Archiv der Kategorie: Zeitgeschichte & Gesellschaft

Irtenkauf, Dominik – Subkultur und Subversion. Wanderer zwischen Zeichen, Zeiten und Zeilen

_Die Grenzkünstler haben schon begonnen, sich zu versammeln._

Es war im Jahr 2003. Dominik Irtenkauf veröffentliche eine kleine, aber feine Schrift über die Subkultur. Die Schrift war schnell vergriffen! Irtenkaufs Thesen schwingen aber bis heute über einer Szene, die sich längst nicht mehr in dem Maße der Eigenreflexion bedient, wie dies vielleicht früher einmal der Fall war. Daher: ein Rückblick auf „Subkultur und Subversion“.

„Die Grenzkünstler haben schon begonnen, sich zu versammeln.“ Derartige Offenbarungen begegneten dem Leser des 2003 erschienenen Essays von Dominik Irtenkauf. Irtenkauf, selbst Grenzkünstler und Ausnahmeliterat, war bereits in einigen subkulturellen Magazinen (AHA, Ikonen, subKULTur.com) und in der Literaturwerkstatt im Rahmen des WGT auffällig geworden. Er lieferte mit seinem Werk „Subkultur und Subversion. Wanderer zwischen Zeichen, Zeiten und Zeilen“ eine auf eigenen Erfahrungen basierende Beschreibung des Phänomens von Subkulturen ab. Dabei verzichtete er laut eigenem Bekunden auf überkanditelte Wissenschaftsdefinitionen, sondern bezog sich direkt auf die Aussagen von „Szenegängern“.

Wo aber findet man die Personen, die (reflexiv) über ihre Subkultur berichten? Irtenkauf „hatte sich seit vielen Jahren in der so genannten Subkultur herumgetrieben, sich in modrigen Kellern getroffen“; er ist selbst „durch sämtliche Szeneclubs im ganzen Land getingelt“. Trotz dieses persönlichen Bezugs wird an keiner Stelle deutlich, welche Szenen oder Subkulturen Irtenkauf meint. Es werden gerade keine plakativen Insider-Typologien, selbstdarstellerische Bekenntnisse oder pubertären Phantasien zitiert. Vielmehr begreift der Autor die subkulturellen Ausprägungen von Szenen als Chance, verborgene kulturelle Potenziale zu entfesseln.

Ein wirklich gelungenes Werk. Und, bei aller Lobpreisung, vielleicht entscheidet sich der |Crago|-Verlag doch für eine 2. Auflage!

Kühn, Lotte – Elternsprechtag

Vor einiger Zeit erschien „Das Lehrerhasser-Buch“ von Lotte Kühn alias Gerlinde Unverzagt und wurde in seinem polemischen Anklageton zu einem großen Aufreger, der bei Lesern und Medien sehr gefragt war. Und wie immer, wenn sich etwas gut verkauft, wird ein zweiter Teil veröffentlicht. Mit „Elternsprechtag“ bringt Lotte Kühn nun eine Auswahl aus den zahlreichen Leserbriefen, die sie seit dem „Das Lehrerhasser-Buch“ erreichten, heraus.

Und leider wird man den Eindruck, dass hier noch mal schnell nachkassiert werden soll, so lange das Feuer noch heiß ist, das ganze Buch über nicht los. Kühns herausgeberische Leistung ist äußerst bescheiden. Sie hat die ausgewählten Leserbriefe auf zehn Kapitel verteilt, deren Motivation und damit Zusammenstellung meist unklar bleibt und durch die Überschriften eher verschleiert als erhellt wird; jeweils eine eifernd-polemische Einleitung geschrieben, das Ganze zwischen ein entsprechendes Vor- und Nachwort gepresst, und fertig ist die Laube. Im 5. Kapitel ‚Seit hundert Jahren dasselbe?‘, das Briefe Erwachsener über die eigene vergangene Schulzeit enthalten soll, mischt sich die Anfrage eines Schulzeitungsredakteurs um Erlaubnis zum Nachdruck. Dafür finden sich Briefe, die hierhin gehört hätten, auch in anderen Kapiteln. Das Kapitel 7 ‚Der Fehler liegt im System‘ beginnt zwar mit Zuschriften, die sich mit grundsätzlichen Problemen im Schulalltag auseinander setzen, aber dann folgt der Bericht über einen anmaßenden Hausmeister, dessen Verhalten sich gut in der Fernsehserie „Hausmeister Krause“ machen würde, und der Abschnitt endet mit dem kurzen Dank einer gestressten Mutti, die keinen einzigen eigenen Gedanken oder ein Erlebnis beisteuert.

Was hätte man mit dem Datenmaterial dieser vielen Briefe nicht alles leisten können! Man hätte systematisch die Einzelfälle von ständig wiederkehrenden Problemen trennen können, man hätte diese nach Schulformen und Bundesländern gliedern können, man hätte die (in den Schreiben tatsächlich vorhandenen) Lösungsvorschläge analysieren können, oder man hätte zumindest die Anschriften der Schulaufsichtsbehörden angeben können; schließlich ist in einem Rechtsstaat niemand irgendjemandem hilflos ausgeliefert. Aber das alles hätte natürlich einiges an Zeit gekostet, in welcher der Wirbel um ihr vorheriges Buch wieder verraucht wäre. Die einzigen konstruktiven Vorschläge (S. 151f) sind aus Kurt Singers Buch „Wenn Schule krank macht“ stichpunktartig abgepinnt.

Lesenswert sind die vielen sachlichen, differenzierten Zuschriften, die selbstverständlich vorhandene Fälle von Lehrerversagen schildern, die zwischen guten und schlechten Lehrern zu unterscheiden wissen, die sich dazu äußern, dass vielleicht auch Bildungspolitiker, Schüler und – |horribile dictu| – Eltern ihr Scherflein zu den Schulproblemen beitragen könnten.

Unfreiwillig aufschlussreich sind aber auch die übrigen Briefe. Maßgeblich ist hier nicht, was, sondern wie geschrieben wird. Insofern liefert „Elternsprechtag“ ein interessantes Psychogramm, denn was sich hier an hilfloser, unreflektierter Wut auskotzt, ist schon atemberaubend. Das Bezugsbuch heißt völlig zu Recht „Das Lehrer|hasser|-Buch“ und nicht etwa „Das Lehrer|kritisierer|-Buch“. Endlich hat mal eine bekannte Buchautorin die „faulen Säcke“ (Gerhard Schröder) als Wurzel allen Übels identifiziert, nun darf man auch selbst alle Hemmungen fallen lassen und ungeniert loskeulen. In der Tat widersinnige Lehrvorschriften, z. B. die Nichtkorrektur von Rechtschreibfehlern, und weltfremde Kuschelpädagogik? Das wird nicht etwa Politikern und Behörden angekreidet, sondern den Lehrern. (Nur nebenbei: In den Leserbriefen kritisieren auch etliche Pädagogen diesen Unfug.) Übergroße Klassen und ausländische Mitschüler mit mangelhaften Deutschkenntnissen? Natürlich sind die Lehrer schuld. Und wenn eine devote Mutter einer Lehrerin regelmäßig Blumen zu schenken vorschlägt, richtet sich der Zorn selbstredend nicht gegen die Mutter, sondern mit Lotte Kühns Zustimmung gegen die Lehrerin (S. 75). Eine Variante dazu ist der schnöselige Abiturient, der sich über seine ehemalige – zugegebenermaßen konfuse und kritikwürdige – Lehrerin auslässt, der aber nicht den Hauch von Selbstkritik zeigt, wenn Schüler dieses Kurses regelmäßig über zehn Minuten zu spät kamen oder Hausaufgaben „als gleichgültig erachteten“ (S. 140).

Was weiter auffällt, ist, dass ausgerechnet diejenigen nicht zu Wort kommen, um die es doch eigentlich geht: die Kinder (abgesehen von dem erwähnten Nachwuchsjournalisten, der jedoch nicht über seine Erfahrungen aus dem Unterricht schreibt). Die wenigen anderen als „Schüler“ angegebenen Absender entpuppen sich, wenn man ihre Briefe tatsächlich liest, als junge Erwachsene, deren Schulzeit lediglich noch nicht allzu lange zurückliegt. Überhaupt scheint die unverzagte Lotte Kühn ihren Leserbriefen nicht immer die angemessene Aufmerksamkeit zukommen zu lassen: In der Einleitung zum 2. Kapitel trompetet sie, dass es sich beim geschilderten Versagen von Lehrern keineswegs um „schwarze Schafe“ und „bedauerliche Einzelfälle“ (S. 35) handele, aber genau das sagen etliche der in diesem Kapitel zitierten Briefeschreiber aus, die differenziert über fähige wie unfähige Lehrer berichten.

Lotte Kühn ist ehrlich genug, ihr „Lehrerhasser-Buch“ selber als „Polemik“ und „Pamphlet“ zu bezeichnen, und das kann man auch über den „Elternsprechtag“ sagen. Wer ein konstruktives Sachbuch zum Thema Bildungskrise und Schulalltag sucht, kann sich sein Geld im Fall „Elternsprechtag“ getrost sparen. Wer aber ein Dokument über – berechtigte wie unberechtigte – Angst- und Zorngefühle in Deutschland beim Stichwort Schule lesen oder einfach nur seine Aversionen gegen Lehrer und Schule ohne lästige Zwischentöne und Gegenargumente bestätigt sehen will (und das dürfte die eigentliche Zielgruppe von Lotte Kühn sein), der mag hier zugreifen.

http://www.knaur.de

Timothy Greenfield-Sanders – XXX: 30 Porno-Stars im Porträt

Inhalt:

Im Oktober 2004 wurde in der Mary Boone Gallery in New York die Ausstellung „XXX Pornstar-Portraits“ gezeigt. Dazu entstanden ein Dokumentarfilm, eine Soundtrack-CD sowie der hier in Übersetzung vorstellte Begleitband, weil besagte Ausstellung ab 2005 durch Europa bzw. Deutschland tourte.

„XXX“ maskiert in den USA das Wörtchen Sex, weil es in diesem frommen Land einen hässlichen Klang besitzt. „XXX“ schwebt über den Eingängen zu den „Adult-Film“-Abteilungen der Videotheken, lässt sich aber auch als „30“ übersetzen, was den quantitativen Rahmen für Timothy Greenfield-Sanders‘ Fotoprojekt vorgab. Dessen Kern bilden folgerichtig 30 großformatige Porträts aktuell (= 2004) aktiver Pornostars oder genreprominenter Ruheständler, wobei sowohl Vertreter/innen des hetero- als auch homosexuellen Pornofilms aufgenommen wurden. Timothy Greenfield-Sanders hielt seine Motive jeweils in bekleidetem Zustand fest, um sie anschließend in möglichst entsprechender Körperhaltung und Mimik nackt zu fotografieren.

Da 30 Doppelseiten kein Buch ergeben, werden die Bilder von 140 Seiten Text begleitet, der sich in zwei Großkapitel gliedern lässt. In einem ersten Teil schreiben 15 bekannte Journalisten, Kritiker, Kunstschaffende und Insider des Pornogeschäfts aus ihrer oft sehr subjektiven Sicht über das Phänomen Pornografie. Sachlich informierende Artikel stehen hier neben Interviews und Prosatexten.

In einem zweiten Textteil kommen (neben einem weiteren Porträt- oder Ganzkörperfoto) die porträtierten Pornostars selbst zu Wort. Sie geben Auskunft über Herkunft und Jugendjahre, beschreiben, wie sie den Weg ins „business“ fanden und was ihnen zum Arbeitsalltag einfällt. Dazu gibt‘s eine Liste mit ‚Lieblingsfilmen‘, in denen der jeweilige Darsteller selbst mitwirkte.

Kluge Worte aus vorsichtiger Distanz

Entweder geht die Welt jetzt endgültig unter, oder sie tritt nun doch ins Zeitalter des Wassermanns ein. Das Urteil ist jedenfalls gefällt, bevor dieses Buch aufgeschlagen wird, denn sein Inhalt polarisiert auch im 21. Jahrhundert. Es zeigt Menschen, die für Geld vor der Kamera miteinander Sex haben, und gibt ihnen sogar ein Forum, in dem sie über sich und ihre ‚Arbeit‘ sprechen können. Damit fällt die Fraktion derer, die der Pornografie als Unterhaltung, aus moralischen Gründen oder überhaupt abhold sind, als Leser (und Käufer) aus. „XXX“ ist freilich auch nicht für den durchschnittlichen Porno-Proll gedacht, der in der Videothek als Dauerkunde per Handschlag begrüßt wird.

Nein, hier hat sich ein echter (oder wenigstens anerkannter) Künstler des Themas angenommen, welches es nunmehr zu adeln galt, damit der freigeistig denkende, vorurteilsfreie, womöglich intellektuelle Interessent offen und ohne als Lustmolch/in gebrandmarkt zu werden zu diesem Buch greifen kann. Auf dass diese Rechnung aufgeht, bedienen sich Autor und Verlag des weiterhin bewährten „Playboy“-Prinzips: Zwischen diversen Fotostrecken, die an ausgelichteter Deutlichkeit und Schärfe nichts zu wünschen übrig lassen, erstrecken sich ausgedehnte Textpassagen, in denen große Geister ihren Esprit versprühen, wenn sie eloquent und gar mutig zugleich mit dem Verpönten flirten.

Fotos ohne Feigenblätter

Richten wir den Blick zunächst auf die gelungenen Seiten dieses Buches: die Porträts, wobei dieser Begriff großzügig auszulegen ist, da der Bildausschnitt definitiv nicht unterhalb des Halses endet. Sie lassen handwerkliches Geschick erkennen und verzichten auf tarnende Dekorationen, die aus der Kulisse ‚zufällig‘ ins Bild ragen und politisch korrekt das verhüllen, was nicht nur in den USA als Instrument des Teufels oder mindestens Privatsache gilt. Die Entscheidung, ob das Ergebnis nun als Kunst zu bezeichnen ist, muss zumindest dieser Rezensent denen überlassen, die mehr davon verstehen.

In der Kritik wurde viel Aufhebens davon gemacht, dass sich der Kontrast zwischen dem bekleideten und dem unbekleideten Darsteller in dessen Körperhaltung und Gesichtsausdruck widerspiegle. Es wurde davon gesprochen, dass sich mancher Pornodarsteller offenbar nackt wesentlich ‚freier‘ fühle als in Kleidern. Dem mag so sein, muss allerdings nicht. Es ist vermutlich als These ketzerisch, doch könnte der Unterschied auch mit Anstrengung zu begründen sein, weil Greenfield-Sanders von seinen Modellen forderte, möglichst identische Stellungen einzunehmen. Auf jeden Fall scheint es wieder einmal so zu sein, dass in erster Linie der Betrachter in die Züge der Porträtierten projiziert, was er oder sie dort zu sehen glaubt.

Immerhin kann Greenfield-Sanders eines klar herausstellen: Pornodarsteller beiderlei Geschlechts entsprechen selten den aktuellen Schönheitsidealen. Die männlichen Darsteller sind verständlicherweise südlich des Nabels erstaunlich gebaut, während der Restkörper, der dem unentbehrlichen Arbeitsinstrument als Fundament dient, mit Kleidern verhüllt in einer Menschenmenge kaum auffallen würde. Dasselbe gilt für viele Frauen, deren einziges sichtbares Zugeständnis an den Job der beachtliche Anteil von Silikon – zu dessen Applizierung anscheinend stets derselbe, chronisch unfähige Chirurg angeheuert wird – in ihren Oberkörpern ist. Aber hat denn vor der Lektüre dieses Buches jemand ernsthaft Anderes vermutet? Bewegung und das Geschick des Kameramanns sind neben einer gewissen Grundattraktivität sowie Spielfreude unentbehrlich für einen echten (Porno-) Star. Stillstehend und im grellen Scheinwerferlicht bleibt er oder sie – ein nackter Mensch.

Texte – blumig bis nichtssagend

Es sind vor allem die Alibi-Sentenzen, die das Vergnügen an einem prinzipiell interessanten Buch vergällen. Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die Kritik richtet sich nicht etwa gegen eine zu geringe Zahl von Bildern, sondern gegen die Worte, mit denen wir malträtiert werden. Einige Texten deuten zwar an, dass man durchaus über Sex und Porno klug und nachdenklich und witzig schreiben kann. Doch solche raren Lichter verschwinden hinter dichten Wolken nichtssagenden, themenfernen, salbungsvollen Geschwafels, dessen Verfasser entweder dem Vergnügen frönen, sich selbst und ihre Schreibkunst darzustellen, oder sich geehrt fühlten, in einem Buch wie diesem veröffentlicht zu werden – eine „riskante Entscheidung“, wenn wir dem Vorwort Glauben schenken.

Nehmen wir als Beispiel Gore Vidal (1925-2012), der tatsächlich zu den „großen amerikanischen Intellektuellen“ zählte, als den ihn der Klappentext herausstellt. Vidal war aber auch ein Profi des Wortes, dem klingende Texte aus der Feder flossen, selbst wenn er im Grunde nichts zu sagen hatte. Zum Thema Pornografie fällt ihm nichts ein. Er reitet stattdessen seine Attacken gegen Amerikas Rechte, die Kirche und andere Menschenmanipulatoren, die er seit Jahrzehnten piesackte. Das liest sich durchaus vergnüglich, nur: Was soll es hier? Ganz einfach: Gore Vidal ist ein Name, auf den zu verzichten ein Verlag sich hüten wird. Vorteil 2: Ihn zu lesen beruhigt den potenziellen „XXX“-Leser und senkt die Hemmschwelle zum Bücherkauf.

Außer Vidal waren es 14 weitere, (mehr oder weniger) gesellschaftlich akzeptierte oder prominente Zeitgenossen, die sich – mit Geld oder guten Worten – als Gastautoren locken ließen. Im ausführlichen Verzeichnis werden sie mit ihren eindrucksvollen künstlerischen und/oder wissenschaftlichen und/oder wenigstens intellektuellen Meriten aufgelistet: John Malkovich, Schauspielerstar mit Independent-Touch! Lou Reed, Musiker mit wüster Vergangenheit, die ihn weise werden ließ! Salman Rushdie, seit Jahrzehnten von muslimischen Moral-Assassinen gejagt! Der gemeinsame Nenner ist: Fast alle diese Männer und Frauen liefern reine Gelegenheits- und Gefälligkeitstexte ab. Nur wenige bemühen sich um das Thema – so Rushdie, der wirklich etwas über die Rolle der Pornografie in den muslimisch dominierten oder diktierten Teilen der Welt zu berichten weiß.

Besser den Mund halten!

Ansonsten langweilt ein Sammelsurium bemühter, die Provokation (vergeblich) suchender Betroffenheits-Lyriker (Reed, Koestenbaum, Leroy), müder Wiederkäuer tausendfach diskutierter, debattierter Pro-/Contra-Porno-Argumente (Wattleton) oder der Geilheit unverdächtiger Wissenschaftler (Gray). Noch sinnloser sind das Thema völlig verfehlende Loblieder auf alte Underground-Kumpane (Waters), ungelenke Hymnen an die Macht des Sexus‘ (Hartley) oder witzlose Schwafeleien à la Whitley Strieber, den nunmehr sämtliche guten Geister verlassen haben und durch außerirdische Einflüsse ersetzt wurden, gegen die kein irdisches Medikament mehr etwas ausrichten kann.

Leider auch nicht lesenswerter erweist sich „XXX“ in seinem zweiten Textteil, in dem sich die fotografierten Darsteller zur eigenen Person äußerten bzw. äußern konnten, denn einige wollten oder konnten nicht, woraufhin einfach aus den Pressetexten diverser Pornofilmstudios zitiert wird, deren Wahrheitsgehalt denen der ‚seriösen‘ Hollywood-Studios entsprechen dürfte. Wer sich vpr der Lektüre dieser Essays und Kommentare in dem Glauben wähnte, von einem verborgenen Reich verbotener Lust bzw. sexuell-chauvinistischer Knechtung zu lesen, wird umgehend eines Schlechteren belehrt: Neun von zehn Schwerarbeiter des nackten Gewerbe haben nichts Bemerkenswertes zu berichten.

Die Biografien gleichen sich, unglückliche Kindheiten kommen vor, sind aber weder symptomatisch noch der Anfang vom unvermeidlichen Abstieg in den Pornosumpf. Dieser wird nie als solcher, sondern durchweg als abenteuerlicher Arbeitsplatz mit guten Verdienstmöglichkeiten und dem Privileg von Dienstreisen empfunden, die halt Sex in einem erloschenen Vulkan mit einschließen können. Manche Darsteller waren zuvor sogar erfolgreich in ‚richtigen‘ Jobs tätig; „Lexington Steele“, dessen Gemächt jeden Lippizaner-Hengst vor Neid erbleichen ließe, war z. B. als Börsenmakler aktiv (und vermisst in seiner aktuellen Karriere „die festen Regeln der amerikanischen Unternehmerkultur“, S. 193), wie überhaupt die angeblich so lockeren Berufsbeischläfer sich privat erstaunlich ‚normal‘ sogar spießig geben oder es sind- wieso auch nicht?

Intellektuell können diese Autoren definitiv nicht mit den Profis im „XXX“-Vorderteil mithalten. Das Unvermögen, etwas Interessantes zu erzählen, kommt immerhin angenehm unbemäntelt daher. Stolz werden obskure Auszeichnungen („für den besten Dreier“; „für die beste Oralszene in einem geschlossenen Klavier“ etc.) aufgezählt, gern die Gelegenheit für aktivistische Appelle wider den Rassismus, prüde Politiker und andere Widrigkeiten genutzt. Hier und da lassen sich dann doch nicht nur eigenwerberische Plappereien, sondern ehrliche Selbstäußerungen lesen, die verraten, was man ebenfalls annehmen konnte: Im Pornobusiness arbeiten auch Männer und Frauen mit Köpfchen; Sharon Mitchell hat inzwischen ihren Doktor gemacht.

Hübsches Buch, wenig Sinn

Der Realität des Pornofilms mehr Raum zu geben, hätte ein wirklich interessantes Buch bzw. eine eigenständige und gleichgewichtige Ergänzung det Fotos ergeben. Was bedeutet es, wenn Veteran Peter North enorme Veränderungen im Porno-Alltag der vergangenen Jahrzehnte andeutet? Gern würde man mehr von Nina Hartley erfahren, die ansatzweise vom absurden Alltag einer Pornodarstellerin und Nackttänzerin in einem prüden Land mit restriktiver Gesetzgebung berichtet. Wieso hat der einst spinnefeindliche Feminismus mehr oder weniger Burgfrieden mit der Pornografie geschlossen? Liegt Jenna Jameson richtig, wenn sie zum Job einer ‚richtigen‘ Schauspielerin keinen grundsätzlichen Unterschied und den Porno als Filmgenre mit eigenen Regeln und Instrument der Unterhaltung sieht?

Aber solche Fragen lagen nicht wirklich im Interesse von „XXX“. Die gar zu reale Pornowelt bleibt zugunsten einer sorgfältig gefilterten oder künstlerisch-künstlichen Scheinwelt ausgeblendet. Die Darsteller, denen eine scheinbar vorurteilsfreie geistige Elite die Hand reicht, werden in gewisser Weise tatsächlich ausgebeutet, zumindest aber manipuliert und nach den Vorstellungen und Wünschen der „XXX“-Autoren geformt.

So bleibt als Fazit zwar Anerkennung für die fotografische Leistung Greenfield-Sanders, aber kein Lob für die Texte seiner „klug schreibenden Freunde“ (Vorwort), die vermutlich nur in einem Land wie den USA Spießer vor Entsetzen und ‚Freigeister‘ vor Entzücken japsen lassen. Wer „A“ sagt, sollte auch „B“ wagen, doch das „XXX“-Team schafft nur ein „Ähhh …“ Dafür kann man das entstandene Buch aber außerhalb geschlossener Schranktüren präsentieren und damit Freunden und Besuchern, die das Buchregal mustern, tolerante Weltläufigkeit und erwachsenes Kunstverständnis demonstrieren.

Autor

Timothy Greenfield Sanders wurde 1952 im US-Sonnenstaat Florida geboren. Er studierte Kunstgeschichte an der Columbia University und Film am American Film Institute in Los Angeles. Als Fotograf arbeitet der Künstler seit mehr als zwei Jahrzehnten. Er hat es als Modefotograf zu einem großen Namen gebracht und sich klug auf das Porträtieren der Großen und/oder Prominenten dieser Welt spezialisiert.

