiner Kindheit auf Papier gebannt. Da sich Normans Kindheit doch ziemlich eklatant von anderen Kindheitsgeschichten seiner Zeit unterscheiden dürfte, ist daraus ein Buch entstanden, das gleichermaßen spannend wie facettenreich daher kommt.

Norman Ollestad wurde 1967 geboren und wuchs in Topanga Beach, Malibu auf – damals eine schillernd bunte Welt voller Hippies, Musik und Surfer. Das Surfen spielt auch in Normans Kindheit eine groß Rolle, denn sein Vater „Big Norm“ ist ein begnadeter Surfer, immer auf der Jagd nach den größten Wellen und dem perfekten Tuberide. Seinen Sohn „Little Norm“ nimmt er schon von klein auf mit auf die Wellen – anfangs noch auf seinem Rücken, später solo mit dem eigenen Brett.

Während andere Kinder vor dem Fernseher sitzen oder im Hof mit dem Ball spielen, reitet Norman Wellen, die größer sind als er selbst, fährt mit Skiern waghalsige Abfahrtsrennen oder verschneite Tiefschneehänge hinunter und tingelt von Eishockeyspiel zu Eishockeyspiel. Was immer er macht, stets ist sein Vater da, um ihn anzuspornen, seine Angst zu überwinden und alles zu geben und ihm zu helfen, wenn es brenzlig wird. Hat Norman die Angst einmal überwunden, ist das Erlebniss, das dahinter wartet, stets großartig und stets etwas Besonderes, aber dennoch wünscht Norman sich oft genug, sein Vater würde ihn mit seinen speziellen Vater-Sohn-Ausflügen einfach in Ruhe lassen.

Dreh- und Angelpunkt von „Süchtig nach dem Sturm“ ist ein Flugzeugabsturz, der sich im Terminstress zwischen Eishockeyspiel und Skirennen ereignet, als Normans Vater wegen der knappen Zeit eine Cessna gechartert hat. Die Maschine stürzt mitten in einem schwer zugänglichen Bergmassiv ab. Normans Vater und der Pilot sind sofort tot und Norman ist auf sich gestellt.

Als der elfjährige Norman sich schließlich auf den Weg macht, den völlig vereisten und eigentlich viel zu steilen Abstieg in Richtung Tal anzugehen, sind die endlosen Lehrstunden auf Surfbrett und Skiern endlich zu etwas gut. Norman weiß mit seiner Angst umzugehen und spornt sich selbst dazu an, nicht aufzugeben. Sein zäher Überlebenswille wird schließlich honoriert, als Norman nach schier endlosen, einsamen Stunden endlich in Sicherheit ist.

Norman Ollestad erzählt zwei Geschichten parallel. Er springt immer hin und her zwischen den Ereignissen des Flugzeugabsturzes und den Erinnerungen an seine Kindheit, größtenteils vor dem Absturz, aber auch an die Zeit danach. Durch die Sprünge zwischen den unterschiedlichen Handlungsebenen erzeugt Ollestad enorm viel Spannung und „Süchtig nach dem Sturm“ entwickelt schon annähernd Page-Turner-Qualitäten. Was er dazwischen skizziert, ist zum einen das Bild einer ungewöhnlichen und für sich schon spannenden Kindheit und zum anderen die Geschichte einer komplizierten, aber auch stets sehr intensiven und besonderen Vater-Sohn-Beziehung.

Norman empfindet viel Respekt für seinen Vater, bestaunt das Leuchten in dessen Augen beim Eintauchen in tiefen Pulverschnee oder beim Erzählen von großartigen Tuberides. Die Zeit, in der Big Norm seinem Sohn die Welt auf Skiern und Surfbrett zeigt, war noch eine ganz andere als die heutige. Man spürt den Pioniergeist, mit dem vor allem Normans Vater bei der Sache ist. Big Norm muss eine enorm charismatische Persönlichkeit gewesen sein, der Andere mit seiner charmanten Art, seinem Gitarrenspiel und seinen Surfskills um den kleinen Finger wickeln konnte. Für Norman ist all dies gleichzeitig faszinierend und beängstigend. Immer wieder muss er an seine Grenzen gehen – was ihn oft genug verzweifeln lässt, ihm aber ebenso immer wieder großartige Erlebnisse beschert.

Die ganze verzwickte Komplexität dieser Vater-Sohn-Beziehung verdeutlicht Ollestad vor allem anhand einer Reise der Beiden durch Mexiko – eigentlich angetreten, um Normans in Mexiko lebenden Großeltern eine neue Waschmaschine zu bringen. Aber Big Norm wäre nicht Big Norm, wenn das Ganze nicht zu einer ereignisreichen Surfreise entlang der mexikanischen Küste verlaufen würde.

Ollestad erzählt von all diesen Erlebnissen so farbenfroh und facettenreich, dass das Buch sicherlich auch ohne die Dramatik des Flugzeugabsturzes höchst angenehme Lektüre wäre. Das Studium des Creative Writing an der University of California hat da sicherlich sein Übriges getan.

„Süchtig nach dem Sturm“ nimmt den Leser gefangen, lässt ihn mitfiebern und mitträumen von mexikanischen Stränden und feinstem Pulverschnee. Alles in allem hat Norman Ollestad ein höchst lesenswertes Buch abgeliefert, das gleichzeitig Chronik einer ungewöhnlichen Kindheit und die Skizzierung eines ebenso komplizierten wie intensiven Vater-Sohn-Verhältnisses ist. Ein Buch, das nicht nur denen, die sich Surfbrett und Skiern verbunden fühlen, nahe gehen dürfte, sondern eigentlich niemand kalt lassen kann und daher uneingeschränkt empfehlenswert ist.

|Gebundene Ausgabe: 349 Seiten
ISBN-13: 978-3100552150
Originaltitel: Crazy for the Storm
Übersetzt von Brigitte Heinrich|

Kristof Magnusson – Das war ich nicht

|Paartherapeuten betonen oft, wie wichtig ein gemeinsames Hobby für die Beziehung sei. Eine Sportart, ein Garten oder Kinder; ein Hobby, das bleibt, wenn die Liebe gegangen ist. Auch Arthur und ich hatten etwas, das wir gern gemeinsam taten: Wir rauchten.|

So bitter lautet Meikes Resümee ihrer Beziehung zu Arthur. Zeit für sie also, ihre Zelte in Hamburg abzubrechen, sang- und klanglos aus der gemeinsamen Wohnung zu verschwinden und sich auf dem Land ein neues Leben aufzubauen. Als Übersetzerin ist sie räumlich nicht gebunden, und ihre so genannten Freunde gehen ihr längst gehörig auf den Keks. Allerdings ist das neue Leben auf dem Dorf auch nicht Friede, Freude, Eierkuchen, denn im neuen Haus funktioniert die Heizung nicht und das Manuskript ihres Lieblingsautors Henry LaMarck lässt komischerweise auf sich warten. Und da Meike nichts zu übersetzen hat, bleibt ihr genügend Zeit, über sich und ihr Leben zu philosophieren.

