Archiv der Kategorie: Zeitgeschichte & Gesellschaft

Dardenne, Sabine – Ihm in die Augen sehen

Belgien, 28. Mai 1996: Die zwölfjährige Sabine fährt wie jeden Morgen mit dem Fahrrad zur Schule. Sie ist früher dran, die Straßen sind noch leer. Plötzlich hält ein Lieferwagen neben ihr und ein Mann zerrt sie und das Rad hinein. Alles geht so schnell, das sich das kleine, schmächtige Mädchen kaum wehren kann. Während ein Mann fährt, verabreicht der andere dem Kind Medikamente, um es zu betäuben. Sabine wird nach zwei Stunden Fahrt in ein unordentliches Haus gebracht und in ein Kellerverlies gesperrt.

Ihr Entführer ist der wegen Vergewaltigung vorbestrafte Marc Dutroux, ein Kinderschänder und Mörder, der bereits vier Mädchen vor ihr dort gefangen gehalten und bis zu deren Tod missbraucht hat. Sabine ist sein neues Opfer. Achtzig Tage lang wird sie im Keller gefangen gehalten. Sie darf sich kaum waschen, erhält oft ungenießbares Essen und wird jeden zweiten Tag missbraucht und vergewaltigt. Ihr Peiniger behauptet, ein gefährlicher „Chef“ habe eine Rechnung mit ihrem Vater offen und wollte sie entführen. Dutroux habe sie angeblich vor ihm gerettet und sie müsse nun bei ihm bleiben, damit er nicht erfährt, dass sie noch am Leben ist. Immer wieder erzählt er dem verängstigten Kind, dass er sie schützen wolle und der „Chef“ sie noch viel schlimmer behandeln würde.

Trotz ihres Misstrauens schenkt Sabine ihm Glauben. Sie hasst und beschimpft ihn zwar für den Missbrauch, den er ihr antut, doch sie glaubt, dass er ihre Eltern wie behauptet informiert hat und diese ihr übermitteln, dass sie ihm gehorchen soll. Sabine ahnt nicht, dass ganz Belgien verzweifelt nach ihr sucht und Dutroux alles nur erfunden hat, um sie zu beruhigen. Stattdessen verfasst sie traurige Briefe an ihre Eltern, die sie nie erreichen. Nach über siebzig Tagen Gefangenschaft bringt Dutroux ein zweites Mädchen in ihr Verließ: Die vierzehnjährige Laetitia soll ihre neue Freundin werden. Sie erleidet das gleiche Schicksal wie Sabine. Nach achtzig Tagen gelingt den Behörden endlich die Festnahme von Dutroux und die Befreiung der beiden Mädchen. Doch das Leiden ist nicht vorbei. Es kommt zu einem Aufsehen erregenden Prozess, der international Schlagzeilen macht …

Wohl kaum jemand ist Ende der Neunzigerjahre am Fall Marc Dutroux vorbeigekommen. Die spektakulären Entführungen und die Bergung der beiden letzten lebenden Opfer gingen um die Welt. Fast zehn Jahre nach ihrer Entführung hat Sabine Dardenne ein Buch über ihr Schicksal verfasst, das nicht nur die Erlebnisse während der Gefangenschaft, sondern auch noch den Prozess und die Verurteilung im Jahr 2004 schildert.

|Mitgefühl und Bewunderung|

Sie will kein Mitleid, sagt Sabine spät im Buch, doch als Leser kann man nicht anders, wenn man ihre ergreifende Geschichte liest. Der rasche Einstieg lässt die Entführung auf offener Straße miterleben, ebenso das Martyrium im Keller, die unhygienischen Umstände und den Missbrauch. Sabine ist ein ganz normales Mädchen, als sie in den Fängen von Dutroux landet.

Sie ist klein und schmal für ihr Alter, aber sie ist ein trotziges, energisches Kind, das bis zum Schluss nicht aufhört, sich zu wehren. Sie ist weder eine Musterschülerin noch ist sie immer artig. Im Gegenteil, sie streitet sich oft mit ihren Eltern und ihren Schwestern, sodass nach ihrem Verschwinden zunächst die Vermutung aufkam, sie sei einfach davongelaufen. In Wahrheit erlebt sie achtzig grausame Tage, die sie nur mit eisernem Willen durchsteht.

Dutroux schlägt sie nicht, doch das ist auch schon das Einzige, was man ihm zugute halten kann. Ihr Verlies ist dreckig, die Schlafmatratze mit Insekten übersäht, statt einer Toilette gibt es nur einen Eimer, einmal die Woche wird sie von Dutroux gewaschen. Wochenlang trägt sie die gleiche Unterhose, ihre Kleidung starrt vor Dreck. Zu essen gibt es oft nur verschimmeltes Brot und kalte Konserven. Sabine schlägt die Zeit mit Briefeschreiben, mit Zählen und Malen tot. Ein winziges Dachfenster ist der einzige Kontakt zur Außenwelt.

Etwa jeden zweiten Tag nimmt Dutroux sie in sein Schlafzimmer, wo er Pornofilme laufen lässt und das Kind missbraucht. Schließlich vergewaltigt er sie und Sabine muss nicht nur starke Schmerzen, sondern auch tagelange Blutungen erleiden. Immer wieder bettelt sie um Freilassung, doch er wiederholt unermüdlich die erfundene Geschichte, die ihn als Retter darstellt. In all der Zeit weiß Sabine nur, dass sie durchhalten wird und leben will. Auch wenn sie kaum noch Hoffnung hat, ihre Familie wiederzusehen, ergibt sie sich nicht in ihr Schicksal. Sie beschimpft ihren Peiniger und wehrt sich, so gut es ein zierliches Kind eben kann, um sich den Stolz zu bewahren.

|Von Schuld und Sühne|

Eine besondere Perversion im Fall Dutroux liegt darin, dass nicht der Entführer und Kinderschänder, sondern sein Opfer bis heute mit Schuldgefühlen kämpfen muss. Je länger ihre Gefangenschaft dauert, desto einsamer fühlt sich Sabine. Daher bettelt sie immer wieder um eine Spielkameradin, um Besuch von Freundinnen. Da sie nicht ahnt, dass Dutroux sie bei weitem vor niemandem schützt, sondern sie gezielt entführt hat, glaubt sie, es sei nicht ausgeschlossen, dass ein gleichaltriges Mädchen ihr Gesellschaft leisten kann, ohne ihr Schicksal zu teilen.

Tatsächlich bringt Dutroux siebzig Tage nach ihrer Entführung die vierzehnjährige Laetitia mit; wie sie am helllichten Tag gefangen genommen. Er betäubt und missbraucht auch sie und steckt sie in das dreckige Verlies. Zwar weiß Sabine heute, dass sie keine Schuld an Laetitias Entführung trägt. Vielmehr hatte Dutroux bereits früher paarweise Mädchen gefangen gehalten, so die achtjährigen Melissa und Julie sowie die siebzehn- und neunzehnjährige An und Eefje. Während Melissa und Julie zur Zeit einer Haftstrafe, die er verbüßen musste, im Kerker verhungerten, wurden An und Eefje betäubt und anschließend lebend begraben. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich ein zweites Mädchen zu Sabine holen würde, doch bis heute nagt der Gedanke an der jungen Frau, dass ihr Wunsch nach einer Freundin auf so perverse Weise erfüllt wurde und ein weiteres Leben zerstörte.

|In seine Augen sehen|

Im Jahr 2004 war es soweit, dass Sabine Dardenne als Zeugin beim Prozess auftrat und mehrmals Gelegenheit hatte, Marc Dutroux gegenüberzutreten. Sabine nutzt diese Möglichkeiten, sie spricht ihn offen im Gericht an, konfrontiert ihn mit Vorwürfen, lehnt seine halbherzige Entschuldigung ab. Noch ein weiteres Mal begegnet sie ihm, bei der Besichtigung ihres einstigen Verlieses, bei der auch Laetitia und die Geschworenen teilnehmen. Beide jungen Frauen machen keinen Hehl aus ihrer Verachtung gegenüber dem Mann, der ihnen ihre Unschuld geraubt hat, in jeglicher Hinsicht.

Trotz der Erleichterung über diese Konfrontation, bei der sie ihren Gefühlen Luft machen kann, bringt der Prozess gleichzeitig auch große Belastung mit sich. Sabine muss sich mit Zweiflern auseinandersetzen, die glauben, dass ihre Aussagen unzuverlässig sind, weil sie vermuten, dass Dutroux das Kind unter Drogen setzte. Schon im Vorfeld herrschte großer Tumult um die Verhandlung, da etliche Zeugen unerwartet verstarben. Die Angeklagten, neben Dutroux seine Frau und weitere Komplizen, beschuldigen sich gegenseitig und der erste Untersuchungsrichter wurde wegen angeblicher Befangenheit abgesetzt. Die Vorwürfe mehren sich, dass hohe Beamten- und Regierungskreise in die Affäre verstrickt sind, das Misstrauen der Bevölkerung wächst zunehmend. Zu allem Überfluss vertritt das zweite überlebende Opfer Laetitia die Ansicht, dass Dutroux nur ein Täter einer großen Kette von Kinderschändern war, während Sabine ihn für einen Einzeltäter hält.

|Eindrucksvolles Portät|

Dem betroffenen Leser bietet sich die Darstellung einer beeindruckenden jungen Frau dar, die gelernt hat, mit ihrem schweren Schicksal umzugehen und dabei teilweise recht ungewöhnliche Wege gewählt hat. Sabine verzichtete auf psychologische Hilfe, sie ist trotz ihres Traumas in der Lage, Beziehungen zu führen und hat die Medien seit jeher gemieden. Bereits kurz nach ihrer Befreiung überraschte sie die Polizeibeamten durch ihre körperliche wie seelische Stärke und ebenso ihre Familie. Es ist irritierend aber auch bemerkenswert zugleich, dass sie auch weiterhin ihrem sturen und eigensinnigen Charakter treu bleibt. Die Gefangenschaft hat sie nicht gebrochen.

Auch nach ihrer Rückkehr in den Schoß der geliebten Familie gibt es dort die gleichen Konflikte wie vor ihrer Entführung über Schule, Hilfe im Haushalt, Bevorzugung der älteren Schwestern. Das mag verwundern, zeigt aber andererseits, dass Sabine sich nicht auf eine lange Schonzeit berufen hat, sondern sich bemühte, so rasch wie möglich wieder am normalen Leben teilzunehmen.

Ihre einfache, direkte Sprache lädt dazu ein, das Buch in einem Rutsch zu verschlingen, eine Mischung aus Entsetzen und Respekt hervorrufend. Für besondere Betroffenheit sorgen die Auszüge aus den intimen Briefen, die sie im Verlies an ihre Eltern schrieb und die als wichtiges Beweismaterial im Prozess dienten. Es sind die Worte eines gequälten Kindes, das sich trotz allen Leids noch an seinen einstigen Alltag klammert, nach Geschenken der Schwestern und ihren Haustieren fragt, im nächsten Satz darum bittet, Dutroux dazu zu bringen, mit seinen Taten aufzuhören und den Leser damit mitten ins Herz trifft. Im Grunde gibt es nur einen Kritikpunkt, nämlich das Fehlen jeglicher Bilder. Nicht umsonst mussten die Geschworenen das Haus und den Kerker vor Ort besichtigen, um sich eine annähernde Vorstellung zu machen. Auch für den Leser wäre es gut gewesen, ein paar der Fotos, die durch die Medien gingen, hier vorzufinden.

_Als Fazit_ bleibt ein intensives Buch über die Erlebnisse eines Entführungs- und Missbrauchsopfers und einen Fall, der weltweit Schlagzeilen machte. Sabine Dardenne präsentiert sich als bewundernswerte und starke junge Frau, deren Schicksal berührt, bewegt und aufrüttelt, angenehmerweise ohne dabei unnötig auf die Tränendrüse zu drücken. Schade ist lediglich, dass auf Fotos verzichtet wurde.

http://www.droemer-knaur.de

Tregubova, Elena – Mutanten des Kreml, Die

Dass es um Demokratie und Pressefreiheit in Russland derzeit nicht sonderlich gut bestellt ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Seit dem Amtsantritt von Wladimir Putin im Jahr 2000 hat der Staat einen Großteil der Presse wieder unter seine Kontrolle gebracht – teils direkt, teils durch Tochterfirmen und Holdings staatlicher oder unter Staatsbeteiligung laufender Konzerne.