Darüber ist Greenfield-Sanders selbst zum Star geworden. Seine Bilder erscheinen in den etablierten Hochglanz-Magazinen, sie hängen in den Sammlungen des Museum of Modern Art, des Metropolitan Museum, des Whitney Museum oder der National Portrait Gallery. 2004 erwarben das Museum of Modern Art und das Museum of Fine Arts in Houston 700 Porträtfotos von Greenfield-Sanders.

Als Filmemacher produzierte und inszenierte Greenfield Sanders 1997 die Dokumentation „Lou Reed: Rock and Roll Heart“. 1999 wurde er dafür mit einem „Grammy Award“ ausgezeichnet. 2004 setzte Greenfield Sanders den Dokumentarfilm „Thinking XXX“ in Szene, der die Arbeit an seinem Wanderausstellungsprojekt „XXX Porno-Stars in Portrait“ festhält, das in den USA großes Aufsehen erregte und wie geplant gleichermaßen gefeiert wie verdammt wurde.

Über das vielfältige Werk des Künstlers informiert dessen gebührend aufwändig gestaltete Website.

Paperback: 200 Seiten
Originaltitel: XXX – 30 Porn-Star Portraits (New York/Boston : Bullfinch Press 2004)
Übersetzung: Conny Lösch
http://www.randomhouse.de/heyne

Der Autor vergibt: (3.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 3,00 von 5)

Weißmann, Karlheinz – Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus

Vor 30 Jahren starb der bedeutende Anthropologe Arnold Gehlen, der zu Lebzeiten sehr bekannt war und heiß diskutiert wurde, mittlerweile aber fast vergessen scheint. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann, der auch an der anspruchsvollen Vierteljahresschrift „Sezession“ mitwirkt, will in seinem Buch „Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus“ diesen Kopf wieder in Erinnerung rufen und einer – durchaus kritischen – Diskussion zuführen. In Zeiten, die durch Terrorismus, große politische Verwirrung bis in die Regierungen und strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt sind (einige Medien sprechen gerne vom „Ende der Spaßgesellschaft“), scheint auch die Nachfrage nach den völlig unromantischen und unpopulären Ideen Gehlens zum Menschen und seiner Gemeinschaftsordnung zu steigen. Weißmanns Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Perspektiven“, die Denker vorstellt, die von der Mainstream-Debatte gerne übersehen werden. Es gliedert sich in einen biographischen Abriss, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus Gehlens Denken und einen Abschnitt über das Dilemma politischer Philosophen, Gedanken zu veröffentlichen, denen zu viel Öffentlichkeit schaden könnte.

Die biographischen Angaben beschränken sich überwiegend auf Gehlens akademisches Leben, seine Lehrstühle, seine Lehrer und Schüler. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist sein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus. Bei äußerer Anpassung behielt er in seiner Lehre eine Eigenständigkeit, die regimetreuen Kritikern oft ein Dorn im Auge war. Auch später in der BRD wurde er vom offiziellen akademischen Betrieb eher misstrauisch beäugt, während sich Wirtschaft und Verbände um seine Vorträge rissen. Der Mensch Gehlen bleibt in diesem Kapitel jedoch etwas blass.

Die thematischen Kapitel beruhen auf zentralen Begriffen und Hauptwerken Gehlens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darlegung seiner eigenen Hauptgedanken. Vorgänger und Anregungen werden unterschiedlich intensiv behandelt. In jedem Kapitel folgt darauf die Vorstellung der unterschiedlichen – zustimmenden wie ablehnenden – Reaktionen, die von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde. Dass der Kritik so viel Platz eingeräumt wird, ist berechtigt, da Gehlen sich von sachlicher, konstruktiver Kritik durchaus beeindrucken ließ und daraufhin manchmal seine Schriften in jüngeren Auflagen umformulierte.

Ausgangspunkt in Gehlens Denken ist die rein analytische Betrachtung des Menschen in der Welt, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) formulierte. Er gilt als einer der Mitbegründer der modernen Anthropologie. Für ihn war der Mensch einerseits das gegenüber dem Tier instinktarme und schwache „Mängelwesen“ und andererseits der intelligente, d. h. der berechnende und sein eigenes Verhalten steuernde „Prometheus“. Es wird erläutert, wie seine Vorstellungen vom „Mängelwesen“ – vermutlich der bekannteste Begriff Gehlens – von antiken Philosophen und Herder angeregt war. Weißmann legt hier dar, wie Gehlen sich u. a. auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und dabei von der (schulmäßigen) Philosophie abwandte. Obwohl Professor für Philosophie, sah er seine Anthropologie schließlich ausdrücklich als Abkehr von der Philosophie, so wie sie die Naturwissenschaften bereits wenige Jahrhunderte zuvor vollzogen hatten.

Seine Institutionenlehre hat Gehlen vor allem in „Urmensch und Spätkultur“ ausgebreitet. Schon an diesem Buchtitel wird deutlich, dass Gehlen die Institutionen, angefangen bei Ehe, Familie und religiösen Riten, als Hervorbringungen des prähistorischen Menschen sieht, der noch sehr stark den Mächten der Natur ausgeliefert ist und mit den Institutionen eine Entlastung im Kampf ums Überleben aufbaut. Der späte Mensch in diesen Institutionen entfremdet sich der ursprünglichen Lage, verliert den Bezug zu ihnen und verkennt ihre Bedeutung. Wieder gelingt es Weißmann, Gehlens Ansätze von den Naturwissenschaften und der Psychologie und seine Abwendung von einer spekulativen Philosophie deutlich zu machen. Es wird dabei klar, dass man sich hier auf einer Stufe befindet, auf der nichts mehr endgültig bewiesen oder widerlegt, sondern allenfalls noch in schlüssigen Theorien formuliert werden kann. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Kapitel sicher das stärkste des Buches, denn Weißmann schafft es sehr gut, Entwicklung, Aufbau und Systematik von Gehlens Vorstellungen zu vermitteln.

Im letzten thematischen Kapitel werden Gehlens Intellektuellenkritik sowie seine Begriffe „Kristallisation“ – für Gehlen die Versteinerung eines durch Technik und Wirtschaftstätigkeit geprägten Systems, die ein völlig neues Zeitalter einläutet – und „Moral und Hypermoral“ (so sein letztes Werk von 1969) vorgestellt. Erst durch die wieder klar verständliche Darlegung dieser Gedanken wird deutlich, warum das Ganze unter der Überschrift „Die Geschichte“ läuft. Durch eine kurze Erläuterung dieser Zuordnung zu Beginn wäre klarer geworden, dass Arnold Gehlen diese Gedanken in und für eine ganz bestimmte Epoche entwickelt hat. Wie der Verfasser ausführt, hat die ständige Auseinandersetzung des Gegenwartsdenkers Gehlens noch im Alter zu Änderungen in seinem Weltbild geführt.

Abschließend enthält das Buch eine Bibliographie einschließlich Sekundärliteratur und eine Zeittafel zu Gehlens Leben und Werk.

Weißmann wird seinem Anspruch, Gehlen als „Vordenker eines neuen Realismus“ vorzustellen, in zweierlei Hinsicht gerecht: Einmal zeigt er ihn als einen Gegner jeglicher Utopien und Idealismen, zum anderen als äußerst eigenständigen Kopf, der ungewöhnliche Gedanken entwickelt und sich quer zu irgendwelchen Denktraditionen stellt, wenn er sich damit auf der richtigen Spur zur Erfassung der Wirklichkeit glaubt.

Diese Schrift ersetzt mit ihren knapp 120 Seiten natürlich keine umfangreiche Monographie, ist aber als kurze und prägnante Einführung sehr zu empfehlen. Hier wird ein Denker, der nicht gerade zu den ständig zitierten Köpfen gehört, kompetent, verständlich und kritisch vorgestellt.

Amnon Kapeliuk – Yassir Arafat – Die Biografie. Vorwort von Nelson Mandela

Arafats Leben ist nicht von der Politik zu trennen, und das vorliegende Buch stellt somit eher einen akribischen Bericht über die Nahostpolitik dar, wie man sie nur selten findet. Denn behandelt werden all die internen Querelen und Eigenheiten des palästinensischen Widerstands. Eigentlich ist es eine Biografie der Fatah, der PLO, der Palästinensischen Nationalbehörde – aber auch der Beziehungen zur gesamten arabischen Welt wie auch der internationalen Beziehungen.

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Swofford, Anthony – Jarhead

In seinem dreihundert Seiten zählenden Buch „Jarhead“ befasst sich Anthony Swofford mit seiner eigenen Lebensgeschichte. Swofford war als Scharfschütze im ersten (oder zweiten, je nach Zählung) Irakkrieg eingesetzt. Allerdings weist der Autor direkt zu Beginn darauf hin, dass er seine Erlebnisse solcherart schildert, wie sie ihm im Gedächtnis geblieben sind, und dabei gegebenenfalls von offiziellen Berichten über den Krieg abweichen kann. Und auch wenn er einzelne Namen und biografische Hintergründe seiner Kameraden und anderer Mitmenschen verändert hat, so bleibt es seine Geschichte.

Diese Geschichte beginnt mit dem nicht mehr im Dienst befindlichen Ex-Marine Anthony Swofford, der seinen alten Armeerucksack aus dem Irakkrieg im Keller seines Hauses durchstöbert, auf der Suche nach Erinnerung und Antworten. Von diesem Punkt ausgehend, breitet der Autor seine Lebensgeschichte vor dem Leser aus. Dabei ist die Erzählweise nicht linear aufgebaut; bisweilen springt die Darstellung zwischen verschiedenen Orten, Zeiten und Handlungssträngen hin und her, ohne dadurch jedoch wirklich unübersichtlich zu werden. Es ist vielmehr so, dass diese Art des Berichtens die Geschichte belebt und dem Leser den Eindruck vermittelt, einen wirklichen Einblick in das Seelenleben des Ich-Erzählers zu gewinnen. Swofford berichtet von seiner Grundausbildung, von seiner Familie, von Frauengeschichten, von zotigen Ereignissen und vor allem von seinem Einsatz im Irakkrieg. Es ist sein Leben, das er offenbart. Und sein Leben ist, wie sich zeigen soll, auf eine dunkle und beklemmende Weise von den Erfahrungen des Krieges geprägt.

Der Erzähler ist ein faszinierend komplexer Charakter, der stets auf der Suche ist; wenngleich er auch manchmal selbst nicht zu wissen scheint, was er sucht. Er pendelt zwischen Extremen, zwischen Selbstmord und dem Verlangen, Andere zu töten, zwischen der Berauschtheit des Augenblicks und dem stetigen Horror des Krieges, zwischen Langeweile und schrecklichem Erwachen. Aber gerade das ist es, was die innere Zerrissenheit und die schrittweise emotionale Verkümmerung des Gefühlslebens dieses Soldaten so plastisch macht. Er ist kein Held und will es auch nicht sein. Er will überleben. Er hört auf, die Lügen zu glauben, die ihm und seinen Kameraden immer wieder aufgetischt werden. |“Und an diesem Punkt wissen wir alle, dass das Ergebnis dieses Krieges für uns – die Männer, die kämpfen und sterben – weniger wichtig ist als für die alten weißen Knacker und die anderen Leute, die Milliarden von Dollar auf den Ölfeldern gewinnen oder verlieren können, auf den großen, mächtigen, sprudelnden Ölfeldern des Königreichs Saudi-Arabien.“|

Der Leser begleitet Swofford auf eine Reise durch die Abgründe seiner Psyche. Auch wenn der Erzähler durch Landschaften voller Leichen marschiert und immer wieder, den Tod vor Augen, Furcht in den Knochen verspürt, so hört er doch nicht auf hinzuschauen. Er beobachtet, er hinterfragt, er verzweifelt. Das ist es, woran der Leser teilhaben darf. |“Ich weine, und ich höre meine Freunde schreien, die Männer, die ich gern habe, und ich weiß, dass wir dieses verrückte Geschrei bald mit nach Hause nehmen werden, aber dass niemand uns zuhören wird, weil alle das Geschrei des Sieges hören wollen.“|

„Jarhead“ ist ein fesselndes Buch. Es ist extrem, in vielerlei Hinsicht. Es ruft entweder eindeutig positive oder wütende Resonanzen hervor. Swofford verheimlicht nicht seine Haltung zum Krieg und zu der Chimäre, die er aus den Menschen macht. Sein Hauptcharakter ist tragisch, intelligent und doch zugleich dumm, wie der Autor selbst zugibt. Er verheimlicht auch nicht seine Ablehnung gegenüber der Bush-Administration und deren streitbaren Beweggründen. Viele Reaktionen, die man in Bezug auf das Buch oder auch auf den inzwischen erschienenen Film vernimmt, basieren vor allem auf der entsprechenden politischen Einstellung des Betrachters. Damit tut man dem Buch jedoch Unrecht, wie ich finde. Gewiss kann man es auch vor diesem Hintergrund lesen und sich durch die Lektüre in seiner Weltsicht entweder gestört oder bestärkt fühlen, aber davon abgesehen, hat das Buch vor allem große Qualitäten im Bereich der Erzählkunst und der Erzeugung einer lebendigen Atmosphäre. Hierzu bedient sich Swofford mitunter sehr radikaler Ausdrucksweisen, wie z. B. |“Dann schloss ich die Augen und pinkelte mir in die Hose, während Drill Instructor Burke mir die Worte Schwuchtel, Junkie, Schwanzlutscher, Hurenstecher, Flachwichser, Vollidiot, Mokkastecher, Eunuch und Jungfrauenarsch ins Ohr brüllte.“| Dies erscheint allerdings nur allzu verständlich, in Anbetracht der Tatsache, dass es sich hier um das Leben eines „Jarheads“, einer zum Töten abgerichteten Kampfmaschine, handelt. Den rauen Ton zu mildern oder zu verschleiern, hätte die Authentizität vermindert.

Alles in allem handelt es sich bei „Jarhead“ um einen Roman, den ich nur wärmstens empfehlen kann, vorausgesetzt natürlich, dass man mit der erwähnten Fäkalsprache, den teilweise sehr plastischen Beschreibungen von Körperfunktionen und der bedrückenden Stimmung zurecht kommt. Denn es ist gewiss kein Happyend zu erwarten, wie der Schlussappell an den Leser verdeutlichen dürfte: |“Was habe ich zu gewinnen gehofft? Es kommen noch mehr Bomben. Grabt eure Löcher mit den Händen, die Gott euch gegeben hat.“|

Klaus Jürgen Schmidt – Trommeln im Elfenbeinturm. Interaktiver Thriller

Der Autor

Klaus Jürgen Schmidt, geboren 1944, lernte als Kind Junge-Pionier-Arbeit und „Völkerfreundschaft“ à la DDR kennen, später in der Bundesrepublik Deutschland „Straßenrevolution“ à la 1968 und das Ringen um Dritte-Welt-Solidarität beim Redakteursmarsch über Korridore öffentlich-rechtlicher Funkhäuser. Als Radio-Reporter sammelte er Erfahrungen in Indochina, der Pazifischen Inselwelt, Südostasien, Lateinamerika, Nordafrika und Arabien.

Anfang der Achtziger startete er ein Projekt, bei dem Menschen aus Nord und Süd per Satellitenübertragung miteinander ins Gespräch gebracht werden sollten, im Zuge öffentlicher Radiopräsenz. Seither ist es ihm ein besonderes Anliegen, den Menschen aus Afrika eine Stimme zu geben, was er schließlich in Form von „Radiobrücke Übersee“ in Deutschland und „Radio Bridge Overseas“ in Simbabwe, einer Multimedia-Initiative mit Trainingsofferten für junge Journalisten aus Nord und Süd, auch realisierte. Auf der EXPO 2000 in Hannover stellte er sein Projekt erstmals vor.
Klaus Jürgen Schmidt lebt und arbeitet in Harare (Simbabwe) bzw. im niedersächsischen Dolldorf.

Story

Als die dunkelhäutige Lainet zusammen mit ihrer deutschen Freundin mit einem Schlauchboot über den Sambesi paddelt, ahnen sie noch nicht, dass sie schon sehr bald aufgrund verschiedener Schicksalsfügungen auseinandergerissen werden. Beim Baden nahe ihres Ankerplatzes werden sie von einem Verbund von Rangern entdeckt, deren Anführer Lainet eröffnet, dass er sie gerne wiedersehen möchte. Nach einem Streit begibt sich Lainet für einige Zeit in die Wildnis und trifft dort tatsächlich diesen Ranger wieder. Eddington, so sein Name, hängt schwer verletzt an einem Baum und kann Lainet gerade noch mitteilen, dass sie beide von diesem Ort verschwinden müssen, weil Gefahr droht. Lainet schleppt den viel schwereren Ranger bis zum nächsten Dorf und lässt ihn dort in der Heimat ihres Vaters pflegen. Doch der Mann braucht professionelle Hilfe, und als schließlich ein Hubschrauber herbeigeschafft werden kann, um Eddington ins nächste Krankenhaus abzutransportieren, geraten die beiden in eine Falle …

Derweil ist Gertrud von Wilderern geschnappt worden, die ihr aber nicht feindlich gesinnt sind. Getrud bietet ihnen einen dicken Batzen Geld für ihre Lebensgeschichte und verspricht, diese in Deutschland zu publizieren. Bei ihrer Wanderung mit der zweiköpfigen Gruppe stößt sie jedoch auf ein bekanntes deutsches Gesicht, das anscheinend Mitglied einer Schmugglerbande ist. Zurück in Hamburg, berichtet die Journalistin ihrer Agentur von ihrer Entdeckung, woraufhin sie sich gemeinsam mit ihrem Kollegen Stefan Sager zurück nach Simbabwe begibt, um den anscheinend korrupten Intrigen auf die Spur zu kommen. Doch schon bald werden die beiden getrennt, und während Gertrud in Simbabwe nach ihrer Freundin und den Hintergründen für den groß angelegten Schmuggel sucht, forscht Sager auf verschiedenen Kontinenten nach den Machenschaften, die über die Landesgrenzen Simbabwes hinaus langsam das Rätsel zu einer politischen Verschwörung offenbaren …

Meine Meinung

Im begleitenden Info wird „Trommeln im Elfenbeinturm“ als interaktiver Thriller angepriesen und darauf verwiesen, dass man die verschiedenen Schauplätze der Handlung auch im Internet unter http://www.radiobridge.net verfolgen kann. Dort kann man dann auch näher in die Traditionen des simbabwischen Volkes eintauchen und generell das hier von Klaus Jürgen Schmidt dargestellte, fundierte Hintergrundwissen zur politischen Lage sowie zur Kultur im afrikanischen Staat noch einmal gebündelt überblicken.

Das soll aber nicht heißen, dass das Buch ausschließlich in dieser Form funktioniert – aber auch nicht, dass „Trommeln im Elfenbeinturm“ tatsächlich ein Thriller im klassischen Sinne ist. Vielmehr zeichnet der Autor hier ein Bild von fiktiven Einzelschicksalen in der Dritten Welt, die sich sehr gut in das realistische Geschehen der dortigen politischen Lage im Jahre 1989 – zu diesem Zeitpunkt spielt das Buch – einordnen lassen. Aber all das geschieht im Rahmen einer spannenden, stetig an Dramaturgie gewinnenden Handlung, die sich in viele verschiedene Unterpunkte gliedern lässt.

Zunächst einmal wären da die beiden Hauptakteure Lainet Musora und Gertrud Steiner, die mitten in einen Konflikt geraten und im Laufe der Handlung unbewusst Eigenschaften annehmen, die für die jeweils andere Kultur typisch sind. Gertrud denkt immer mehr im ‚afrikanischen‘ Sinne, während Lainet sich gerade im Hinblick auf ihr Schamgefühl und in ihrer generellen Rolle als Frau westlich orientiert. Im Verlaufe der Geschichte entwickelt sich zwischen ihnen eine sehr warme Beziehung, die den beiden Karrierefrauen gerade in den Momenten bewusst wird, in denen sie von der jeweils anderen Part befürchten, dass sie während der nach einem Zwist entstandenen Trennung umgekommen sei.

Der Plot wechselt daher auch von Kapitel zu Kapitel die Schauplätze und beschreibt einerseits Lainets schier hoffnungslose Suche nach entsprechender Versorgung für den Ranger Eddington, bei der es zu einer sehr speziellen Begegnung kommt, als Lainet ihre Vergangenheit vergisst und ihr Schamgefühl besiegt und mit dem bewusstlosen Ranger Geschlechtsverkehr hat. Dass die Frau auf diese Art und Weise schwanger wird, ist zwar etwas abgehoben dargestellt, erweitert aber das Drama, das sich um den schwer verletzten Ranger und die mit sich selbst ringende Lainet entwickelt hat. Hinzu kommen schließlich das gespaltene Verhältnis zu ihrem Vater und die verschollenen Erinnerungen aus ihrer Kindheit, die Lainet langsam wieder aufzuarbeiten beginnt, und die sie im Nachhinein auch seelisch schwer belasten.

Auf der anderen Seite wittert Gertrud den beruflichen Durchbruch mit einer sensationellen Story und kehrt mit Unterstützung der Redaktion ihres Magazins zurück nach Simbabwe. Auf der Suche nach Lainet entdeckt sie immer mehr Fakten, die darauf schließen lassen, dass höchste Institutionen und Politiker in eine internationale Konspiration verwickelt sind, und beginnt schließlich, auf eigene Faust zu ermitteln. Doch sie gerät selber in die Schusslinie und wird von der Jägerin zur Gejagten, aber wie der Zufall es so will, trifft sie schließlich wieder auf ihre alte Freundin, mit der sie schließlich die noch fehlenden Zusammenhänge erkundet – stets verfolgt von unbekannten Mächten, denen bekannt ist, dass Gertrud bereits mehr weiß, als sie wissen sollte.

Die Entwicklung der beiden Damen ist im Laufe des Buches jedoch unterschiedlich. Lainet ist sehr mit ihrem Seelenleben beschäftigt und setzt sich mit ihren Verlusten auseinander, während es Gertrud vornehmlich darum geht, Korruption aufzudecken und mit einer Sensationsstory die Verantwortlichen zu entlarven. Doch gerade diese Mischung funktioniert im Endeffekt sehr gut und kombiniert schließlich innerliche Zerrissenheit und Emotionalität mit einer spannungsvollen, aber auch ziemlich komplexen Handlung, bei der es sich letztendlich sicher lohnt, die auf der Homepage vorgestellten Informationen zu verarbeiten, weil es speziell im zweiten Teil des Buches zunehmend schwerer wird, das gesammelte politische Wissen adäquat zu überschauen.

Dies ist nämlich auch der einzige Punkt, an dem „Trommeln im Elfenbeinturm“ Probleme bereitet; Klaus Jürgen Schmidt führt sehr oft verschiedene Ereignise, die mit diversen politischen Begebenheiten in Zusammenhang stehen, ziemlich ausfühlich aus und schmeißt dabei mit Spezialwissen um sich, die man, ohne mit der Materie vertraut zu sein, nicht direkt wird einordnen können. Zwar bemüht er sich merklich um Transparenz, doch gerade wenn er auf Geschehnise aus der afrikanischen Politik zu sprechen kommt, gerät die Geschichte bisweilen schon mal aus den Fugen. Darunter leidet schließlich auch die eigentliche Story, sprich die große Verschwörung, denn zum Ende hin wird die Handlung vor Ort in Afrika dermaßen komplex, dass der Autor versäumt, den Punkt zu treffen, oder besser gesagt den Aufbau eines endgültigen Höhepunkts verpasst.

Deshalb muss man nun auch sehen, aus welcher Perspektive man das Buch betrachtet: Möchte man einen echten Thriller mit logischem Aufbau und klarer Struktur, wird man in „Trommeln im Elfenbeinturm“ kein geeignetes Objekt finden; möchte man aber ein Stück Zeitgeschichte aufsaugen, einen sehr tiefgängigen Blick in die afrikanische (und speziell in die simbabwische) Kultur erhaschen, tolle Beziehungsgeflechte entdecken und realitätsnahe Schicksale erleben, dann ist dieses Buch eine echter Schatz.

386 Seiten
ISBN-13: 978-3833429606

Ackermann, Lea / Bell, Inge / Koelges, Barbara – Verkauft, versklavt, zum Sex gezwungen. Das große Geschäft mit der Ware Frau

Nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden in Europa jedes Jahr ca. 500 000 Frauen und Mädchen zur Prostitution gezwungen. Der Umsatz wird auf ca. zehn Milliarden Euro jährlich geschätzt. Waren die Hauptherkunftsländer der Opfer in den 80er Jahren noch in Asien und Afrika zu finden, kommt seit der Öffnung des Eisernen Vorhangs die überwiegende Zahl der Opfer, über 80 %, aus Mittel- und Osteuropa. Es ist leichter und billiger für die Händler, ihre „Ware“ von dort ganz ohne Flugkosten einzuführen. Heute kommen aus Afrika noch 2,8 %, aus Asien 2,9 % und aus Lateinamerika 1,3 % der Opfer. Die Ursache ist in Osteuropa auch im völlig verrotteten Wertesystem begründet, wo nach langen Jahrzehnten des Kommunismus das Überleben in einem wilden Kapitalismus für alle zum aggressiven Kampf ums Dasein geworden ist.