Jasper ist jung und erfolgreich. In der Bank ist er vom Back Office aufgestiegen zu den Futures und Optionen. Nur leider handelt er kleine Aufträge, die Karriereleiter hält also noch einige Stufen für ihn bereit. Als sein Kollege eines Tages gefeuert wird, wittert Jasper seine Chance. Er spekuliert auf eigene Faust und – gewinnt. Jedenfalls zunächst. Anschließend drehen sich die Kurse und Jaspers Verluste wachsen schneller, als er gucken kann.

Bestsellerautor Henry LaMarck plagen derweil andere Sorgen: Unvorsichtiger Weise hat er in einer Talkshow angedeutet, einen Roman über den 11. September schreiben zu wollen. Und nun erwartet jedermann einen Jahrhundertroman von ihm. Der Abgabetermin für sein Manuskript ist längst überfällig – sonst würde Meike im entfernten Norddeutschland schließlich nicht auf den zu übersetzenden Roman warten -, doch was niemand ahnt: Henry hat noch keine einzige Zeile geschrieben … Dann aber sieht Henry ein Bild in der Zeitung, von einem jungen Investmentbanker – Jasper – das ihn so sehr inspiriert und fasziniert, dass er den jungen Mann unbedingt treffen muss. So lauert er Jasper vor dessen Bank in Chicago auf.

_Drei Schicksale_

Kristof Magnusson erzählt die Geschichte dreier Menschen, die zunächst nichts bzw. nur wenig miteinander zu tun haben. Doch im Laufe der Zeit verstricken sich ihre einzelnen Schicksale immer mehr ineinander. Meike macht sich in Chicago auf die Suche nach Henry LaMarck, um ihn zur Abgabe seines Manuskripts zu bewegen und trifft dort zufälliger Weise auf Jasper. Den wiederum sucht Henry LaMarck Hände ringend, da Jasper zu seiner Inspiration, seiner Muse, werden soll. Und schon verändert sich das Leben aller drei Menschen auf eine Art und Weise, wie niemand das hätte vorausahnen können.

Dabei beginnt Kristof Magnusson zunächst mit einer recht nüchternen Vorstellung seiner Protagonisten, sodass man in den ersten Kapiteln noch keinerlei Zusammenhang erkennen kann. Aber das ändert sich bald, wenn die Ereignisse erst einmal ins Rollen gekommen sind. Dann wiederum kann man das Buch praktisch nicht mehr aus der Hand legen, da die Handlung immer abstruser wird, die Ereignisse sich praktisch überschlagen und man einfach wissen muss, wie Magnusson dieses Wirrwarrr bloß auflösen will.

Das Buch entwickelt einen regelrechten Sog, das Erzähltempo steigt immer mehr an, sodass ich das vorliegende Buch tatsächlich an einem Abend verschlingen musste, sonst hätte ich nicht ruhig schlafen können.

_Verrückt, verrückter, Magnusson_

Was Kristof Magnusson wie schon in seinem Roman „Zuhause“ auszeichnet, sind sein unglaubliches Sprachgefühl, seine lebhafte Fantasie und seine schrägen Charaktere. Der Autor kann sich darauf verlassen, dass er stets den richtigen Ton trifft, stets den richtigen Gag bringt und stets Wortwitz einstreut, wo er sich denn anbietet. Seine Schreibe ist einfach nur wunderbar, erfrischend, herrlich und genial. Was in Magnussons Erstling schon anklang, perfektioniert er hier, denn sein neuer Roman ist dermaßen abgefahren, lebendig und herzerfrischend komisch, dass er für mich schon jetzt zu den Entdeckungen des Jahres zählt.

Magnussons lebhafte Fantasie zeigt sich in erster Linie darin, dass er aus einer zunächst alltäglich erscheinenden Geschichte etwas so Abstruses zaubert, dass einem fast die Nackenhaare zu Berge stehen könnten, wären die Geschichten nicht gleichzeitig auch so komisch. Aus einer kleinen Fehlspekulation bei Jasper entwickelt sich nahezu eine weltweite Finanzkrise, und aus der Schreibkrise eines erfolgreichen Autors erwächst eine Dreierkonstellation, wie sie komplizierter kaum sein könnte. Denn Henry verliebt sich in Jasper, der wiederum wirft ein Auge auf Meike, die ihn wiederum aber überhaupt nicht ausstehen kann und nur darauf bedacht ist, Henry zur Abgabe seines Manuskripts zu bewegen. Hier spielen Eifersüchteleien eine Rolle, Fehlspekulationen und Missverständnisse, die schlussendlich dafür sorgen, dass drei Menschen an einem Scheideweg in ihrem Leben angekommen sind und sich völlig neu orientieren müssen.

So ist auch „Das war ich nicht“ wieder ein Roman über Menschen, die ihr Leben neu ordnen müssen, die ein neues Ziel brauchen, neue Freunde und eine neue Aufgabe. Am Ende des Buches ist für alle drei nichts mehr, wie es zu Beginn noch war. Und auch wenn für den einen oder anderen eine Welt zusammen brechen mag und er alles aufgeben muss, so lässt Kristof Magnusson seinen Roman doch positiv und hoffnungsvoll ausklingen, sodass man zufrieden und mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zurück bleibt.

