Alle Beiträge von Michaela Dittrich

Maupassant, Guy de – HR Giger\’s Vampirric 4 – Der Horla

Die letzte CD aus HR Gigers Viererpack „Vampirric“, einer Hörbuch-Anthologie mit Vampirgeschichten, bietet noch einmal ein echtes Erlebnis. Dem Gruselfreund wird hier nämlich Guy de Maupassants „Der Horla“ (frz. „Le Horla“, 1887) vorgelesen, ein Klassiker der Vampirliteratur und ein Schmuckstück psychologischen Grusels.

Man verfolgt die Tagebucheintragungen eines zunächst lebensfrohen und naturverbundenen jungen Mannes: Er wohnt am Fluss in einem Häuschen, winkt den vorbeifahrenden Schiffen und spatziert durch die Wälder. Doch diese Idylle wird immer mehr gestört, als sich unser Protagonist Jean zunehmend schlapp und unwohl fühlt. Er schäft schlecht und leidet unter Albträumen. Letztlich beschließt er, dass er sich auf eine Erholungsreise begeben sollte. Ein weiser Entschluss, denn bei seiner Rückkehr fühlt er sich gesund und wohl. Doch schon nach der ersten Nacht im eigenen Haus stellen sich die Symptome wieder ein. Bald vermutet er sogar, dass er schlafwandelt, da aus seinem Krug des Nachts Wasser verschwindet, ohne dass er sich erinnern kann, es getrunken zu haben. Er fürchtet, wahnsinnig zu werden, doch bemerkt er, dass sich etwas anderes in seinem Haus herumtreibt, ein Wesen, das ihn nachts heimsucht und sich offensichtlich von Milch und Wasser ernährt, andere Speisen aber verschmäht. Gleichzeitig entzieht es Jean offensichtlich die Lebensenergie und zwingt ihm seinen Willen auf. Dieser Horla, so stellt sich das Wesen im Laufe der Erzählung vor, ist offensichtlich Teil einer Rasse, die evolutionär über dem Menschen steht und sich ihn Untertan macht. Jean pendelt daraufhin zwischen Verzweiflung und Wahn; ein Versuch, den Horla zu vernichten, schlägt fehl. Mit der Ausweglosigkeit der Situation konfrontiert, bleibt Jean nur noch eine Möglichkeit, sich dem Zugriff des Wesens zu entziehen: der Selbstmord.

Guy de Maupassant (1850-1893) ist dem Liebhaber französischer Literatur sicher kein Unbekannter. Als frischgebackener Beamter machte er seine ersten zögerlichen Schritte in der Schriftstellerei, war aber mit seinem Debüt „Fettklößchen“ gleich so erfolgreich, dass er sich fortan nur noch dem Schreiben widmete und einer der beliebtesten Autoren seiner Zeit wurde. Er war mit so bekannten Namen wie Flaubert oder Turgenev bekannt, bei Maupassants Tod 1893 hielt kein Geringerer als Emile Zola die Grabrede. Maupassants Leben endete in Wahnsinn. Schon früh litt er an einer Nervenkrankheit, die die damalige Medizin nicht zuordnen konnte: Sehstörungen, Angstzustände, Depressionen und partielle Lähmungen stellten sich in Schüben ein. Als sein Bruder durch ein ähnliches Leiden im Wahnsinn starb, war für Maupassant klar, dass ihm das gleiche Schicksal blühen würde. Unter diesem Licht lässt sich „Der Horla“ auch als Maupassants Auseinandersetzung mit dem fortschreitenden Wahnsinn lesen. Jean fragt sich an mehreren Stellen, ob er denn wahnsinnig geworden sei. Anstatt das Unmögliche und Unglaubliche zu akzeptieren, zieht er zunächst den Gedanken vor, selbst nicht mehr zurechnungsfähig zu sein. Dann, als das Unmögliche unwiderruflich bestätigt ist, drängt ihn gerade diese Gewissheit weiter an den Rand des Wahnsinns. Die Vorstellung, der Mensch sei nicht die Krönung der Schöpfung und nur Sklave eines höheren Wesens, raubt ihm den Seelenfrieden. Jeans Ringen um sein inneres Gleichgewicht zeigt Maupassant unverblümt in den schmerzhaft glaubwürdigen Tagebucheintragungen des Geplagten.