Erschütternd wird die Lage der Opfer geschildert, die in Osteuropa auf Sklavenmärkten im großen Stil zum Verkauf feilgeboten werden. Es sind Wohnungen von Mittelsmännern in anonymen Großstädten oder einsame Häuser auf dem Land, in denen die Frauen aus aller Herren Länder zusammengetrieben werden. Dort erfolgt der „Fleischbeschau“ durch die Endabnehmer, Zuhälter und Mittelsmänner aus ganz Europa, die für ihre Establishments oder ihre Kunden einkaufen. Das Ganze unterscheidet sich nicht vom Pferdeverkauf. Andere hier versklavte Frauen werden tatsächlich durch falsche Versprechungen in die westlichen Länder gelockt, ihrer Pässe beraubt und dann unter Gewalt und Not in Gefangenschaft zur Prostitution gezwungen. Auf dem Markt kostet eine hübsche Weißrussin, Ukrainerin oder Bulgarin zwischen 1000 und 2000 Euro, also weniger als ein Pferd.

Osteuropäische Zwangsprostituierte sind beliebt wegen ihres so genannten GFS-Service („Girlfriendsex“), also Sex wie mit der eigenen Freundin: Zungenküsse, Streicheln, Haare kraulen, Massieren, Sex ohne Kondom, Nähe, Wärme, Kuscheln. Ein Qualitätsmerkmal und offenbar eine unglaubliche Marktlücke im deutschen Profi-Gewerbe. Osteuropäerinnen gelten als warm, herzlich und hingebungsvoll. Im Gegensatz zu ihnen sind die „knallharten“ deutschen Profi-Prostituierten abgebrüht und teuer, die Nummern sachlich, schnell und steril. Küsse wie auch der Wunsch „ohne Kondom“ werden von den meisten deutschen Prostituierten abgelehnt.

Die Freier bemerken eigentlich, was sich da abspielt, aber in der Regel schreiten auch sie nicht ein. Freier ist in Deutschland sowieso im Gegensatz zu anderen Ländern ein sehr verharmlosender Begriff, denn er stammt noch vom mittelalterlichen Begriff „freien“ („auf Freiersfüßen gehen“) ab, der sogar nach „frei“ klingt. Auf Englisch ist das Wort für einen Freier „John“ – nach dem gebräuchlichsten Vornamen – und in Polen ist es „Anton“. Freier sind lichtscheue Wesen, die kaum erforscht sind. Immerhin gibt es in Deutschland ca. 12 Millionen Freier, die regelmäßig die Dienste einer Prostituierten in Anspruch nehmen, d. h. jeder dritte Mann. Durch deren Wünsche werden rund sechs Milliarden €uro Umsatz pro Jahr erwirtschaftet – aber es gibt keine echten „Marktanalysen“ und kaum Untersuchungen zum Käuferverhalten. Im Gegensatz zu den USA existiert in Deutschland keine Freier-Forschung, die Sexualwissenschaften in Forschung und Lehre fristen bei uns an deutschen Universitäten ein Mauerblümchendasein. Obwohl es an jeder Straßenecke und in jedem Medium um die Themen Sex, Erotik, Trieb und Gewalt geht, steckt echte interdisziplinäre Forschung ebenso wie der Wille und der staatliche Auftrag dazu in den Kinderschuhen.

Auf Regierungsebene schaut man ebenso eher weg. Vor wenigen Jahren wurde der Skandal aufgedeckt, dass selbst die deutschen KFOR-Soldaten auf Kosovo-Friedensmission im Jahr 2000 die Dienste zur Prostitution gezwungener Opfer in mit Gitter verschlagenen Gefängnis-Bordellen nutzten. Was dort stattfand, war für jeden Soldaten offensichtlich. Alle Zimmerfenster waren mit schweren Gitterstäben versehen, das Grundstück mit einem übermannshohen Sicherheitszaun versehen, die Eingangstür des Bordells verschlossen. Wenn es zur Sache ging, wurden Freier und Frauen im Zimmer eingeschlossen. Mittlerweile wurde aufgrund der Aufdeckung das Bordell zerstört, der Besitzer allerdings erhielt vom Staat Mazedonien Entschädigungszahlungen. Belangt wurde er nie. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Deutschland mussten Anfang 2004 eingestellt werden, obwohl zweifelsfrei festgestellt wurde, dass dort schwerster Menschenhandel vorlag. Bis heute bestreitet das Bundesverteidigungsministerium vehement, dass deutsche Soldaten überhaupt in Bordelle gehen. Was nicht sein kann, darf nicht sein. Doch das Lügengebäude wankt. Die Zeugenaussagen sowohl von Opfern als auch von Soldaten selbst liegen vor.

Als Einzige wagte bisher 2003 die CDU-Bundestagsabgeordnete Ute Granold den Vorstoß, Freier bei Zwangsprostitution mit strafbar zu machen. Bislang sieht das deutsche Menschenhandelsgesetz noch keine Freierbestrafung vor. Aber seit dem Skandal im Sommer 2003 um Michel Friedmann oder jüngst um Peter Hartz und die Vorkommnisse bei VW wird endlich über die Verantwortung der Freier diskutiert. Michel Friedmann hatte sich für seine Sex- und Drogenpartys Zwangsprostituierte bestellt und war in Menschenhandel verwickelt. Er behauptete, davon nichts gewusst zu haben und brauchte sich nur wegen harmlosen Drogenbesitzes verantworten. Das Ausnutzen der Notlage von Menschenhandelsopfern, die verschleppt, brutal misshandelt, ausgebeutet und zur Prostitution gezwungen wurden, galt als Kavaliersdelikt. Heute moderiert er längst wieder. Nicht anders im Falle Peter Hartz. Inzwischen steht endlich ein Gesetzesentwurf im Raum, Freier unter Strafe zu stellen, wenn sie offensichtlich wissen, was sich abspielt. In den 80er Jahren war das, was sich da abspielte, gesellschaftlich ja auch nicht mal verpönt. Damals konnten noch Reiseveranstalter ungeniert mit „Sonne, Sand und Sex“ für die Urlaubsparadiese Pattaya (Thailand) oder Mombasa (Kenia) werben. Es war vollkommen üblich, dass Unternehmen ihre Manager mit solchen Reisen belohnten.

Nicht nur bei Prostituierten, deren hier geschilderte Schicksale wahrlich aufrüttelnd sind, liegt Menschenhandel vor. Auch für die Heiratsmärkte gilt dasselbe. Als Beispiel brüstet sich ein Heiratshändler damit, in einem einzigen Jahr zehntausend Frauen aus aller Welt an deutsche Männer vermittelt zu haben. In seinem Umfeld wurde nachgeforscht und man fand auf der Kölner Bahnhofsmission eine völlig verzweifelte Brasilianerin, die dort am Ende ihrer Kräfte zusammengebrochen war. Drei potenzielle Ehemänner hatten sie jeweils fünf Wochen lang „ausprobiert“, aber „die Ware“ letztendlich nicht gekauft. Und „Maria“ sollte nun dem besagten Heiratshändler seine Unkosten erstatten, seinerzeit 7000 Mark für Flug, Reisepapiere, Vermittlungsgebühr und Unterhalt während ihres Aufenthalts in der Hölle. Noch mehr solcher Fälle – hauptsächlich zuhause eingesperrte Thaifrauen – werden geschildert. Deutsche Ehemänner sperren sie ein und misshandeln sie. Der deutsche Staat hatte auch lange Zeit nichts dagegen, denn kam derlei heraus, wurden die Frauen abgeschoben. Ende der 80er Jahre musste eine Ausländerin sechs Jahre mit einem Deutschen verheiratet sein, wenn sie Aufenthaltsrecht für sich beanspruchen wollte. Ein deutscher Mann, der seine gekaufte Ware loswerden wollte, musste nur zum Ausländeramt gehen, die Ehe für gescheitert erklären und schon wurde abgeschoben. Bereits die Flucht vor Prügeln ins Frauenhaus war Abschiebegrund. Heute gilt nach zwei Jahren Heirat Aufenthaltsrecht. Mit Kind darf sie sowieso bleiben und nun auch im „Härtefall“ bei Misshandlung.

Die Schilderungen richten sich nicht gegen Prostitution an sich. Im Jahre 2001 wurde in Deutschland durch Änderung des § 180a StGB Prostitution legalisiert, sie ist nicht mehr sittenwidrig und ihre Förderung auch nicht mehr verboten. Ziel war es ja, Prostituierten mehr Rechte einzuräumen und zu ermöglichen, dass sie sich versichern, also Kranken- und Sozialversicherungen abschließen können. Das ist wichtig bei freiwilliger Prostitution, damit sie auch Arbeitsverträge abschließen können. Das Gesetz scheint aber an der Wirklichkeit vorbeizugehen. Nach Auskunft der Gewerkschaft Verdi für Deutschland gibt es zurzeit weniger als fünf Arbeitsverträge mit Prostituierten. Das nur nebenbei: Es geht in diesem Buch um Menschenhandel, nicht um freiwillige Prostitution.

Die Autorinnen gehören der NGO-Organisation „Solwodi“ (Solidarity with women in distress – Solidarität mit Frauen in Not) an, die in Deutschland über zehn Beratungsstellen verfügen. Sie setzen sich für Migrantinnen ein, die in Deutschland in Not geraten sind. Es handelt sich dabei um Frauen, die über Arbeitsemigration, Sextourismus, dubiose Heiratsvermittlungen oder als Opfer von Menschenhandel gekommen sind. Diesen Frauen bietet Solwodi allgemeine Beratung und Rückkehrhilfen für die Klientinnen, die zurück in ihr Heimatland möchten. Opfer von Gewalt erhalten psychosoziale Betreuung, Unterbringung in einer betreuten Schutzwohnung und Vermittlung von juristischer, medizinischer und therapeutischer Hilfe. Ein Schwerpunkt ist die Begleitung von Opferzeuginnen bei Gerichtsverfahren gegen die Täter. Auf Initiative der Bundesfrauenministerien wurde der „Arbeitskreis Frauenhandel“ gegründet, dem Vertreter verschiedener Bundes- und Landesministerien, des Bundeskriminalamtes und der Landeskriminalämter, von Justiz- und Ausländerbehörden sowie von Solwodi und anderen Nichtregierungsorganisationen angehören.

Schlimm ist, nebenbei bemerkt, auch, dass es gar keine Razzien in den Bordellen wegen Menschenhandels gibt. Im Durchschnitt gibt es pro Bundesland und Jahr eine einzige solche Razzia, was völlig ungenügend ist. Angeklagt wird dann auch nicht auf Menschenhandel, sondern auf Schleusung. Die Verfahren sind dann einfach und kürzer, der Strafbestand ist leichter und ohne Aussagen der Zeugin im Prozess nachweisbar. Danach kann die Zeugin abgeschoben werden. Die EU versucht seit längerem, Menschenhandel im nationalen Recht umzusetzen. 2004 legte auch die Bundesregierung ein Gesetz gegen Menschenhandel vor, das im November 2004 verabschiedet wurde, aber völlig mangelhaft ist. Die Bestrafung der mitwissenden Freier findet ebenso wenig statt. Und Zwangsheirat wird nach wie vor nicht als Menschenhandel gewertet und nicht bestraft.

http://de.wikipedia.org/wiki/Krimineller__Menschenhandel
http://de.wikipedia.org/wiki/Frauenhandel

Hallervorden, Dieter – Wer immer schmunzelnd sich bemüht …

„Palim, Palim“ – wie oft begrüßte Dieter Hallervorden seine Gäste und Zuschauer mit diesen berühmten Worten? Seit vielen Dekaden begeistert der eigenwillige Komiker mit der einzigartigen Mimik und dem großen Talent für tolpatschige Rollen in Film und Theater das deutsche und internationale Publikum und gedenkt auch anlässlich seines 70. Geburtstages, den Hallervorden am 5. September dieses Jahres feierte, keinesfalls sich zurückzuziehen.

Den Höhepunkt hat ‚Didi‘ zwar schon längst hinter sich gebracht, aber immer noch zieht er die Fäden in einigen TV-Produktionen, ist ein gern gesehener Gast in diversen Comedy- und Sketch-Sendungen und hat quasi als Hobby noch immer sein Berliner Theater „Die Wühlmäuse“, das sich über 45 Jahre lang im Geschäft standhaft gehalten hat.

Hallervorden hat in diesen 70 Jahren eine Menge erlebt, ganz besonders im Hinblick auf seine Karriere als Kabarettist und Schauspieler. Grund genug also, um einen Rückblick auf ein ereignisreiches, aber nicht immer erfolgreiches Leben zu werfen. Eigens hierzu hat Hallervorden eine sehr persönliche und nicht selten selbstkritische Biografie verfasst, in der er die wichtigsten Stationen seiens Lebens Revue passieren lässt und diese beständig mit wunderbaren Anekdoten unterlegt. Der Autor tut dies jedoch nicht ohne seinen gewohnten Wortwitz und dementsprechend ist auch „Wer immer schmunzelnd sich bemüht …“ ein Werk geworden, das zu einhundert Prozent dem entspricht, was man von diesem Menschen erwarten durfte.

Hallervorden beginnt seinen Rückblick mit einer kurzen Erzählung über eine Nachtbar, die er als Fünfzehnjähriger mit seinem schwerreichen Onkel in Westberlin besuchte. Hier entdeckte der zukünftige Star sein Faible für die Bühnen dieser Welt, fiel aber gleich auch mit seinem Ungeschick auf, das er später in vielen Rollen bewusst verkörperte. Anschließend beginnt Hallervorden chronologisch mit der Erzählung seines Lebens, berichtet über das Ende der Kriegszeit, hält eine Lobrede auf seine tapferen und stolzen Eltern und beschreibt, wie er als Querkopf seine Schulzeit erlebte, dennoch aber seinen Abschluss schaffte und so fürs Studium zugelassen wurde.

Während seiner Zeit als Student fühlte sich Hallervorden allerdings nicht sonderlich wohl, vor allem, weil ihm so manche politische Meinung seitens der SED übel genommen wurde. Rechtzeitig erkannte er die Zeichen der Zeit und flüchtete in den Westen – zwei Stunden bevor zwei Hauptmänner mal mit ihm ’spazieren gehen wollten‘.

Doch ein solches Glück war dem jungen Hallervorden in der Folgezeit nicht immer beschieden. Zwar entdeckte er seine Berufung als Schauspieler in Westberlin, konnte sich aber mit seinen ersten Rollen nie durchsetzen – meist eben auch wegen seiner eigenbrödlerischen Art. So leistete er sich in der ersten TV-Produktion einige Seitenhiebe und ließ der Aufforderung, dies zu unterlassen, eine Trotzreaktion folgen, die zur Folge haben sollte, dass der Rundfunk ihn eine ganze Weile boykottierte.

Seine politische Gesinnung stand ihm auch weiterhin immer wieder im Weg. Erst als er sich mit seinen Slapstick- und Comedy-Shows auf regionaler Ebene durchsetzen konnte, wurden die Macher des öffentlichen Fernsehens wieder auf den Herren mit der flotten Schnauze aufmerksam und verhalfen ihm schließlich zum endgültigen und lang ersehnten Durchbruch.

Der Rest der Geschichte ist bekannt. Hallervorden wurde zusammen mit Persönlichkeiten wie Harald Juhnke zur Ikone der deutschen Comedy und erntete für seine zahlreichen Sketche durchgängig Lob. Auch als Film-Schauspieler versuchte sich der in Dessau geborene Hallervorden, konnte in seinen Rollen als ‚Didi‘ aber nicht ganz an den Erfolg seiner Bühnenperformances anknüpfen.

In den letzten Jahren wurde es schließlich etwas stiller um Dieter Hallervorden, auch wenn er weiterhin seiner Rolle als Kabarettist fröhnte. Doch seine Fernsehshows brachten nicht den erwünschten Erfolg. Heute trifft man ihn aber dennoch immer mal wieder in den allabendlichen TV-Shows, in denen er teils alte, teils brandneue Sketche aufführt, in denen er seinen einzigartigen Stil und vor allem seine Mimik nach wie vor bestens zum Einatz bringen kann.

Kürzlich feierte Hallervorden mit einer prunkreichen Gala schließlich in gebührendem Maße Geburtstag und durfte durch die allgemein erbrachte Ehrerbietung zahlreicher Prominenter erneut erfahren, welche einflussreiche Rolle er für die deutsche TV- und Theaterlandschaft hatte und immer noch hat.

In seiner Biografie sucht sich Hallervorden vornehmlich Schlüsselpunkte aus seinem bisherigen Leben heraus, anhand derer er schließlich seine ganz eigene Geschichte erzählt. Einen Schwerpunkt legt er dabei auf seine Laufbahn als politischer Kabarettist, die ihm neben viel Ruhm auch einiges an Ärger einbrachte. Doch auch die Zeiten, in denen er von Erfolg ‚verschont‘ blieb, meistert der Autor und Komödiant in Personalunion an dieser Stelle mit einer Menge Humor und einer gehörigen Portion Sarkasmus – Didi at his best! Natürlich greift Hallervorden hierbei auch immer wieder auf seine freche Berliner Schnauze und den bekannten Umgangston zurück; er verstellt sich also auch bei diesem Projekt nicht. Das macht das Buch schließlich auch zu einem echten Original.

Auf der anderen Seite gibt der Mann auch einige sehr private Einblicke in sein Leben und sein Lebensglück, das er mittlerweile auf einer Insel in der Bretagne gefunden hat. Untermauert wird dies durch viele Fotos und Momentaufnahmen, die Hallervorden in sämtlichen Lebenslagen zeigen sowie einige Plakate seiner ehemaligen Produktionen.

Doch so ungewöhnlich, wie der Mensch war und ist, so ungewöhnlich ist schließlich auch seine Autobiografie. Hallervorden hält sich stilistisch und inhaltlich absolut nicht an irgendwelche Vorgaben und orientiert sich an seinem eigenen durchgängigen Faden. Zwar ist die Erzählung in einen chronologischen Rahmen eingebettet, aber durch die eigensinnige Wortwahl entwickelt das Ganze schließlich ein Eigenleben. Aus diesem Grund wird man auch beim Lesen des Öfteren lachen und schmunzeln müssen, aber ist es nicht auch gerade das, was Hallervorden immer wieder zu erreichen suchte? Hier ist es ihm jedenfalls erneut gelungen – auch wenn er in einem Atemzug auch den Beweis antritt, dass das Leben eines Komikers nicht immer nur lustig sein muss!

Egal, wie man zum Menschen Hallervorden und zu seinem Humor auch stehen mag – dieses Buch mit den vielfältigen Rückblicken und ausführlichen Situationsschilderungen ist wirklich sehr gut geworden und zeigt den Jubilar ganz genau so, wie man ihn kennt, nämlich als eine Person, die sich nie hat verbiegen lassen und von allseits gängigen Schemata nicht sonderlich viel hält. Meinen Glückwunsch!

http://de.wikipedia.org/wiki/Dieter__Hallervorden
http://www.schwarzkopf-schwarzkopf.de/eng/dieterhallervorden.html

Walker, Stephen – Hiroshima. Countdown der Katastrophe

6. August 1945, 9.15 Uhr Guam-Kriegszeit: ein weiterer historischer Moment in einem an denkwürdigen Daten reichen Jahr. Doch dies ist kein Augenblick, der zum freudigen Rückblick Anlass gibt, denn er markiert den ersten militärischen Einsatz der Atombombe und die Vernichtung der japanischen Stadt Hiroshima und ihrer Einwohner – nach Stephen Walker, dem Verfasser des hier vorgestellten Sachbuchs, ein Drama in vier Akten.

Der erste Akt schildert eine Generalprobe der besonderen Art: Die Bombe auf Hiroshima war keineswegs die erste ihrer Art. Drei Wochen zuvor war jenes Licht, das heller und heißer als die Sonne strahlte, in einem öden Wüstenstrich in New Mexico aufgeflammt. Zu diesem Zeitpunkt war weder klar, ob die Atombombe funktionieren noch welche Folgen dies haben würde. Zwei Milliarden Dollar waren in die Entwicklung geflossen, eine ganze Legion der klügsten Naturwissenschaftler dieser Welt hatte sich jahrelang in das Problem verbissen. Die Bombe zeigte sich als störrisches Instrument, das endlose Pannenserien produzierte. Zudem warnten Fachleute, dass eine atomare Explosion die Atmosphäre der Erde in Brand setzen und so das irdische Leben auslöschen könne. Aber gezündet wurde trotzdem, das Experiment war schauerlich erfolgreich – und die Entscheidung für die Aufführung des zweiten Akts gefallen.

In der zweiten Julihälfte widmet sich ein Team von Spezialisten und eigens ausgebildeten Piloten dem Problem, die Atombombe als Waffe einzusetzen, ohne dabei selbst in Stücke gerissen zu werden. Walker beschreibt nervenaufreibende Wochen der Vorbereitung in der Einsatzzentrale des 509. Geschwaders auf einer Insel irgendwo im Pazifik, während die Japaner verzweifelt auf die Möglichkeit einer ehrenvollen Kapitulation hoffen, die ihnen weder die US-Amerikaner noch deren sowjetische Verbündete aus taktischen Gründen zugestehen wollen: Noch während der II. Weltkrieg im asiatischen Raum gekämpft wird, werden die politischen Weichen für eine Ära gestellt, in der sich USA und UdSSR als Gegner gegenüberstehen. Der Besitz einer Atomwaffe, die ihre Effizienz unter Beweis gestellt hat, kann dabei von entscheidender Bedeutung sein.

Der dritte Akt versucht die letzten Stunden vor dem Flug des Bombers „Enola Gay“ mit seiner monströsen Fracht in Worte zu fassen. Als Ziel des „Einsatzes“ haben die Amerikaner Japans siebtgrößte Stadt Hiroshima gewählt, die noch unzerstört geblieben ist und deren spektakuläre Vernichtung die Widerstandskraft des Feindes brechen soll. Walker lässt Einwohner Hiroshimas und Soldaten zu Wort kommen, während er schildert, wie sich die „Enola Gay“ der ahnungslosen Stadt nähert und die Bombe schließlich abwirft.

Akt 4 beschreibt das, was niemand sich vorstellen konnte oder wollte: die ersten 24 Stunden nach der Explosion. Mit bedrückender Eindringlichkeit beschwört Walker die Verheerungen, welche die Detonation mit Feuer und Druck auslöst, während das eigentliche Grauen erst Stunden später offenbar wird: Wer in Hiroshima überlebt hat, fällt nun der radioaktiven Strahlung zum Opfer. Zur selben Zeit ist man in Washington erleichtert und erfreut: Der atomare Feldzug ist wie geplant verlaufen und gewonnen. Über die Konsequenzen dieses Geschehens machen sich die Verantwortlichen keine besonderen Gedanken. Zwei Wochen später fällt die Atombombe auf Nagasaki.

In seinem Epilog liefert Walker eine Vorschau auf die Welt unter der Atombombe. Die Fronten zwischen Befürwortern und –gegnern vertiefen sich; viele von denen, die in New Mexiko die Entwicklung vorantrieben, bereuen es bitter. Weil das Wissen um den Bau der Bombe zudem von einem Spion umgehend nach Moskau gemeldet wurde, kann die gefürchtete und bald verhasste Sowjetunion ihre eigene atomare „Verteidigung“ errichten. Aber schon haben in den US-Labors die Arbeiten an der Wasserstoffbombe begonnen …

„Hiroshima“ klingt mit einer langen Reihe von Anmerkungen zum Text, einem Quellenverzeichnis plus Bibliografie, einem Personen-, Orts- und Sachregister sowie einer Danksagung und dem Abbildungsnachweis aus.

Auf drei Wochen im Sommer des Jahres 1945 verdichtet Verfasser Stephen Walker seine bemerkenswerte Chronik eines ebenso denkwürdigen wie traurigen Ereignisses. Diese Zeitspanne beinhaltet nach seiner Meinung die relevanten Aspekte der Atombomben-Story. Walker legt seine Darstellung sehr „filmisch“ an; er wechselt die Perspektive, springt von Ort zu Ort, stellt uns die handelnden Personen in ihren Worten und Taten vor, während der „Countdown der Katastrophe“ längst begonnen hat. Der Leser springt quasi auf einen bereits fahrenden Informationszug auf. Dies birgt die Gefahr, dass vor allem dem historischen Laien grundsätzliche Vorkenntnisse unbekannt bleiben. Doch Walker beherrscht die Kunst, wichtige Infos in seinen Bericht einfließen zu lassen, ohne dass es die Chronologie stört. Das Ergebnis überzeugt: „Hiroshima“ ist ein rasant zu lesendes Buch, dessen Erzählfluss das Tempo widerspiegelt, mit dem 1945 die Atombombe zum Einsatz kam.