_Unbedingt lesen!_

Kristof Magnussons zweiten Roman |muss| man einfach lesen. Seine Charaktere sind so liebenswert chaotisch, so herrlich komisch und verzweifelt, dass man sie sofort ins Herz schließen muss – auch wenn sie so kauzig sind wie Henry LaMarck. Magnussons Schreibe muss man einfach lieben, beim Lesen fliegt man nur so über die Seiten, lacht lauthals los oder schmunzelt doch zumindest in sich hinein und amüsiert sich köstlich über Magnussons gute Beobachtungsgabe und seinen genialen Humor. An diesem Buch gibt es nichts auszusetzen – höchstens, dass es gefühlt viel zu kurz ist. Dafür verlockt es aber zum sofortigen nochmal Lesen. Dieses Buch macht einfach süchtig!

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3888975820|
http://www.kunstmann.de

_Kristof Magnusson beim Buchwurm:_
[Zuhause 1699

Thomas, Scarlett – PopCo

Die englische Schriftstellerin Scarlett Thomas löst, laut Autorenbeschreibung, in ihrer Freizeit gerne mathematische Gleichungen. Das ist nicht unbedingt das, was man von einer jungen Schriftstellerin erwartet. Die Frage, die sich einem nun stellt, ist: Kann ein Buch von einer Person, die in ihrer Freizeit freiwillig Mathematik betreibt, überhaupt gut sein? „PopCo“ liefert die Antwort …

Alice Butler ist neunundzwanzig und ein bisschen seltsam. Früher hat sie Kreuzworträtsel entworfen, heute arbeitet sie als Produktentwicklerin beim weltweit drittgrößten Spielzeughersteller PopCo. Sie hat eine Vorliebe für das Knacken von Zahlencodes und Chiffren, trägt Klamotten und Frisuren, die sie von ihren hippen Kollegen abheben, und hat kaum Freunde. Dementsprechend fühlt sie sich im alljährlichen Kreativcamp ihres Arbeitgebers nicht gerade wohl. Gemeinsam mit sämtlichen PopCo-Mitarbeitern muss sie auf einem alten englischen Gut wohnen und alles ist ein bisschen wie im Schullandheim. Schlafsäle, Motivations- und Ideenfindungsübungen – zum Glück hat sie ihren besten Freund Dan dabei, mit dem sie sich über diese Sachen lustig machen kann. Dann lernt sie auch noch die exzentrische Esther kennen, die kifft und auch sonst recht rebellisch ist. Gemeinsam mit ein paar anderen werden die drei in ein besonderes PopCo-Team gesteckt: Sie haben die Aufgabe, d a s Teenagerprodukt zu erfinden. Jugendliche gelten als problematische, unberechenbare Zielgruppe, doch PopCo hat sich fest vorgenommen, sie zu knacken, auch mit unlauteren Mitteln …

Gleichzeitig wird in einem zweiten Erzählstrang Alices ungewöhnliche Kindheit erzählt. Alice wächst bei ihren Großeltern auf. Ihr Großvater ist ebenfalls ganz vernarrt in Kreuzworträtsel und Chiffren, während ihre Großmutter eine große Mathematikerin ist. Als ihr Großvater einen Code knackt, der zu einem Schatz führt, zerstreitet er sich mit Alices Vater, da er die Lösung für das Rätsel nicht herausrücken möchte. Der Schatz soll seiner Meinung nach dort bleiben, wo er ist. Alices Vater verschwindet daraufhin, doch Alice erfährt nie, wohin und warum. Allerdings bekommt sie von ihrem Opa ein Medaillon mit einem Code vererbt …

Zuerst einmal die gute Nachricht: Scarlett Thomas‘ merkwürdiger mathematischer Zeitvertreib wirkt sich in keiner Weise negativ auf ihre Schreibkünste aus. „PopCo“ ist ein kleines Meisterwerk, vor allem in zwei Bereichen: den Figuren und dem Schreibstil. Die Handlung hingegen hat ihre Stärken und Schwächen. Eine der größten Stärken ist sicherlich Thomas‘ unendlicher Wissensdurst. Die Recherchearbeiten für dieses Buch müssen unglaublich aufwändig gewesen sein, da sehr viele unterschiedliche Themen darin verarbeitet werden. Da ist zum Einen alles, was sich um PopCo dreht. Spielzeugmarketing, Spielzeugentwicklung, Spielzeugarten – dieses Buch ist beinahe wie ein Praktikum in der Marketingabteilung eines Spielzeugherstellers. Danach weiß man eine Menge mehr über die unterschiedlichen Zielgruppen von Spielzeug, die Probleme damit und wie der Spielzeugmarkt aufgebaut ist. Dies erzählt die Autorin aus Alices Sicht allerdings so galant, dass die Trockenheit des Themas gar nicht auffällt. Man verschlingt Seite um Seite, ohne zu merken, dass man den Stoff einer Marketingvorlesung durch nimmt. An dieser Stelle muss man der Autorin wirklich ein großes Kompliment aussprechen. Nebenbei belehrt sie den Leser auch noch über Mathematik, Codes, den Ablauf von Ideencamps und schließlich auch noch über etwas anderes, sehr Relevantes, was an dieser Stelle nicht verraten werden soll. „PopCo“ ist damit eins der wenigen Bücher, nach deren Lektüre man deutlich schlauer ist – und es hat sogar Spaß gemacht!

Ein wenig Interesse an diesen Themen – oder zumindest sehr viel Durchhaltevermögen – muss man als Leser jedoch mitbringen. Thomas beschreibt vor allem Alices Aufenthalt auf dem Gut in sehr vielen Einzelheiten. Das ist zwar schön zu lesen, trägt zu der eigentlich Handlung nur wenig bei. Überhaupt ist die Handlung der Knackpunkt der Geschichte. Es gibt zwei Erzählstränge: einen mit der älteren und einen mit der jüngeren Alice. Beide verfolgen unterschiedliche Ziele, vermengen sich am Ende aber. Trotzdem flacht die Spannungskurve gegen Ende dramatisch ab. Die Geschichte hätte definitiv Potenzial für eine Vielzahl von kleinen Spannungskurven gehabt, doch Thomas lässt diese Gelegenheiten ungenutzt verstreichen. Ein Ereignis folgt dem nächsten und ist mal mehr, mal weniger relevant. Das große runde Ende, in dem sich alles in Wohlgefallen auflöst, sollte man jedenfalls nicht erwarten. Stattdessen präsentiert die Autorin dem Leser einen platten Schluss, der mit der eigentlichen Geschichte nur wenig zu tun hat.