Den Journalisten bläst in Russland ein rauer Wind entgegen, zumindest immer dann, wenn sie die Dinge beim Namen nennen und Putins Politik kritisieren. Sein Engagement hat schon so mancher Journalist mit den Leben bezahlt. Der Mord an Anna Politkowskaja, die vor allem Putins Tschetschenienpolitik kritisiert hat, ist da nur ein prominentes Beispiel. Laut dem |Committee to Protect Journalists| wurden seit 2000 mindestens 13 Journalisten ermordet und es gab unzählige Übergriffe und Gewalttaten gegen Journalisten. Verurteilungen gab es dazu bislang keine – alle Gewalttäter sind ungeschoren davongekommen.

In diesen Statistiken taucht auch Elena Tregubova auf, und dass sie nicht auf der Liste der Toten zu finden ist, verdankt sie nur dem Umstand, dass sie außerordentlich großes Glück hatte und unverletzt blieb, als nach Veröffentlichung ihres Kreml-kritischen Buches vor ihrer Wohnungstür eine Bombe explodierte. So hat sie „nur“ die öffentlichen Diffamierungen und Repressalien, die ständige Bedrohung ihres Lebens und den Verlust ihres Jobs als Journalistin für die russische Zeitung |Kommersant| zu beklagen.

2003 veröffentlichte Tregubova in Russland ihr Buch „Bajki Kremljowskogo Diggera“ („Geschichten eines Kreml-Diggers“) und schob kurze Zeit später den Nachfolgeband „Abschied eines Kreml-Diggers“ nach, in dem sie die Erlebnisse rund um die Veröffentlichung ihres ersten Buches festhält. In Deutschland sind beide Bücher in einer zusammengefassten Ausgabe unter dem Titel „Die Mutanten des Kreml“ erschienen.

Elena Tregubova, die 1973 geboren wurde, arbeitete fünf Jahre lang als Kreml-Korrespondentin für den |Kommersant|, bevor sie infolge des Skandals um ihr Buch rausgeworfen wurde. Ihre journalistische Tätigkeit begann in den Neunzigern, damals noch unter Jelzin, der sich stets offen gegenüber der Presse zeigte. Zusammen mit anderen Journalisten begleitete sie Jelzin auf seinen Reisen und denkt noch heute fast wehmütig an die Zeiten des großväterlichen Führungsstils Jelzins zurück, der die Presse schätzte und ihre Freiheit respektierte.

Obwohl ihre Erinnerungen an die Jelzin-Zeit etwas den Anschein erwecken, als würde Tregubova sie teilweise ein wenig zu sehr durch die rosarote Brille sehen, so dokumentiert sie dennoch auch Jelzins Ende detailgetreu: der Aufstieg des Oligarchentums, die in Jelzins Hintergrund die Fäden ziehende Jelzin-Tochter Tatjana Djatschenko und der stetig labiler werdende Gesundheitszustand Jelzins.

Schon während Jelzins Amtszeit interessiert Tregubova sich für Putin. Sie beobachtet ihn, als noch niemand den unscheinbaren ehemaligen Chef des FSB auf dem Zettel hatte. Sie berichtet von einem denkwürdigen Sushi-Essen, zu dem Putin sie einlud, beschreibt die Wirkung dieses Mannes und hat spätestens seit seinem steilen politischen Aufstieg in die engeren Kreml-Kreise Ende der Neunziger ein stetig kritisches Auge auf ihn geworfen.

Mit dem Amtsantritt Putins beobachtet sie dann eine stetige Verschlechterung ihrer Arbeitsbedingungen. Der Kreml beginnt die Arbeit der Presse indirekt, teils aber auch durchaus direkt zu beeinflussen. Mehrfach verliert Tregubova ihre Akkreditierung für den Kreml. Wer nicht das schreibt, was der Kreml lesen will, der wird eben auch in der Ausübung seiner Tätigkeit behindert.

Lebensgefährlich wird es für Tregubova dann, als ihr erstes Buch in Russland erscheint. Der Kreml reagiert wütend, Tregubova verliert ihren Job und schließlich explodiert die Bombe vor ihrer Wohnungstür. Die Journalistin überlebt nur deshalb, weil sie etwas später aus ihrer Wohnung kommt, als die Täter erwartet hatten, und verdankt ihr Überleben somit einzig ihrer, wie sie es selbst nennt, „pathologischen Unpünktlichkeit“.

„Die Mutanten des Kreml“ ist ein Dokument des Niedergangs des freien Journalismus in Russland unter Putin. Das Bild, das Tregubova vom heutigen politischen Russland skizziert, ist niederschmetternd. Die Pressefreiheit ist praktisch ausgehebelt, die oppositionelle Presse wurde konsequent vernichtet und die großen landesweiten Medien wie die Fernsehsender NTW oder TNT unterstehen inzwischen staatlichen Konzernen wie Gazprom.

Die Presse nimmt diese restriktiven Maßnahmen zur Untergrabung ihrer Freiheit scheinbar widerstandslos hin. Nur wenige Medien und Journalisten wehren sich, und wer aufbegehrt, der hat mit erheblichen Repressalien zu rechnen. Auch Elena Tregubova hatte sichtliche Schwierigkeiten, ihr Buch überhaupt an den Mann zu bringen. Letztlich erschien es in einem bolschewistisch geprägten Verlagshaus, das Tregubovas Buch ursprünglich eigentlich nicht veröffentlichen wollte, weil der Verleger von Tregubova den Eindruck einer „verwestlichten Jet-Set-Schnepfe“ hatte, die nicht ins Verlagsprofil passt.

Auch die zunehmend nationalistischen Töne im russischen Politikalltag, der latent geschürte Rassenhass im Zuge des Tschetschenienkrieges, der dazu führt, dass Kaukasier im Alltag immer wieder Vorurteilen und fremdenfeindlichen Übergriffen ausgesetzt sind, sind ein wichtiges Thema für Elena Tregubova.

Tregubova spricht die Dinge an, wie sie sind, und dass dabei nicht einfach nur irgendein zeitkritisches Dokument herausgekommen ist, ist wohl Tregubovas unverfälschtem persönlichen Stil zuzuschreiben. Sie analysiert nicht einfach nüchtern die Lage in ihrem Land, sondern beurteilt alles von ihrem persönlichen Erfahrungshorizont aus. Sie beschreibt, wie es ihr persönlich seit Putins Amtsantritt ergangen ist, und das macht sie in einem äußerst liebenswerten Plauderton.

Sie schreckt nicht vor harter Kritik zurück und schildert eindrucksvoll, wie in Russland Pressefreiheit und Demokratie vor die Hunde gehen, bewahrt aber bei aller Härte des Stoffes stets einen leichtfüßigen Erzählton, der auch immer wieder vor Selbstironie sprüht. Sie erzählt mitreißend, spannend und immer wieder auch mit einem Augenzwinkern gegenüber ihrer eigenen Person. So entsteht eine Art „Pop-Politthriller“, der zu fesseln weiß und vermutlich auch deswegen in Russland zum Bestseller wurde.

Auch die Hörbuchfassung des |Hoffmann und Campe|-Verlags versprüht den Charme der Elena Tregubova. Als Sprecherin wurde Sandra Borgmann verpflichtet, die man als Rosalie aus der TV-Serie „Berlin, Berlin“ kennt. Sie füllt den Text wunderbar mit Leben und manövriert souverän durch das Meer unaussprechlicher russischer Namen. Gerade auch vor dem Hintergrund dieser hervorragenden Leseleistung ist es schade, dass das Buch für die Hörbuchfassung gekürzt wurde. 225 Minuten sind für ein Hörbuch noch keine Länge, und ich hätte gerne das komplette Buch in dieser Form genossen.

Bleibt unterm Strich ein durchweg positiver Eindruck von „Die Mutanten des Kreml“. Zwar kann man Elena Tregubova sicherlich vorhalten, dass sie die Zeit Jelzins in etwas zu rosigen Farben malt, aber ansonsten ist ihr Buch ein wichtiges und mutiges Werk, das ein persönliches und dadurch umso eindringlicheres Bild des heutigen Russland skizziert. Auch die Lesung von Sandra Borgmann ist äußerst gelungen, wenngleich man sich wünscht, der Text wäre für die Hörbuchfassung nicht gekürzt worden.

Elena Tregubova ist indes übrigens untergetaucht. Eigentlich hätte sie im Dezember zur Lesereise nach Deutschland kommen sollen, aber die hat sie in letzter Minute abgesagt. Der |Tropen|-Verlag, in dem die Buchfassung von „Die Mutanten des Kreml“ erschienen ist, hat seitdem keinen Kontakt mehr mit ihr aufnehmen können.

http://www.hoffmann-und-campe.de

Spengler, Oswald – Mensch und die Technik, Der / Pessimismus?

Seitdem sich einflussreiche Köpfe aus der US-Politik und politische Journalisten in Asien auf Oswald Spengler berufen, wächst auch hierzulande das Interesse an dem fast nur durch sein Hauptwerk „Der Untergang des Abendlandes“ bekannten Geschichtsdenker. Obwohl Spengler ansonsten ein unproduktiver Autor war, von dem zu Lebzeiten nur wenige Schriften veröffentlicht wurden, sind heute nicht einmal mehr diese alle verfügbar. Nun hat der |Karolinger|-Verlag mit ‚Der Mensch und die Technik‘ und ‚Pessimismus?‘ zwei Texte neu herausgebracht. Bei beiden Schriften, so sehr sie sich auch unterscheiden, wird eine Gemeinsamkeit sehr deutlich: Trotz seiner spekulativen Geschichtsphilosophie war Spengler kein weltabgewandter Spinner im Elfenbeinturm. Mit großer Leidenschaft dringt er darauf, die Erkenntnisse seiner Geschichtsmorphologie politisch ebenso zu nutzen wie diejenigen der Naturwissenschaften.

_Der Mensch und die Technik_

Am 6. Mai 1931 hielt Oswald Spengler eine Rede im Deutschen Museum München über die weltpolitische Situation und legte später im Jahr sein erweitertes Redemanuskript unter dem Titel „Der Mensch und die Technik“ als Buch vor. Wie viele andere, zum Teil sogar entgegengesetzte Denker hatte er erkannt, dass die moderne Technik nicht einfach die quantitativ gesteigerte Fortsetzung früherer Erfindungen, sondern eine neue Stufe in der Geschichte war, die alle Lebensbereiche durchdringt.

Nach dem Erscheinen des „Untergangs des Abendlandes“, in dem er sich mit typischen Abläufen in der Geschichte der Hochkulturen auseinandergesetzt hatte, hatte sich Spengler stärker der Vorgeschichte zugewandt. Im vorliegenden Text fasst er seine Gedanken zur Vorgeschichte und zur abendländischen Spätphase zu einer Lageeinschätzung des technischen Zeitalters zusammen. Ausgehend von Pflanze, Tier und Urmensch entwirft er eine Anthropologie, die den Menschen als planendes, zusammenarbeitendes Wesen beschreibt, das sich die Natur zur Erreichung seiner Ziele unterwirft. Die Technik als Werkzeug geht immer zusammen mit der Technik als Verfahren. (Das Englische kennt den Unterschied zwischen |technology| und |technique|.) So kommt der Autor zu Aussagen, etwa dass alle wichtigen Fortschritte schlagartig eintreten, die der damaligen Lehrmeinung entgegenstanden, aber durch neuere Erkenntnisse eher gestützt werden. Auf jeden Fall wäre es wünschenswert, wenn sich heutige Naturwissenschaftler und Archäologen zu Spenglers Gedanken äußerten.

Beim Menschen des späten Abendlandes nun ist die Technik zum Selbstzweck geworden, die sich unter den Händen des Zauberlehrlings längst zu einem Dämon mit eigener Dynamik entwickelt hat. Was wir heute „Globalisierung“ nennen, nahm schon in Spenglers Zeit vor der Entkolonialisierung seinen Anfang. Wohin die Reise gehen sollte, sagen die prophetischen Worte: „Mit den unzähligen Händen der Farbigen, die ebenso geschickt und viel anspruchsloser arbeiten, wird die Grundlage der weißen wirtschaftlichen Organisation erschüttert […] Das Schwergewicht der Produktion verlagert sich unaufhaltsam […] Das ist der letzte Grund der Arbeitslosigkeit in den weißen Ländern, die keine Krise ist, sondern der Beginn einer Katastrophe.“ (S. 72) Ein Blick von 1931 auf die im Bankerdeutsch so genannten BRIC-Staaten von heute.

Spengler sah sich gerade in Deutschland einem weltfremden Idealismus gegenüber, zu dem in neuerer Zeit mit Kapitalismus und Sozialismus zwei materialistische Weltanschauungen, die letztendlich nur auf Wirtschaftsproblemen beruhten, gekommen waren. Dass er also seine Thesen gegen etablierte „Irrtümer“ vertreten musste, erklärt den gelegentlich bissigen bis polemischen Tonfall dieser Rede.