„Hiroshima“ erzählt diese Geschichte als durchaus nicht vollständiges historisches Mosaik. Zahlreiche Ereignisse lassen sich sechs Jahrzehnte später nur noch annähernd rekonstruieren. Umrisse sind fassbar, Details, Momentaufnahmen, Anekdoten vorhanden, bloß: Lässt es sich verantworten, das Vorhandene zu einer „ultimativen“ Geschichte zu verknüpfen? Stephen Walker zieht sich elegant aus der Affäre, indem er nur selten und dann offen spekuliert, sondern sich lieber auf die Fakten stützt. Gleichzeitig lässt er die Zeitzeugen sprechen. Was sie sagen, kann und ist sicherlich recht subjektiv. Andererseits ist es unmittelbar und zieht den Zuhörer oder Leser in den Bann.

Ein weiteres Verdienst Walkers: Er verzichtet darauf, Partei zu ergreifen. Daraus entwickelt sich ein wahrer Eiertanz, denn Kandidaten für die Rolle/n des Bösewichts gäbe es genug – gleichgültig, ob japanischer, sowjetischer oder US-amerikanischer Herkunft. Stattdessen versucht Walker Situation & Stimmung im Sommer 1945 zu verdeutlichen: Die den Einsatz der Bombe fordern, glauben wirklich an die Notwendigkeit, eine Stadt (bzw. zwei Städte, denn nach Hiroshima starb Nagasaki den atomaren Tod) mit Mann & Maus vom Erdboden zu tilgen, um damit einen opferreichen Bodenkrieg Mann gegen Mann zu vermeiden, während die Japaner das Grauen durch ihr Hinauszögern der definitiv unabwendbaren Kapitulation selbst mit heraufbeschwören.

Haben die Atombomben auf Japan den II. Weltkrieg beendet oder waren sie längst überflüssig, ein Menschen verachtendes Experiment jener gar, die ausprobieren wollten, was ihr neues Spielzeug leisten konnte? Diese Fragen werden noch heute erbittert diskutiert. „Hiroshima“ kann keine endgültige Antwort geben aber womöglich gibt es die auch gar nicht.

Über Leben und Werk von Stephen Walker gibt es sogar im Internet offenbar nur, was auch der Klappentext zu „Hiroshima“ nachbetet. Demnach hat Walker Geschichte in Harvard studiert und drehte später Dokumentarfilme für die BBC – so über die Schlacht an der Somme im November 1916, über die Besatzungszeit in Frankreich, über die Geschichte des Terrorismus sowie nun über das Ende Hiroshimas. Für seine Arbeit habe er diverse Preise erhalten, darunter die „Goldene Rose von Montreux“ und den Preis der „British Academy of Film and Television Arts“. (Bei näherer Betrachtung war es allerdings nicht Walker, der 2003 die „Rose“ gewann, sondern die Pseudo-Realityshow „Faking It“, für die er als einer von zahlreichen Regisseuren drehte, während er in den Annalen der „British Academy of Film and Television“ weder als Gewinner noch als für einen Preis Nominierter erscheint; dies jedoch nur am Rande & als Hinweis darauf was geschehen kann, wenn man solche Angaben nachprüft …) Darüber hinaus sei er Drehbuchautor und für eines seiner Bücher mit einem „Best Drama Award“ für die „Writer’s Guild“ ausgezeichnet worden. (Ich konnte beim besten Willen keine Institution dieses Namens recherchieren … nur eine „Writer’s Guild of America“, der jedoch kein Stephen Walker bekannt zu sein scheint …)

Kotteder, Franz – Billiglüge, Die – Die Tricks und Machenschaften der Discounter

Mal Hand aufs Herz: Jede/r von uns war schon mal bei Aldi, Lidl, Schlecker und Konsorten einkaufen, oder? Und vor nicht allzu langer Zeit hat selten eine Werbekampagne die Käufermentalität besser auf den Punkt gebracht als: Geiz ist geil! Die Discounter sind, ob wir´s wollen oder nicht, immer stärker auf dem Vormarsch. Aldi zum Beispiel ist Marktführer bei PCs und Laptops, Seidenstrumpfhosen, Toilettenpapier und sogar beim Kaffee die Nummer drei in Deutschland. Der Marktanteil der Discounter beträgt 40 Prozent. Tendenz: Steigend!

Der Autor des Buches, Franz Kotteder, hat sich da so seine Gedanken gemacht, wie zur Zeit die Einkaufsmentalität (nicht nur der Deutschen) beschaffen ist, und welcher Rattenschwanz hinter den „Schnäppchen“ steckt. Hauptberuflich ist er seit 1991 Redakteur bei der „Süddeutschen Zeitung“ mit dem Schwerpunkt Kultur, hat sich aber auch als Autor von politischen Sachbüchern einen Namen gemacht.

Dabei fällt auf, dass sich das Buch sehr gut lesen lässt und recht kurzweilig geschrieben ist. Das Thema wird von seinen unterschiedlichsten Seiten beleuchtet. Der Schwerpunkt wird von der Discounterseite auf Aldi, Lidl und Schlecker gelegt. Natürlich gibt es erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Nachahmer, doch die Erstgenannten sind nunmal die Marktführer. Interessant sind vor allem die Persönlichkeiten hinter den „Billigheimern“: Karl und Theo Albrecht (Aldi), Dieter Schwarz (Lidl) und Anton Schlecker (Schlecker). Die Personen hinter den Kulissen passen wie die günstigen Preise zu den einzelnen Ketten. Manch eine Tugend, die man normalerweise unter einer Marotte abtun würde, sieht man angesichts der Milliardenschwere der Gründer unter einem ganz anderen Blickwinkel. Es ist schon interessant, wie sparsam die Gründer sind, denn anders lässt sich ihre Mission, den günstigsten Preis herauszuholen, nicht erklären. Vor allem ist es interessant zu erfahren, wie die Preise zustande kommen bzw. welche Tricks und Kniffs die Ketten dabei anwenden.

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Behandlung des Personals und warum die Discounter alles andere als darauf erpicht sind, einen Betriebsrat zuzulassen. Dass z. B. bei Rewe genauso viel Personal jeweils hinter der Fleisch-, Bäcker- und Käsetheke steht wie beim Aldi in einem ganzen Markt, ist sehr bezeichnend. Anders lässt es sich nicht erklären, warum die Mitarbeiter bei Aldi z. B. fleißig wie die Bienen ackern müssen, um den Markt in Schwung zu halten. Natürlich werden sie dabei gut entlohnt, doch welchen Preis müssen die meisten Mitarbeiter bei den Discountern zahlen?

Natürlich kommen auch grundlegende Dinge, wie z. B. die Herkunft der Billig-Eier, unter welchen Bedingungen Kakao geerntet wird und die „Produktion“ von Hähnchen und Puten zur Debatte. Danach überlegt man es sich mehr als einmal, ob beim nächsten Einkauf die Ware der Discounter die erste Wahl darstellt. Dasselbe trifft (leider) natürlich auch auf Garnelen zu, und den Preis für diese Produkte zahlt die Umwelt beziehungsweise am Ende der Kette der Verbraucher mit seiner Gesundheit. Die aufgeführten Beispiele bilden leider die Regel, was wohl auf absehbare Zeit nicht gestoppt werden kann.

Dass es aber trotzdem Wege aus der „Geizfalle“ gibt, wird in dem letzten Kapitel aufgezeigt. Interessant ist dabei, wie man das System „Discount“ auch auf einen Biodiscounter übertragen kann. Dabei handelt es sich um den Biodiscounter „Erdkorn“, der vom ehemaligen Aldi-Manager Thomas Hinz gegründet wurde. Die Vorgehensweise ist dabei wie beim Discounter, nur mit dem Unterschied, dass die Mitarbeiter besser behandelt werden und es sich ausschließlich um Bioprodukte handelt. Natürlich haben auch die ihren Preis, ohne Frage, doch kann die Kette die zwar guten, aber sehr teuren Reformhäuser preistechnisch unterbieten.

Alles in allem sind die aufgeführten Fakten schon bezeichnend, denn gerade aktuell wird das Thema in den Medien sehr stark hochgekocht. Seien es die Proteste der Gewerkschaft gegenüber Lidl oder die Einfuhrbeschränkung für aus China stammende Textilien: Das Thema ist aktueller denn je und wird wohl auch in Zukunft mächtig Staub aufwirbeln. Was das Buch angeht, so ist es meiner Meinung nach gut geschrieben, aber die Meinung, die dort vom Autor vertreten wird, ist sehr einseitig. Natürlich ist es leicht, die Discounter an den Pranger zu stellen und sie für vieles verantwortlich zu machen, was sie auch ohne Frage sind. Aber auf der anderen Seite kann ich´s mir nicht erklären, warum dieselbe Hähnchenbrust von „Kupfer“ bei Rewe doppelt so teuer ist wie beim Aldi, obwohl es sich um dasselbe Produkt handelt. Auch in Sachen „Bio“ sind die Discounter auf dem Vormarsch, wo auch hier wieder Aldi Pionierarbeit leistet. Das sind einige Punkte, die mir auch nach zweimaliger Lektüre des Buches nicht unbedingt einleuchten wollen.

Das Beste aber ist es, wenn ihr euch selbst das Buch zulegt, um euch ein eigenes Bild von den „Zuständen“ bei den Discountern zu machen. Spannend ist es auf jeden Fall, und wer Cents, ähm, ich mein Blut geleckt hat, dem seien noch folgende Bücher als Ergänzung empfohlen:

Dieter Brandes, „Die 11 Geheimnisse des Aldi-Erfolgs“, Frankfurt/Main 2003

Dieter Brandes, „Konsequent einfach – Die Aldi-Erfolgsstory“, München 2001

Andreas Hamann und Gudrun Giese, „Schwarz-Buch Lidl – billig auf Kosten der Beschäftigten“, herausgegeben von Verdi, Berlin 2004

Naomi Klein, „No Logo – Der Kampf der Global Players um Marktmacht“, München 2001

O’Neal, Tatum – Und mein Leben beginnt jetzt

1973 wird die Schauspielerin Tatum O’Neal mit einem „Oscar“ für den Film „Paper Moon“ ausgezeichnet. Niemals hat es eine jüngere Gewinnerin dieses wichtigen Preises gegeben. Doch der frühe Ruhm bringt dem Kind kein Glück. Ohnehin wächst es in desolaten Familienverhältnissen auf, wird von der süchtigen Mutter vernachlässigt und vom cholerischen Vater Ryan O’Neal – selbst ein bekannter Darsteller – nicht nur geschlagen, sondern auch mit Drogen versorgt.

So ist ein Lebensweg quasi vorgezeichnet, der zwischen strahlenden Auftritten als prominentes Mitglied der Hollywood-High-Society und einem zunehmend desaströsen Privatleben schlingert. Frühe Drogen- und Alkoholsucht, sexuelle Übergriffe, Kämpfe mit den gleichzeitig schwachen und herrschsüchtigen Eltern, Depressionen, die Flucht in eine Ehe, die sich als neuer Lebenskampfschauplatz erweist, und ein schmutziger Scheidungskrieg sind nur einige Stationen eines langen Absturzes ins persönliche und gesellschaftliche Nichts.

Erst spät kann sich Tatum O’Neal fangen. Der Rückweg in ein geordnetes Leben ist schwierig und schmerzhaft, aber er gelingt. Mit den meisten Dämonen der Vergangenheit vermag sich O’Neal zu arrangieren. Für die zweite Lebenshälfte sieht die Prognose deutlich besser aus als für die ersten vier Jahrzehnte eines verpfuschten doch gleichzeitig ungewöhnlich ereignisreichen und interessanten Lebens. Beide Aspekte finden Erwähnung in der Autobiografie, die Tatum O’Neal selbst verfasst hat und die hier in deutscher Übersetzung vorgelegt wird.

Reiches Kind, armes Kind … Wie oft haben wir diese Melodei eigentlich schon gehört? Besonders Hollywood scheint prädestiniert für Schicksale wie das der Tatum O’Neal. Filmreif klingt, was faktisch durchaus glaubwürdig erscheint. Das nährt gleichzeitig Misstrauen, zumal sich die O’Neal-Biografie ebenso eng wie letztlich zweifelhaft an jenen Spannungsbogen hält, den die US-Amerikaner so lieben: Da gerät jemand bis auf die Spitze der gesellschaftlichen Pyramide, ist reich, berühmt, beliebt, um anschließend genauso tief zu fallen. Grausiges reiht sich an Trauriges, und wenn man als bangender und leidender Leser schon glaubt, es geht nicht mehr und die arme Tatum endgültig verloren glaubt, kommt irgendwo doch ein Lichtlein her: Kraft fährt aus Wolke Sieben in das geplagte Menschenkind. Es besinnt sich uramerikanischer Tugenden, streift ab die Fesseln der Sucht und der Erniedrigung, findet zu sich, erschafft sich neu. Aus der Gosse erhebt sich gleich Phoenix die neue Tatum O’Neal, clean und schön, selbstsicher und erfolgreich, bereit und willens, sich dem Leben zu stellen.

Solche Storys lieben Amerikaner bzw. Zeitgenoss/inn/en mit einfach gestrickten Gemütern, denn sie projizieren selbstverständlich das eigene, zur Zeit womöglich nicht gerade günstige Geschick in die Lektüre und schöpfen Hoffung: Siehe, es geht doch; da steckt ein Mensch viel tiefer im Dreck als ich und hat es geschafft, sich zu befreien. Dass dieses Lehrstück womöglich nach dem Handbuch „Wie konstruiere ich einen Bestseller?“ inszeniert ist – als Genre fällt es in die Kategorie „Frauenschicksal“ -, scheint kaum eine Rolle zu spielen. Wie im Märchen geht die Geschichte gut aus; das ist es, was primär den Erfolg solcher Bücher ausmacht. Recht perfide ist, dass „Und mein Leben beginnt jetzt“ ganz und gar nicht als Rührspiel beginnt. Die Selbstreflexion bewegt sich auf einem niedrigen Niveau, aber als einfach gehaltener, lesbar geschriebener Bericht (keine Selbstverständlichkeit bei Autobiografien) über vier schauerlicher Jahrzehnte überzeugt O’Neals Autobiografie in der ersten Hälfte durchaus.

Dann aber wird’s wüst & wohlig schmutzig. Tatum schreibt schonungslos. Sex sells, doch solches profane Denken spielt hier selbstverständlich keine Rolle: Der gefallene Engel will beichten, um anschließend seine Absolution zu erfahren. Es fällt schwer nachzuvollziehen, welchen Aufklärungswert die einschlägigen Skandal-Anekdoten besitzen, mit denen die Leserschaft konfrontiert wird. In den US-Medien wurden aufgeregt gewisse „Stellen“ zitiert, die Tatum und einen schon damals offensichtlich psychisch derangierten Michael Jackson beim Techtelmechtel zeigen. Rabenvater Ryan prügelt neidisch die talentierte Tochter und macht sie mit diversen Drogen vertraut. Die junge Melanie Griffith soll die 12-jährige Tatum in Rom unter Drogen gesetzt und zu einer Orgie verführt haben. (Dieses Ereignis wird den deutschen Lesern indes unterschlagen – offenbar konnten Griffith’ Anwälte wenigstens für die Auslandsausgaben der O’Neal-Biografie eine Tilgung erstreiten …)

So geht das weiter, während der Tonfall der Erzählerin falsch zu klingen beginnt. Den Entbehrungen der Jugend, welche sie objektiv erleiden musste, folgen die erwachsenen Jahre. Hier ist es nun nicht mehr möglich, Alleinschuld auf die feindliche Umwelt abzuschieben. Tatum O’Neal, ohne Zweifel seelisch schwer geschädigt, begibt sich auf einen Höllentrip, bei dem sie selbst am Steuer sitzt. Das passt nur bedingt zum Bild der von Gott, der Welt & der Familie gebeutelten Frau. O’Neal versucht einen Spagat: Sie leugnet ihre Exzesse nicht, Schuld sind jedoch weiterhin die Anderen. Die arme Tatum möchte doch weiter nichts als mit ihren vergötterten Kindern in Ruhe gelassen werden und hier und da einen Film drehen, weil Geld nun einmal zu den Konstanten eines stabilen Lebens gehört. Sie selbst benötigt natürlich nichts außer Liebe und Anerkennung und was der positiven Folgen einer Wiedergeburt mehr sind.

Für Tatum O’Neal mag die Niederschrift ihrer Autobiografie ein Akt der Befreiung und eine Form der Selbsttherapie gewesen sein. Da sie nach eigener Auskunft seit vielen Jahren Tagebuch führt, dürfte ihre Rückschau der Wahrheit entsprechen; sie ergibt ein Leben, das man seinem ärgsten Feind nicht wünscht. Doch Wahrheit ist etwas Subjektives. Sie besitzt zwei Seiten, von denen man hier nur die eine hört. So ungeheuerlich sind die Erinnerungen der Tatum O’Neil, dass diejenigen, die Erwähnung finden, praktisch chancenlos bleiben, sollten sie widersprechen. Ex-Ehemann John McEnroe hat es mit dem zu erwartenden negativen Ergebnis versucht. Zur Zeit gilt als „wahrer“ McEnroe primär O’Neals McEnroe, ein labiler, selbstsüchtiger, brutaler usw. Zeitgenosse. So gefällt es den Medien und jenen Tugendbolden, die es empörend finden, dass ein cholerischer Widerling gleichzeitig ein Sportass sein kann.

Noch komplizierter wird es, wenn der Drang, die „Wahrheit“ zu berichten mit sehr menschlichen Irrtümern kollidiert. „Und das Leben beginnt jetzt“ ist vor allem ein Dampfablassen der Verfasserin. (So interpretiert es übrigens auch der bloßgestellte Vater Ryan.) Die historischen Fakten sollte man hingegen lieber nicht auf die Goldwaage legen. So behauptet O’Neal u. a., der sich weiterhin in unerwiderte Liebe zu ihr verzehrende Michael Jackson habe nach ihrer Trennung den Klagesong „She’s out of my Life“ geschrieben. Das fügt sich wunderschön zur Story, ist aber falsch: Das Lied stammt aus der Feder des Komponisten und Musikers Tom Bahler.

So ist „Und das Leben beginnt jetzt“ nur eine hoffentlich heilsame Abrechnung im Gewand einer weiteren Skandalbiografie geworden. Die deutsche Ausgabe setzt dem durch den schwachsinnig „übersetzten“ Titel ein trübes Glanzlicht auf. „A Paper Life“ nennt Tatum O’Neal ihre Lebensgeschichte im Original. Sie spielt damit auf ihren ersten und größten Filmerfolg „Paper Moon“ von 1973 an, der ihr Leben in jeder Hinsicht veränderte.

Tatum Beatrice O’Neal wurde 1963 als Tochter der Schauspieler Ryan O’Neal und Joanna Cook Moore geboren. Die Eltern lassen sich wenige Jahre später scheiden. Tatum wächst bei der Mutter auf, deren Alkoholismus und Drogensucht eine kindgerechte Erziehung praktisch unmöglich machen. Vater Ryan nimmt die verwilderte Tochter später auf, erweist sich jedoch als – gelinde ausgedrückt – unkonventioneller Vater.

1973 ist er einverstanden, als Regisseur Peter Bogdanovich für sein Filmprojekt „Paper Moon“, die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung im Amerika der Depressionszeit, Tatum und ihn als Schauspieler verpflichten möchte. Der Film wird ein Riesenerfolg und Tatum O’Neal erhält mit zehn Jahren den „Oscar“ als beste Darstellerin des Jahres – die jüngste Gewinnerin dieses Preises überhaupt.

Weitere Filmerfolge: „The Bad New Bears“ (1976; dt. „Die Bären sind los“), eine Baseball-Komödie mit Walter Matthau, für die Tatum O’Neal die bisher höchste Gage für eine Kinderdarstellerin erhält, sowie „Nickelodeon“ (1976), eine zwar gefloppte aber von der Kritik hoch gelobte Komödie über die Anfänge der amerikanischen Filmindustrie.

Das schwierige Privatleben beeinträchtigt die Karriere der Schauspielerin, die sich nach der Geburt dreier Kinder während ihrer Ehe mit dem Tennisspieler John McEnroe (1986-1994) weitgehend ins Privatleben zurückzieht. Persönliche Probleme lassen O’Neal, die schon früh Erfahrungen mit Rauschgift gemacht hatte, erneut der Sucht verfallen. Erst nach mehrfachen Klinikaufenthalten gelingt es der Schauspielerin, von den Drogen freizukommen. Das Auf und Ab ihres Lebens hält Tatum O’Neal 2004 in ihrer Autobiografie „A Paper Life“ fest, die als Skandalchronik große Aufmerksamkeit erfährt, die Bestsellerlisten erklimmt und Tatum O’Neal den Weg zurück ins Rampenlicht ebnet.

Jensen, Jens – Schicksal der Pamir, Das. Biografie eines Windjammers

Sie ist ursprünglich kein besonderes Schiff – nur ein Windjammer wie viele andere, ein Frachtsegler, gebaut 1905 von |Blohm & Voss| in Hamburg für die legendäre Reederei |Laeisz|. Mit den zu diesem Zeitpunkt bereits dominierenden Motorschiffen soll sie konkurrieren, Salpeter und Guano aus dem südamerikanischen Chile nach Europa schaffen, nicht schnell, aber billig. Nüchtern ist sie, aus Stahl gebaut, ganz sicher nicht luxuriös, aber das Produkt einer Jahrhunderte alten Handwerkskunst, gebaut für das Meer und den Wind und daher elegant und mit ihren 114 Metern Länge und vier himmelhohen Masten wahrlich eindrucksvoll.

Die „Pamir“ erlebt das übliche Schicksal eines Schiffes ihrer Epoche. Im Ersten Weltkrieg entgeht sie dem Schicksal vieler Salpetersegler, aufgebracht oder versenkt zu werden, weil sie in neutralen Gewässern auf den Kanaren liegt. Sie wechselt den Besitzer, wird auf der Weizenfahrt zwischen Australien und Neuseeland eingesetzt. Die Neuseeländer beschlagnahmen die „Pamir“ im Zweiten Weltkrieg und befördern mit ihr kriegswichtiges Material in die USA.

Nach dem Krieg ist die „Pamir“ eigentlich fällig, denn die Zeit der Frachtsegler ist unwiderruflich vorbei. Doch während die letzen Windjammern abgewrackt werden, ist diesem Schiff erneut das Glück hold: Nach ihrer Rückkehr nach Europa wird die „Pamir“ ein Schulschiff. Angehende Offiziere lernen hier den Umgang mit den Elementen ohne moderne Technik. Außerdem wird Fracht geladen, was die „Pamir“ zum endgültig letzten Segler ihrer Art werden lässt.

Mit dem Glück ist es im September 1957 vorbei. Die „Pamir“ gerät mitten auf dem Atlantik in einen Hurrikan – ein Jahrhundertsturm, der ihr zum Verhängnis wird. Mit 80 meist jungen Männern wird sie binnen weniger Minuten in die Tiefe gerissen.

Auf 190 (großzügig) bedruckten Seiten lebt die faszinierende Epoche der großen Segelschiffe neu auf. Dies geschieht hauptsächlich in schlichten, aber gut gewählten Worten, zu denen sich einige wenige, doch aussagekräftige Bilder gesellen. Mit sensationellen neuen Erkenntnissen kann Verfasser Jensen nicht aufwarten. Sein Werk ist schon älter, der Untergang der „Pamir“ gilt im Großen und Ganzen als geklärt, Geheimnisse ranken sich nicht darum. Der Schiffbruch steht auch gar nicht im Zentrum der Darstellung. Fünf Jahrzehnte deutscher Seefahrt werden präsentiert – Geschichte, für die unsere „Pamir“ hauptsächlich als Beispiel und roter Faden dient.

Darüber hinaus geht es noch um etwas Anderes: die Beschwörung bestimmter Gefühle. Die „Biografie eines Windjammers“ (von englisch „to jam“ – pressen; romantische Seeleute leiten den Namen vom Geräusch des Winds in den Segeln ab) ist eine Mischung aus Sachbuch und Roman. Präzision in den historischen Ausführungen wird konterkariert durch nostalgische Seebären- (oder Blaubären?) Geschichten. Der Verfasser ist selbst Seemann, geboren um 1900; er hat die Seefahrt in der Phase ihres vielleicht größten Umbruchs kennen gelernt, als die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende währende Tradition der windgetriebenen Schiffe sich ihren Ende zuneigte.