Gelesen wird die Geschichte diesmal von Torsten Michaelis, der sonst Wesley Snipes seine Stimme leiht. Dass er damit offensichtlich hoffnungslos unterfordert ist, beweist er hier eindrucksvoll. Mit samtener Stimme zieht er den Hörer in seinen Bann und klingt dennoch mit zunehmender Sprechzeit (und zunehmendem Wahnsinn) gehetzter, unkontrollierter und gebrochener. Innerhalb der 78 Minuten des Hörbuchs kann er damit eine ungeheure Bandbreite beweisen – und das mit nur einer Geschichte!

Qualitativ liegt diese CD ungefähr gleichauf mit „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“, das sich auf dem dritten Hörbuch findet. Welche Geschichte letztendlich das Rennen macht, ist Geschmackssache, beide jedoch bieten eine spannende Studie über das Innenleben eines vermeintlich Wahnsinnigen. Wer nicht alle vier CDs der Sammlung kaufen will, sollte sich jedoch zumindest diese beiden anschaffen. Jeweils eine gute Stunde gepflegten Nervenkitzels und Gruselns sind garantiert.

Wer nach dem Genuss von „HR Giger’s Vampirric“ immer noch nicht genug von vampirischen Geschichten hat, der kann sich das dazu passende Buch (erschienen bei |Festa|) zulegen. Für die Hörbücher wurden nämlich nur einige Erzählungen ausgewählt (sechs insgesamt), die Anthologie selbst bietet noch eine ganze Reihe mehr, nämlich insgesamt 23 Geschichten.

Alle vier Hörbücher im Überblick:

[HR Giger’s Vampirric 1: 581
Thomas Ligotti „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ und
Horacio Quiroga „Das Federkissen“

[HR Giger’s Vampirric 2: 582
Leonard Stein „Der Vampyr“ und
Amelia Reynolds Long „Der Untote“

[HR Giger’s Vampirric 3: 583
Karl Hans Strobl „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“

HR Giger’s Vampirric 4:
Guy de Maupassant „Der Horla“

Strobl, Karl Hans – HR Giger\’s Vampirric 3 – Das Grabmal auf dem Père Lachaise

HR Gigers Anthologie von Vampirgeschichten, die 2003 bei Festa unter dem Titel „HR Giger’s Vampirric“ erschienen ist, erlebt in Auszügen eine Neuauflage in vier Hörbüchern. Auf dem dritten Hörbuch findet sich Karl Hans Strobls Vampirerzählung „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“ – das Tagebuch eines Hunger leidenden Naturwissenschaftlers, der ein Jahr in einem Mausoleum auf eben jenem Pariser Friedhof zubringen will.

Ernest erfüllt das Testament einer offensichtlich übermäßig exzentrischen Russin. Diese Anna Feodorowna Wassilska hat nämlich verfügen lassen, dass derjenige zweimal 100.000 Franc erhält, der ein Jahr in ihrem Grabmahl zubringt. Ernest beschließt, dieses Jahr zur Beendigung seines Opus Magnus zu nutzen, mit dem er unsterblichen Ruhm in der Welt der Wissenschaft zu erringen sucht. Doch natürlich lockt den armen Privatgelehrten auch das Geld, mit dem er seiner Freundin Margot ein Leben in Sorglosigkeit bescheren könnte. Und die zwei üppigen Mahlzeiten, die ihm der einzige Diener der Wassilska – ein pockennarbiger Tatar namens Iwan – auf einem Wägelchen vorbeibringt, sind auch nicht zu verachten.