_Pessimismus?_

Der Aufsatz „Pessimismus?“ erschien 1921 in den „Preußischen Jahrbüchern“ und lag damit zeitlich zwischen dem ersten und dem zweiten Band des „Untergangs des Abendlandes“. Der erste Band war in der depressiven Stimmung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg schlagartig auf eine gewaltige Resonanz und dabei auf zum Teil kolossale Fehlinterpretationen gestoßen, die Spengler mit dieser Schrift (und dem darin angekündigten zweiten Band) nun ausräumen wollte. Nach seiner Geschichtsmorphologie sind die Hochkulturen Organismen, die wie Lebewesen bestimmte artgemäße Lebensstufen durchlaufen müssen und am Ende zwangsläufig ihren natürlichen Tod finden. Dieser Untergang als Kultur muss keineswegs mit der Zerstörung ihrer Staaten oder einer anderen äußeren Katastrophe einhergehen. Zu Pessimismus bestehe also kein Anlass, auch in der heutigen (Nach-)Kulturphase des Abendlandes gebe es noch bedeutende zeitgemäße Aufgaben, die aktiv angegangen werden müssen. Spengler klärt noch weitere Grundgedanken seines Hauptwerkes wie das Begriffspaar von „Tatsachen“ und „Wahrheiten“, die dem aufmerksamen Leser eigentlich schon bei der Lektüre des „Untergangs“ hätten aufgehen müssen. Man erkennt daran, welche Missverständnisse damals (und heute) das reißerische Wort „Untergang“ hervorgerufen hat.

Bemerkenswert ist die fast völlig geänderte Zukunftserwartung beim Autor in den zehn Jahren bis zu „Der Mensch und die Technik“. Ruft Spengler hier noch auf, statt Dichtern und Denkern nun Politiker, Manager und Ingenieure heranzuziehen, um große Ziele in der Zukunft zu erreichen, ist er dort überzeugt, dass sich das Abendland mit seiner Wirtschaft und Technik selbst auf verlorenen Posten begeben hat.

_Zu dieser Ausgabe_

Die vorliegende Ausgabe enthält neben den beiden Texten noch eine Liste der Bücher und wichtigsten Aufsätze Spenglers, die zu seinen Lebzeiten oder posthum veröffentlicht worden sind, sowie eine Übersicht über die Sekundärliteratur im In- und Ausland. Dem |Karolinger|-Verlag ist zu danken, nach dem „Desinteresse des Originalverlags“, so das Vorwort, diese beiden Schriften wieder zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt zu haben.

http://www.karolinger.at

Vankin, Jonathan / Whalen, John – 50 größten Verschwörungen aller Zeiten, Die

Verschwörungen. Wer kennt und liebt sie nicht? Die oft phantasievollen Backgroundstorys und Was-wäre-wenn-Theorien zu mehr oder weniger großen Ereignissen, die eine alternative Wahrheit preisgeben, die jedoch oft nicht zu beweisen ist und nur auf widersprüchlichen Indizien beruht, welche nicht zur allgemein vertretenen Meinung passen. Nun, manchmal sind sogar offizielle Darstellungen und lieb gewonnene Lehrbuchmeinungen, an die man sich so gern klammert, hanebüchener und spekulativer, als jede konspirative Theorie es je sein könnte.

Der unumstrittene Vorteil von Lehrmeinungen: Sie werden von der breiten Masse jedoch als wahr anerkannt und akzeptiert. Wie das so ist im Leben, hängt die wahrgenommene Realität beinahe ausschließlich von unserem eigenen Standpunkt ab und dem, was uns als „wahr“ auch von dritter Seite suggeriert und zuweilen – etwa durch die Massenmedien – regelrecht eingetrichtert wird. 50 der beliebtesten und sich hartnäckig haltenden Komplotte und Intrigen haben die Autoren Vankin und Whalen zusammengetragen und kommentiert.

_Zum Inhalt_

Die Spanne der geschilderten, nie zufrieden stellend geklärten Vorfälle reicht buchstäblich von Akte X bis Zion. Den Schwerpunkt und Born nie enden wollender Geheimniskrämerei und mutmaßlicher Verstrickungen liefert (wer auch sonst?) die CIA. Das mag zum einen daran liegen, dass der US-Geheimdienst praktisch überall seine Finger im Spiel haben soll. Zumindest wird ihm das ja – von JFK bis Monicagate – gerne unterstellt. Zum zweiten liegt es daran, dass das Autorenteam aus den USA stammt. Da sind solche CIA-Themen natürlich präsenter als die Machenschaften von Geheimdiensten und -kulten des alten Europa. Gegenüber der Originalausgabe wurde vom |HEEL|-Verlag (wo das Buch zuerst erschien) die deutsche Fassung unverständlicherweise um 20 Theorien gekürzt, dort sind es ganze 70.

Dennoch finden sich hier auch Kuriositäten mit Rang und Namen aus anderen Teilen der Welt. Etwa das Mysterium des Turiner Grabtuchs, die niederländische Bilderberger-Gruppe, die Illuminati um Adam Weishaupt, die Freimaurer (und in diesem Kontext auch Jack the Ripper), die Prieuré de Sion, der nationalsozialistische Thule-Orden um Heinrich Himmler und Adolf Hitler, und nicht zuletzt der tragische Tod von Prinzessin Diana. Die Roswell-UFO-Legende nebst den „richtigen“ MIB (Men in Black) darf selbstverständlich auch nicht fehlen, ebenso wenig natürlich wie JFK und auch das Lockerbie-Attentat. – ein kunterbuntes und illustres Gemisch. Hier ist fast alles vertreten, was die moderne, konspirative Gift- und Gerüchteküche eben hergibt.

_Eindrücke_

Heute wäre die Liste um ein paar entscheidende Punkte länger. Die Autoren konnten jedoch kaum ahnen, dass im Jahr 2001 mit den Terror-Anschlägen einige ihrer hier behandelten Verschwörungstheorien regelrecht zu kumulieren scheinen. Zum Nine-Eleven gibt es übrigens seit 2006 ein eigenes Buch von Vankin und Whalen. Es ist schon interessant zu lesen, dass bereits vor Ground Zero & Co. immer wieder die gleichen Namen, Gruppierungen und Zusammenhänge Erwähnung finden und wie weit manch eine der unterstellten Seilschaften mächtiger Menschen und Organisationen zurückreicht. Bemerkenswerte Parallelen mit dem verhängnisvollen Nine-Eleven tun sich auf, und das bereits einige Jahre vorher. Die Erstveröffentlichung des Buches fand 1995 statt, die letzte überarbeitete Ausgabe datiert auf 1998.

Logischerweise reichen die sicher nicht immer ganz ernst gemeinten Recherchen und verschmitzten Kommentare zu den 50 „beliebtesten“ Verchwörungstheorien auch nur bis zu diesem Jahr. Dabei werden offizielle Darstellung und die Gerüchteküche für jeden der streiflichartig behandelten Vorfälle munter durch bissige Einschübe miteinander vermengt. Eher humorvoll präsentiert sich der Stil, doch das kann nicht davon ablenken, dass die Autoren im Kern durchaus richtige und kritische Fragen stellen. Rein psychologisch ist es übrigens sehr geschickt, dies in Frageform zu gestalten; so gerät man weniger in die Schusslinie des vermeintlichen Establishments. Wer zu strittigen Themen nur „mal dumm“ fragt, der verbrennt sich die Zunge weniger als jemand, der seine Meinung im Imperativ formuliert.

_Fazit_

Dank der flockigen Schreibe bietet das ursprünglich im |HEEL|-Verlag erschienene und bei |Area| neu aufgelegte Buch einige vergnügliche Lesestunden, kann und will aber dem mündigen Leser weder das Denken noch das eigene Recherchieren abnehmen. Das heißt, wenn dieser sich annähernd für den ganzen Geheimniskram interessiert. Was bleibt, ist ein nicht besonders aktueller Überblick über 50 populäre Verschwörungstheorien, dem allerdings gegenüber dem amerikanischen Original ganze 20 (!) zum Teil sehr skurrile Themenkomplexe fehlen, welche leider nicht in die deutsche Version übernommen wurden – warum auch immer.

|Originaltitel: The 70 Greatest Conspiracies Of All Time, Citadel Press 1995|

Toledo, Camille de – Goodbye Tristesse

Der Klappentext zu „Goodbye Tristesse“ lässt auf wirklich Gutes hoffen. |“Das atemloseste Politpamphlet des Jahres“| verspricht die |Welt am Sonntag|. Das |Süddeutsche Zeitung Magazin| sieht in „Goodbye Tristesse“ |“die Antwort auf ‚Generation Golf‘, aber leidenschaftlicher und politischer.“|

Das Lebensgefühl einer Generation soll hier analysiert werden, und zwar der Generation, die Autor Camille de Toledo selbst liebevoll die Kinder des Doppelkollaps nennt – die Generation also, deren Jugendjahre zwischen die beiden markantesten Eckdaten der heutigen Zeit fallen: 11/9 und 9/11. Der Fall der Mauer und der Fall der Zwillingstürme als Eckpfeiler einer Generation.

Auch Camille de Toledo ist ein Kind des Doppelkollaps. Geboren wurde der Franzose 1976. „Goodbye Tristesse“ erschien 2002 in Frankreich und fand dort eine große Leserschaft. Gerade auch für die Presse war das Werk ein gefundenes Fressen, denn Camille de Toledo ist nicht irgendein Linker, der irgendein neues Antiglobalisierungspamphlet geschrieben hat.

Mit bürgerlichem Namen heißt er Alexis Mital und er ist der Enkel des Gründers der Danone-Gruppe. Der Spross eines Großindustriellen, vermutlich des wichtigsten und größten in Frankreich, übt sich in Kapitalismuskritik. Doch das Ganze ist nur auf den ersten Blick so spektakulär, wie Presse und Verlag es gerne hätten. De Toledo spricht nicht gerne über seinen Großvater, lässt seine Familie außen vor (er outet sich erst im Epilog) und will viel lieber über seine Ideen und Gedanken zu Globalisierung, Kapitalismus und die Auflehnung dagegen sprechen, als die ewig gleichen Fragen nach seinen Wurzeln zu beantworten.

„Goodbye Tristesse“ ist dabei letztlich eine Bestandsaufnahme der heutigen Zeit, des vorherrschenden Geistes und eine Antwort auf die Frage, wie man heute, in Zeiten politischen Desinteresses, noch vernünftig protestieren kann. De Toledo beginnt seine Analyse in den späten Achtzigern und differenziert in der Zeit zwischen Mauerfall und 11. September drei verschiedene Stadien der Revolte, die den Kern seiner Analyse ausmachen.

|“Das Stadium des neuen Rückzugs“| markiert den Beginn seiner Analyse und damit definiert de Toledo eine Zeit, die geprägt ist von der schuldbeladenen Erinnerung an den Holocaust und die enttäuschte Erinnerung an die verratenen Ideen und Ideale der 68er. Der Kapitalismus nimmt alles in sich auf. Er absorbiert die Subkultur und damit auch immer wieder die Revolte selbst. De Toledo beschreibt, wie diese Aspekte im Zusammenspiel mit weiteren Faktoren zu Resignation und Zynismus führen, die das Stadium des neuen Rückzugs charakterisieren.

|“Das Stadium des neuen Einflusses“| sieht de Toledo von der Verflüssigung geprägt. Markantestes Merkmal ist in dieser Phase die zunehmende Vernetzung. Kunst, Kapitalismus, Intelligenz – alle diese Dinge sieht de Toledo vereint, die Menschen als Bestandteile eines großen zusammenhängenden Netzes.

Die letzte Phase ist |“das Stadium des neuen Körpers“|. In dieser Phase sieht de Toledo eine Wiederbelebung des poetischen Menschen, der einen Kontrapunkt zum Marktmenschen markiert. Als Form der Revolte sieht er in dieser Phase einen Übergang von einer bewaffneten zu einer semantischen Guerilla. Subcomandante Marcos, den de Toledo gerne als Beispiel für diese Phase der Revolte heranzieht, hat das so ausgedrückt: |“Wir sind eine Armee von Träumern und deswegen sind wir unbesiegbar.“| Die Idee der semantischen Guerilla des Subcommandante Marcos verknüpft de Toledo mit der Idee eines „provisorischen Außerhalb“ der Gesellschaft, aus dem heraus der Protest formiert wird. Oberste Zielsetzung ist für ihn eine |“Romantik der offenen Augen“|, die er von direkten und gewaltlosen Aktionen geprägt sieht und von einer offenen Auseinandersetzung mit den schier unendlichen Möglichkeiten des Protestes.