Eine ganze Welt ging damit unter bzw. verwandelte sich in ein mystisches Reich. Noch heute wird „Seefahrt“ nicht mit den hochmodernen, computergesteuerten, reizlosen Containerschiffen oder Öltankern der Gegenwart gleichgesetzt, sondern mit den großen Segelschiffen der Vergangenheit und den Männern, die auf ihnen fuhren. Damit war es wie gesagt spätestens 1945 vorbei. So kommt der „Pamir”“eine besondere Bedeutung zu: Sie ist die würdige Repräsentantin einer verklärten, „besseren“ Vergangenheit. Die „Pamir“ weckt Gefühle, die mit der grauen Realität – das Schiff wurde erbaut, um Vogelmist billig um die Welt zu segeln – rein gar nichts mehr zu tun haben.

Diesen Aspekt der „Pamir“-Story weiß Jen Jensen kräftig zu bedienen. Vor Klischees schreckt er dabei nicht zurück; Seeleute sind bei ihm alte, harte, wortkarge, erfahrene, kauzige, bewunderte Männer, die in gemütlich verkommenen Hafenkneipen ihr Garn spinnen – eine besondere Klasse Mensch, die im Besitz besonderer Weisheiten und Erfahrungen ist, die ihnen „das Meer“ vermittelt hat (wo offensichtlich die Nazis nie vertreten waren, wenn man dem Chronisten Glauben schenken möchte …). So mag es früher freilich tatsächlich gewesen sein, zumal Jensen sich umgehend vom Nostalgiker zum Realisten verwandelt, wenn es darum geht, den recht unromantischen Arbeitsalltag auf der „Pamir“ zu beschreiben. Bei Windstärke 11, Eisregen und kirchturmhohen Wellen die Segel zu reffen, ist außerdem ein Job, von dem man sich lieber bei einem guten Glas Grog erzählen lässt.

Das zweite Leben der „Pamir“ als Segelschulschiff sicherte ihr endgültig die Unsterblichkeit. Mit ihr fuhren 1957 nicht „nur“ Matrosen, sondern junge Seeleute aus aller Welt, die zukünftige Elite ihres Standes, in das nasse Grab. Dies lud ein zwar schreckliches, aber in der Seefahrt kaum ungewöhnliches Ereignis emotional auf. Dass die „Pamir“ noch 1957 wieder eingemottet werden sollte, weil das Geld für ihren Unterhalt ausging, geriet darüber in Vergessenheit – was blieb, war die Erinnerung an ein stolzes Schiff mit ebensolcher Mannschaft, die ein tragisches Ende nahmen.

Hier wird unsere Geschichte nun fast zu schön, um wahr zu sein. Jens Jensen hat sie schon vor langer Zeit niedergeschrieben. Er ist quasi ein Zeitgenosse der „Pamir“, wuchs Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Arbeiterviertel am Hamburger Hafen auf. Welcher Zufall: Dieses Schiff kannte er, seit es auf Kiel gelegt wurde; der eigene Vater hat es mit erbaut. Später fuhr Jensen selbst zur See, wenn auch nie auf der „Pamir“. Und jetzt wird’s mystisch: In den 1960er Jahren soll Jensen als Kapitän eines Segelschoners in die Südsee gereist sein – und ward nie wieder gesehen. Glücklicherweise hatte er sein Buch über die „Pamir“ bereits verfasst; das Manuskript erhielt der |Europa|-Verlag aus Jensens Hamburger Nachlass und veröffentlichte 2002 dieses Buch, das nun auch bei |Bastei Lübbe| erschien. Tja …

Dewitz, Bodo von / Johnson, Brooks (Hgg.) – Shooting Stalin – Die \’wunderbaren Jahre\‘ des Fotografen James Abbe (1883-1973)

Es klingt fast wie ein Märchen: Ein schmächtiger, kleiner Mann aus Virginia, dem schon in seinen Zwanzigern alle Haare ausgefallen sind, reist mit seiner Kamera durch die ganze Welt, ist per Du mit den größten Film- und Theaterstars seiner Zeit, gern gesehener Gast an den Tafeln mächtiger Finanzmagnaten, Fotograf der wichtigsten Politiker, Potentaten & Diktatoren einschließlich Adolf Hitler und Josef Stalin. Gleichzeitig bricht er immer wieder aus dem Luxusleben eines etablierten Ablichters aus, vagabundiert durch gefährliche und unerfreuliche Regionen des Erdballs: die Elendsviertel des nur scheinbar glorreichen Sowjetreiches, die Schlachtfelder diverser Bürgerkriege, das Deutschland der frühen Nazi-Jahre.

Seit James Abbe (1883-1973) im Jahre 1903 einen Auftrag abgelehnt hatte, der sich als Möglichkeit der fotografische Dokumentation des ersten Motorflugs durch die Brüder Wright entpuppte, hörte er nie wieder auf die Stimme der Vernunft, sondern machte sich auf den Weg, wenn sich die Chance eines „Schusses“ bot, mit dem sonst niemand aufwarten konnte. Das Glück ist manchmal mit dem Tüchtigen; so begann Abbe seine lange Karriere 1898 mit Bildern des vor Anker liegenden US-Schlachtschiffs „Maine“, das kurze Zeit später im Hafen von Havanna in die Luft flog und zum Mitauslöser des Spanisch-Amerikanischen Kriegs wurde.

Schon bald wurde Virginia zu klein für den Mann mit der Kamera. Als Porträtist ließ er sich in New York nieder, verfeinerte in der täglichen Praxis sein beachtliches Talent, scheinbar lebensechte Aufnahmen zu inszenieren und mit Licht & Schatten besondere Akzente zu setzen. Es dauerte nicht lange, da wurde das noch junge Hollywood auf Abbe aufmerksam. In der Sturm-und-Drang-Zeit der Filmindustrie gelangen ihm Aufsehen erregende, zeitlose Bilder und Standaufnahmen der ganz großen Stars (Charles Chaplin, die Schwestern Gish, D. W. Griffiths u.v.a.), aber auch – Abbes Spezialität – Fotos der „kleinen“ Filmleute. Statisten, Beleuchter, Tänzerinnen.

Die Weltwirtschaftskrise von 1929 machte dem Spaß der „Roaring Twenties“ ein Ende, der Tonfilm trieb die Stars von Gestern ins Aus, moralinsaure Spießer und Tugendbolde übernahmen in Hollywood die Zügel. Doch James Abbe war schon weit weg in Europa, wo er den „Tanz auf dem Vulkan“ der Jahre vor dem II. Weltkrieg in Paris, London oder Berlin in meisterhaften Fotos festhielt, zu denen er – auch eine Besonderheit – die Artikel selbst schrieb. Als „Tramp-Fotograf“ reiste er den Ereignissen hinterher, wurde nicht nur wegen seiner Fotokunst, sondern auch wegen seiner Allgegenwärtigkeit ein gefragter Mann. Dabei hatte er nie Angst, sich die Finger schmutzig zu machen und sich in Gefahr zu begeben. So war er 1929 an den zahlreichen Fronten des Mexikanischen Bürgerkriegs zu finden, wo er praktisch als einziger Fotoreporter unter schwierigsten Bedingungen seinem Job nachging. Dies wiederholte er 1936 in Spanien.

James Abbe schien als „neutraler“ Amerikaner in Europa überall Zugang zu haben. In den frühen 1930er Jahren schloss das auch die nazideutschen Machthaber ein. Hitler, Göring, Goebbels: Von diesen und anderen Gewaltherrschern gelangen Abbe oft entlarvende Aufnahmen. Sein größter Coup gelang ihm 1932, als er einen angeblich kranken Stalin im Moskauer Kreml fotografieren durfte – ein unerhörtes Novum.

Noch vor dem II. Weltkrieg kehrte Abbe in die Vereinigten Staaten zurück. Als Auslandskorrespondent war er zu alt, deshalb wechselte er das Metier und ging zum Hörfunk, wo ihm mit der üblichen Energie eine neue Karriere gelang. In den 1960er Jahren ging Abbe in den Ruhestand. 1973 starb er neunzigjährig. Fotografiert hatte er seit über drei Jahrzehnten kaum noch.

Man sollte meinen, dass ein Mann mit Abbes Meriten zu den anerkannten Größen seines Metiers gehört. Tatsächlich ist sein Werk heute nur noch einer recht kleinen Schar einschlägiger Fotohistoriker bekannt. James Abbe ist nie ein Chronist seiner eigenen Arbeit gewesen, die über viele Länder verstreut und teilweise verloren ist. Erst ein Vierteljahrhundert nach seinem Tod beginnt man ihn neu zu entdecken.

Vom 2. Oktober 2004 bis zum 9. Januar 2005 fand im Museum Ludwig Köln die Ausstellung „Shooting Stalin. Die ‚wunderbaren‘ Jahre des Fotografen James Abbe (1883-1973)/The ‚Wonderful‘ Years of Photographer James Abbe (1883-1973)“ statt. Deutschland ist ein durchaus angemessener Ort, das Werk eines Mannes zu würdigen, der als Amerikaner ein wichtiges Element auch der deutschen Pressegeschichte gewesen ist. Das hier vorgestellte Buch ist gleichzeitig der Katalog zu besagter Ausstellung. Er liegt zweisprachig vor; auf den Textseiten findet sich links die englische, rechts die deutsche Fassung.

Inhaltlich gliedert sich „Shooting Stalin“ in drei Abschnitte. Teil 1 berichtet kursorisch von Leben und Werk des James Abbe (S. 1-49). Es folgt eine lange Strecke mit exemplarischen Fotos aus den verschiedenen Schaffensphasen (S. 50-287). Vielen bekannten Bildern, die z. B. Rudolph Valentino, Gloria Swanson oder eben Stalin in Ikonen verwandelten, werden selten oder gar nicht gesehene Aufnahmen gegenüber gestellt. So war die Existenz der Abbeschen Fotos von Thomas Mann bisher unbekannt.

Die einzelnen Fotokapitel werden von Texten aus Abbes Feder eingeleitet und kommentiert. Da er die Angewohnheit hatte, auf den Rückseiten der Abzüge Orte, Daten und knappe Beschreibungen zu vermerken, ließen sich viele Bilder gut chronologisch und thematisch einordnen, was sie gleichzeitig zu historischen Quellen macht. Dass ihre Wiedergabequalität eindrucksvoll hoch ist, muss wohl nicht eigens angemerkt werden.

Teil 3 sammelt einige Aufsätze, die einzelne Aspekte des Menschen und Fotografen James Abbe zusätzlich aufhellen (S. 288-331). Brooke Johnson interpretiert unter dem Titel „Mach das Foto, hol die Geschichte“ Abbes Wirken als Teil der Entstehung des modernen Fotojournalismus. Sehr US-amerikanisch stilisiert er ihn dabei zum Selfmademan hoch, der für sich den „Amerikanischen Traum“ realisierte und gleichzeitig Geschichte schrieb. Da hat er Recht, aber vollständig wird das Abbe-Bild wohl nur unter Berücksichtigkeit der Tatsache, dass er viermal verheiratet war und drei Familien auf mehreren Kontinenten hatte – das war der Preis, den ein „Globetrotter-Fotograf“, primär jedoch seine Angehörigen zahlen mussten; Abbe zahlte ihn jedenfalls lieber als seine Gattinnen, Geliebten & Kinder.

Daniel Kothenschulte erinnert in „Der amüsante Teil der Erotik“ an „James Abbes Beitrag zur Hollywood-Porträtfotografie“. Der Fotograf war der richtige Mann zur richtigen Zeit am rechten Ort. Abbe nahm seinen Job sehr ernst, aber er hatte viel Sinn für Humor und war der Selbstironie fähig. Offensichtlich verfügte er über ein einnehmendes Wesen, gewann das Vertrauen seiner Modelle, brachte sie dazu, aus sich herauszugehen. Das Ergebnis sind erstaunliche, in jeder Hinsicht sinnliche Bilder aus einer Zeit, die man gemeinhin für zugeknöpft und allzu sittenstreng hält, wenn man die typischen, steif posierenden Gestalten im gestärkten Sonntagsstaat betrachtet. Wie Abbes Bilder beweisen, lebten in den 1920er und 1930er Jahren Menschen aus Fleisch und Blut. Plötzlich erscheinen vergangene Zeiten gar nicht mehr so fremd wie aus einem Geschichtsbuch.

Sehr interessant weil kritisch äußert sich Bodo von Dewitz im Kapitel „Was der Amerikaner sah. James Abbe in Deutschland“ zum Fotografen aus Leidenschaft. Er rundet das Bild ab, indem er Abbe als von seiner Arbeit besessen und deshalb angstlos, unbekümmert aber durchaus eitel und vor allem stets in Gefahr, instrumentalisiert zu werden bzw. sich instrumentalisieren zu lassen, schildert: James Abbe war sowohl Künstler als auch Geschäftsmann. Er ließ sich seine Arbeit sehr gut bezahlen. Der moralische Aspekt interessierte ihn weniger. So wusste er genau, dass Stalin ihm keine Gunst gewährte, als er gerade ihn zur Fotoaudienz vorließ, sondern den Amerikaner als Mittel zum Zweck wählte, vor dessen Linse er sich als kraftvoller Staatsmann inszenierte. Wie sehr sich dies der Manipulation nähert, belegen eindrucksvoll die Kontaktkopien eines Fototermins mit Joseph Goebbels (S. 250), die Abbes Fähigkeit beweisen, wie ein Bildhauer aus einem unsympathischen, misstrauischen Finsterling einen durchgeistigten aber tatkräftigen Mann zu „erschaffen“. Zufrieden waren beide – der wie durch ein Wunder medienwirksam geschönte Goebbels wie Abbe, der wieder für gutes Geld einen Machtmenschen „geschossen“ hatte. Sicherlich auch deshalb sehen wir die ‚wunderbaren Jahre‘ des Untertitels in Anführungsstriche gesetzt.

Abgeschlossen wird „Shooting Stalin“ durch ein ausführliches Verzeichnis der abgebildeten Fotos, denen die ursprünglichen Pressetexte angefügt wurden (S. 332-348), ein „Kleines Lexikon der fotografierten Personen (Auswahl)“ (S. 348-356) sowie eine Bibliografie samt Literaturliste (357/58).

„Shooting Stalin“ ist kein preisgünstiges Buch. Dieses Mal trifft der alte Spruch indes zu: Qualität hat ihren Preis. James Abbes Fotos erfahren auf feinem Kunstdruckpapier und großformatig die Behandlung, die ihnen zusteht. Man schaut und ist fasziniert. Dieses Gefühl bleibt auch im Wissen um die Schattenseite der Abbeschen Fotokunst unbeeinträchtigt: Kunst wird von Menschen gemacht und die sind – glücklicherweise – niemals unfehlbar.

Adamczak, Bini – Kommunismus – Kleine Geschichte, wie endlich alles anders wird

Während die Buchhändlerin auf die Kasse eintippt, weiß ich nicht so recht, was ich mit dem kostenlosen Lesezeichen anfangen soll. Neugierig wende ich den kleinen Streifen Papier hin und her. Auf einer Seite springt mir eine Karikatur ins Auge: eine Frauenfigur in einem Arbeitskittel. Sie hebt die rechte Hand zur Faust und stützt die linke in die Hüfte. Darunter steht das Wort »Kommunismus«. Arbeiter aller Länder, vereinigt euch! Es lebe die Revolution!

Das Lesezeichen mit der Figur ist ein Werbemittel aus dem |Unrast|-Verlag. In dem sozial motivierten und gesellschaftskritischen Verlagsprogramm findet sich schnell das entsprechende Buch. Auf dem Cover des Bändchens erkenne ich die trotzige Frauenfigur wieder. Ich kann mir ein Lächeln nicht verkneifen und blättere los.

Die ersten zwei Drittel lesen sich wie im Flug. In kurzen Abschnitten führt Adamczak in die Kritik der politischen Ökonomie ein, erklärt dabei, was Arbeit ist, was der Markt und was eine Krise. Marx für Anfänger. Dabei klingen die Worte so, als wären sie für ein neugieriges Kind bestimmt. Ganz klar, ganz einfach, ohne Schnörkel. Ich fühle mich wie bei der »Sendung mit der Maus« und stelle fest, dass mich diese Textform amüsiert. Schriften über den Kommunismus gelten doch gemeinhin als staubtrocken oder ideologisch verseucht. Das letzte Drittel liefert dann den notwendigen ernsthaften Ansatz, in dem sich Adamczaks eigentliches Anliegen verbirgt. Ein bisschen Ideologie muss dann doch sein. Sie stellt fest, dass die Zeiten, in denen der Kommunismus als alternatives Gesellschaftssystem diskutiert wurde, vorbei sind. Die Intellektuellen sind frustriert, der Kapitalismus hat gewonnen. Und nun?

Neben dem Anspruch des Kommunismus, ein zum Kapitalismus alternatives Gesellschaftssystem zu entwerfen, wird leicht vergessen, dass der Kommunismus dem Kapitalismus entspringt – und zwar als dessen kritischer Gegenentwurf. Diese Kritik verändert sich gemeinsam mit dem Kapitalismus und darf nicht einschlafen. Kommunist zu sein, ist anachronistisch. Stattdessen gilt es, sich kritisch mit dem Kapitalismus auseinanderzusetzen. Das kapitalistische System ist schließlich noch immer nicht gerecht und daher kritikwürdig. Ungerechtigkeiten aufzeigen, erklären und über alternative Lösungen nachdenken – das ist ein hehrer Weg in die Zukunft. Adamczaks Buch appelliert an den Leser, nicht wegzuschauen und zu schweigen, wenn durch eine allzu freie Marktwirtschaft Not und Elend entstehen. Adamczak wünscht sich mehr Diskussion und Offenheit im Umgang mit gesellschaftskritischen Fragen.

Adamczaks Anspruch in allen Ehren, aber im Grunde führt sie den Begriff des Kommunismus ad absurdum. Ihr Bemühen, das politisch vorbelastete Wort auf eine neue Bahn zu lenken, schlägt fehlt. Ihr Text entspringt dem so genannten »Trauma 89«, das intellektuelle Bücherstuben heimgesucht hat. Sie wünscht sich eine regere Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, keine Stagnation und kein sehnsüchtiges Revolutionsgehabe. So weit, so gut. Doch die Autorin scheitert an einem Spagat. Auf der einen Seite beerdigt sie den Kommunismus von gestern, auf der anderen Seite spielt sie Geburtshelfer des Kommunismus von morgen. So verfängt sie sich manchmal in der einen, manchmal in der anderen Argumentationslinie. Warum macht sie es sich eigentlich so schwer und schleppt das politisch vorbelastete Wort »Kommunismus« mit sich herum? Eigentlich geht es ihr doch um etwas anderes.

Ich lege das Buch zur Seite und wende wieder das Lesezeichen zwischen meinen Fingern. Die Frauenfigur darauf blickt mir jetzt mit anderen Augen entgegen. Die kleine Arbeiterin erscheint nun eher verträumt und hoffnungsvoll, weniger kämpferisch und revolutionär. Wahrscheinlich wünscht sie sich eine gerechtere Welt für alle. Um solch eine Welt möglich zu machen, beginnt sie zu erklären, was genau ungerecht ist und welche Ursachen es dafür gibt. Sie argumentiert auf der Grundlage von Marx. Sie möchte die Welt verbessern. Aber eine Kommunistin – das ist sie nicht.

Nibelungen-Festspiele Worms

Uns ist in alten maeren
Wunders viel geseit
Von helden lobebaeren
Von grozer arebeit
Von freuden, hochgeziten
Von weinen und von klagen
Von küener recken striten
Muget ihr nun wunder hoeren sagen.

Aus dem Nibelungenlied

Vor vier Jahren begann Worms damit, Nibelungenfestspiele (http://www.nibelungenfestspiele.de) durchzuführen und wurde im ersten Jahr bundesweit als Provinz noch sehr belächelt. Ab dem zweiten Festspieljahr sah das schon anders aus und in diesem Jahr lief es bislang am besten: Alle 13 Vorstellungen der Hebbel-Inszenierung vor dem Nordportal des Wormser Doms waren ausverkauft. Mehr als ausverkauft geht nun einmal nicht, aber über eine künftige Verlängerung von zwei auf drei Wochen wird nun nachgedacht.

Die rund 19.000 Zuschauer aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz bejubelten das Stück von Karin Beier sowie das Starensemble um Maria Schrader, Joachim Król, Manfred Zapatka, André Eisermann, Götz Schubert und Wiebke Puls. „Eine solche Resonanz wie in diesem Jahr haben wir überhaupt noch nicht erlebt. Die Festspiele 2005 verliefen sehr positiv, ich bin rundum zufrieden“, sagt Festspielintendant Dieter Wedel.

Worms kann stolz auf seinen Glanz und Glimmer sein, denn vor fünf Jahren war es ein großes Wagnis, ohne Staatstheater und entsprechende Infrastruktur Festspiele in dieser Größe zu starten. Die Organisation, die im Vergleich zu anderen Festspielstädten nur von wenigen Machern betrieben wird, läuft reibungslos. Die Wormser sind stolz auf ihre Festspiele und das ist wichtig, denn wenn Steuergelder ausgegeben werden, ist es notwendig, dass solch große Events von der Bevölkerung breit unterstützt werden.

Das Rahmenprogramm wurde in diesem Jahr stark aufgewertet und mit hochkarätigen Namen besetzt. Zu den Höhepunkten zählten Veranstaltungen mit Manfred Krug, Christian Quadflieg, Otto Sander und dem Kabarettisten Werner Schneyder. Die Besucherzahlen übertrafen alle Erwartungen: Knapp 6.000 Gäste kamen zu den Lesungen, Konzerten und den Theaterbegegnungen. Das Herrnsheimer Schloss wurde als zweite Festspielstätte hervorragend angenommen.

Die Vorhaben, Worms durch die Nibelungen touristisch aufzuwerten, sind vollkommen aufgegangen. Durch die Festspiele und auch die Nibelungen-Thematik, die sich durch das ganze Jahr hindurchzieht, kommen mehr und mehr Touristen in die Stadt.

In eine riesige VIP-Lounge verwandelte sich der romantische Heylshofpark rund um den Dom: Bunte Lichter, Wasserfontänen, der dunkelrote Drachenblutbrunnen und klassische Klänge sorgten für eine stimmungsvolle Atmosphäre vor und nach den Aufführungen. Das elegante Ambiente zog
jeden Abend hunderte Besucher an. „Einfach sagenhaft“, lautete das Urteil der Gäste. Und mittlerweile zieht auch es auch viele Prominente von Salzburg über Bayreuth nunmehr regelmäßig nach Worms. Das Ambiente vorm Dom ist auch einzigartig. Die erscheinende Prominenz, die zu den Festspielen über sämtliche Aufführungen hinweg anreist, befindet sich natürlich auch immer im Blickpunkt der lokalen Presse, aber diese hier ausführlich zu benennen, erscheint mir nicht relevant. Jedenfalls gibt es bereits bei der Premiere, wie auch sonst allenorts üblich, einen breiten roten Teppich und jede Menge VIPs, umlagert von Fotografen. Der Medienrummel von rund 200 Medienvertretern bei der Premiere war schon sehr ungewöhnlich, zumal es sich ja „nur“ um eine Wiederaufführung der Hebbel-Inszenierung gehandelt hatte. Die Party nach der Premiere im festlich geschmückten, an den Dom grenzenden Heylspark ist mit all seinen Lichtern und Fackeln ein unvergleichliches Erlebnis, das man so nicht anderweitig zu sehen bekommt – weder in Salzburg noch in Bayreuth. Diese Party ging bis morgens um acht Uhr.

Trotz des verregneten Sommers blieb es in Worms während der Aufführungen die meiste Zeit trocken. Nicht eine einzige Vorführung mussten die Veranstalter – im Gegensatz zum Vorjahr – wegen schlechten Wetters absagen. Der Kampf mit dem Wetter – das zudem abends sowohl für die Schauspieler auf der Bühne als auch auf der hohen, windigen Tribüne für Sommerverhältnisse mitunter sehr kalt war – ist bei Freilichtspielen eine große Herausforderung. Einmal musste nach einem Regenbruch kurz vor der Pause fast abgebrochen werden – das Mikrofon von Kriemhild drohte den Dienst zu versagen –, aber auch hier gab es trotz diesen Widrigkeiten am Ende den gewohnten stürmischen Applaus. Doch diesmal applaudierten auch die Schauspieler umgekehrt dem Publikum und demonstrierten damit ihrerseits, dass auch diesem für das tapfere Ausharren Dank gebührte. Die Wormser Bevölkerung und die Sponsoren stehen zu ihren Nibelungen-Festspielen. Nach nur vier Jahren hat es Worms geschafft, sich bundesweit als Festspielstadt einen renommierten Namen zu erobern und als kultureller Leuchtturm zu etablieren.