Enttäuschte Erwartungen sind nicht unbedingt ein Garant dafür, Leser und Rezensenten in Begeisterung zu versetzen. Dass man Thomas diesen handlungstechnischen Fehltritt trotzdem verzeiht, ist Alice zu verdanken, die bereits jetzt eine der besten Protagonisten des Jahres ist. Von der ersten Seite an fesselt sie den Leser mit ihren kleinen Neurosen, Komplexen und Geheimnissen. Ihre teilweise skurrilen Gedankengänge, ihre Ticks – all das macht sie zu einer überaus spannenden Person. Zusammen mit Thomas‘ humorvollem, leichtfüßigen Schreibstil entsteht eine Ich-Erzählerin, die man gerne begleitet und die selbst die langweiligsten Mathematikerklärungen spannend macht. Auch an dieser Stelle muss man der Autorin hohes Lob zollen. Die Verbindung zwischen Hauptperson und Erzählstil ist seltengut und wertet die Geschichte unglaublich auf.

Auf der einen Seite steht eine etwas enttäuschende Handlung, auf der anderen eine grandiose Hauptfigur und ein toller, humorvoller Schreibstil. Zum Glück sind letztere so stark und originell, das sie die Macken von „PopCo“ überstrahlen. Dieses Buch ist überaus lesenswert. Scarlett Thomas legt die Messlatte für Romane, die im Jahr 2010 erscheinen, bereits im Januar verdammt hoch!

|Aus dem Englischen von Tanja Handels
700 Seiten, Taschenbuch
ISBN-13: 978-3499252532|
http://www.rowohlt.de

Gerard Donovan – Winter in Maine

Inhalt:

Seit Jahr und Tag lebt Julius Winsome in der einsamen Hütte in den Wäldern von Maine, die bereits sein Großvater und später auch seine Familie bewohnt hatte. Sein Mutter verlor er bereits bei der Geburt, seinen Vater als junger Erwachsener, sein Selbstvertrauen jedoch nie. Mit seinem Hund Hobbes, einem gewaltigen Bucharchiv mit 3282 teils raren Exemplaren und einer gewaltigen Grünanlage vertreibt er sich die Zeit, bevor der Winter über die Landschaft einbricht und Zeit zur inneren Einkehr bietet.

Gerard Donovan – Winter in Maine weiterlesen

Pearlman, Ann – Christmas Cookie Club, Der

Jedes Jahr am ersten Montag im Dezember treffen sich Marnie und ihre elf Freundinnen, die Cookie-Hexen, zum Christmas Cookie Club in Marnies festlich geschmücktem Wohnzimmer. Dort werden die Cookies – jede backt 13 Dutzend – untereinander verteilt, und je ein Dutzend wird dem ansässigen Hospiz gespendet. Dabei plaudern die Frauen über die Ereignisse des vergangenen Jahres, es wird gelacht, geweint, sie streiten und versöhnen sich. Sie sind sich so nah wie sonst selten im Jahr.

Marnie wartet den ganzen Abend auf einen Anruf ihrer schwangeren Tochter Sky, die ein Testergebnis erwartet – ihr erstes Baby war eine Totgeburt. Auch ihre zweite Tochter Tara ist zum ersten Mal schwanger. Marnies Freundin Charlene muss mit einem großen Verlust klarkommen: Ihr Sohn Luke verstarb nach einem Unfall. Jetzt versucht sie, in ihrem Leben einen neuen Sinn zu finden.

Eine der Cookie-Hexen ist dieses Jahr ausgeschieden, dafür kommt Cookie-Jungfrau Sissy dazu. Sie ist Marnies „Mit-Großmutter“ und versucht, Marnie ihren Sohn und dessen Wesenszüge näherzubringen, einen schwarzen Rapper, der vor kurzem noch im Gefängnis war. Auch die anderen neun Freundinnen im Bunde haben alle einiges durchgestanden, Schönes wie auch Tragisches.

Jedes Kapitel in diesem Buch ist einer der Frauen gewidmet, beginnt mit dem Cookie-Rezept, das diese gebacken hat, und erzählt ein bisschen von der Vergangenheit sowie der jetzigen Situation. Am Ende jedes Kapitels kommt noch etwas Warenkunde hinzu.

_Kritik_

Ann Pearlman hat mit „Der Christmas Cookie Club“ ein weihnachtliches, warmherziges Buch geschrieben. Der Roman wird aus Marnies Sicht, der Cookie-Oberhexe, erzählt.

In jedem Kapitel wird eine der zwölf Protagonistinnen vorgestellt, man erhält einen kurzen Einblick in deren Vergangenheit, die Beziehungen untereinander werden erläutert, und bei der Cookie-Vergabe kommt das zentrale Thema, das sich durch das Jahr zog, noch mal auf den Tisch.

Die Cookie-Hexen sind sehr real konzipiert; sie wirken glaubwürdig und sehr sympathisch, jede auf ihre Weise. Man möchte fast dazugehören und fühlt sich bei ihnen recht wohl.

„Der Christmas Cookie Club“ ist sehr kurzweilig erzählt – ein angenehm leichtes Buch, besonders zu Festzeiten. Die zwölf Rezepte laden zum Nachbacken ein; statt der Warenkunde hätte ich mir allerdings vielleicht noch ein paar Worte mehr zu den zwölf Frauen gewünscht. Die Warenkunde war zwar zuweilen informativ, aber ein Fehlen derselben hätte dem Roman auch nicht geschadet.

_Fazit_

Ann Perlmans „Der Christmas Cookie Club“ kann ich wärmstens empfehlen. Die zwölf Freundinnen sind so warmherzig beschrieben, man würde gerne mit ihnen gemeinsam in Marnies Wohnzimmer sitzen und plaudern.

Ich werde diesen Roman auf jeden Fall verschenken. Mit einer der Cookie-Sorten dazu, wird dies sicherlich gut ankommen. Die Dr.-Oetker-Versuchsküche hat alle Rezepte dieses Buches nachgebacken und ein kleines Heftchen mit den Rezepten (in deutsche Einheiten umgerechnet) und Bildern der Cookies beilegen lassen.