Allein schon diese grobe, stark vereinfachte Inhaltsbetrachtung offenbart, dass de Toledo zur Verdeutlichung seiner Ideen einen sehr philosophischen Ansatz wählt. Wer das Buch also kauft, weil er eine politische Variante von „Generation Golf“ erwartet, der dürfte am Ende enttäuscht sein. So geht es auch mir. Die Pressestimmen klingen wunderbar und der Klappentext absolut verführerisch, aber das, was sich dann zwischen den Buchdeckeln offenbart, ist ein äußerst sperriger, schwer verdaulicher Brocken, der so abstrakt und verkopft daherkommt, dass man bei der Lektüre immer wieder Zweifel an der eigenen Intelligenz bekommt. Trotz Abitur und Fachhochschulabschluss waren viele Passagen des Buches für mich schlichtweg unverständlich.

Die Aufmachung des Buches und der Tenor der Pressestimmen suggerieren Leichtigkeit und einen lockeren, aber gleichzeitig ernsthaften Diskurs. Doch dieser Eindruck täuscht. De Toledos Ideen überhaupt grundsätzlich nachvollziehen zu können, ist ohne Sekundärliteratur für den eher rudimentär philosophisch bewanderten Leser ein Drahtseilakt. Wer noch nie zuvor von der „Situationistischen Internationale“ oder von der „Gesellschaft des Spektakels“ gehört hat, wer die Werke von Guy Debord oder Gilles Châtelet nicht kennt oder noch nie den „Anti-Ödipus“ gelesen hat, der wird so manches nicht nachvollziehen können, was de Toledo schreibt.

Er macht sich nicht einmal die Mühe, sich verständlich auszudrücken – zumindest drängt sich der Eindruck im Laufe der Lektüre auf. De Toledo jongliert eben nicht nur mit abstrakten Gedankenkonstrukten, sondern verschanzt diese auch noch hinter einem Wortschatz, der mit Fremdwörtern gespickt ist. Dabei mag man dem Autor keinesfalls unterstellen, dass er das absichtlich macht, um sich wichtig zu tun. De Toledo studiert seit seiner Jugend philosophische Werke, insbesondere offensichtlich die französischer Philosophen. Für ihn sind abstrakte Denkspiele nichts Ungewöhnliches, aber wer nicht auf einen ähnlichen Erfahrungsschatz bauen kann, für den wird wohl so manches im Dunkeln bleiben.

Dabei wirkt de Toledos Buch in jedem Fall hochgradig leidenschaftlich. Man spürt immer wieder, dass er sehr viel Herzblut in sein Werk gesteckt hat und immer dann, wenn sich mal ein Lichtblick auftut und man zu begreifen beginnt, worauf er hinaus will, geht von de Toledos Leidenschaft etwas Ansteckendes aus. So gesehen, ist es außerordentlich schade, dass durch die abstrakten und schwer verdaulichen Gedanken so viel von dieser leidenschaftlichen Energie verpufft.

Und so bleibt am Ende ein außerordentlich blasser Eindruck zurück. Vieles bleibt diffus und unklar und so bleibt auch die kritische Auseinandersetzung mit de Toledos Thesen letztlich auf der Strecke. Wie soll man schließlich etwas kritisch betrachten können, das man kaum verstanden hat und das so seltsam abstrakt bleibt, dass man kaum einen Gedanken festhalten kann?

Fazit: Ein Buch vor allem für den philosophisch geschulten und interessierten Leser. Mit einem „atemlosen Politpamphlet“, einer politischen Variante von |“Generation Golf“| oder der Leichtigkeit verheißenden Umschreibung „Lebensgefühl der Thirty-Somethings“ hat „Goodbye Tristesse“ wenig bis gar nichts zu tun, und so sind Pressestimmen und Klappentext prädestiniert dazu, einen falschen Eindruck zu erwecken und eine enttäuschte Leserschaft zurückzulassen.

Bleibt die sympathische Ironie, dass die Taschenbuchausgabe zu „Goodbye Tristesse“ gerade in einem Verlag erscheint, der selbst Teil eines multinationalen Konzerns ist, und das bestätigt dann schon irgendwie, dass Camille de Toledo mit seiner Beschreibung des „Stadiums des neuen Rückzugs“ Recht hat …

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Andreas Ulrich – Das Engelsgesicht. Die Geschichte eines Mafia-Killers aus Deutschland

Omertà (italienisch) = Ehrenkodex der Mafia und auch der anderer organisierten kriminellen Vereinigungen. Dieser Kodex verbietet es sowohl den Aktiven als auch den Inaktiven, den Tätern ebenso wie den Opfern, eine Aussage zu treffen, die der Organisation oder der „Familie“ schaden könnte. Ein Bruch dieses stillschweigenden aber bindenden Versprechens ist gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Ein Urteil ohne Anwälte, ohne Verteidigung, ohne Ausreden – endgültig.

Giorgio Basile hat dieses „Gelübde“, diese Omertà gebrochen und damit ist er des Todes. Töten wird ihn wahrscheinlich sein eigener Bruder – „Gott vergibt – die Mafia nie“ heißt es in verschiedenen Regionen Italiens.

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Sabine Dardenne – Ihm in die Augen sehen

Sie, Sabine Dardenne, ist vermutlich die im Jahr 2004 bekannteste junge Europäerin, ohne ein Schlagerstar zu sein, weil sie ihrem Peiniger und Vergewaltiger beim Prozess im Frühjahr 2004 hoch erhobenen Hauptes ins Gesicht schaute.

Die junge Belgierin, deren Bilder bei ihrer Befreiung im Jahr 1996 um die Welt gingen, jene junge Belgierin, die acht Jahre später ihrem Peiniger im Gerichtssaal aufrecht ins Gesicht schaute und mit „crapule“ das Wort der Verachtung sagte, dass jeder Belgier aus ihrem Munde erhoffte. Und sie sagte es ohne zitternde Stimme … „Crapule“ – „Schurke“!

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Peter Scholl-Latour – Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam

Peter Scholl-Latour, der bedeutendste deutsche Auslandsjournalist, hat sein neuestes Buch Russland gewidmet. „Russland im Zangengriff. Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam“ ist ein geopolitischer Lagebericht in Form eines Reisetagebuches, der auf Besuchen Scholl-Latours, der sich grundsätzlich vor Ort informiert, in Russland und einigen seiner Nachbarstaaten von Januar bis Mai 2006 beruht. Dass den Leser in diesem Buch keine Plaudereien, sondern genaue Beobachtungen und Analysen erwarten, machen schon die Umschlagseiten deutlich: Sie zeigen eine Karte Eurasiens mit Russland in der Mitte, die gegenüber den gewohnten Karten leicht verschoben ist. Damit wird einerseits klar, dass Deutschland nicht das Land „im Herzen Europas“ ist, wie Politiker gerne schwafeln, sondern am Rande dieser gewaltigen Landmasse liegt und dass man hierzulande gar nicht anders kann, als sich für das riesige Russland zu interessieren. Andererseits sind alle Staaten farblich markiert, in denen US-Truppen stehen, sei es durch Nato-Präsenz, Krieg oder Kooperationsverträge mit den örtlichen Machthabern. Diese Karte ist die Illustration einer umgekehrten Monroe-Doktrin, mit der die USA sich in Eurasien festsetzen.

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Barber, Richard – Heilige Gral, Der. Die Geschichte eines Mythos

Im Zuge des Erfolges von Dan Browns „The da Vinci Code“ (dt: [„Sakrileg“), 1897 welcher nun auch mit allerhand Stars besetzt verfilmt wurde, lodert auch das Interesse der Öffentlichkeit am Gral und seiner Legende wieder hoch. Gemeinhin nennt man den Gral (und die Suche nach ihm) in einem Atemzug mit König Artus und seiner Tafelrunde, den Tempelrittern, den Freimaurern und stellt ihn häufig als höchst okkulte Reliquie dar, doch sind die historischen Quellen über die Natur des Grals eher spärlich und vage. Richard Barber fasst tausend Jahre Gralgeschichte zusammen – von seinem ersten Auftauchen in der Literatur um 1190 herum bis zu den modernen Mythen.

_Zum Inhalt_

Vieles ist in die Gralgeschichte bis heute hineininterpretiert worden, doch zurück geht die Erzählung auf Chrétien de Troyes, der im Mittelalter damit das Genre des (Artus-)Ritterromans schuf. Die ursprüngliche Fassung ist recht kurz und Chrétien wird diese schwer moralinsaure Fabel auch nicht vollenden, da er vorher verstirbt. Wie das oft so ist, tragen solcherlei unvollendete Werke gerne zur Legendenbildung bei und Trittbrettfahrer finden sich, welche den Faden gerne aufnehmen und weiterspinnen. In diesem Fall folgen dem Garn drei „Fortsetzungen“ bzw. Alternativversionen, die im Kern mit der Urfassung halbwegs übereinstimmen. Zumindest eine kann man ganz sicher Robert de Boron zuordnen, einem Zeitgenossen Troyes.

Kurzum: In einem Zeitraum von 50 Jahren entsteht das Grundgerüst, wobei Rahmenbedingungen und Personen in etwa gleich bleiben, jedoch anderes stark differenziert und in der Folge kräftig ausgeschmückt wird. Es ist nicht einmal wirklich sicher, welche Gestalt der Gral nun eigentlich innehat. Von einer Schale über einen Kelch bis hin zu einem (Edel-)Stein ist alles möglich. Auch seine Funktion ist nicht bei allen Autoren gleich. Zumeist erfüllt er die Aufgabe als Füllhorn mit Heilkräften, meist begleitet von einer geheimnisvoll blutenden Lanze. Der deutsche Dichter Wolfram von Eschenbach nimmt sich des inkonsistenten Stoffes später an und schustert daraus seinen „Parsival“ zusammen. Diese Gralgeschichte dürfte das bekannteste und originellste Spin-off sein.

Im Laufe der Zeit wird aus dem Gral dann endgültig ein Kelch, mit welchem Joseph von Aritmathia Jesus‘ Blut auffing und aus der Lanze jene des Longinus, des römischen Soldaten, der Jesus am Kreuz damit in die Seite stach. Von dort an haftet der Gralslegende die christliche Auferstehungssymbolik dauerhaft an, wenngleich das in den Urfassungen so überhaupt nicht vorkommt. Das alles hat sich bis heute aber am deutlichsten in dem Mythos erhalten. Dabei hat der Gral an sich eine eher säkulare (wiewohl auch religiöse) Basis und ist trotz der später mit ihm verknüpften katholischen Eucharistie eigentlich komplett außerhalb der Kirchenlehre angesiedelt. Dennoch ist er sein nunmehr fast 1000 Jahren ein mächtiges Symbol der Frömmigkeit.

Letztlich steht er in den Rittererzählungen für die alte Weisheit „Der Weg ist das Ziel“ und dient zum Beispiel dadurch besonders den Rittern Camelots als Triebfeder für ihre edlen Taten, denn nur jene, die reinen Herzens sind, bekommen ihn je zu sehen. bzw. dürfen in sein Mysterium eintauchen. Der heute noch aus den Geschichten bekannte Ritter Lancelot etwa kann genau das nicht, obwohl er einer der trefflichsten Ritter seiner Zeit ist. Seine verbotene Liebe zu Artus‘ Ehefrau Guinevere ist der Hemmschuh, den er auch niemals überwinden wird. Es ist Sir Galahad, der den Gral zu guter Letzt findet, in ihn schauen darf und dann selig verstirbt. Daraufhin entrücken die himmlischen Mächte den Gral von Erden. So weit die prosaischen Sagen.

_Eindrücke_

Barber gliedert sein Buch beinahe chronologisch und beginnt mit der Urfassung Chrétien de Troyes, bevor er sich auf die moderneren Interpretationen des Stoffes einlässt. So bekommt man einen guten Einblick in die Entstehungsgeschichte des Mythos. Dabei ist es manchmal gar nicht leicht festzustellen, wer bei wem und wann abgekupfert hat respektive beeinflusst wurde. Lediglich bei Wolfram von Eschenbach und auch bei der musikalischen Version Richard Wagners kann man da ziemlich genaue zeitliche Rahmen festlegen und von ihnen weiß man auch noch einiges aus deren Vita. Bei Informationen über Chrétien, Boron und Mantisse und deren Beweggründen sieht’s dagegen finster aus. Mittelalter eben.