Die Zuschauer saßen dieses Jahr noch einmal zwei Meter höher als letztes Jahr: auf einer 18 Meter hohen Tribüne, 26 Meter in der Breite. Für Rollstuhlfahrer wurden Rampen eingerichtet. Die normalen Preise rangierten von 25 Euro für die oberen Ränge bis zu 85 Euro für die untersten Plätze. Aber es gab auch Logen zu Preisen von 260 Euro für Einzelplatzkarten und 498 Euro für zwei Personen.

Im kommenden Jahr wird Dieter Wedel auf der Südseite des Doms „Die Nibelungen“ mit einem neuen Ensemble inszenieren. Angedacht ist eine überarbeitete Fassung von Moritz Rinke mit neu geschriebenen Szenen und Schwerpunkten. Die Geschichte endet in der Saison 2006 mit Siegfrieds Tod. Die grausame Rache der Kriemhild wird dann in der Fortsetzung des Stoffes im Sommer 2007 zu sehen sein.

So weit der Einstieg, aber schauen wir uns das Geschehen auch noch im Einzelnen an.

_Hebbel-Inzenierung der Nibelungen von Karin Beier_

In den bisherigen vier Jahren der Wormser Nibelungen-Festspiele mit unterschiedlichen Inszenierungen sahen insgesamt etwa 90.000 Zuschauer das Nibelungen-Drama. Seit zwei Jahren ist Dieter Wedel Intendant des Epos um Liebe und Hass, Politik und Rache am Originalschauplatz vor der atemberaubenden Kulisse des Wormser Doms. Dieses Ambiente ist theatertechnisch sensationell.

Karin Beiers Stück ist eine ernst zu nehmenden Inszenierung. Ihre Fassung ist intimer und konzentrierter als das Rinke-Stück der ersten beiden Festspieljahre. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf den Frauengestalten und ist damit eine sehr andere Nibelungengeschichte als die von Moritz Rinke. Die Geschichte der Frauen im Stück ist viel intensiver und auch die dunkle Seite Siegfrieds wird mehr beleuchtet. Im Grunde haben alle männlichen Schauspieler bei Beier neben den mitreißend intensiven Damen Maria Schrader und Wibke Puls einen schweren Stand. Sonstige Identifikationsmöglichkeiten gibt es da fast keine. Erstmals war dieses Jahr die Inszenierung tontechnisch zudem in Dolby Surround zu hören. Durch Highend-Digitaltechnik mit einem 5.1-Surround-System wurde die eindrucksvolle Inszenierung akustisch rundum erlebbar.

Dabei sind die Protagonisten in Worms auch für die Bevölkerung ansprechbar. Soweit es die aufwendigen Proben und fast täglichen Auftritte erlauben, integrieren sie sich in das städtische Leben, und vor den Vorführungen finden täglich abwechselnd mit allen lockere Talkgespräche bei freiem Eintritt für das interessierte Publikum statt.
Man sieht sie also zwar ständig in der Stadt, aber bei diesen Gesprächen hat man die Gelegenheit, ganz nah an die Darsteller heranzukommen und „live“ etwas über ihre Arbeit auf der Dombühne, aber auch viel „Privates“ zu erfahren. Die Schauspieler zeigen sich dem Publikum und allen Beteiligten dankbar: So fand ein Besuch der Mitarbeiter in der Wäscherei der Lebenshilfe statt, wo man sich bei den Behinderten bedankte, welche die anfallende Wäsche während der Festspielen waschen, trocknen und pflegen. Bei 13 Aufführungen werden alleine schon circa 1.100 Kostümteile gebügelt. Für die Behinderten selbst war das ein großes Ereignis, stolz zeigten sie, wie sie arbeiten, und manch einer brachte auch seine persönlichen Nibelungen-Sammelstücke mit zum Vorzeigen. Auch für den Weltladen waren sie aktiv und kamen zu dessen mit dem entwicklungspolitischen Netzwerk Rheinland-Pfalz organisierten „Nibelungen-Brunch“, wo ein Frühstück mit fair gehandelten Produkten, Musik und Stars zum Anfassen aufgeboten wurden.

Da die Festspiele immer nahtlos in das danach beginnende Bachfischfest – eines der größten Volksfeste am Rhein – übergehen, unternahmen die Schauspieler auch einen gemeinsamen Rundgang über den Festplatz. Diese Führung übernahm André Eisermann, der aus einer Wormser Schaustellerfamilie stammt und das Backfischfest von klein auf sehr intim kennt. Nicht dabei sein konnte Hagen-Darsteller Manfred Zapatka, der als Einziger länger als geplant in Worms verweilen musste. Während der Festspiele hatte er bereits große Schmerzen im Knie, lehnte schmerzstillende Mittel bei den Vorführungen allerdings ab, damit er „unvernebelt“ auftreten konnte. Sofort nach Ende der Festspiele musste er im Wormser Krankenhaus am Meniskus operiert werden und benötigte noch Schonung; die erste Zeit konnte er natürlich nur an Krücken gehen. Das zeigt aber auch ein eigentliches Problem, denn wenn ein Schauspieler generell mal bei den Festspielen ausfällt, steht keine Zweitbesetzung zur Verfügung. Im Vorjahr zum Beispiel war auch schon Wiebke Puls bei den Proben in eine Bühnenöffnung gestürzt und hatte sich „glücklicherweise“ dabei nur das Nasenbein gebrochen. Der damals nachfallende Joachim Kròl blieb unverletzt. Das Ensemble stand trotzdem einige Tage unter Schock.

_Dieter Wedel_
Seit mehr als einem Jahr ist Dieter Wedel Intendant der Festspiele. Er promovierte an der Freien Universität Berlin in den Fächern Theaterwissenschaften, Philosophie und Literatur. Unzähligen Theatererfahrungen folgten eine kurze Zeit als Hörspielautor und dann Engagements fürs Fernsehen sowie erste Filme: „Einmal im Leben“ war der erste TV-Mehrteiler, womit die Erfolgsstory der Familie Semmeling begann. Es folgte die Fortsetzung „Alle Jahre wieder“ und dann gründete er seine eigene Produktionsfirma. Seitdem ist er Autor, Regisseur und Produzent in einer Person. Neben den großen Fernsehproduktionen wie „Kampf der Tiger“ oder „Wilder Westen inclusive“ bleibt er weiterhin Theaterbühnen treu. Für seine TV-Mehrteiler „Der große Bellheim“, „Der Schattenmann“ und „Die Affaire Semmeling“ erhielt er auch international zahlreiche Auszeichnungen. 2002 inszenierte er die Nibelungenuraufführung von Moritz Rinke. Danach wurde er Intendant der Wormser Festspiele.

_Karin Beier_
Sie ist renommierte Theater- und Opernregisseurin. Begonnen hatte sie mit einer eigenen Theatergruppe und führte Shakespears Dramen im Original und unter freiem Himmel auf. Dann folgten eine Regieassistenz am Düsseldorfer Schauspielhaus und seither eigene Arbeiten. Sie inszenierte die deutsche Erstaufführung von „Die 25. Stunde“ von George Tabori sowie Shakespeares „Romeo und Julia“, für das sie 1994 zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt wurde. 1995 erarbeitete sie mit vierzehn Schauspielern aus neun Ländern eine mehrsprachige, multikulturelle Inszenierung des „Sommernachttraums“. 1997 schloss sich mit Bizets „Carmen“ ihre erste Oper an. Es folgten unter anderem „99 Grad“, „Das Maß der Dinge“ und „Der Entertainer“. Dieses Jahr inszenierte sie mit kleinen Veränderungen zum zweiten Mal in Worms ein neues Stück nach der klassischen Textvorlage von Friedrich Hebbel. Karin Beier, die, wenn sie nicht arbeitet, ganz alternativ im Norden Schottlands lebt und kleine Lämmer auf die Welt holt, schaut auf ihre zwei Jahre Festspielzeit in Worms gerne zurück. Nachdem sie vor zwei Jahren noch Bedenken hatte, mit Schauspielern aus unterschiedlichsten Sphären des Films und Theaters zu arbeiten, hat sich alles für sie „extrem gelohnt“ und die Ängste waren unbegründet. Keiner des Ensembles hat Starallüren, und nach einem Jahr nach Worms zurückzukommen, war dieses Mal wie eine Heimkehr.

_Maria Schrader_
Sie ist wohl eine der erfolgreichsten deutschen Schauspielerinnen heutzutage. Sie begann ihre Ausbildung am Max-Reinhard-Seminar in Wien. Dann spielte sie an Schauspielhäusern unter anderem in Hannover und Bonn. Ihr Kinodebüt gab sie mit „Robby, Kalle, Paul“. Bekannt wurde sie dann mit Doris Dörries Komödie „Bin ich schön?“. 1999 erhielt sie den Silbernen Bären und den Deutschen Filmpreis für ihre Rolle in „Aimée und der Jaguar“. Von Anfang an spielt sie in Worms die Kriemhild.

_Wibke Puls_
Ausbildung an der Berliner Hochschule der Künste. Danach Schauspielhaus Hamburg. Sie spielt auf mitreißende Art seit Beginn der Festspiele die Brunhild. Vor ihrer Schauspielkarriere machte sie Musik, was sie in den letzten beiden Festspieljahren für die Wormser durch ihren einzigartig intensiven Konzertauftritt mit dem Festspielensemble auch unter Beweis stellt. Sie tritt in Beiers Stück mit nacktem Oberkörper auf, was dieses Jahr in der „Regenbogen-Presse“ für Aufsehen sorgte. „Bild“-Zeitungsüberschrift mit entsprechendem Foto: „Brusthild und die Nippelungen“. Selbst die „Münchner Abendzeitung“ meldete „Die nackten Nibelungen in Worms“. Trotz der kargen Bekleidung hat sie die aufwendigste Maske bei den Aufführungen, denn in der ersten Hälfte vor ihrer Verheiratung mit Gunther trägt sie am ganzen Körper amazonenwilde Tattoos. In der aktuellen Inszenierung der Nibelungen von den Münchner Kammerspielen spielt sie interessanterweise anstelle der Brunhild die Kriemhild und erhielt dafür den Alfred-Kerr-Darstellerpreis.

_Manfred Zapatka_
Ausgebildet an der westfälischen Schauspielschule Bochum, danach an Theatern wie Stuttgart und München engagiert. Er ist einer der großen Charakterdarsteller im deutschen Film und Fernsehen, bekannt z. B. aus der TV-Serie „Rivalen der Rennbahn“ (1989) und in Dieter Wedels Mehrteiler „Der große Bellheim“ (1992). Für die Rolle des Heinrich Himmler in „Das Himmler-Projekt“ (2002) wurde er mit dem Adolf-Grimm-Preis ausgezeichnet. Bei den Nibelungen-Festspielen trat er als Hagen auf. Auffallend war beim Publikumsgesprächsabend mit ihm sein politisches Engagement. Zwar rief er nicht direkt zur Wahl der Linkspartei auf, übte aber starke Kritik an der SPD, für die er früher immer eintrat.

_André Eisermann_
Mit der Rolle des „Kaspar Hauser“ wurde Eisermann 1993 aus dem „Nichts“ heraus international bekannt. Er wurde dafür mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so z. B. mit dem Darstellerpreis des Internationalen Filmfestes von Locarno, dem Bayrischen Staatspreis und dem Deutschen Filmpreis. Danach folgte der ebenso grandiose Film „Schlafes Bruder“. Für diese Rolle war er für den Golden Globe nominiert. Seitdem er den Bundesfilmpreis bekam, ist er Akademie-Mitglied der Bundesfilmpreisverleihung. Allerdings ist er auch durch verschiedene Lesungen sehr bekannt geworden. Seit Beginn der Wormser Nibelungenfestspiele hatte er die Rolle des Giselher inne. Derzeit spielt er in Füssen im Musical „Ludwig II.“ dessen Bruder Otto. Als Wormser ist er seit seiner Kindheit mit dem Nibelungenthema vertraut, und selbst wenn er im nächsten Jahr nicht mehr zur Besetzung gehören wird, gibt es wie bisher etwas Neues von ihm im Rahmenprogramm der Festspiele. Im nächsten Jahr wird es endlich auch wieder einen großen Film mit ihm geben, ein Projekt, über das bislang aber nirgendwo etwas verraten wird.

_Joachim Król_
Als einer der bekanntesten Schauspieler Deutschlands wird er nach wie vor hauptsächlich mit seiner Rolle im Film „Der bewegte Mann“ von 1994 identifiziert, den er nach seinen Engagements an deutschen Theatern spielte. Für die dortige Rolle des leidenden Norbert Brommer an der Seite von Til Schweiger erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, so etwa den Bambi und den Deutschen Filmpreis. Danach folgten „Rossini“ und, ebenfalls zusammen mit Maria Schrader, der Film „Bin ich schön?“ von Doris Dörries. Auch internationale Filmprojekte folgten („Zugvögel … einmal nach Inari“ und „Gloomy Sunday – Ein Lied von Liebe und Tod“). Als Commissario Brunetti spielte er in Donna Leons Fernsehkrimis und war zuletzt im Kino als Killer in „Lautlos“ zu sehen. In Worms spielte er den König Gunther.

_Götz Schubert_
Er studierte an der staatlichen Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin. Zunächst Theater auf den Bühnen in Berlin, dann zahlreiche Fernsehproduktionen wie „Der Zimmerspringbrunnen“, „Die Affaire Semmeling“ von Dieter Wedel und der Kinofilm „NAPOLA“. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Für die Wormser ist er mittlerweile der „klassische“ Siegfried-Darsteller geworden und spielte diese Rolle schon bei der modernen Interpretation von Moritz Rinke in den ersten beiden Festspieljahren. Im letzten Jahr fiel er aus, wurde aber für die Wiederauflage des Beierschen Hebbel-Stückes erneut als Siegfried verpflichtet und ersetze Martin Lindow, der zuletzt den Siegfried spielte. Die Siegfried-Rolle bei Beier ist weniger männlich angelegt als die des kahlköpfigen Haudegen bei Rinke. Zuletzt drehte Schubert mit Veronika Ferres den ZDF-Zweiteiler „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, davor stand er für Dieter Wedels Zweiteiler „Papa und Mama“ vor der Kamera, der im Januar 2006 im Fernsehen zu sehen sein wird. Im Maxim-Gorki-Theater in Berlin spielt er aktuell neben Jörg Schüttauf in der „Dreigroschenoper“ und als nächstes ebenfalls dort im „Zerbrochenen Krug“ den Dorfrichter.

_Tilo Keiner_
Er war auf der London Academy of Music and Dramatic Art. Neben verschiedenen Theaterengagements (u. a. Trier, Nürnberg und Köln, Hamburg, Bochum, Nürnberg) ging er auch zum Film und Fernsehen, z. B. für TV-Serien wie „SOKO 5113“ oder „Girlfriends“. Dann spielte er im Film „Saving Private Ryan“ unter der Regie von Steven Spielberg. Auch im deutschen Film „Der Ärgermacher“ war er zu sehen. Derzeit gastiert er auch als Musicaldarsteller Harry im ABBA-Stück „Mamma Mia!“ in Stuttgart. Bei den Nibelungen spielte er den Werbel an Etzels Hof und war damit dieses Jahr neu im Ensemble. Er ersetzte die Rolle von Andreas Bikowski (den Werbel vom letzten Jahr).

_Isabella Eva Bartdorff_
Sie spielte die skurrile Tochter Rüdigers und glänzte an der Seite von André Eisermann, der sie als Giselher in diesem Stück heiraten sollte, ganz besonders. Sie studierte Schauspiel an der Frankfurter Hochschule für Musik und Darstellende Kunst und war bereits an Theaterhäusern in Hamburg, Frankfurt, Essen, Bonn und Darmstadt.

_Itzhak Fintzi_
Er gilt in Bulgarien als Superstar und spielte vorm Wormser Dom auf seine charismatische Art den König Etzel. Dass er viele Passagen auf Bulgarisch spricht, macht seine Rolle besonders atmosphärisch.

_Sebastian Hufschmidt_
Er gibt den Gerenot, den Bruder des Königs Gunther. Er spielte an Theatern u. a. in Düsseldorf, Braunschweig und Hannover.

_Josef Ostendorf_
An Schauspielhäusern spielte er in Hamburg, Basel und Zürich. Bekannt ist er auch aus Fernsehfilmen wie „Wolffs Revier“, „Die Männer vom K3“, „Tatort“, „Bella Block“ und „Adelheid und ihr Mörder“. Mehrere Kinofilme sind auch darunter, z. B. „Der Campus“. Bei den Nibelungenfestspielen ist er von Anfang an dabei und spielte in den ersten beiden Jahren den Königsbruder Gernot. Bei Katrin Beier hatte er dagegen die Rolle des Volker von Alzey.

_Michael Wittenborn_
Er spielte an Theatern Hamburg und München. Für Dieter Wedel spielte er im Fernsehen u.a. „Der Schattenmann“, „Der große Bellheim“ und „Die Affaire Semmeling“. Bei den Festspielen spielte er den Markgraf Rüdiger von Bechelarn und ist der Ehemann der Regisseurin Karin Beier.

_Wolfgang Pregler_
Lernte an der Hochschule für Künste in Berlin. Schauspielerfahrung an den Theatern München, Berlin und Hamburg. Ebenso Film- und Fernsehproduktionen wie „Die Affaire Semmeling“ in der Regie von Dieter Wedel (2001) und der internationale Kinofilm „Rosenstraße“ mit Maria Schrader (2003). Auch er gehört zur Urbesetzung und spielte in den ersten beiden Jahren den König Gunther, bei Karin Beier allerdings Dietrich von Bern. Er stammt von den Münchner Kammerspielen.

Nach der letzten Vorstellung, die wie gewohnt mit langem Schlussapplaus endete, drückte Karin Beier jedem Schauspieler ein Glas Sekt in die Hand und es gab zahlreiche Küsschen zu sehen. Auch als die Zuschauertribünen dann leer waren, ging es nochmals gemeinsam auf die Bühne, um Abschied von der großartigen Kulisse vor dem Kaiserdom zu nehmen. Darauf folgte die Abschiedsparty mit Livemusik und einer Stimmung aus Heiterkeit und Melancholie. Lange Umarmungen und auch Tränen, denn dieses Ensemble, das sich menschlich so gut verstand, wird in dieser Zusammensetzung nie wieder zusammenkommen. Dieter Wedel hat angekündigt, für die nächsten Inszenierungen neue Schauspieler nach Worms zu schicken.

_Ein Blick auf die Statisten_

Ohne die Wormser Statisten, die jedes Jahr den Sommer für Proben und Aufführungen opfern, wären die Festspiele nicht vollständig. Es sind viele Wormser involviert, und das bereitet ihnen großen Spaß. Auch eine Hundemeute ist dieses Jahr mit auf der Bühne gewesen, und manche davon haben nach den Festspielen ein neues Herrchen bei den Statisten gefunden.

Manche entpuppen sich dabei als Neueinsteiger mit Karriere-Erwartungen im Schauspielbusiness. Seit dem ersten Festspieljahr besteht einmal im Monat ein regelmäßiger Statistenstammtisch. Trotz der intensiven, fast unbezahlten Arbeitszeit, ist es für alle ein Genuss, mit Größen wie Dieter Wedel oder früher Mario Adorf als Hagen gearbeitet zu haben. Mitunter erscheinen dort auch die Regieassistenz und der künstlerische Leiter der Festspiele, James McDowell.

_Ilka Kohlmann_
Hatte in den ersten beiden Jahren als Statistin angefangen und spielt nun bereits zum zweiten Mal die Mutter von Gudrun. Zwar hat sie nur einen Kurzauftritt, aber natürlich ist jeder Abend auch für sie ein großes Erlebnis, steht sie doch auch beim Schlussapplaus vor stehenden Ovationen mit auf der Bühne. Auch ihr Ehemann Jürgen ist immer dabei, in diesem Jahr als „Hunnen-Trommler“. Auch im nächsten Jahr werden beide wieder gefragt sein.

Ein kleiner Wormser Junge freut sich auch jedes Jahr ganz besonders auf seine Rolle. Er spielt das Kind von Kriemhild und Etzel, auch wenn er anschließend stets geköpft und verstorben die Bühne verlässt.

Dreißig Hunnen sind im Einsatz als Statisten, und deren Maske ist von den Professionellen zeitlich nicht zu bewältigen. Dafür wurde eigens ein Schminkwettbewerb ausgeschrieben und acht Wormser Frauen wurden ausgewählt. Auch für Kostüme und Waffen sind Wormser zuständig. Waffenmeister ist dabei Thomas Haaß, der im Zuge der Nibelungenthematik und der daraus entstanden Gewandeten-Szene ständig in Worms mittelalterlich mitmischt.

_Das Rahmenprogramm:_

_Filme_

Jedes Jahr gibt es ein begleitendes Filmprogramm, aber man kann nicht jedes Jahr die Nibelungen von Fritz Lang oder die Filme aus den 60er Jahren aufführen, und so zeigt man bereits im zweiten Jahr aktuelle Filme aus dem Wirken der Festspielschauspieler. Das waren diesmal Maria Schrader, die zusammen mit Dani Levy in „Meschugge“ die Jüdin Lena Katz spielte, einem Thriller, für den sie für ihre Rolle 1999 den Bundesfilmpreis als beste Hauptdarstellerin erhielt. Joachim Król spielt in „Gloomy Sunday“ eine Dreiecksgeschichte im Budapest der 30er Jahre während der Besetzung durch die Nazis. Und Manfred Zapatka spielte in der Komödie „Erkan und Stefan“ den Verleger Eckenförde, dessen Tochter von den beiden Komikern beschützt werden soll. Die Filme laufen auf großer Leinwand im Open-Air-Kino im Herrnsheimer Schloss. Mit gewöhnlichem Popcorn-Kino hat das also nichts zu tun. Man wird von Festpiel-Hostessen empfangen und steht vor und nach der Aufführung an Stehtischen bei einem Glas Wein zusammen.

_Otto Sander, die Nibelungen-Musiker und die Trommler von Worms_

Otto Sander und Gerd Bessler, der musikalische Leiter der Wormser Hebbel-Inszenierung, gestalteten einen „Heldenabend“ mit Texten und Musik, gespielt vom gesamten musikalischen Ensemble der Festspiele und unterstützt von fünfundzwanzig Trommlern. In den Texten hörte man die Gegensätzlichkeit der Helden durch die Epochen und Länder, und vor allem die Musik war natürlich ein Hörgenuss, in welchem mittelalterliche Motive mit modernen Jazzelementen verschmolzen. Eine Hör- und Augenweide waren vor allem auch die Wormser Trommler, die auf Stahlfässern und Landknechtstrommeln archaische bombastische Rhythmen schlugen. Über neunhundert Besucher sahen sich das an.

_Werner Schneyder und das Ensemble der Nibelungen-Festspiele lesen Richard Wagner_

Der bekannte Kabarettist und Sportmoderator führte durch die Handlung von Wagners „Der Ring des Nibelungen“, und die Schauspieler der Festspiele lasen die Texte. Wahrscheinlich wurde noch nie der ganze „Wagner-Ring“ in so kurzer Zeit in straffer Form dargeboten. Faszinierend waren tatsächlich auch die von Schneyder dargebotenen originalen und ausführlichen Regieanweisungen Wagners, die schmunzeln ließen, da diese selbst mit modernster Technik bis heute unrealisierbar geblieben sind. Auch diese Veranstaltung war ausverkauft, allerdings sicher weniger wegen des Wagner-Themas, sondern als Sympathie-Kundgebung der Wormser für „ihre“ Stars. Es kamen fast neunhundert Besucher.

_Theaterbegegnungen im Herrnsheimer Schloss_

Diese Veranstaltung hat bereits gute Tradition bei den Festspielen und stellt in der Vielseitigkeit des Programmablaufs einen der interessantesten Aspekte im Rahmenprogramm, den man nicht versäumen sollte. Das sehen sehr viele Besucher mittlerweile auch so. Zu den Morgenvorträgen kamen weit mehr als erwartet – man rechnet für solche wissenschaftlich-literarischen Vorträge normalerweise mit einem Interesse von 30 bis 40 Personen, aber die 150 Sitzplätze waren schnell besetzt und weitere etwa 50 standen noch draußen vor der Tür. Teils im schönen Saal des Schlosses, teils unter freiem Himmel, teils in der Remise, treffen sich Zuschauer und Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Vertreter aus Kirche und Wirtschaft, um miteinander zu diskutieren, zu lachen und zu streiten. Eine einzigartige intime Gelegenheit, richtig nahe an die VIPs herantreten zu können. In diesem Jahr war das Thema „Was ist deutsch?“.