_Die Autorin_

Ann Pearlmann wurde in Washington, D.C., geboren. Sie lebt als Schriftstellerin und Psychotherapeutin in Ann Arbor, Michigan. Sie gehört einem Christmas Cookie Club an, der Grundlage zu diesem Roman war.

|358 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3547711585|
http://www.ullsteinbuchverlage.de/mvs/

_Nadine Warnke_

See, Lisa – Töchter aus Shanghai

In ihren Büchern „Der Seidenfächer“ und „Eine himmlische Liebe“ hat die Autorin Lisa See uns bereits mit chinesischer Geschichte und Gewohnheiten vertraut gemacht. In ihrem neuesten Roman „Töchter aus Shanghai“ entführt sie ihre Leserinnen in die 1930er-Jahre. Im weiteren Verlauf verlagert sich die Handlung von Shanghai nach Los Angeles, wo die Protagonisten in Chinatown leben. Lisa See weiß genau, wovon sie schreibt, da sie selbst einer chinesisch-amerikanischen Familie entstammt und dort aufgewachsen ist. So entwickelt sich der vorliegende Roman in Teilen zu einem Geschichtsbuch.

_Zwei ungleiche Schwestern_

Die Schwestern Pearl und May wachsen wohlbehütet auf. Sie lieben sich innig, obwohl sie doch auch Konkurrentinnen sind. Denn May ist die Hübschere von beiden und zieht sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Dennoch verdienen die beiden Mädchen sind ihr Geld gemeinsam – nämlich, indem sie Modell für Kalenderblätter stehen. So erlangen sie eine gewisse Berühmtheit und Unabhängigkeit. Von ihrem Geld vergnügen sie sich abends, kaufen sich schöne Kleidung und geben einen Teil ihrem Vater, der das Geld (vermeintlich) für sie anlegt.

An einem Tag jedoch bricht die heile Welt der Schwestern in sich zusammen: Ihr Vater eröffnet ihnen, dass er alles Geld verspielt hat und mittellos ist. Er entlässt die Dienstleute, unterteilt das Haus, sodass weitere Menschen zur Miete einziehen können und vermittelt seine beiden Töchter an zwei Brüder, die chinesischer Abstammung sind, aber in Los Angeles leben. Pearl und May sind geschockt, fügen sich jedoch in ihr Schicksal. Die beiden heiraten die jungen Männer und verleben noch ihre Hochzeitsnacht, bevor die beiden Ehemänner zurück in die Vereinigten Staaten reisen. Pearl hat mit ihrem Ehemann das getan, was Eheleute tun, doch May konnte dies nicht. Zudem scheint mit ihrem Mann, der noch sehr jung ist, irgendetwas nicht zu stimmen.

Die beiden Mädchen sollen ihren Ehemännern auf einem späteren Schiff folgen, doch haben sie dies nicht vor. Sie bleiben in Shanghai, müssen dann allerdings erkennen, dass ihr Vater nicht ihrem neuen Schwiegervater Geld schuldet, sondern einer gefährlichen Gangsterbande, die sogleich in ihr Haus eindringt und die Mädchen auffordert, sich unverzüglich auf den Weg zu ihren Ehemännern zu begeben. Kurz darauf fallen die Japaner in Shanghai ein und ihr Vater verschwindet spurlos. Gemeinsam mit ihrer Mutter machen die beiden Schwestern sich auf den Weg nach Hongkong, wo sie ein Schiff nach Amerika besteigen wollen. Unterwegs werden sie allerdings von den Japanern überfallen, was die Mutter mit ihrem Leben zahlen muss. Auf sich allein gestellt sehen Pearl und May keine andere Möglichkeit, als zu ihren Ehemännern zu reisen. Und so machen sie sich auf die gefährliche Reise nach Amerika. Dort angekommen, lüftet May ein großes Geheimnis, das das Leben beider Schwestern nochmals auf den Kopf stellen wird …

_Flucht aus Shanghai_

Zunächst lernen wir die beiden Schwestern Pearl und May in ihrem gewohnten Leben kennen. Die Eifersucht nagt deutlich an der Ich-Erzählerin Pearl, denn May ist die hübschere von beiden und wird von den Eltern bevorzugt. Auch auf den Kalenderblättern steht sie stets im Vordergrund und zieht sämtliche Blicke auf sich. Doch auch Pearl ist hübsch, zudem spricht sie mehr Sprachen als ihre Schwester und scheint die stärkere von beiden zu sein. Als ältere Schwester behütet sie die jüngere und versucht, sie vor Schaden zu bewahren. Das zeigt sich insbesondere in der Szene, in der die Mutter sich alleine den Japanern stellt und ihr Pearl schließlich zur Seite steht und einen schrecklichen Preis dafür bezahlen muss.

Viel Zeit lässt sich Lisa See nicht, bevor sie die heile Welt der jungen Frauen einstürzen lässt, und so fesselt einen das Buch bereits sehr früh. Ab dem Moment, in dem die beiden Schwestern an zwei Brüder verkauft und mit ihrem neuen Schicksal konfrontiert werden, kann man das Buch schwerlich zur Seite legen. Kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse, als die Japaner die Stadt bedrohen, der Vater verschwindet und die Mutter stirbt.

Lisa See beschreibt zwei starke und sehr unterschiedliche Frauencharaktere. Beide stellt sie aus Pearls Sicht dar, sodass das Bild der jungen Frauen durchaus manchmal verzerrt erscheint. Kurz vor dem Ende stellt May einiges klar, das Pearl falsch interpretiert hatte und rückt so auch für die Leser das Bild der Schwestern gerade. Dadurch, dass Pearl uns ihre Geschichte als Ich-Erzählerin präsentiert, fallen ihr sämtliche Lesersympathien zu, zudem scheint May scheinbar alles zu bekommen, was sie sich wünscht. Als aber Pearl den netteren Ehemann bekommt, wirkt dies wie ausgleichende Gerechtigkeit. Die beiden Frauen halten zusammen wie Pech und Schwefel, auch wenn Konkurrenz und Neid im weiteren Verlauf des Buches immer mehr dominieren und das Band zwischen den Schwestern deutliche Risse bekommt. Dadurch wiederum steigert Lisa See aber die Spannung, denn es wäre bei all den Differenzen zwischen den Schwestern unrealistisch, würden sie sich immer gut verstehen.