Doch nicht nur die klassischen Werke über den Gral werden behandelt und akribisch gegenübergestellt, es kommen auch die moderneren Mythen und Geschichten über ihn und seine Natur zu Ehren. Etwa die oft kolportierte – aber recht wackelig argumentierte – Verbindung von Rosenkreuzern, Templern und Freimaurern zum Gral. Sachlich pflückt Barber diese Thesen auseinander, lässt aber den betreffenden Autoren der oft hochspekulativen Populärwissenschaft noch Luft zum Leben und räumt ein, dass durchaus ein Körnchen Wahrheit in deren Recherchen stecken kann, dass aber leider allzu häufig der Wunsch Vater des Gedanken ist und nicht etwa belegbare Quellen.

_Fazit_

Ein fundiertes, undogmatisches und polemikfreies Sachbuch zu rund einem Jahrtausend Geschichte und Mythos um den heiligen Gral. Man sollte in Sachen Fremdwörtern jedoch sattelfest sein, denn Barber schwelgt darin offensichtlich gern. Geschichtliches Hintergrundwissen ist ebenfalls nicht verkehrt, jedoch nicht Voraussetzung; man findet auch so den Zugang recht schnell. Bei aller Faszination ist der Text allerdings recht trocken und ein Querlesen zwar nicht unmöglich, jedoch auch nicht grade empfehlenswert.

|OT: „The Holy Grail. Imagination and Belief“
Penguin Books Ltd., 2004
Deutsche Ausgabe: Patmos Verlag / Düsseldorf, 2004
Übersetzung: Harald Ehrhardt
416 Seiten Hardcover mit S/w-Illustrationen|
http://www.patmos.de

Woodward, Bob – Informant, Der. Deep Throat – Die geheime Quelle der Watergate-Enthüller

_Inhalt_

Die inzwischen legendäre Geschichte um den Einbruch im Watergate-Hotel und die damit einhergehende Tatsache, dass Präsident Nixon seine Konkurrenz ausspionierte, beinhaltet viele Hauptfiguren, aber in der ganzen Zeit war keine so wichtig wie der geheime Informant Deep Throat. In seinem neuesten Buch enthüllt Bob Woodward, Verfasser der Artikel in der |Washington Post| und Kontaktmann zu Deep Throat, das Geheimnis um die Identität des Informanten und erzählt auch in Anbetracht der neuen Erkenntnisse die Geschehnisse um den ganzen Fall neu. Auch alles, was das Leben danach betraf, sowie die Gründe für die Enthüllung werden in dem Buch preisgegeben.

_Schreibstil_

Man erkennt, dass es sich bei „Der Informant“ um das Buch eines Zeitungsredakteurs handelt, da es von vorn bis hinten mit Informationen gefüllt ist. Wer den auf einem früheren Buch Woodwards basierenden Film „Die Unbestechlichen“ von Alan J. Pakula gesehen hat, der weiß, was ich meine. Namen, Tatsachen und Informationen werden dem Leser nur so um die Ohren gehauen, und das ist auch gut so. Wären zu jedem Namen und jeder Information detailliertere Ausführungen ergänzt worden, so wären aus den 200 Seiten des Buches schnell ein 500-seitiger Roman mit ständigen Wiederholungen geworden.

Interessant ist es auf jeden Fall, das ganze Geschehen noch einmal mit den neuen Informationen nachzulesen, obwohl es ohne Vorkenntnisse doch sehr schwer fallen kann. Auch zu erfahren, wie es mit Deep Throat und Bob Woodward nach dem Rücktritt Präsident Nixons weitergegangen ist, ist auf jeden Fall lesenswert. Nur auf den letzten Seiten, wo es um die Gewissensfrage zu der Enthüllung von Deep Throat geht, wird es doch sehr träge, da es sich nur noch um persönliche Meinungen und Gedanken dreht, und die Informationen, die das Buch spannend machen, letztendlich fehlen.

Was negativ auffällt, ist, dass manchmal zwischen all den Gedanken und Informationen der rote Faden verloren geht. So kann es schon vorkommen, dass ein kurzer Abschnitt mit einer enormen Menge an Details gefüllt wurde, letzen Endes aber nur eine kleine Randbemerkung im ganzen Kapitel ist. Das macht die Lektüre leider auch etwas anstrengend.

_Fazit_

Dass die Geschichte ohne lebensbedrohliche Situationen oder sonstige Thrillermomente auskommt, ist von vornherein klar; wer sich allerdings mit investigativem Journalismus oder Watergate im Allgemeinen beschäftigt, wird trotzdem genügend Anreize finden, sich durch die Seiten zu wühlen, auch wenn das Werk sich nicht gerade zum Nebenbeilesen eignet. Allein die zahlreichen Details, die sich nun offenbaren, machen das Buch lesenswert. Fans des Films „Die Unbestechlichen“ ebenso wie Geschichtsinteressierte werden mit „Der Informant“ auf jeden Fall zufrieden sein.

Missfeldt, Jochen – Steilküste

Mit seinem Buch „Steilküste“ wagt sich der deutsche Schriftsteller Jochen Missfeldt an ein sehr brisantes Thema der einheimischen Geschichte, nämlich die Kapitulation des deutsche Militärs, die unweigerlich auch zum Ende des Zweiten Weltkriegs führte. Missfeldt, Jahrgang 1941, berichtet in diesem Werk von einem Ereignis, welches den Zwiespalt, in dem sich die diensthöchsten Militärabgeordneten zu jener Zeit befanden, ziemlich krass verdeutlicht. Er erzählt nämlich von der Desertion zweier deutscher Marinesoldaten, die sich am 3. Mai 1945, exakt fünf Tage vor Kriegsende, dazu entschließen, von ihrem momentanen Aufenthaltsort Dänemark zu fliehen und nach jahrelangem verzweifelten Kampf wieder in die Heimat zurückzukehren.

Wohlwissend, dass die Tage der Schlacht gezählt sind, begehen sie Fahnenflucht, und dies in der wohligen Hoffnung, nach dem bevorstehenden Ende des Krieges nicht mehr politisch verfolgt zu werden. Doch dies ist ein Irrtum; Fredy und Ehrmann werden unmittelbar nach ihrer verhängnisvollen Entscheidung aufgespürt und des Verrats angeklagt – und dies, obwohl es mit der Vaterlandstreue im Anschluss an die Kapitulation nicht mehr weit her ist. Doch es geht hier vorrangig darum, die Moral der gesamten Truppe aufrecht zu erhalten, indem die alten Werte auch nach der Niederlage bestehen bleiben. Es geht um Disziplin und die uneingeschränkte Verbundenheit zur deutschen Kriegsmarine, die die beiden Fahnenflüchtigen mit ihrem Austritt freiwillig abgelegt haben.

Dem Gerichtsherren, der sich bereits wenige Tage später des Falles annimmt, reicht dies schon als Anlass, um die beiden Desertierten zum Tode zu verurteilen, und weil es noch keine offizielle Rechtsprechung gibt, wird diesem Urteil auch stattgegeben. Verheerend, wenn man bedenkt, dass Fredy und Ehrmann auch ohne diesen kurzfristigen Entschluss von der endlos scheinenden Fessel des Krieges befreit worden wären – nicht mal eine Woche später.

Warum also das Risiko, wo man doch schon hoffnungsvoll dem Ende entgegenblicken konnte? Was hat die beiden dazu bewogen, diesen Schritt zu wagen? Nun, es ist im Grunde genommen kein komplexes Gedankenkonstrukt, welches dem vorauseilt, sondern schlicht und einfach der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, heraus aus der ermüdenden Verzweiflung der drohenden Niederlage und all den grausamen Eindrücken, die der Völkermord hinterlassen hat. Einfach nur frei zu sein, das wohl ursprünglichste Bedürfnis eines jeden Menschen, hat die beiden Marineoffiziere dazu bewogen, und einzig und allein, weil sie sich diesen Wunsch jetzt und sofort erfüllen wollten, wurden sie an den Pranger gestellt.

Jochen Missfeldt erzählt die Geschichte aus der Sicht eines seinerzeit vierjährigen Ohrenzeugen, hinter dem er natürlich – man bedenke sein Geburtsjahr – genauso selbst stecken könnte. Doch seine imaginäre Person heißt Gustav, lebt in der heutigen Nachkriegszeit und empfindet die menschenverachtende Ungerechtigkeit dieses Urteils mit all ihren Ursachen rückblickend nach. Gustav erzählt von der Landschaft, Menschen und echten Typen, die ihn damals geprägt haben, sowie natürlich von der politischen Lage im Mai des Jahres 1945. Hierzu beschreibt er die konträren Stimmungen, beginnend mit der Depression des erschütterten und zu Tode geplagten Volks bis hin zur stillen Euphorie, die aus der Hoffnung des endgültigen Endes dieser jahrelangen Schlacht resultiert.

Doch Gustav erinnert sich nicht sonderlich genau an all jene Ereignisse zurück. Stattdessen macht er recht seltsame Gedankensprünge, berichtet mal hier und mal dort ein bisschen und gelangt irgendwann zur Geschichte der beiden Protagonisten. Und dies ist auch der wesentliche Schwachpunkt dieses Buches. Natürlich erwartet niemand von Jochen Missfeldt, eine exakt dokumentierte Berichterstattung der von ihm beobachteten Vorgänge, aber es wäre schon empfehlenswert gewesen, sich manchen Dingen etwas fokussierter zu widmen, schließlich ist die vordergründige Story um die beiden zu Tode verurteilten Männer schon bedrückend genug. Aber der Autor lässt sich hierauf nicht wirklich ein und schweift ziemlich häufig ab, schildert die Schönheit der Landschaft, kommt immer wieder auf Menschen zu sprechen, die mit der eigentlichen Handlung nur minimal etwas zu tun haben und verliert sich somit manchmal – und ich denke bewusst – in seinen oftmals verzwickten Ideen. Und dabei ist die Geschichte ja inhaltlich alles andere als komplex und aufgrund der deutlichen Kritik sogar ziemlich direkt.

Apropos Kritik: Zur damaligen Zeit wären wahrscheinlich heftige Diskussionen entbrannt, welche Strafe bzw. ob eine Strafe für die beiden Ex-Marinesoldaten überhaupt angebracht gewesen wäre. Während der pazifistische Teil der deutschen Bürger sicherlich als Fürsprecher hätte gewonnen werden können, kann man die Vorwürfe der politisch rechten Flanke gewissermaßen auch nachvollziehen, schließlich haben die Mitsoldaten sich abseits jeglicher diskussionswürdigen Gesinnung bis zum letzten Tag gekämpft, wenngleich man dies natürlich immer in Relation zu den tatsächlichen, heftigen Kriegshandlungen, die dem Ganzen vorausgegangen sind, betrachten muss.

Darüber aus heutiger Sicht zu diskutieren, ist aber natürlich völlig unangebracht. Diese beiden Menschen zu verurteilen, war ein unmenschliches Verbrechen, so gemein und ungerecht, dass man sich regelrecht davor ekeln könnte – hätte Missfeldt dies in seinem Buch besser auf den Punkt gebracht. Es mangelt sicher nicht an Authentizität – schließlich bezieht sich der Vorfall auf eine tatsächliche Begebenheit – aber im Großen und Ganzen hätte der Autor dies dann auch ein wenig ernster und zielgerichteter beschreiben sollen.
In dieser Form ist „Steilküste“ nämlich nur eine recht blasse zeitgeschichtliche Dokumentation, in der man viele Gedankenanstöße aufschnappen kann, die aber irgendwie die Brisanz ihres erniedrigenden Inhalts nicht adäquat transferieren kann. Es ist sicher kein schlechtes Buch, aber eben auch keines, über das man noch lange sprechen wird.

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Graf, Ric – iCool. Wir sind so jung, so falsch, so umgetrieben

Jedes Jahr beglückt uns die deutsche Literaturlandschaft mit einem neuen Gesicht in den Zwanzigern. Was mit Alexa Hennig von Lange und Benjamin von Stuckrad-Barre Ende der Neunziger seinen Anfang nahm, ist Leserealität geworden. Die jungen Wilden bestechen immer mit frechen Büchern zu letztendlich belanglos gewordenen Themen. Sie wecken auch Hoffnungen, die dann bitter enttäuscht werden. Erinnert sich noch jemand an Benjamin Lebert?

Ein ähnliches Buch wie dessen „Crazy“ hat jetzt ein einundzwanzigjähriger Berliner geschrieben. Ric Graf heißt er. Vor zwei Jahren hat er sein Abitur gemacht und vertrieb sich die Zeit danach mit Praktika, unter anderem bei Christoph Schlingensief, sowie mit zahllosen Partys. Ein Buch hat er auch geschrieben: „iCool“. In diesem kann man von Grafs Erfahrungen aus dem Zeitraum von Silvester 2004 bis Ende 2005 lesen. Es ist also kein Roman, vielmehr ein autobiografischer Text geworden. Nach der Lektüre von „iCool“ muss man allerdings feststellen, dass er nicht allzu viel erlebt hat.