Ernest fragt sich immerhin, was diese außergewöhnliche Russin, die er nicht persönlich kennen gelernt hat, mit dieser seltsamen Verfügung bezwecken wollte. Jemanden in der Nähe zu haben, falls sie lebendig begraben wurde? Ein Schutz vor Grabräubern? Oder die sadistische Befriedigung zu wissen, wie sich jemand ein Jahr lang auf einem Friedhof quält? Diese Möglichkeit scheint Ernest am wahrscheinlichsten, nach allem, was er über die Wassilska in Erfahrung bringen konnte. Eine sinnenfrohe Frau aus der weiten Ferne Russlands, die in Paris offensichtlich Vergnügen und das Absonderliche suchte und auch nicht davor zurückschrecke, dem Bäckerlehrling Geld zu bieten, um ihn beißen zu dürfen. Spätestens hier schrillen bei Horrorkennern die Alarmglocken, doch Ernest ist ein zu treuer Naturwissenschaftler, als dass er sich von solchen Geschichten beunruhigen lassen würde. Er schwört, die Zeit im Grabmahl sinnvoll zu nutzen und sich von absonderlichen Begebenheiten nicht schrecken zu lassen.

Und tatsächlich schwant dem Hörer bald, dass im Grabmahl der Wassilska nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Die Zettel, die Ernest als Denkhilfen für sein Buch ordentlich sortiert hat, werden des nächtens im ganzen Grabmahl verstreut. Außerdem machen ihn das üppige Essen und die mangelnde Bewegung so fett, dass er in einem Augenblick der Klarheit erkennt, dass er wie eine Gans gemästet wird. Doch das Seltsamste ist wohl das grüne Licht, das sich Nacht für Nacht einstellt und den Marmor des Grabmahls weich macht.

Doch anstatt sich vor solchen Erscheinungen zu fürchten, lässt sich Ernest von Iwan Gerätschaften und Prismen bringen, um das Licht zu untersuchen. Eines Morgens jedoch findet er unter seiner auf einem Notizzettel notierten Frage nach der Natur dieses seltsamen Lichts die Antwort: „Es ist der Atem der Katechana“ – in seiner eigenen Handschrift. Halb wahnsinnig von dem Gedanken herauszufinden, was hier gespielt wird, bombardiert er Iwan mit Fragen nach dem unbekannten Begriff, während Margot immer öfter sein Grabmahl heimsucht, um ihn zum Abbruch dieses Jahres zu bewegen. Doch es kommt, wie es kommen muss. Ernest stellt fest, dass es sich bei der Wassilska um einen Vampir handelt, der nun jede Nacht in wilden Küssen über ihn herfällt und das Blut aus seinen fetten Adern saugt. Er lauert ihr auf, um sie zu vernichten… Doch bleibt der Hörer ohne letzte Gewissheit zurück: Ist Ernest tatsächlich wahnsinnig? Bildet er sich die Vampirin Wassilska nur ein? Oder handet es sich tatsächlich um eine Untote und tat Ernest das einzig Richtige?

Der Österreicher Karl Hans Strobl (1877- 1946) zählt zusammen mit Hanns Heinz Ewers zu den bedeutendsten Autoren deutscher Phantastik zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Neben dem „Grabmahl auf dem Père Lachaise“ verfasste er mit „Das Aderlassmännchen“ noch eine weitere Vampirgeschichte, die in ihrer Komposition jedoch komplizierter als „Das Grabmahl auf dem Pere Lachaise“ ist. Strobls Erzählung ist innerhalb der Hörbuchreihe „HR Giger’s Vampirric“ ein wahrhaftes Highlight, wozu auch der Sprecher David Nathan – unter anderem als die deutsche Stimme von Johnny Depp bekannt („Savvy?“) – viel beiträgt. Nathan gibt der tagebuchartigen Erzählung Ernests Charaktertiefe. Auf der einen Seite ist er der forschungswütige, überspannte und an leichter Überschätzung leidende Physiker. Dann wieder ist er der geldgeile Egoist, der die Absonderlichkeit des Testaments der Wassilska erfolgreich verdrängt, um am Ende des Jahre die ausgesetzte Unsumme und täglich zwei warme Mahlzeiten zu kassieren. Und gegen Ende der Erzählung scheint durch Nathans Interpretation auch deutlich Ernests zunehmender Wahnsinn durch – gerade hier kann David Nathan brillieren und dem Zuhörer mit Leichtigkeit Schauer über den Rücken laufen lassen.