_Schicksalsjahre_

Die Geschichte zieht sich über viele Jahre hinweg. Wir erleben mit, wie Pearl und May ihr in Trümmern liegendes Leben zu retten versuchen, indem sie sich in ihre neue Familie einleben. Doch auch in Los Angeles ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, denn ihr Schwiegervater hütet ein Geheimnis, das das Leben der gesamten Familie bedroht. Die jungen Frauen müssen hart arbeiten, sie erleben mit, wie ihr Schwiegervater bei einem Brand all sein Geld verliert, sie erfahren, welche Krankheit Mays Ehemann hat, weitere Menschen sterben und schließlich müssen die Chinesen auch in Amerika um ihr Leben fürchten.

Als Hintergrund für ihre Familiengeschichte hat Lisa See sich einen dramatischen Zeitraum heraus gesucht und ihre Geschichte zudem an exotische und turbulente Schauplätze verlegt. Sie entwirft ein lebendiges Bild vom farbenprächtigen Shanghai und vom Chinatown in Los Angeles, das sich noch im Aufbau befindet. In Shanghai werden Pearl und May von Japanern bedroht, doch auch in Los Angeles sind sie nicht integriert. Dennoch versuchen sie, sich unter erschwerten Bedingungen eine neue Heimat aufzubauen. Lisa See verwebt geschickt die Geschichte der beiden Frauen mit den geschichtlichen Ereignissen. Denn was als Rahmenhandlung passiert, entspricht den Tatsachen, so lernt man ganz nebenbei noch etwas über die chinesische Geschichte. Allerdings ist das Buch dadurch nicht immer ganz leichte Kost, denn Lisa See erzählt eine sehr komplexe Geschichte.

Auch der Schreibstil der Autorin passt zu der sehr dichten Geschichte, denn sie schmückt sämtliche Szenen plastisch aus, sodass wir uns in die Situationen hinein versetzen können, auch gibt es vergleichsweise wenig direkte Rede, die den Schreibfluss auflockert. Daher fesselt einen das Buch zwar, lässt sich aber durchaus nicht an einem Stück lesen. Spätestens nach ein oder zwei Stunden braucht man eine Pause von den eindringlichen Worten der Autorin, die mitunter furchtbare Dinge beschreiben.

_Geschichtsstunde_

Im Gegensatz zu Lisa Sees Buch „Der Seidenfächer“, das ich tatsächlich am Stück verschlungen habe, musste ich mir das vorliegende Buch erarbeiten. Phasenweise konnte ich es nicht aus der Hand legen, dann aber gab es recht langatmige Passagen, die mich nicht so fesseln konnten. Unter dem Strich jedoch erzählt Lisa See eine faszinierende und mitreißende Geschichte vor einem spannenden und dramatischen Hintergrund. Ganz nebenbei erfährt man viel über die Lebensweise der Chinesen im Shanghai der 30er-Jahre, vor allem aber über ihr neues Leben in Amerika. Schade nur, dass das Buch praktisch mittendrin endet und sich nicht alle Fragen klären, denn so blieb ich ein klein wenig enttäuscht zurück.

|Gebundene Ausgabe: 448 Seiten
ISBN-13: 978-3570010570
Originaltitel: |Shanghai Girls|
Übersetzt von Elke Link|

Veloso, Ana – Mädchen am Rio Paraíso, Das

Im Jahr 1826 findet Gaucho Raúl Almeida am Ufer des Rio Paraíso ein junges blondes Mädchen. Er rettet das bewusstlose und verletzte Mädchen, nimmt es mit zu sich nach Hause und lässt es von seiner Sklavin Teresa liebevoll pflegen und versorgen. Als das Mädchen erwacht, kann es sich an nichts erinnern. Die junge Frau weiß nicht, wer sie ist, woher sie kommt und was passiert ist. Zu all dem Unglück versteht sie kein Wort von dem, was die Menschen um sie herum sagen. Erst nach und nach kehren Erinnerungsfetzen zurück, das Mädchen kann sich an seinen eigenen Namen erinnern – Klara. Doch bis zuletzt erinnert sie sich nicht daran, was am Tage ihres Unfalls passiert ist.

Raúl Almeida und Teresa denken derweil, dass das Mädchen schwachsinnig ist, weil es zunächst gar nicht spricht und danach nur wirres Zeug von sich gibt. Sie ahnen noch nicht, dass es sich bei dem Mädchen um eine deutsche Auswanderin aus dem Hunsrück handelt, die einst mit ihrem Mann Hannes nach Südbrasilien ausgewandert ist, um dort ihr Glück zu suchen. Die beiden richten sich ein kleines und bescheidenes Häuschen ein und bekommen zu ihrem großen Glück eine kleine Tochter. Doch dann geschieht etwas, das das Leben der beiden auf den Kopf stellt und alles verändert.

Während Klaras Erinnerungen langsam zurückkehren, notiert sie sich fleißig alle Worte, die Teresa oder Raúl aussprechen, sie lernt immer besser portugiesisch und kann sich schon bald notdürftig verständigen. Dass sie sich nach und nach an ihre Vergangenheit erinnert, verschweigt sie den beiden aber zunächst. Raúl fühlt sich immer mehr zu dem geheimnisvollen und exotischen Mädchen hingezogen. Als er aber auf eigene Faust Nachforschungen anstellt, erfährt er, dass Klaras Mann ermordet wurde und Klara seitdem als vermisst gilt. Handelt es sich bei Klara womöglich um eine Mörderin?

_Erinnerungsfetzen_

Das Buch beginnt damit, dass Klara aus ihrer Ohnmacht erwacht und sich an wirklich nichts erinnert. Sie kommt bei fremden Menschen zu sich und kann sich nicht einmal ihres Namen entsinnen. Im steten Wechsel lernen wir Klara in der Gegenwart bzw. in ihrer Vergangenheit genauer kennen. So springen wir im zweiten Kapitel in die Vergangenheit und erfahren mehr über ihre Kindheit in Deutschland, über ihre Familie und die Streitereien mit ihrem älteren Bruder. Ganz langsam setzt sich ein Bild von Klara Wagner zusammen, die Raúl Almeida 1826 am Rio Paraíso rettet. Doch springt Ana Veloso zunächst so weit in die Vergangenheit, dass wir uns lange gedulden müssen, um zu erfahren, wie Klara überhaupt nach Brasilien gelangt ist, wie sie dort gelebt hat und wie es ihr in Brasilien ergangen ist.