Ric Graf nimmt uns mit in die pulsierende Partymetropole Berlin: Wir sitzen in den In-Cafés am Prenzlauer Berg und schlürfen Latte Macchiato oder stürzen in irgendwelchen Elektroclubs ab. Es wird viel geplaudert, geschluckt und die Nase hochgezogen. Ric Graf versucht, eine Generation zu portraitieren, der es an nichts mangelt, außer an Entscheidungsfreudigkeit und Idealismus. „Generation Praktikum“ nennt er sie in einem der besseren Momente des Buches, das sich insgesamt wie die Kolumne eines Berliner Szenemagazins liest.

Doch was bedrückt diese Generation? Während der Latte-Macchiato-Gespräche kommen viele Freunde Grafs zu Wort. Man redet vom Wunsch, berühmt zu sein, seinen Weg im Leben zu finden, über Sex und die nächste Party. Doch es ist nicht alles oberflächlich. Es zeigt sich, dass die Generation Praktikum trotz aller Mobilität und Möglichkeiten sich letztendlich nach Liebe und Sinn sehnt. Die Diskrepanz zwischen den eigenen Vorstellungen am Leben (wenn man denn welche hat) und den Erwartungen der Eltern macht schwer zu schaffen und führt auch zum Scheitern: Ein Freund Grafs begeht nach abgebrochener Entziehungskur Selbstmord.

Es gibt aber auch Momente, an denen man glaubt, dass dieses Buch gar nicht für diese Generation geschrieben wurde. Zwar nimmt Ric Graf selbstbewusst das Wort „uns“ in den Mund und signalisiert damit, für sie zu sprechen, aber wenn er Begriffe wie Metrosexualität, Klingeltöne, Reality TV und Idole wie Shakira oder Pete Doherty erklärt, dann verstärkt sich der Eindruck, dass Graf eher zu der Elterngeneration spricht. Diese wird schockiert sein: Orientierungslosigkeit, Drogen und Sex in allen Lebenslagen werden auf offene Ohren stoßen.

Ebenfalls negativ auffallend ist das zum Teil altkluge Daherreden Grafs. Die Weisheit, dass jeder seine Jugend genießen sollte, und die Erkenntnis, dass Menschen unter dem Druck der Medien leiden und auf ihr Äußeres reduziert werden, ist längst nicht neu. Die Erzählweise könnte auch frischer, eben jugendlicher sein. Die Dialoge mit den Altersgenossen wirken doch sehr geschliffen und längst nicht so spritzig, wie man sie bei Hennig von Langes „Relax“ bestaunen durfte. Richtig ärgerlich wird das Buch dann, wenn ein Besuch bei Benni angekündigt wird und schließlich nur von Dennis geredet wird. Hier hat nicht nur der Autor, sondern auch das Lektorat schlampig gearbeitet.

Nun sollte ich als Rezensent nicht verschweigen, dass ich wie Graf zum Jahrgang 1985 gehöre. In der Gesamtheit der 200 Seiten habe auch ich mich wiedergefunden. Graf schafft es, wesentliche Probleme dieser Generation anzuschneiden. Es fehlt an Initiative und Idealismus, von einer Jugendbewegung ist keine Spur. Er vermisst diese ebenso wie ich. Doch für die präsentierten Erkenntnisse muss ich dieses Buch nicht lesen. Schön ist jedoch, dass Andere im selben Dilemma zwischen Party und Zukunft stecken. Leider unterhält mich das Buch auch nicht, weshalb ich eine Empfehlung für all jene aussprechen kann, die Eltern dieser Generation sind oder Zwanziger, die dringend nach Identifikation suchen. Vielleicht werden sie fündig werden, denn sicher ist auch, dass Graf bei der sich in unzählige Subkulturen teilenden Jugend nicht für alle sprechen kann.

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Kröhnert, Steffen / Medicus, Franziska / Klingholz, Reiner – demografische Lage der Nation, Die

Wollten wir nicht alle schon mal wissen, wie es um unseren Heimatort steht? Steht er kurz vor dem Kollaps oder vor seiner Blüte? Sind unsere Arbeitsplätze sicher und lohnt es sich, hier Kinder zu kriegen?

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung beziehungsweise das Autorenteam Steffen Kröhnert, Franziska Medicus und Reiner Klingholz gibt in „Die demografische Lage der Nation“ Antworten. Wie der Titel schon andeutet, geht es hier etwas trockener zur Sache. Man beschäftigt sich mit einzelnen Bundesländern und ihren prosperierenden oder absterbenden Landkreisen und zeigt interessante Entwicklungen auf in Bezug auf Demografie, Wirtschaft, Integration, Bildung, Ab- und Zuwanderung und Kinderfreundlichkeit. Am Ende jedes Bundeslandkapitels gibt es dann eine Trendtabelle, in der diese Faktoren anhand im Anhang erklärter, empirischer Maßstäbe bewertet und mit einer Trendnote versehen werden. Dadurch ist es möglich, Vergleiche anzustellen, wobei dies schon dadurch erleichtert wird, dass verschiedene Farbabstufungen für verschiedene Notenbereiche benutzt werden. Der Anfang des Buches ist schließlich das Ende des Buches. Statt einer Zusammenfassung der Ergebnisse im letzten Kapitel nimmt man diese vorweg und macht daran zwölf Punkte fest, die auffällig waren. Beispiele dafür sind die fehlenden Frauen im Osten oder natürlich die Überalterung der Gesellschaft.

Der Inhalt des Buches gebärdet sich dabei weit interessanter, als man denkt. Schließlich ist einem als deutscher Staatsbürger der eine oder andere Landstrich bekannt und die umfassenden Informationen, die man in dem Buch darüber bekommen kann, sind sehr interessant. Aufgelockert wird das eigentlich trockene Thema der Demografie durch das Einstreuen kleiner Anekdoten, wie zum Beispiel dem Versagen verschiedener Regierungen in bestimmten Punkten, was man als normaler Bürger vielleicht gar nicht so mitbekommt.

Geschrieben wurde glücklicherweise auf eine unterhaltsame, aber dennoch wissenschaftliche Art. Leichtfüßig und in Alltagssprache, aber nüchtern und wertfrei, dafür ab und an mit einem kleinen Augenzwinkern widmen sich die Autoren „Daten, Fakten, Analysen“, wie das Buchcover verspricht. Mit viel Fachwissen und doch leicht verständlich erklären sie die zahlreichen Tabellen und Schaubilder in vier Farben, die den Inhalt anschaulich und vergleichend darstellen.

Präzise und ohne Ausschweifungen fassen die Autoren ihre Ergebnisse zusammen und bescheren dem Leser dabei einen guten Überblick über die deutsche Lage und inwiefern welche Umstände für den jeweiligen Heimatort gelten. Klare, aber nüchterne Sprache, viele Abbildungen und eine sorgfältige Auswahl in Bezug auf den Inhalt halten das Interesse des Lesers wach. Auf der einen Seite gibt es Fakten, auf der anderen wird auch die eine oder andere lockerere, nicht besonders wissenschaftliche Anekdote zum Besten gegeben. Empfehlenswert für den, der einen guten Überblick über das Thema haben möchte, ohne überfordert zu werden.

Taschenbuch ‏ : ‎ 192 Seiten
http://www.dtv.de

Schirrmacher, Frank – Minimum. Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft

„Deutschland braucht Kinder!“, predigt die Politik seit einiger Zeit und kürzt auf der anderen Seite alle möglichen Gelder, die junge Familien beim Kinderkriegen unterstützen würden.

Wie dringlich es wirklich ist mit den Kindern, zeigt Frank Schirrmacher in seinem neuen Buch „Minimum“ auf. Der Untertitel ist „Vom Vergehen und Neuentstehen unserer Gemeinschaft“ und er beschreibt in wenigen Worten, womit sich dieses Buch beschäftigt.

Aufgegliedert nach Geschlecht und Alter erklärt Schirrmacher, welche Funktion Männer, Frauen und Kinder in unserer Gesellschaft haben, welche sie hatten und welche sie haben werden. Er erklärt das Zusammenleben der Deutschen, aber nicht in trockener, wissenschaftlicher Art und Weise, sondern recht lebendig mit kleinen Geschichtchen, die seine Aussagen quasi-empirisch belegen, zum Beispiel die Geschichte vom Donner-Pass. Eine Gruppe Menschen versucht im 19. Jahrhundert, die Sierra Nevada im Winter zu durchqueren, was sich aber schwierig gestaltet und einige Opfer fordert. Tagebucheinträge von Mitgliedern des Trecks zeigen auf, wie das Überleben sich damals abspielte und Schirrmacher zieht Schlüsse daraus, die plausibel klingen.

In einem weiteren Kapitel mit der Überschrift „Rollenspiele“ legt er anschaulich dar, wer welche Funktion innerhalb unserer Gesellschaft hat. Allerdings geht es weniger um trockene Themen wie dsa Kinderkriegen oder das Geldverdienen. Überschriften wie „Wer rettet wen?“ oder „Wer vernetzt wenn?“ machen neugierig, denn man kann sich nur schwerlich vorstellen, was sich dahinter verbirgt.

Es spricht für Schirrmacher, dass er es schafft, so ein trockenes Thema wie Demografie dermaßen interessant darzustellen. Mit einer galanten Leichtfüßigkeit streift er einige Aspekte zwar nur am Rand, und seine Methode, seine Thesen mit kleinen Geschichten und Ausschweifungen darzustellen, ist vielleicht nicht besonders wissenschaftlich, aber dafür sehr unterhaltsam, was für einen Laien eine gute Sache ist.

Applaus verdient sein Schreibstil. Das ganze Buch erzählt sehr luftig-locker, wertneutral und unterhaltsam. Schirrmacher schafft den Spagat zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und beinahe schon prosaischer Schreibe mit stellenweise poetisch angehauchter Sprache. Er benutzt viele Quellen und Zitate, die allesamt korrekt im Anhang belegt sind, und trotzdem entstehen dadurch keine Brüche.

In der Summe ist „Minimum“ für den interessierten Laien durchaus empfehlenswert. Der schöne Schreibstil und der anschaulich verpackte Inhalt eröffnen einen guten Einblick in dieses Thema. Das Buch geht allerdings nicht zu tief. Wer wirkliche Informationen möchte, sollte sich an andere Literatur wenden, wer einfach nur etwas Interessantes, Spielerisches sucht, ist hier gut beraten.

http://www.randomhouse.de/blessing

Rempel, Christian – Ein Tag im Leben des Zauberers Ambrosius

Ambrosius ist ein Zauberer, der mit seiner berufstätigen Frau Penthesileia auf einem Schloss in einem undurchdringlichen Gebirge Deutschlands lebt. Oft sind es ganz alltägliche, persönliche oder auch anrührende Dinge, die den Zauberer beschäftigen, doch in seinem langen Leben macht er auch Bekanntschaft mit illustren Persönlichkeiten und ihren Frauen, die unter leicht verfremdeten Namen auftreten, wie der Geheimdienstgeneral Markus Wolf, C.G. Jung, ein deutscher Physiker der Frühromantik namens Ritter oder gar Goethe.

Mit diesem erlauchten Kreis spricht Ambrosius über Gott und die Welt – im Sinne des Wortes. Was mit der rituellen morgendlichen Fütterung der anspruchsvollen Hauskatze und eifersüchtigen Bedenken des Zauberers wegen seiner schönen Frau beginnt, weitet sich bald zu einem Diskurs über naturromantische Vorstellungen von einer Belebtheit in der Physik sowie Überlegungen zu Staatstheorien, Gott und Christentum aus.

_Der Autor_

Der verheiratete Physiker Dr. Christian Rempel (1953) arbeitet für eine Berliner Hightech-Firma. In seinem Vorwort schreibt er, sein Buch wäre aus in einem Zeitraum von drei Jahren geschriebenen, lose zusammenhängenden Aufsätzen über den Zauberer Ambrosius entstanden.