In den Morgenvorträgen beleuchtete Kulturkoordinator Volker Gallé Literatur und Politik als deutsches Dilemma, Monika Carbe referierte über den Missbrauch von Schiller als Nationaldichter und Gunther Nickel sprach anhand einer Zuckmayer-Rezipation über das Deutschlandbild vom Ersten Weltkrieg bis zur Gründung der Bundesrepublik und wies dabei fast nebenbei die Zuordnung von Ernst Jünger als rechtsgerichteten Autor vom Tisch. Dabei stellte er auch fest, dass dies der Stand der aktuellen Jünger-Forschung sei.

Für die Programmpunkte danach reichte natürlich der Platz mit dem wunderschönen englischen Park dahinter für alle aus – aber auch hier war die Remise dennoch gefüllt bis auf den letzten Platz. Mittags folgten Texte über die Deutschen, gelesen von den Festspiel-Darstellern, von Tacitus bis Willy Brandt – ein sehr aufschlussreiches intensives Erlebnis zum Deutschsein. Höhepunkt war wie schon im letzten Jahr der Auftritt von Wiebke Puls (Brunhilde) mit umgeschnalltem Akkordeon (und meist Zigarette im Mundwinkel) und Itzhak Fintzi (König Etzel), die mit dem Festspiel-Ensemble für ihre eigenen musikalischen Interpretationen der Hebbel`schen Nibelungentexte faszinierten und begeistern konnten. Sehr intim und locker startete bereits der Auftritt: „Hallo, wir sind hier, um ein bisschen Musik zu machen“. Cello, Geige, Trompete und viele subtile Schlaginstrumente präsentierten eine experimentelle musikalische Avantgarde. Die Zuschauer lieben es, wenn Wiebke Puls ins Mikrophon erbärmlich schreit, faucht und haucht. In der Zugabe kam auch Maria Schrader (Kriemhild) auf die Bühne und beide sangen anstatt des bekannten Königinnenstreits die mitreißend zärtliche Version einer Liebeshommage der Königinnen („You are so beautiful“) zueinander und lagen sich danach unter stürmischen Applaus in den Armen. Abgeschlossen wurde mit einer Podiumsdiskussion zum Thema „Was ist deutsch?“ mit Hark Bohm (Filmemacher), Dieter Wedel (TV- und Filmregisseur, Intendant der Festspiele) und Prof. Paul Nolte von der Universität Bremen.

_Jugendblasorchester Rheinland-Pfalz spielte zeitgenössische Kompositionen aus aller Welt und Joern Hinkel las dazu deutsche Reden und Aufsätze aus sechs Jahrhunderten_

Joern Hinkel ist Regieassistent von Dieter Wedel und las Texte von Deutschen über Deutsche, Thesen und Antithesen, Beschwerden, Aufrufe, Zornausbrüche, Gedichte und Gesetzestexte, lächelnd, tobend und analytisch. Dazu gab es zeitgenössische Musik, die von der Heimat erzählte.

_Peer Gynt_

Einer der weiteren Höhepunkte war die Darbietung des Festspielschauspielers André Eisermann, der mit der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz Edward Griegs Schauspielmusik zu „Peer Gynt“ darbot. Das war eine seltene Gelegenheit, die originale Bühnenmusik gelöst vom literarischen Ursprung zu erleben. Neben der Philharmonie waren auch der Wormser Bachchor und „Cantus Novus“ sowie die Sopranistin Caroline Melzer integriert, die zusätzlich das Lied der Solveig sang. Der rote Faden der Schauspielhandlung wurde durch Zwischentexte nachvollziehbar. Den Part der Titelfigur übernahm André Eisermann und machte wie gewohnt seine Lesung zum Erlebnis. Ob nun Goethes Werther oder das Hohelied der Liebe – mit denen er früher Lesungen gab –, schafft er es immer, das Publikum in seinen Bann zu ziehen. Er rezitiert nämlich nicht, sondern verkörpert das, von dem er spricht. Seine jährlichen Vorstellungen im Begleitprogramm der Festspiele sind in Worms seit jeher stets ausverkauft. Aber auch Eva Bartdorff, die ebenfalls Texte las, war ihm ebenbürtig.

_Musikwettbewerb_

Für dieses Jahr hatten die Festspiel-Veranstalter eine ganz besondere Idee und riefen zu Beginn des Jahres zu einem Musikwettbewerb auf, wo jeder Nibelungensongs einreichen konnte. Aus über 50 Liedern wählte eine Jury, bestehend aus SWR, der Popakademie Mannheim und den Festspielen, zehn Bands aus. Diese spielten an zwei Abenden je 30 Minuten Programm und das Spektrum reichte dabei von Reggae, Rap, Pop und Rock über Volksmusik, Country und Dark Wave bis zur Klassik. So verschieden die Stilrichtungen waren, umso unterhaltsamer waren entsprechend auch die Beiträge zum Nibelungen-Thema.

Eine CD dazu ist auch erhältlich, auf der alle ausgewählten Bands „ihren“ Nibelungen-Song präsentieren. Ein Beiheft enthält alle Texte und die Anschaffung macht Freude und ist auch sehr günstig. Die „Musikwettbewerb – Nibelungen-Festspiele Worms“-CD kostet nur 5 Euro und ist erhältlich über info@nibelungen-museum.de.

Enthalten darauf ist auch der Song ‚Siegfried‘ von _Corpsepain_, welche auf der Schwesternseite von |Buchwurm.info|, |POWERMETAL.de|, mit ihrer dunklen Saga-Interpretation des Nibelungen-Themas rezensiert wurden: [„The Dark Saga of the Nibelungs“.]http://www.powermetal.de/cdreview/review-6242.html Sie schlugen sich auch recht gut im Vergleich zu anderen Bands, und wenn ich mich nicht ganz täusche, stieß ich mit meinen Freunden während ihres Auftritts auf „Friedrich“ an (Nietzsche versteht sich). Auch diese CD ist für 9,99 Euro zu beziehen unter info@nibelungen-museum.de.

Das Abschlusslied der CD, ‚Brunhilds Klage‘, stammt von _Weena_, die die besten Interpreten auf dem Festival waren und auch in der Publikumsgunst ganz oben stehen. Sie beschlossen, nachdem sie beim Wettbewerb ausgewählt wurden, eine ganze Rockoper zu den Nibelungen zu verfassen und spielten daher auch ein reines Nibelungen-Set. Thomas Lang ist Rockmusiker und Sylva Bouchard-Beier ausgebildete Opernsängerin. Wie sie zueinander fanden, ist auch eine besondere Geschichte. Thomas kam, um seine Stimme bei ihr ausbilden zu lassen und beide merkten schnell, dass der Crossover aus Rock und Klassik begeistert. Ihre Musik, die in melodischen Passagen in ihrer Heiterkeit an Elemente von |Goethes Erben| erinnert, im Zusammenklang des Beats mit opernartiger Klangfülle aber eher Bands wie |Therion| zuzurechnen ist – und damit natürlich auch an Wagner erinnert –, hat auch wegen der stimmlichen Leistung von Sylva etwas von |Rosenstolz|. Bislang wird die pompöse Zusatzmusik noch durch Synthesizer eingespielt, aber der Auftritt mit einem großen Orchester ist geplant und durch die Zusammenarbeit mit der Festspiel GmbH auch nicht mehr utopisch. Den ersten Teil der Rockoper, „Das Nibelungenlied – Von Betrug, Verrat und Mord“, gibt es bereits auf CD, nächstes Jahr wird der zweite Teil folgen. Auch diese CD ist relativ günstig über das Nibelungen-Museum für 13 Euro zu erwerben: info@nibelungen-museum.de.

Das Festival nannte sich „Coole Sounds für Kriemhild, Hagen & Co.“ und war den Besuch wert. Leider aber waren im Gegensatz zum anderen Rahmenprogramm der Festspiele die beiden Musikfestival-Tage sehr mager besucht, was darauf schließen lässt, dass im nächsten Jahr dieses neue Experiment gestrichen wird. Das wäre sehr schade, denn die Idee war gut und ein Musikfestival ist sicher ein wichtiger Baustein, der einfach noch eine Chance bräuchte, sich zu etablieren. Dass dagegen _Weena_ in einem eigenen Konzert ihre Oper aufführen dürfen, ist mehr als sicher, so umfeiert, wie sie in der lokalen Presse wurden.

_Kikeriki-Theater_

Im dritten Jahr ist dieser Programmpunkt bereits ein durchgehend ausverkaufter Renner während der Festspiele. Das Darmstädter Kikeriki-Theater bot mit „Siegfrieds Nibelungenentzündung“ ein sagenhaftes Blechspektakel um Siggi, Albi und den smarten Lindwurm im Hessen-Dialekt: deftig, heiter und krachig.

_Weiteres Programm_

Nicht nur Nibelungen waren Thema des Rahmenprogramms. Die neue städtische [Literaturinitiative,]http://www.worms.de/deutsch/leben__in__worms/kultur/literaturinitiative-worms__teilnehmer.php der auch |Buchwurm.info|-Schreiber Berthold Röth angehört, trug mit Lesungen bei: _Manfred Krug_ las Bertolt Brecht, _Christian Quadflieg_ las Friedrich Hebbel (immerhin hatte dieser auch das Nibelungen-Festspiel ursprünglich verfasst) und gerne möchte er in einer künftigen Inszenierung einmal den Hagen spielen; _Eva Menasse_ las aus ihrem Debüt-Roman „Vienna“.

Diese Lesungen kosten natürlich Eintritt, aber die_ [Nibelungenlied-Gesellschaft]http://www.nibelungenlied-gesellschaft.de/ _veranstaltete während der gesamten Festspiele morgens um elf Uhr im Historischen Museum kostenlose Vorträge zum Nibelungenthema, die in diesem Jahr den Stoff im Rahmen der europäischen Literaturgeschichte betrachteten. Das Heldenepos ist zweifelsfrei eingebettet in eine europäische Kulturtradition. Das Publikum dafür ist gemischt, es kommen sowohl Wormser als auch Festspielbesucher der Stadt, die sich mit dem Thema näher beschäftigen wollen. Die Vorträge haben wissenschaftlichen Anspruch, sind aber auch für den Laien verständlich gehalten. Im Einzelnen:

„Untergangsszenarien an der Wende zur neuen Zeit – das Nibelungenlied und Hamlet“
„Die Nibelungen in Hebbels Briefen“
„Höfische Heldendichtung im Umfeld des Nibelungenliedes“
„Fantasien von Germanen und Kelten – Fouqués „Held des Nordens“ und Macphersons „Ossian“
„Rüdiger und Dietrich im Nibelungenlied und bei Hebbel“
„Das Nibelungenlied und die Märchen“
„Die Nibelungen als Fantasy-Stoff“ und
„Die Geburt des Rechts aus der Rache – Orestie und Nibelungenlied im Vergleich“.

Normalerweise werden diese Vorträge auch auf die angegebene Website gestellt, jedenfalls findet man dort auch die Vorträge früherer Jahre.

Alles Weitere auch noch en detail aufzuzählen, sprengt den Rahmen dieses Überblicks. Es gab noch mehrere verschiedene Märchenabende mit Harfenbegleitung, Theater-Aktionstage für Kinder und Jugendliche, neben dem Kikeriki-Theater noch weitere neue Kindertheaterstücke um Drachen und Ritter. Da die Festspiele in die Ferienzeit-Programme fallen, gab es darüber hinaus von vielen kleineren Anbietern Thematisches zu Siegfried und den Nibelungen. An weiteren Musikveranstaltungen spielten „Il Cinquecento“ im Dominikanerkloster Musik der Renaissance und „Capella Antiqua Bambergensis“ mittelalterliche Musik. An Ausstellungen zum Nibelungen-Thema gab es gleich vier an verschiedenen Orten: „Siegfriede – Auf der Suche nach Helden unserer Zeit“ (sehr freie, moderne Interpretationen im Kunsthaus und im Historischen Museum), „Bilder zum Nibelungen-Buch im ARUN-Verlag von Linde Gerwin und Nibelungenskulpturen von Jens Nettlich“ (Nibelungen-Museum) – http://www.nibelungenkunst.de/ – und in der Sparkasse eine Bilderreise zu den Schauplätzen des Nibelungenliedes aus dem |dtv|-Buch „Wo Siegfried starb und Kriemhild liebte“.

Für die Wormser Bevölkerung gibt es eineinhalbstündige Backstage-Vorführungen hinter den Kulissen, die einen Blick auf die Masken, das Anprobieren etc. erlauben und durch das tolle Ambiente mit dem Wormser Dom sowieso sehr außergewöhnlich sind. Die Sakristei des Gotteshauses ist abends sogar plötzlich zur Garderobe umfunktioniert, in welcher hektisch die Bekleidung gewechselt wird. Die kirchlichen Vertreter sind da auch ganz ambivalent, sie erlauben wohlwollend das ganze Spektakel, sind aber auch kritisch, dass ihre christliche Kulisse jährlich zur Todesbühne wird, wo ein Schrecken und Schauer auf den anderen folgt.

Neben den Schauspieler-Talkrunden gab es auch ähnliche kleine Gespräche vor Publikum mit sonstig im Rahmenprogramm Tätigen, wie Christian Quadflieg, der ja seinen persönlichen Hebbel in einer Veranstaltung präsentierte. Ebenso mit Otto Sander, auch einer der bedeutendsten deutschen Schauspieler („Die Blechtrommel“, „Das Boot“, „Der Himmel über Berlin“), der über sich und sein Leben sprach, was der SWR live im Radio übertrug.

_Ausblick_

2006 noch nicht, aber 2007 werden die Festspiele eine Woche länger gehen. Das Rahmenprogramm wird noch weiter ausgebaut und qualitativ gesteigert werden. Dieter Wedel will auch während der Festspiele eine Art „Meisterschule“ mit Workshops für Theaternachwuchs aus der Region aufmachen. Dazu wird mit den umgebenden Theatern Kontakt aufgenommen und auch das jeweilige Festspiel-Ensemble eingebunden. 2006 hat auch ein Jugendtheaterprojekt seine Premiere.

An Inszenierungen gibt es in den nächsten beiden Jahren wieder das Stück von Moritz Rinke, das in den ersten beiden Festspieljahren aufgeführt wurde. Mit diesem hatten die Wormser Festspiele 2002 begonnen und es war erstmals wieder eine ganz neue Fassung der Nibelungen. Dies wird nun aber in der Länge stark erweitert, so dass 2006 der erste Teil zur Aufführung kommt und erst 2007 der zweite Teil folgt. Regie wird dann auch wieder Dieter Wedel selbst führen. Die Besetzung des Ensembles soll zur Auflockerung allerdings eine völlig andere sein. Otto Sander ist als Hagen im Gespräch, aber Manfred Zapatka ist gigantisch und schwer ersetzbar. Bleiben werden wohl Maria Schrader als Kriemhild und Götz Schubert als Siegfried. Ein Schauspieler-Team von der Güte des jetzigen Ensembles zusammenzustellen, ist ein großes Problem. Auch soll die Besetzung viel größer sein als dieses Jahr.

Für die Zeit danach denkt man an ein Nibelungen-Musical, die „Nibelungen“ zumindest mit großer Musikbegleitung, wenn nicht sogar an eine Rock-Oper. Selbstverständlich würde für die Rolle des Siegfried dann ein bekannter Rocksänger verpflichtet. Im Ideenspektrum Wedels für das Rahmenprogramm ist auch „Das Leben des Siegfried“ – eine Collage aus Pantomime, Liedern und Szenen, ausschließlich auf Siegfried bezogen, comicstripartig. Nicht umsonst erinnert der Arbeitstitel an Monty Python`s satirischen Filmklassiker „Das Leben des Brian“. Götz Schubert schlägt im Beiprogramm ein Kammerstück vor, in dem geschildert wird, was in den sieben Ehejahren zwischen Kriemhild und Siegfried passiert – „Szenen einer Nibelungenehe“. Oder auch, welche Verbindungen zwischen Siegfried und Brunhild bestehen, schon vor ihrem Zusammentreffen, bei dem sie von den Burgundern getäuscht wird. Die Möglichkeiten für zusätzliche Geschichten in der eigentlichen Sage sind endlos. Das Hebbel-Stück als Inszenierung ist für die nächsten Jahre jedenfalls zu den Akten gelegt.

Marc Walter – Legendäre Reisen. Auf den großen Routen rund um die Welt

Stilvoll in die fremde Ferne

Eine Reise glich früher, d. h. von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Jahre vor dem II. Weltkriegm eher einem Karawanenzug als einer zeitlich begrenzten Abwesenheit vom Alltag. Dieser reiste stattdessen mit und wurde von stillen aber allgegenwärtigen Dienern und Zofen sorgfältig in große Schrankkoffer verpackt (und geschleppt), die folgerichtig Kleidung zum dreimaligen täglichen Wechsel, Sportartikel und Jagdwaffen für den Herrn sowie jene Accessoires enthielten, die eine Frau zur Dame adelten.

Denn die Form galt es zu wahren, wenn man – mehr oder weniger widerwillig – die traute Heimat verließ, um sich die kulturellen und kuriosen Errungenschaften der übrigen Menschheit anzuschauen. Schließlich war man wer, sonst hätte man sich diese Form des Reisens, bei der Zeit kaum eine Rolle spielte, ohnehin nicht leisten können. Stilvoll die Welt besichtigen zu können, das ließ man sich einiges kosten. Kein Wunder, dass sich eine Vielzahl hoch qualifizierter Reiseunternehmer und Dienstleute um die betuchte Klientel kümmerte. Marc Walter – Legendäre Reisen. Auf den großen Routen rund um die Welt weiterlesen

Bender, Peter – Weltmacht Amerika – Das neue Rom

Ich hatte so meine Befürchtungen, was dieses Buch anbelangt, weil einfach schon zu viele Schriftsteller und Filmemacher die Weltmacht Amerika an den Pranger gestellt haben, sich dabei aber meistens Mittel bedienten, die man der Masse zum Fraß vorwerfen kann, die aber insgesamt betrachtet nur zur Unterhaltung (teils auch zur Belustigung), nicht aber zum Nachdenken anregen. Michael Moore ist da für mich das beste Beispiel. Der Typ macht in seinen Filmen alles nach derselben Masche, kassiert dafür fette Kohle und lacht sich im Endeffekt nicht weniger kaputt als die von ihm angeklagte ‚Marionette‘ George Bush. Glücklicherweise ist es in diesem Fall aber nicht die Intention des Autors, Fakten aufzulisten, um die amerikanische Regierung zu verurteilen. Stattdessen stellt Peter Bender verschiedene Eckpunkte aus der römischen Kaiserzeit und dem modernen Amerika nebeneinander und vergleicht sie, spart dabei aber seine Wertungen meistens aus – es sei denn, man liest ein wenig zwischen den Zeilen, dann wird man alsbald herausfinden, auf welcher Seite Bender politisch steht.

Aber was ist dann der Hintergrund dieses Buches? Indem Bender verschiedene bewegende Daten der antiken und neuen Zeitgschichte nebeneinander stellt und Paralellen zieht, schafft er es jedenfalls nicht immer, überzeugend darzustellen, warum die Amerikaner genau dieselben Strategien wie einst die Römer zur Machtergreifung gewählt haben, wieso die USA teilweise gleiche Fehler begeht, warum das römische Reich gescheitert ist und das amerikanische einen ähnlichen Verlauf nehmen könnte. Lediglich eines wird in der Gegenüberstellung der politischen Inhalte der beiden Weltmächte deutlich: beide sind bzw. waren in ihrem Vorgehen skrupel- und kompromisslos und haben sich kaum um die übrigen Nationen geschert. Und an den Stellen, an denen dies besonders prägnant geschildert wird, bezieht Bender dann auch Stellung und weckt das Interesse des Lesers.

Mehr ist „Weltmacht Amerika – Das neue Rom“ dann aber nicht abzugewinnen. Der Autor liefert nämlich in diesem Buch nichts anderes als ausführlicheren und spezifischen Geschichtsunterricht und leistet denen, die bei den Themenbereichen Karthago, Rom, Athen und Co. über ihren Schulheften eingeschlafen sind, noch einmal Nachhilfe. Gleiches gilt für denjenigen, dem manche Details der jüngeren Geschichte entgangen sind (was ich prinzipiell aber für kaum möglich halte, zumindst bei den hier veranschaulichten Inhalten der amerikanischen Weltpolitk). Aber was nützt das schon, wenn Zusammenhänge teilweise nur unbefriedigend erläutert und manche von Bender aufgestellten Theorien nicht immer so recht nachzuvollziehen sind. Das Problem ist phasenweise, dass der Autor zwar ziemlich in die Tiefe geht, durch seine zu trockene Erzählweise allerdings nicht immer zum Weiterlesen und -informieren anregt.

Dafür ist „Weltmacht Amerika – Das neue Rom“ jedoch gerade bei den Beschriebungen des alten Roms und seiner Geschichte ziemlich vollständig und detailliert. Wer jedoch in Geschichte ein bisschen aufgepasst hat und auch nur ein wenig Interese für diese Ära mitbringt, weiß über diesen Part der Historie ohnehin schon Bescheid – und alle anderen werden mit dem Buch ohnehin nicht so viel anfangen können.

Schade eigentlich, denn die Herangehensweise von Peter Bender ist prinzipiell nicht schlecht. Er versucht nicht zu belehren und auch nicht, wie es ja derzeit richtig im Trend ist, wahllos zu kritisieren. Wäre es ihm jetzt gelungen, die vielen Fakten besser und vor allem logischer miteinander zu verknüpfen (so wie zum Beispiel bei der Gegenüberstellung des zweiten punischen Krieges mit dem Zweiten Weltkrieg), dann würde ich dieses Buch jetzt in einem Päckchen zu Michael Moore senden, um ihm mal zu zeigen, wie man ein solches Unterfangen löst, ohne dabei krampfhaft massentauglich sein zu wollen. Weil Bender dies jedoch nur bedingt gelungen ist, werde ich mir das Porto wohl sparen können …

Herles, Wolfgang – Dann wählt mal schön

Fragt man den Mann auf der Straße nach seiner politischen Lageeinschätzung, wird man vermutlich hören: „Der Schröder kann’s nicht, die Merkel wird’s auch nicht packen. Im ganzen System steckt der Wurm drin.“ Wolfgang Herles, ZDF-Journalist für Politik und Kultur, sagt in seinem neuesten Buch „Dann wählt mal schön“ das Gleiche etwas ausführlicher. Das Versagen bei den drückenden Problemen wie der Arbeitslosigkeit liege an fehlendem Mut und bringe die Demokratie insgesamt in die Krise. Unter diesen Umständen bringen Wahlen – oder vorgezogene Neuwahlen – keine Besserung, wie der bitter-ironische Titel aussagt. In acht Kapiteln beschreibt Herles verschiedene Aspekte dieser Lage.

Im ersten Kapitel _Von der Politikverdrossenheit zur Demokratieverdrossenheit_ sieht Herles durch die Unfähigkeit der Parteien und die Gleichgültigkeit der Bürger eine Politikverdrossenheit, welche die Demokratie in Gefahr bringen könne. Populistische Politiker schüren falsche Erwartungen, die die Lage eher noch verschärfen. Zur Erklärung, warum nun gleich die Demokratie bedroht wäre, fällt Herles nichts anderes als das alte Klischee vom bösen Deutschen ein, der die Demokratie zu spät kennen gelernt habe, sie eigentlich immer noch ablehne und sich lieber hinter – gerne auch mal kriegerische – Führer schare. Dass die Briten sich unter unzähligen Leichen ein in der Geschichte einmaliges Kolonialreich zusammengeräubert hatten und Freiheit und Demokratie außerhalb ihrer Insel nur selten vertraten, dass die Franzosen seit 1789 gleich drei autoritäre Führer kürten (Robespierre, Napoleon Bonaparte, Napoleon III.) und dass heute in etlichen osteuropäischen Ländern die alten kommunistischen Parteien höhere Wahlergebnisse haben als die SED-PDS-Linkspartei in den neuen Bundesländern, davon lässt sich Herles seine einmal angewöhnten Vorurteile nicht durcheinander bringen. Seitenweise zitiert er dann aus Uwe Tellkamps heiß diskutiertem Roman (!) „Der Eisvogel“, als handele es sich dabei um ein wissenschaftliches Werk, und unterstellt ohne jeden Beleg, dass viele Deutsche die radikalen Äußerungen des Protagonisten teilten. Im Abschnitt über Extremismus folgt das, was man befürchten durfte: Buchhalterisch protokolliert er etliche Lappalien über die sächsische NPD und verlässt das Thema seines Buches. Linksextremismus und Islamismus kommen dagegen nicht vor, die PDS hält Herles allen Ernstes für „verfassungstreu“ (S. 43).