Das stete Wechselspiel aus Kapiteln, die in der Gegenwart bzw. in der Vergangenheit geschrieben sind, treibt immer mehr die Spannung in die Höhe. Zunächst gilt es zu durchschauen, um wen es sich bei dem unbekannten blonden Mädchen handelt, und später brennt es einem unter den Fingern zu erfahren, was zwischen Hannes und Klara vorgefallen ist und wie es zu dem Unfall kommen konnte, bei dem Klara am Rio Paraíso ihr Bewusstsein verlor. Und natürlich beginnt es zwischen Raúl und Klara immer mehr zu knistern, nur leider erfährt der gut aussehende Gaucho dann, dass Klaras Mann ermordet wurde und plagt sich fortan mit Zweifeln, ob er nicht doch einer gelungenen Täuschung aufgesessen ist und es sich bei Klara um eine Mörderin handelt. Die Spannung steigt immer mehr, vor allem die Geschichte in Klaras Vergangenheit nimmt Fahrt auf, nachdem ein Ereignis ihres und Hannes‘ Leben auf den Kopf stellt und plötzlich nichts mehr ist wie zuvor.

Bei allen Geheimnissen, die sich um Klara ranken und die die Spannung voran treiben, gibt es doch eines, das man nie in Frage stellt, und zwar das erwartete Happyend zwischen Raúl und Klara. Auch wenn es lange dauert, bis die beiden Gefühle für einander entwickeln, und noch viel länger, bis sie diesen nachgeben, so steht doch von der ersten Buchseite an fest, dass die beiden ein Paar werden – das sollte man sich gleich klar machen.

_Eine Deutsche in Brasilien_

Ana Veloso erzählt die packende Geschichte eines deutschen Auswandererpaares, das in Brasilien sein Glück sucht. Doch während die Schilderungen der Werber in Deutschland noch so farbenfroh und erfolgversprechend klangen, merken Klara und Hannes in Brasilien schnell, wie hart die Wirklichkeit ist. Sie leben in einfachsten Verhältnissen und arbeiten von früh bis spät – selbst als Klara hochschwanger mit ihrer gemeinsamen Tochter ist. Nichts ist so, wie sie sich das vorgestellt hatten, sodass Klara doch mitunter von Heimweh befallen wird. Diese Geschichte fand ich unglaublich interessant, zumal in diesem Handlungsstrang eben nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen ist.

Charakterlich überzeugt vor allem Klara, die uns in Deutschland zunächst wie ein ziemlich verwöhntes Gör erscheint. Allerdings wächst sie mit einem Haufen älterer Geschwister auf und muss lernen, sich gegen sie durchzusetzen, und auch die Zeiten in Deutschland sind nicht immer einfach. Als sie von Hannes‘ Plänen auszuwandern erfährt, wirkt es, als würde sie beschließen, sich in ihn zu verlieben, um mit ihm aus Deutschland herauszukommen. An Format gewinnt sie in Brasilien, wo sie harte Arbeit, ein Baby und einen schwierigen Ehemann gleichzeitig meistert und dennoch nicht verzweifelt.

Raúl Almeida ist ihr faszinierender Gegenpart. Zunächst ist Raúl ihr schrecklich unsympathisch, da er immer eine finstere Miene zieht, doch je länger Klara bei ihm im Hause wohnt, umso mehr entdeckt sie seine liebenswerten und interessanten Seiten. Seine Gefühle ihr gegenüber kamen für mich etwas unvermittelt. Hat er erst noch mit einer Brasilianerin herum geschäkert, so braucht es nur einen Blick auf Klara in einem schöneren Kleid, um ihn davon zu überzeugen, dass Klara eine attraktive Frau ist. Dieser Wandel kam leider etwas plötzlich.

_Exotisch mit Happyend_

Das vorliegende Buch erzählt eine sehr reizvolle und interessante Geschichte, die insbesondere durch den Wechsel zwischen den Zeitebenen an Spannung gewinnt. Ana Veloso schildert Klaras Geschichte detailreich und in farbenfrohen Worten; so entführt sie uns beim Lesen ins exotische Brasilien. Leider ist das Happyend bereits absehbar und auch die Charakterentwicklung nicht immer nachvollziehbar, sodass das Buch nicht an den [„Duft der Kaffeeblüte“ 3872 heranreicht. Aber immerhin: Gute Unterhaltung bekommt man dennoch geboten.

|543 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-426-66340-0|
http://www.knaur.de

Rubin, Szilard – Kurze Geschichte der ewigen Liebe

_Liebe! Liebe. Liebe? – Liebe_

Attila wird zur Zeit des Zweiten Weltkriegs als Waise von seiner Großmutter erzogen. Diese betreibt auch nach dem Krieg noch einen regen Tauschhandel und hält sich und den Enkel damit mehr schlecht als recht über Wasser. Der sieht sich als geistigen Uran des „Taugenichts“, welcher das Herz der großbürgerlich erzogenen Orsolya gewinnt. Doch bereits in der Anfangsphase ihrer von jugendlichem Überschwang gekennzeichneten Beziehung fühlen sie sich gleichermaßen zueinander hingezogen wie von einander abgestoßen.

Orsolya entstammt einer Apothekerfamilie, deren Stammbaum bis in die Kolonialzeit zurückzuverfolgen ist. Die Familie trifft sich in Sommerhäusern und pflegt Erinnerungen an adriatische Yachtclubs sowie Sommeraufenthalte in Dalmatien. Man spricht Fremdsprachen; das Lebensgefühl ist europäisch geprägt. Doch bereits innerhalb einer Generation stirbt mit Tante Anna die Erinnerung an diese Zeit. So liest sich der erste Teil von Szilard Rubins „Kurze Geschichte von der ewigen Liebe“ als melancholischer Abgesang auf eine weltmännische Zeit, als man noch englische Autoren in den Auslagen der ungarischen Buchläden finden konnte. Die Auslöschung der bürgerlichen Kultur durch die Umgestaltungen des Sozialismus wird beschrieben als der Untergang jeglicher Kultur. Die privaten Herrenhäuser, in denen klassische Musik und bildende Kunst gepflegt und gefördert wird, verschwinden. Kleidungsstücke wie beispielsweise ein Muff wirken bereits kurz nach dem Krieg als Relikt aus einer fernen Vergangenheit.