_Ein netter Plausch mit Goethe, Markus Wolf und C.G. Jung_

Die fiktive Zusammenführung interessanter Persönlichkeiten ist es, was „Ambrosius“ auszeichnet. Der Autor hat dem Zauberer Ambrosius offensichtlich viele seiner eigenen Ansichten, Charaktereigenschaften und vielleicht auch einige seiner kleineren Schwächen mitgegeben. Diese Geschichten beruhen sowohl auf profundem geschichtlichem Wissen als auch realen persönlichen Erfahrungen und vermischen diese miteinander. Die erste Geschichte „Der Morgen“ schildert das frühmorgendliche, fast abergläubische Ritual der Fütterung der anspruchsvollen Hauskatze durch Ambrosius, was sehr humorvoll und für Katzenfreunde nachvollziehbar beschrieben ist. Hier sollte man aber nicht der Versuchung erliegen, „Ambrosius“ für eine liebe und nette Sammlung von humorigen Alltagsgeschichten zu halten, denn bereits in der nächsten Geschichte „Der Zauberer und der General“ stellt Rempel die Weichen für weitere Episoden seines Zauberers und anspruchsvolle, komplexe Themen.

Ausgezeichnet ist dabei die Präsentation dieser Gedanken in Dialogform. Das ungezwungene Gespräch des über ihre Frauen bekannten Generals und des Zauberers über die Frage eines gewissen Physikers namens [Ritter]http://de.wikipedia.org/wiki/Johann__Wilhelm__Ritter über seine Entdeckung von vermeintlich in sowohl der lebenden als auch toten Natur geltenden Prinzipien, von General Agnus alias Markus Wolf als „Disziplin“ bezeichnet, klingen so überzeugend und natürlich, als hätten diese Gespräche wirklich stattgefunden. Dies ist insbesondere köstlich, wenn der unter seiner Eifersucht leidende Ambrosius zu seinem Psychiater C.G. Althaus geht – und als Patient seinem Psychiater vielmehr eine Gralsgeschichte erzählt denn von ihm therapiert wird! Mit Prinzessin Diana über die Monarchie zu reden, hat auch seinen Reiz, mein persönliches Highlight ist jedoch das Gespräch von Ambrosius als Fuzzy4@world.de mit Johann.Andreä@schwaben.de, dem vermutlichen Autor der |Confessio Fraternitatis| und |Chymischen Hochzeit| der legendären Rosenkreuzer, das in Form eines Mailaustauschs erfolgt, bei dem die Antworten Andreäs in auf Altdeutsch getrimmter Sprache und passend verschnörkeltem Zeichensatz abgedruckt sind.

Obwohl Rempel betont, dass seine Aufsätze über einen längeren Zeitraum entstanden sind, fügen sie sich jedoch zu einem harmonischen Ganzen zusammen, Figuren und Gedanken aus älteren Geschichten treten oft erneut auf und werden weiterentwickelt. Dabei fallen störend einige Erzählungen auf, die nicht so ganz in den Rahmen passen und mir fast wie Lückenfüller in den ansonsten so konzentriert geschriebenen und gelungenen 170 Seiten des Buchs vorkommen. Etwas mehr Stringenz und weniger Abschweifung von den anspruchsvolleren Thematiken des Buches hätte hier gut getan; auch wenn der Autor zugesteht, eine dichterische und romantische Neigung zu haben die sich in positiver Weise auch im Buch widerspiegelt, wirken Dinge wie das Herbeizaubern eines Hamsters als Ersatz für den verstorbenen eines Kindes oder die oft etwas zu gefühlsduselnde Verehrung Ambrosius für seine Frau eher bremsend und deplatziert. Das Buch sollte am besten in kleinen Dosen gelesen werden, ein oder zwei Geschichten pro Tag reichen völlig aus, denn sie erfordern Konzentration und ein gewisses historisches Wissen und Interesse, regen zum Nachdenken und zur Diskussion an. Das Buch enthält zudem zwölf Illustrationen, die interessanterweise allesamt in gräulichen Erd/Naturfarben gehalten sind. Ihre Qualität schwankt leider sehr stark, einige gefielen mir sehr gut, andere hingegen gar nicht. Positiv aufgefallen ist mir die stärker als gewöhnliche Textnähe, die Illustrationen unterstützen so die Wirkung des Textes und stehen nicht, wie man es leider zu oft erlebt, als Einzelkunstwerke mit recht entferntem Bezug verloren im Text.

_Fazit:_

Amüsante Unterhaltung mit Anspruch. Die meisten Geschichten konnten mich überzeugen und sogar begeistern. An der vermeintlichen Kürze der zwölf Geschichten (170 Seiten) sollte man sich nicht stören, denn sie sind sehr gehaltvoll und bilden ein harmonisches Ganzes. Trotzdem, ein abschließendes Ende vermisse ich dennoch; „Ambrosius“ schließt offen und ein wenig unbefriedigend. Allerdings weckt es auch Hoffnungen auf einen weiteren Band über einen Tag aus dem Leben seiner Frau Penthesileia. Vielleicht geht diese noch einen Schritt weiter als „Ambrosius“ und bietet eine durchgehende Handlung – „Ambrosius“ ist eher geeignet für Freunde von knackigen Kurzgeschichten, die jedoch akzeptieren müssen, dass es sich empfiehlt, in Sequenz vom Anfang bis zum Ende zu lesen, da viele für das bessere Verständnis nötige Zusammenhänge zwischen den einzelnen Geschichten vorhanden sind.

Ulrich Beck – Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung?

Schonungslos, kritisch, erleuchtend!

Etwas Neues kann nur entdecken, wer Grenzen kreuzt oder verlässt – wer quer denkt und an den Grenzen entlang denkt. Gerade ein Grenzwissenschaftler sollte sich nicht vor Modernitätskonzepten und aktuellen Meinungen verschließen. Doch wo finden wir Überlegungen zu relevanten Modernitätskonzepten? Wo können wir Theorien der Grenzen entdecken? Die Antwort ist klar: in diesem Buch.

Ulrich Beck – Entgrenzung und Entscheidung. Was ist neu an der Theorie reflexiver Modernisierung? weiterlesen

Kathrin Kompisch/Frank Otto – Teufel in Menschengestalt. Die Deutschen und ihre Serienmörder

Evolution des geschürten Schreckens

Serienmörder haben Konjunktur. Die Regale der Buchhandlungen biegen sich unter einschlägigen Fallgeschichten, mit denen sich ehemalige Fahnder, Profiler oder Pathologen ein hübsches Zubrot verdienen. Im Kino schlachten die Lecter-Klone, im Fernsehen mussten zeitweise gleich mehrere CSI-Teams bluttriefende Tatorte unter die Lupen nehmen. Auch den Medien sind die Fließband-Killer sehr willkommen, denn sie garantieren Leser- und Zuschauerzahlen.

Wie lange gibt es diese unheilige Symbiose eigentlich schon? In ihrer heute bekannten Form entstand sie nach Kathrin Kompisch und Frank Otto im späten 19. Jahrhundert, als sich die Boulevardpresse vom Journalismus abspaltete. Die Sensation rückte hier in den Mittelpunkt der Berichterstattung, denn vor allem sie sorgte für hohe Auflagen. Der Serienmörder entwickelte sich rasch zum Medienphänomen; nach Ansicht der Verfasser ein Prozess mit ständigen Wechselwirkungen. Kathrin Kompisch/Frank Otto – Teufel in Menschengestalt. Die Deutschen und ihre Serienmörder weiterlesen

Peter Bürger – Theorie der Avantgarde

Die Theorie der Avantgarde als Meilenstein einer kritischen Literaturwissenschaft

Ist die Kunst nun losgelöst von gesellschaftlicher Praxis oder ist sie gerade in dem Spannungsfeld von Zweck und Zweckfreiheit zu finden? Ist sie selbstständig gegenüber kunstexternen Verwendungsansprüchen, wie es Habermas formulierte, oder muss sie in der Lebenspraxis aufgehen? Dieses zuletzt genannte Aufgehen im unmittelbaren Lebensumfeld forderte die historische Avantgarde; Letztere ist aber auch Peter Bürgers Untersuchungsgegenstand, den er in seinem bahnbrechenden Buch „Theorie der Avantgarde“ abhandelt.

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Dingemann, Rüdiger / Lüdde, Renate – Deutschland in den 50er Jahren. Das waren noch Zeiten!

Wie lebten und dachten die Menschen der 1950er Jahre? In vier Bereichen widmet sich der hier vorgestellte Bildband diesen Fragen.

„Eine Zeitreise – oder Gerechtigkeit für die 50er Jahre“ (S. 8-14): Ein Vorwort stellt die „realen“ 50er den „gefühlten“ gegenüber, versucht zu erläutern, wie Alltag und Politik, Lebensgefühl und Kultur der Vergangenheit in der Rückschau zu einer neuen, historisch nur bedingt korrekten, sondern eher verklärenden „Wirtschaftswunderwelt“ verschmelzen.

„Alltag – zwischen Werkbank und Nierentisch“ (S. 15-86): Das „Wirtschaftswunder“ im Kontrast zum Restschutt der Kriegsjahre ist Gegenstand dieses Kapitels, das den rastlosen Wiederaufbau, die politische Restauration, die Differenzierung eines westlichen und eines östlichen Deutschlands und die feinen aber deutlichen gesellschaftlichen Entwicklungen beschreibt.

„Freizeit: Das hat Spaß gemacht“ (S. 87-132): Freizeit war ein knappes Gut, das intensiv genutzt wurde – und konnte, denn allmählich stieg der allgemeine Wohlstand, der nicht nur in reichliche Mahlzeiten, sondern auch in Kleidung, Möbel und Luxusartikel, in Nah- und Fernreisen und neuartige Freizeitvergnügen investiert wurde. In den 50er Jahren kehrte Deutschland über den Sport ins Weltgeschehen zurück.

„Kultur: Lesen, hören und sehen“ (S. 133-155): Sünderinnen und Halbstarke, Heimat und Tradition – dies sind die Pole, zwischen denen sich das Kino und das aufblühende Fernsehen bewegten. Ähnlich war es in der Musik, die einerseits in Schlagerschnulzen schwelgte und andererseits die Revolution des Rock ’n’ Roll erfuhr. Nicht so spektakulär waren die Veränderungen in Literatur und Presse, obwohl der Comic noch ganz verhalten zu seinem Siegeszug ansetzte. Was die Menschen einst in Sachen Klatsch und Tratsch bewegte, rundet dieses Kapitel ab, dem noch eine knappe Chronik der Jahre 1950 bis 1959 sowie ein Register folgen.

Deutschland in seinen 1950er Jahren – eine Ära, die in der Rückschau der Gegenwart von zahlreichen Klischees geprägt wird. Nierentisch & Tütenlampe, Petticoat & Schmalzlocke, Heimatfilm & Halbstarke, und über allem schwebt der narkotisierende Nebel der Wirtschaftswunderzeit, in der die Bürger und ihre Regierung nur nach vorn aber nie zurück in die nahe Nazizeit schauten und „schafften“ statt aufzuarbeiten.

Die einzelnen Elemente „stimmen“, aber sie werden allzu oft aus ihrem historischen Umfeld gelöst und gewinnen ein Eigenleben, das die Zeitgenossen verwundert zur Kenntnis genommen hätten. Immer wieder weisen die Autoren Dingemann und Lüdde deshalb darauf hin, dass es für die heute exotisch anmutenden Lebenswelten der 50er Jahre in der Regel nachvollziehbare Gründe gab. So ist es für die Jüngeren (noch) schwer nachvollziehbar, dass es einst auch deshalb keine ausgeprägte Freizeit- und Reisekultur gab, weil die Menschen sechs Tage die Woche arbeiteten, sie nur zwei Wochen Jahresurlaub hatten und ihnen folglich wenig Zeit für weite Reisen blieb. Diese Tatsachen erklären wiederum, dass es ein Wirtschafts-„Wunder“ eigentlich nicht gegeben hat – die Zeitgenossen haben sich den vergleichsweise bescheidenen Wohlstand, der sich in den 50er Jahren allmählich einstellte, schlicht und ergreifend mit harter Arbeit geschaffen. Alle beteiligten sich bzw. konnten sich beteiligen, denn es herrschte Vollbeschäftigung; heute eine schier unfassbare Vorstellung.

Auch das große Wort vom „Neufang“ nach 1945 wird von den Verfassern relativiert. Zwar wurde ungern über die Jahre der Nazidiktatur gesprochen, doch es war keineswegs so, dass generell Schweigen herrschte. In den Medien oder in der Kunst setzte man sich durchaus mit der jüngsten Vergangenheit und ihren Folgen auseinander. Überhaupt gab es in vielen Bereichen, die sich mit „Lebensphilosophie des Alltags“ überschreiben lassen, keinen echten Bruch. Ordnung und Disziplin waren und blieben wie vor und nach 1933 Stützpfeiler der Erziehung. In den „Konservatismus des Denkens“ mischte sich aber zumindest außerhalb der Politik ein Wille zum Experimentieren, der nicht unterschätzt werden sollte. Die eigenwillige Formensprache der 50er Jahre speiste sich auch aus der Freude über neue Freiheiten, die zwar noch vorsichtig aber gern in Anspruch genommen wurden.