Der Bevölkerung wirft Herles neben der Anspruchshaltung Gleichgültigkeit und Inkompetenz vor. Doch die von ihm genannten Umweltgruppen, die zum Schutze des Feldhamsters den Ausbau der Infrastruktur verhindern, sind eine kleine Minderheit und haben nur deshalb gelegentlich Erfolg, weil Gerichte ihren Beschwerden aufgrund bestehender Gesetze recht geben. Dagegen haben vier bis fünf Millionen Deutsche 1999 gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unterschrieben und damit mehr politischen Verstand bewiesen als die Regierung. Während in den Niederlanden und Großbritannien eingebürgerte Moslems islamkritische Regisseure oder Londoner U-Bahn-Passagiere umbringen, erhalten in Deutschland täglich neugeborene ausländische Kinder per Automatismus einen deutschen Pass. Dass die Deutschen aber heute in der Tat so gleichgültig sind, die Sache so kurz vor der Wahl nicht wieder aufs Tapet zu bringen, wäre einer Erörterung wert (aber dazu müsste einem das Thema schon eingefallen sein).

Das Kernproblem dieses Kapitels ist es, dass zentrale Begriffe wie Demokratie, Populismus und Extremismus nicht definiert werden und Herles nun fröhlich seine Floskeln und Urteile repetieren kann. Immerhin fordert er deutliche inhaltliche Auseinandersetzungen, den Mut zur Freiheit samt ihrer Risiken und bekennt sich zur Marktwirtschaft als integralem Bestandteil der Demokratie (S. 33).

Das zweite Kapitel _Die Reihen fest geschlossen_ (Preisfrage: Woher stammt dieses Zitat?) beschreibt die Machtausübung der Parteien und ist schon lesenswerter. Auch hier gibt es keine Definitionen der Begriffe Demokratie oder Führung, aber zumindest Annäherungen. Wenn die Führungsprinzipien des früheren neuseeländischen Finanzministers Douglas referiert werden, ist das ein Höhepunkt des Buches. Aber sobald es interessant wird, bricht Herles ab. Hier wäre eine Analyse der aufgezählten Grundsätze am Platze gewesen. Auch sonst, wenn Herles konkret wird und Probleme wie die Macht des Bundesrates (S. 56), die Mediendemokratie (S. 60f) oder den „Geschlossenheitskult“ der Parteien (S. 62ff) beim Namen nennt, kratzt er nur an der Oberfläche und huscht zum nächsten Punkt.

Und wieder mal ist das Volk an allem schuld: Wenn solche Politiker, die auf Show statt auf Inhalte setzen, Karriere machen und solche, die Fehler zugeben und zurücktreten, keine zweite Chance erhalten, dann nur, so Herles, weil das Volk es so wünsche, und nicht etwa weil berechnende Parteiführer dies so steuerten. Beweise oder zumindest Anhaltspunkte für diese Behauptungen? Wieder Fehlanzeige. Der Autor selbst erwähnt Friedrich Merz (CDU), Oswald Metzger (Grüne) und Horst Seehofer (CSU), der als „in der Bevölkerung und der Parteibasis verankert“ (S. 71) galt. Alle drei wurden von ihren Parteiführungen kaltgestellt, nachdem sie programmatische Defizite der eigenen Parteien angesprochen hatten. Was könnte also ein einfacher Bürger erreichen, wenn schon die Funktionäre der zweiten Reihe scheitern?

Sehr lesenswert dagegen sind Herles’ Beschreibungen der Techniken und Methoden, mit denen echte Diskussionen unterbunden werden, seien es Totschlagargumente („alternativlos“, „soziale Gerechtigkeit“), die Förderung von Anpassern oder die Zurückhaltung der Parteiführer in Grundsatzfragen. Die Weltfremdheit idealistischer Vorstellungen von „Objektivität“ oder „Gemeinwohl“ wird ebenso wie auch die unrühmliche Rolle der Presse beim Ersticken harter Diskussionen dargestellt. Das hat man selten so deutlich und rücksichtslos gelesen. Die Attacke gegen die Selbstverdummung namens „Politische Korrektheit“ bleibt bei aller Richtigkeit erstaunlich zahm.

Das dritte Kapitel _Die Entwertung der Politik_ behandelt die Entmachtung des vom Volk gewählten Parlamentes. Herles beschreibt den Abfluss der Parlamentsmacht in die sechs Richtungen Regierung, Bürokratie, Medien (und Wahlkampfmarketing), Berater, EU und internationale Wirtschaft. Die vielen Facetten der (Selbst-)Entmachtung des Gesetzgebers wie das Fehlen von Denkfabriken oder die Ein-Themen-Berichterstattung der Medien werden von Herles deutlich benannt, leider geht er auch hier nicht in die Tiefe. Weiter benennt er Probleme des Wahlrechts, so z. B. dass der Bürger am Wahltag nur eine Partei mit ihrer vorgegebenen Bewerberliste und |allen| ihren Programmpunkten wählen kann. Erfrischend ist es, wenn zu den Problemen auch mal Lösungsvorschläge gemacht werden. So liest man, dass sich in England Bewerber um ein Unterhausmandat einer fachlichen Prüfung unterziehen müssen oder der Parteienkritiker Johannes Heinrichs die Ersetzung des Bundestages durch vier Fachparlamente vorgeschlagen hat. Man hätte hier noch das Kumulieren und Panaschieren aus einigen deutschen Kommunalwahlrechten erwähnen können. Dass es aber noch tiefer liegende Konflikte gibt, die nichts mit der politischen Ordnung in Deutschland oder den gegenwärtigen Problemen zu tun haben, reißt der Autor immerhin an: Einerseits heißt Demokratie Mehrheitsentscheidung, andererseits hat die Mehrheit nicht immer Recht. Einerseits wollen wir weniger Bürokratie, andererseits mehr Einzelfallgerechtigkeit. Einerseits braucht das Parlament des Fachwissen der Experten, andererseits sind die Grenzen zwischen beraten und entscheiden fließend.

In den Kapiteln 4 und 5 _Das Elend des Populismus_ bzw. _Kleines Panoptikum der Populisten_ dokumentiert Herles den Populismus der Altparteien. Endlich erfolgen auch Definitionen dieses für das Buch so wichtigen Begriffs. Populismus ist danach die emotionale Propaganda-Nebelkerze. Man macht gute Laune, verkündet Optimismus, redet die Probleme klein und erzählt einfach, was das Publikum (mutmaßlich) hören will. Verdienstvoll ist die Entlarvung eines spezifisch bundesdeutschen Populismus, dem Gerede von der guten, alten Zeit mit Vollbeschäftigung und funktionierenden Sozialversicherungen, die bestimmt bald wiederkomme, man müsse nur etwas Geduld haben. Wenn Herles die Methoden der Politiksimulation seziert, von Job-Gipfeln (erinnert sich noch jemand?) bis zu (Ohn-)Machtworten, ertappt man sich während der Lektüre beim Grinsen und denkt an die Worte des römischen Dichters Juvenal: „Es fällt schwer, keine Satire zu schreiben“. Das Abwürgen von Diskussionen durch moralische Aufheizung von Themen wird am Beispiel Tsunami gut beschrieben, wäre aber einer tiefer gehenden Untersuchung wert gewesen. Im Panoptikum werden der Spaßkanzler, Franz „Heuschrecke“ Müntefering, Bayern-Ede, „Politpopper“ Westerwelle und Bundestaxifahrer Joschka in ihrer jeweiligen Ausprägung von Populismus beschrieben. Eine Sonderstellung hat Angela Merkel inne, die „Vorsitzende der kalten Herzen“ („Die Zeit“); sie ist offenkundig sogar für Populismus zu blass. In diesen aufschlussreichen wie witzigen Porträts kommt Herles seinem Anspruch auf Analyse am nächsten.

Die _Politik im Glashaus_ präsentiert das sechste Kapitel. Es ist zu begrüßen, wenn Politiker das Arbeitsleben kennen und auch werthaltige Arbeit leisten. Von daher sagt Herles völlig zu Recht, dass Nebentätigkeiten von Politkern nicht grundsätzlich verwerflich sein müssen … aber sein können. Es werden einige interessante Fälle von Interessenüberschneidung politischer und geschäftlicher Tätigkeiten |namentlich| genannt (S. 174 ff). Am Fall von Ludger Vollmer (Grüne) und der Bundesdruckerei sieht man, dass es beim Visa-Skandal nicht nur um Schlampereien oder Multikulti-Fanatismus ging, sondern auch gut verdient wurde (S. 175). Die Namen der Parteispendenskandale der letzten Jahre wie Hunzinger, Bimbes oder Elf-Aquitaine zu lesen, ekelt einen nur noch an. Der Abschnitt über Ämterpatronage bleibt etwas dürr; hier wird nur ein Fall besprochen, der leider immer noch nicht ganz geklärt ist.

Schwachpunkte sind die beiden letzten Kapitel _Das Versagen der Gesellschaft_ und _Der Moses-Komplex_. Zunächst gibt es einen Rundumschlag gegen das Bildungssystem, die Wirtschaftselite und die sogenannten Intellektuellen. Wieder mal hechelt Herles durchs Gelände, alles nur kurz anreißend. Peinlich ist hierbei der Abschnitt über die Manager. Gerade aufgrund ihrer Gestaltungsmöglichkeiten bilden die Manager eine sehr heterogene Gruppe. Herles wird hier selber populistisch, indem er ihnen pauschal eine rücksichtslose und kurzsichtige Profitgier unterstellt. Natürlich gibt es solche Fälle, aber dann soll man diese Beispiele beschreiben und keine Klischees verbreiten. Bezeichnenderweise enthalten die Seiten, auf denen die Meinungsäußerungen besonders wüst ins Kraut schießen, die wenigsten Belege und Quellenangaben. Im letzten Kapitel wiederholt der Autor mit dem von ihm entdeckten „Moses-Komplex“ anhand der biblischen Geschichte vom Auszug aus Ägypten noch einmal die Hauptthesen des Buches: Moses (der autoritäre Führer) führt mit Drohungen und Versprechungen die Israeliten (das Volk), die zwischen Anpassung und Murren schwanken, durch die Wüste, während sein Bruder Aaron (der Populist) ihnen erzählt, was sie hören wollen. Abschließend folgen dann doch noch einige konkrete, wenn auch altbekannte Vorschläge, von der strikten Aufgabentrennung zwischen Bund und Ländern bis zur Begrenzung von Amtsdauern. Geradezu rührend ist jedoch der Aufruf an die Wähler, ungültige Wahlzettel abzugeben. Mittlerweile dürfte der Anteil ungültiger Stimmen vom Promillebereich auf fünf Prozent (!) angestiegen sein. Aber die Medien, auch Herles’ Haussender ZDF, liefern uns am Wahlabend weiterhin nur die prozentualen Ergebnisse und lassen die ungültigen Stimmen ganz unter den Tisch fallen. So heißt es dann auf der letzten Seite: „Dann wählt mal schön“, aber es bringt ja eh nichts. Alles Scheiße, euer Wolfi.

_Fazit_: Die derzeitige verrückte Lage zwischen Schröders Kapitulationserklärung im Mai und dem wahrscheinlichen Neuwahltermin im September 2005 hat Wolfgang Herles zum Anlass genommen, ein Buch über die grundsätzlichen strukturellen Probleme der deutschen Politik zu schreiben. Vielleicht haben sich Autor oder Verlag höhere Verkaufszahlen erhofft, wenn das Buch noch vor den Neuwahlen erscheint, jedenfalls scheint vieles unausgereift und mit heißer Nadel gestrickt. Grundsätzlich wäre diesem Buch, das zwar kaum wirklich Neues bringt, aber sein komplexes Thema umfassend beleuchtet, eine zweite, dann aber gründlich überarbeitete Auflage zu wünschen. Wolfgang Herles könnte sich große Verdienste erwerben, wenn er dann
– sich strikt auf sein Thema konzentriert und nicht abschweift,
– seine zentralen Begriffe definiert,
– die Aspekte der verfahrenen Lage nicht nur an der Oberfläche beschreibt, sondern wirklich analysiert,
– mehr erprobte Lösungsbeispiele aus der Vergangenheit oder dem Ausland präsentiert,
– und seine teils irrationalen Meinungsäußerungen entweder belegt oder unterlässt.

Überhaupt sollte Herles seine Abneigung gegen die deutschen Bürger selbstkritisch überdenken. Wenn Patriotismus nur altmodisches Gedöns ist, warum sollte sich dann überhaupt noch jemand für unser Land einsetzen? Wenn das Volk wirklich dumm, habgierig und kurzsichtig ist, warum sollte man dann noch für die Demokratie sein? Und wenn überhaupt alle – Volk, Politik und Wirtschaft – unfähig sind und Reformen unmöglich machen, warum lohnt es sich dann noch, kritische Bücher zu schreiben?

Auf jeden Fall sollten in einer möglichen zweiten Auflage einige sachliche Fehler beseitigt werden:
Franz Schönhuber war vielleicht von Anfang an Mitglied der Republikaner, gegründet wurde die Partei aber von Ekkehard Voigt und Franz Handlos (S. 38).
Dass es in der BRD noch keine Ein-Parteien-Regierung gegeben hat, liegt an Mehrheitsverhältnissen und politischen Entscheidungen, aber keineswegs an Vorgaben des Grundgesetzes oder des Wahlrechts (S. 55).
Fremdsprachen sind nützlich. Wenn man z. B. weiß, dass im Englischen |interest| nicht nur Interesse, sondern auch Zins heißen kann, versteigt man sich nicht zu abenteuerlichen Interpretationen über die Titel britischer Dokumente (S. 178).

Klein, Edward – Geheimnis der Kennedys, Das

„Dieses Buch ist eine Kriminalgeschichte. Es untersucht eines der großen Mysterien unserer Zeit – den Kennedy-Fluch. Es beschäftigt sich mit den Mustern, die dem Fluch zugrunde liegen und ihn bestimmen, und untersucht die zahlreichen Einflüsse – historische, psychologische und genetische -, die den Charakter der Kennedys geformt und zu ihrem selbstzerstörerischen Verhalten geführt haben.“ (S. 37)

Ob Verfasser Klein diesem hehren Ziel genügen kann, dazu äußert sich Ihr Rezensent weiter unten. An dieser Stelle sei vermerkt, dass er es in vier Buchteilen am Beispiel von insgesamt sieben Kennedys versucht. Um die Leser sogleich an den Kanthaken zu nehmen, beginnt Klein das Pferd am Schwanz aufzuzäumen und erzählt die dramatische, noch recht frische Geschichte vom tragischen Ende des John Fitzgerald Kennedy jr., der im Sommer 1999 samt Glamourgattin Carolyn mit seinem Kleinflugzeug ins Meer stürzte.

Eigentlich ist es nur die halbe Geschichte, denn Klein greift sie im Finale seines Buches, wenn das Risiko der Leserflucht gering geworden ist, noch einmal auf. Diese Zweiteilung soll gewährleisten, dass sich sein Publikum pflichttreu durch jene Kapitel arbeitet, in denen von weniger bekannten Kennedys die Rede ist. Klug nachgedacht, denn die Tatsache, dass Patrick Kennedy (1823-1858) der angebliche Auslöser des Familienfluches ist, lässt ihn nicht zwangsläufig interessanter wirken.

Wobei besagter „Fluch“ nach Ansicht Kleins eine Mischung aus Minderwertigkeitsgefühlen – entstanden durch die Erfahrungen einer an Entbehrungen und Zurückweisungen reichen, aber ansonsten bitterarmen irischen Auswandererfamilie -, Narzissmus und emotionaler Kälte ist, die in dem Slogan „Siegen um jeden Preis“ kulminierte. Dies ist nach Klein die Quelle des Musters, das noch heute so vielen Kennedys Kopf & Kragen kostet.

Auch die Ära des Politik-Hallodris John Francis „Honey Fitz“ Fitzgerald (1863-1950) dient Klein vor allem als Beleg dafür, dass die Kennedys, wie sie die Medien und die Öffentlichkeit zu schätzen wissen, sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits verflucht sind. Weiter geht es mit Joseph Patrick Kennedy (1888-1969), dem krankhaft ehrgeizigen, eiskalten Patriarchen, Alkoholschmuggler und Politgangster, den man – in Tateinheit mit seiner frömmelnden Gattin Rose (1890-1995) – objektiv wohl als eigentlichen Familienfluch bezeichnen müsste. Weniger bekannt ist die Geschichte von Kathleen „Kick“ Kennedy (1920-1948), die es bis zur englischen Marquise schaffte und einem Flugzeugabsturz zum Opfer fiel.

Auf vertrautem Terrain bewegt sich Klein im Kapitel „John F. Kennedy“. Im Blickpunkt seiner „Kriminalgeschichte“ stehen weniger die politische Leistung des US-Präsidenten (1917-1963), sondern sein ausschweifendes Sexleben, seine vertuschten Gesundheitsprobleme sowie sein historisches Ende. Am Beispiel des William Kennedy Smith (geb. 1960) zelebriert der Verfasser beispielhaft seine „Götterdämmerung“ des Kennedy-Clans, bevor er noch einmal zu J.-F. K. jr. zurückkehrt. Für jene, die noch immer nicht begriffen haben, folgt ein Epilog: „Der Fall des Hauses Kennedy“.

Was ist nun davon zu halten? Die Kennedys führen ein aktives Leben unter den Augen einer allzeit interessierten Öffentlichkeit. Außerdem vermehren sie sich wie die Karnickel. Ob es da wohl einen Zusammenhang mit den zahlreichen Schicksalsschlägen gibt, welche diese Familie in anderthalb Jahrhunderten trafen? Oder anders gefragt: Wenn man die Opfer ebenso kopfstarker, aber eben nicht berühmter Familien addiert, wäre das Ergebnis nicht ähnlich erschreckend? Natürlich fehlt hier der Kennedy-Glamour; die Normalsterblichen des 19. und 20. Jahrhundert starben unbemerkt und nur von den Ihren betrauert. Gibt ein Kennedy den Löffel ab, steht dagegen die Presse Spalier – so ist das schon seit vielen Jahrzehnten.

Nicht nur die Kennedys selbst, sondern viele von denen, welche sie aus unerfindlichen Gründen bewundern und auch an ihren privaten Geschicken Anteil nehmen, scheinen der Auffassung zu sein, dass nur böse Mächte aus dem Jenseits die göttergleichen Titanen dieses Clans fällen können. Ein „Fluch“ muss her, der die Story gleich wesentlich interessanter macht. Notfalls konstruiert man ihn halt selbst: „Keine zehn Jahre nach der Emigration aus Irland stirbt Patrick Kennedy … am 22. November [1858] an der Schwindsucht. Die Todesursache ist im neunzehnten Jahrhundert nicht ungewöhnlich, das Datum aber scheint manchen bedeutsam: Auf den Tag genau 105 Jahre vor dem Attentat auf John F. Kennedy.“ – S. 39. Klar, dass mit „manchen“ vor allem Edward Klein gemeint ist …

Womit wir die Urheber dieser Mär schon identifiziert haben: Die Kennedys sind und waren Medienmenschen. Über sie lassen sich Schlagzeilen füllen, hohe Auflagen und Zuschauerzahlen erzielen. Gleichzeitig scheinen menschliche Unzulänglichkeiten wie Wahlbetrug, Ehebruch oder Alkoholismus viel dramatischer zu sein, wenn sie jene zelebrieren, die doch angeblich unsere Vorbilder sein sollen. Bloß: Wer hat sie eigentlich dazu ernannt?

Auch Edward Klein scheint nicht fassen zu können, wieso sich die Kennedys so benehmen, wie sie sich benehmen. Vielleicht hat er allzu lange die Gnade genossen, bei Jacqueline Kennedy Onassis selig auf der Sofakante sitzen und den Erzählungen einer alternden, einsamen Frau lauschen zu dürfen. Die nötige Distanz zum Objekt seiner „historischen Forschungen“ lässt er jedenfalls jederzeit vermissen. Das mag wundern angesichts der „Skandale“, die er in diesem Buch gleich in Serie präsentiert. Der Blick ins Literaturverzeichnis belegt indes, dass Klein quasi ausschließlich auf längst publiziertes Material zurückgegriffen hat: Seine Zeter-Chronik ist zusammengeschrieben aus dem, was andere zu Tage brachten. Auf seinem angeblichen Schatz in Jahrzehnten angehäuften Insiderwissens bleibt Klein jedenfalls weiterhin eifersüchtig hocken. Ausgesprochen selten zitiert er aus eigenen Quellen (dies zudem – auf Wunsch des jeweiligen Informanten – stets anonym …)

Das rächt sich, wenn das Wissen aus erster und zweiter Hand zu versiegen beginnt. Für Klein ist spätestens das 19. Jahrhundert eine Informationswüste. Leider rührten sich die ersten Kennedys im Irland der 1850er Jahre. Aus dem Nachwort geht auch hervor, dass Klein vor Ort gewesen ist. Was hat er dort gemacht? In den Archiven hat er sich wohl nicht lange aufgehalten. Stattdessen zieht er einige allgemeine Geschichtsbücher zu Rate. Ein Bericht über den Emigrantenhafen Liverpool wird von Klein kurzerhand als historische Kulisse umgearbeitet, in die er „seine“ Kennedys setzt und sie wie in einem (schlechten) Historienroman reden und denken lässt. Dass keinerlei gesicherten Belege dies stützen, stört ihn überhaupt nicht.

Halbwissen, Insiderklatsch, für den eigenen Gebrauch aus dem historischen Zusammenhang gepickte Fakten bilden das Fundament, auf dem Klein sein faktenwackliges Kennedy-Monument errichtet. Viel Zeit – z. B. für echte Recherchen – darf er sich ohnehin nicht lassen, denn der Buchmarkt drängt ihn schon wieder (s. u.) zur nächsten Skandalchronik. Für den Leser muss deshalb das Fazit lauten, Zeit & Geld zu sparen. „Das Geheimnis der Kennedys“ ist als historisches Sachbuch indiskutabel und als Gossentrash einfach nicht unterhaltsam genug.

Aber Amerika ist halt ein seltsames Land … Edward Klein gilt dort keineswegs als Klatschmaulwurf, sondern genießt den Ruf eines seriösen Autors und Herausgebers. Tatsächlich liest sich sein journalistischer Lebenslauf eindrucksvoll. U. a. war Klein von 1977 bis 1988 Chefherausgeber des ganz und gar nicht unbekannten „New York Times Magazine“. In dieser Zeit gewann es den ersten Pulitzer-Preis in seiner Geschichte. 1989 ging Klein zu „Vanity Fair“. Hier wurde er bekannt für seine Artikel über Jacqueline Kennedy Onassis und Onassis-Enkelin Athina Onassis Roussel. Darüber hinaus schrieb Klein für viele andere Zeitschriften und Zeitungen, wobei er sich auf Interviews mit Persönlichkeiten der politischen Zeitgeschichte spezialisierte.

Der Buchautor Klein nutzt sein fein gesponnenes Netz prominenter Kontakte als Verfasser biografieähnlicher Sachbücher, die sich meist diverser Tragödien und Skandale als Aufhänger bedienen. Jackie Kennedy Onassis wurde als ertragreiche Gossip-Mine gleich mehrfach ausgebeutet, so in „Just Jackie: Her Private Years“, „All Too Human: The Love Story of Jack and Jackie Kennedy“ (dt. „Jack & Jackie. Das Kennedy-Traumpaar im Zentrum der Macht“) und – Peinlichkeit und Geschäftssinn kennen keine Grenzen – „Farewell Jackie. A Portrait of Her Final Days“. Nachdem Jackie nunmehr auf Wolke Sieben Hof hält, hat Klein in „The Kennedy Curse“ die letzten Notizbucheinträge verbraten und sich anschließend neuen saftigen Wiesen zugewandt. 2005 verfasste er nach bekanntem Muster „The Truth About Hillary“, dessen Vorverkauf durch die vorab verkündete „Topinfo“ angekurbelt wurde, Ex-Präsident Bill Clinton habe seine Tochter Chelsea durch Vergewaltigung der Gattin gezeugt …