Plötzlich ist Orsolya diejenige, welche aufgrund ihrer großbürgerlichen Herkunft scheinbar wenige Zukunftsaussichten hat, während Attila als hoffnungsvoller junger Schriftsteller aus dem einfachen Volk einer gesicherten Zukunft im Nachkriegsungarn entgegensieht. Doch bereits im nächsten Kapitel ist Attila nicht mehr so zuversichtlich, was seine Zukunft betrifft. Er ist nahe daran, sein Stipendium an der Universität zu verlieren, weil er nicht so schreiben kann, wie es von ihm verlangt wird. Das Leben im neuen Staat wird mit dem Spiel „Chicken Run“ verglichen, bei dem man so lange wie möglich vor einem herannahenden Zug auf den Gleisen verharren muss. Am erfolgreichsten spielen diejenigen, die sich aus den „Trümmern des Großbürgertums in die gehobenen Kreise der Volksdemokraten emporarbeiten“. So macht die arme Hedi Racz über ihre Freunde Karriere und arbeitet sich zu einem Verehrer mit Sportwagen hoch. Attilas sämtliche Freunde versuchen, sich mit dem System zu arrangieren und sich eine angenehme kleinbürgerliche Existenz aufzubauen. Sie erkennen schnell, dass Attilas Talent nicht für große Literatur oder einen Erfolg in diesem System ausreicht und sein Traum vom künftigen Leben als angesehener Schriftsteller wie auch seine vermeintliche Liebe zu Orsolya Selbstbetrug ist.

Die überschwängliche Anziehung der Jugendjahre ist einer Obsession gewichen, die bis zu Attilas völligen Selbsterniedrigung gebracht wird, als Orsolya den Heiratsantrag eines Militäringenieurs annimmt und damit die Ehefrau eines Kommunisten wird. Der künftige Ehemann ist es dann auch, der für die beiden einen Schlussstrich zieht, indem er den verzweifelten Attila vor die Tür setzt. Dieser sieht Orsolya nur noch einmal von Ferne wieder, als sie bereits Gattin des zum Militärattaches von Ulan Bator aufgestiegen Ingenieurs ist.

Damit endet die kurze Geschichte von der ewigen Liebe, bei der man sich zeitweise nicht einmal sicher sein kann, ob es gerechtfertigt ist, überhaupt von Liebe zu sprechen. Jede Situation wird von Szilard Rubin auf den Prüfstand gestellt – und sei es auch Jahre später. So erscheint die Liebe in Jugendzeiten als Provokation von Orsolyas Eltern, die diese Verbindung nicht gern gesehen haben. Eine kurzzeitige Ehe der beiden wird entlarvt als notwendige Reaktion auf eine Kompromittierung. Ob Attila Orsolya tatsächlich liebt oder nur besitzen will, weil er sonst niemanden auf der Welt hat, ist ebenfalls nicht klar.

Rubin macht es seinen Lesern bei der Lektüre nicht leicht. Die Protagonisten begehen scheinbar unmotivierte und nicht voraussehbare Handlungen. Rubin legt ihr Seelenleben mit schlichten ehrlichen Worten so weit offen, dass man ihnen ein Laken reichen möchte, so erschütternd banal und zugleich so unfassbar kompliziert ist ihre Nacktheit. Man kann sich mit ihnen nicht identifizieren. Gelingt es noch, sich vorzustellen, dass die Figuren nach Sicherheit und Bequemlichkeit im Leben streben und sich für den Verrat an den Idealen ihrer Jugend schämen, kann man Attilas Obsession bis zur Selbstaufgabe, seine im wahrsten Sinne jämmerliche Existenz nur schwer nachvollziehen und erst recht nicht sympathisch finden. Daher resultiert vermutlich auch die geringe Beachtung, welche der Erzählung bei ihrem ersten Erscheinen im sozialistischen Ungarn des Jahres 1963 entgegengebracht wurde. So gar nichts spricht bei Rubin vom Ideal des werktätigen Helden, der aktiv den Sozialismus aufbaut. Dafür wird überdeutlich, dass die politischen Veränderungen das Leben der Menschen nur dahingehend beeinflusst, dass man versucht, die alten Strukturen von Macht und Besitz auf einer anderen Ebene wieder herzustellen und das jeder Mensch wie zu allen Zeiten bestrebt ist, sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden. Es ist eine Zeit, in der sich Menschen bis zur Unkenntlichkeit verbiegen und mit dem Erreichten am Ende um diesen hohen Preis doch nicht zufrieden sein können.

Rubins Erzählstil wechselt zwischen minutiös genauen Beschreibungen und großen Zeitsprüngen, welche der Leser mit Handlungsbruchstücken, Vermutungen und Rückschlüssen aus den Worten Dritter selbst füllen muss. Träume und Gedankenfetzen bremsen dabei den Lesefluss und jeder Satz muss auf seine Bedeutung hin abgeklopft werden. So wirkt bereits der Titel nicht nur altersweise, sondern auch ironisch. Das Oxymoron verdeutlicht die Absurdität der Liebe: für Orsolya ist die Liebe nicht ewig, auch wenn sie noch so lange daran festzuhalten versucht. Für Attila ist die Ewigkeit nicht kurz; wie ein Echo klingt die Liebe aus der Vergangenheit herauf, wenn er sich im letzten Teil des Romans des Erlebten erinnert. Und von der Wortanzahl her kurz ist die Geschichte auch nur, weil der Autor sich zu beschränken weiß. Was hier auf 220 Seiten passt, hätte bei einem anderen als dem klaren, schnörkellosen Erzählstil Rubins leicht episches Format einnehmen können, ohne dass mehr gesagt worden wäre. Die Literaturwissenschaft hält das Werk des 1927 geborenen Budapesters für einen der wichtigsten Romane der ungarischen Gegenwartsliteratur. Dank des |Rowohlt|-Verlags ist es nun möglich, sich auch als deutscher Leser eine Meinung darüber zu bilden.

|Originaltitel: Csirkejáték
Übersetzung: Andrea Ikker
220 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3871346316|
http://www.rowohlt.de