Das gilt übrigens für den deutschen Westen wie für den Osten: Dingemann und Lüdde unterscheiden nicht zwischen der „Bundesrepublik“ und der „Zone“, der späteren „DDR“. In den 50ern gab es die Mauer als Grenze noch nicht, so dass trotz der politischen Teilung gewisse Gemeinsamkeiten blieben. Die „Angst vor Rot“ und die streng antisowjetische Haltung der 50er Jahre wirkt interessanterweise bis heute nach. Deshalb erstaunen Bilder, welche die angeblich so konformen „Kommunisten“ von „drüben“ in flotten Ostcabrios zeigen: In Ulbrichts „Arbeiter- und Bauerstaat“ gingen die Uhren im Vergleich zum Westen vielleicht langsamer (oder tickten leiser), doch sie blieben keineswegs stehen.

Das Einbetten von Einzelfakten in ihren geschichtlichen Hintergrund ist ein Pluspunkt dieses Buches. Den zweiten bilden die Abbildungen. Auf bestem Kunstdruckpapier in erstaunlicher Qualität abgebildet, wirken die meisten Bilder überraschend vertraut: Durch die Straßen tobten weder offensichtliche „Halbstarke“ noch wirtschaftswunderlich besessene Arbeitsroboter, sondern ganz normale Menschen. Erst auf den zweiten Blick fallen Unterschiede zur Gegenwart ins Auge. Die Zahl der Autos ist noch klein, es gibt kaum Außenwerbung, Giftschwaden umwabern die Fabriken.

Selbstverständlich fehlen die „gestellten“ Bilder nicht. Sie zeigen für den Sonntagsspaziergang herausgeputzte Kinder, den stolzen deutschen Mann vor dem gerade erworbenen VW Käfer, die moderne Frau in ebensolcher Küche und sagen auf ihre spezielle Weise viel aus über ihre Zeit und ihre Menschen.

Oft überschneidet sich das Reale mit dem Absurden: Da gibt es gestochen scharfe Fotos von Puderdosen und ähnlichen Gegenständen des profanen Alltags, wie sie millionenfach benutzt und anschließend in die Mülltonne geworfen wurden. Nun werden sie vom Fotografen perfekt ausgeleuchtet und verwandeln sich in edle Kunstobjekte. Andererseits passt dies zur Philosophie der 50er Jahre, als Bilder noch nicht der „Botschaft“ untergeordnet wurden, sondern sich bemühten, neben dem Schaueffekt die „Wahrheit“ zu berücksichtigen – in der Rückschau ein rührend archaisches Bemühen, das allerdings achtbare Erfolge zeitigte und eine ganz eigene Schule des Fotografierens und Darstellens hervorbrachte.

Dieses Buch hat einen stolzen Preis, der mit knapp 40 Euro trotz unleugbarer Qualitäten zu hoch ausfällt. Wen dies nicht stört, wird sich einer ebenso informativen wie nostalgischen Zeitreise erfreuen, die übrigens nicht am Silvestertag des Jahres 1959 endet, sondern die folgenden Jahre einschließt: Die 50er hörten nicht abrupt auf, sondern klangen aus – ein Vorgang, der erst 1968 definitiv sein Ende fand.

Simon Sebag Montefiore – Stalin. Am Hof des roten Zaren

Inhalt:

Auf knapp 900 eng bedruckten Seiten zeichnet der Verfasser eine Biografie Stalins nach, die sich vor allem auf das Privatleben des sowjetischen Diktators konzentriert, während der Politiker Stalin von vergleichsweise untergeordneter Bedeutung bleibt. Gleichmaßen knapp handelt Montefiore die Kindheits- und Jugendjahre ab; ihnen widmete er sich 2006 in einer eigenen Darstellung: „Young Stalin“ (dt. „Der junge Stalin. Das frühe Leben des Diktators 1878–1917“).

Im Mittelpunkt steht jener Stalin, der seit dem Tod Lenins an die Spitze des Sowjetstaates drängt und sich ab 1929 dort ein Vierteljahrhundert hält, in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre seine Gegner und Konkurrenten in gewaltigen Schauprozessen über die Klinge springen lässt, sich in den Jahren des II. Weltkriegs vom militärischen Dilettanten zum erbarmungslosen Kriegsherrn mausert und nach 1945 körperlich wie geistig verfällt aber voller Furcht und Paranoia zu einem neuen Kreuzzug gegen angebliche ‚Staatsfeinde‘ und mögliche Nachfolger bläst.

Dabei weitet der Verfasser den Darstellungsfokus auf das Umfeld Stalins aus. Dies beschränkt er nicht auf die Familie, die Verwandten oder Freunde. „Am Hof des roten Zaren“ residierten immer auch die „Magnaten“, jene privilegierten Männer (und einige Frauen), die dem Diktator politisch und privat zur Seite standen. Stalin war nie das einzigartige oder einsame Genie, zu dem er stilisiert wurde, sondern fest eingebettet in ein Netz, dessen Mitglieder einander ebenso heftig bekämpften wie stützten. Anhand zahlreicher Beispiele verdeutlicht Montefiore, wie das daraus resultierende, ebenso tyrannische wie absurde stalinistische Sowjetsystem nicht nur funktionierte, sondern sich selbst erhielt, solange es sein geistiger Vater mit eiserner Faust zusammenhielt.

Vier Fotostrecken illustrieren den Text. Die Fotos zeigen den ‚echten‘ Stalin, der sich hinter dem selbst geschaffenen Glorienschein als Mann mit vielen Interessen und Schwächen, aber auch als rücksichtsloser, gefühlsarmer Gewaltmensch entpuppt. Ein mehr als 100-seitiger Anmerkungsapparat verdeutlicht die unerhörte Fleißarbeit des Verfassers, der in mehreren Jahren die Welt überall dort bereiste, wo Stalin oder der Stalinismus Spuren hinterließ. Abgerundet wird das Werk von einem Stammbaum der Stalin-Familie sowie einem Register.

Das Problem einer gefälschten Vergangenheit

Wenn es auf dieser Welt eine Kreatur gibt, die sich zäher als jede Schabe ans Leben klammert, so ist dies der Bürokrat. Seit die Bürokratie existiert, produziert sie beschriebenes oder bedrucktes Papier in einem Überfluss, den selbst der eifrigste Geschichtsfälscher nie eindämmen konnte. Der Fluch wird zum Segen, wenn es gilt, die Wege eines Lebens zu rekonstruieren, das zu einem Gutteil der Aufgabe gewidmet war, die Vergangenheit auszutilgen oder umzuschreiben.

Josef Stalin gilt als einer der größten Geschichtsfälscher aller Zeiten. Er hat sogar eigene Institutionen ins Leben gerufen, die gut damit beschäftigt waren, historische Ereignisse im Sinne ihres Auftraggebers neu zu ‚interpretieren‘. Dazu gesellte sich seitens Stalin eine Verschwiegenheit in eigener Person, die nicht von ungefähr kam, gab es doch genug Verbrechen, Verrat und andere Scheußlichkeiten des jungen Josef, die nicht zum glorienumkränzten Bild des großen, genialen, gütigen Landesvaters passen wollten, der sich mit der Sowjetunion identifizierte und als deren Inkarnation unfehlbar sein musste.

Stalins (politische) (Un-) Taten sind indes von einer brutalen Eindeutigkeit, die selbst der berühmte „Eiserne Vorhang“ nicht decken konnte. Die letzten Dämme brachen mit dem Untergang der UdSSR. Immer neue Archivbestände öffnen sich seither auch dem westlichen Historiker. Sie komplettieren die Bilder sowjetischer Politprominenter oder werfen Licht dorthin, wo bisher überhaupt Wissenslücken klafften.

Der Mann hinter der Maske

Der politische Aspekt von Stalins Leben ist für Simon Sebag Montefiore indes von sekundärer Bedeutung. Die Archive in dieser Hinsicht auf verborgene Schätze zu durchsuchen, überlässt er Historikerkollegen. Sein Ansatz ist ein anderer: Montefiore nähert sich dem Menschen Stalin, dessen Leben und Wirken er durch die Herkunft geprägt sieht: Stalin war nach Montefiore nur vorgeblich ein sozialistischer Weltbürger und konnte seine georgischen Wurzeln nie verleugnen. So verhielt er sich wie ein orientalischer Potentat des Mittelalters, der – stets belauert von Feinden – Gewalt als legitimes und unentbehrliches Instrument einsetzte.

Stalin war freilich ein Diktator, dem die Vernichtungsmaschinerien des 20. Jahrhunderts zur Verfügung standen. Sein Terror konnte sich so über Länder und Kontinente verbreiten und kostete 20 Millionen Menschen das Leben. Noch viel größer ist die Zahl derer, die durch den Stalinismus Freiheit und Heimat oder ‚nur‘ Job und Karriere verloren; genau wird man niemals rekonstruieren können, wie viele individuelle Existenzen, Familien, Freundschaften Stalins Terror zerstörte.

Mit seiner These setzt sich Montefiore bewusst der Kritik aus. Dies ist legitim, viele Gegenargumente leuchten ein. Andererseits wagt es Montefiore, einen neuen Weg einzuschlagen. Dabei bringt er eine Unzahl wertvoller Fakten ans Tageslicht, die nun der historischen Diskussion zur Verfügung stehen. Vieles mag davon verworfen oder neu und anders bewertet werden, doch es ist jetzt bekannt – und dies eben nicht nur den Fachleuten.

Ein Buch, das jede/r verstehen kann

Montefiore achtet auf eine auch dem historischen Laien verständliche Sprache. „Am Hof des Roten Zaren“ weist sogar die Qualitäten eines Romans auf. Zeithistorie verwandelt sich unter der Feder Montefiores in (eine) spannende Geschichte. Die komplexe Materie prägt sich dem Leser ein; kein leichtes Unterfangen angesichts einer wahren Flut zu berücksichtigender Personen, deren komplizierte Namen nicht selten auch noch sehr ähnlich klingen. Montefiore behält die Übersicht, er verleiht der historischen Realität eine der Darstellung nützliche Form, ohne sie dabei um des Effekts willen zu verraten.

Natürlich – so muss man wohl sagen – gehen ihm dabei manchmal die Pferde durch. Montefiore weicht oft weit vom Pfad der wissenschaftlichen Objektivität ab. Er macht daraus keinen Hehl, es lässt den Text lesbarer wirken. Dies nimmt der Verfasser in Kauf, obwohl „Am Hof des Roten Zaren“ auf diese Weise vom Fach- und Sachbuch wird. Er schließt sich damit selbst aus dem universitären Elfenbeinturm aus, erweitert aber den Kreis seiner potenziellen Leser. Dass die Entscheidung richtig war, lässt sich daran ermessen, wie leicht sich dieses Buch mit seinen fast 900 eng bedruckten Seiten liest.

Autor

Simon Sebag Montefiore (geb. 1965) lehrt (Neuere) Geschichte im Gonville & Caius College zu Cambridge. (Seine Erfahrungen als Student und Nachwuchsdozent hielt er 1992 in seinem Bucherstling „King’s Parade“ fest.) Er hat sich auf die russische bzw. sowjetische Vergangenheit spezialisiert und sein Wissen auf ausgedehnten Studienreisen durch die ehemalige UdSSR vor Ort vertieft.

Montefiore schreibt für Zeitungen wie „Sunday Times“, „New York Times“ oder „Spectator“. Im Jahre 2000 veröffentlichte er das Sachbuch „Potemkin: Prince of Princes“, das großes Kritiker- und Publikumsinteresse erregte. Weitere erfolgreiche Werke folgten, unter denen „Stalin: The Court of the Red Tsar“ ein Bestseller und 2004 mit dem „History Book of the Year Award“ ausgezeichnet wurde.

Montefiore gehört der „Royal Society of Literature“ an. Darüber hinaus moderiert er TV-Dokumentationen. Mit seiner Ehefrau, der Schriftstellerin Santa Montefiore, und seiner Familie lebt und arbeitet der Verfasser, der inzwischen auch Historien-Thriller schreibt, in London.

Taschenbuch: 874 Seiten
Originaltitel: Stalin – The Court of the Red Tsar (New York : Alfred A. Knopf 2004)
Übersetzung: Hans Günter Holl
http://www.fischerverlage.de

eBook: 8648 KB
ISBN-13: 978-3-641-13420-4
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