Wirklich unheimlich und gruslig wird Strobls Erzählung erst gegen Ende. Bis dahin resultiert das Gefühl des Unwohlseins beim Hörer hauptsächlich aus dem ungewöhnlichen Setting und den seltsamen Begebenheiten, denen Ernest aber mit positivistischer Einstellung gegenübertritt. Diesen subtilen Grusel jedoch kann Strobl über die gesamte Erzählung hinweg aufrechterhalten, sodass „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“ keine Längen aufweist und konstant Spannung erzeugt wird. Dieser Teil der „Vampirric“-Reihe ist definitiv der Höhepunkt der vier Hörbücher. Daher heißt es: Kaufen, kaufen, kaufen!

Alle vier Hörbücher im Überblick:

[HR Giger’s Vampirric 1: 581
Thomas Ligotti „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ und
Horacio Quiroga „Das Federkissen“

[HR Giger’s Vampirric 2: 582
Leonard Stein „Der Vampyr“ und
Amelia Reynolds Long „Der Untote“

HR Giger’s Vampirric 3:
Karl Hans Strobl „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“

[HR Giger’s Vampirric 4: 584
Guy de Maupassant „Der Horla“

Stein, Leonhard / Long, Amelia Reynolds – HR Giger\’s Vampirric 2 – Der Vampyr / Der Untote

„HR Giger’s Vampirric“ – eine Sammlung von vier Hörbüchern mit Vampirkurzgeschichten, die jeweils einzeln erhältlich sind -, wartet mit einigen Überraschungen auf. So finden sich auf der zweiten CD zwei Erzählungen von Autoren, die heute fast vollkommen in Vergessenheit geraten sind. Den Anfang macht Leonhard Steins „Der Vampyr“ (1918), gefolgt von der etwas kürzeren Geschichte „Der Untote“ (amerik. „The Undead“, 1931) der Amerikanerin Amelia Reynolds Long, die für sich in Anspruch nehmen kann, eine der ersten weiblichen Science-Fiction-Autoren gewesen zu sein.

In Steins Erzählung trifft der Hörer auf den nur leidlich sympathischen Büroangestellten Hermann Samassa. Samassa führt ein kleinbürgerliches Leben, ist geizig und so gefühlsarm, dass er selbst für seine Verlobte keine echte Begeisterung aufbringen kann und mit ihren Liebesbezeugungen hoffnungslos überfordert ist. Samassa nun trifft seinen Untergang in Form der neuen Schreibkraft in seinem Büro – ein abstoßendes Weibsbild mit strähnigen Haaren und einem Buckel. Ihr rotes Haar und ihre funkelnden grünen Augen markieren sie sofort als eine diabolische Frau und tatsächlich hat sie es offensichtlich auf den kleinlichen Büroangestellten abgesehen. Das Zettelchen, das sie ihm zukommen lässt, zerknüllt dieser entsetzt. Doch stellt er bald fast, dass die Neue im gleichen Haus wohnt wie er und ihn fortan jede Nacht heimsucht, um ihm ihren einen langen beinernen Zahn in die Brust zu stoßen. Der Arme wird zusehends schwächer und versucht, den Blutverlust mit herzhaftem Essen und starken Rotweinen auszugleichen. Gleichzeitig wird die Vampirin immer schöner – die strähnigen Haare wandeln sich in eine Mähne und der Buckel verschwindet ganz. Samassa erweist sich als Hasenfuß. Anstatt es mit der Vampirin aufzunehmen, bringt er sich selbst aus der Schusslinie, indem er ihr seine Verlobte Clara als Futter zuschanzt. Doch damit stürzt er nur alle Beteiligten ins Unglück.

Über Leonhard Stein ist heute nichts mehr bekannt, doch seine Geschichte mutet typisch für die Zeit an, in der sie entstanden ist. Stein verlegt die Handlung in ein modernes Ambiente – ein Büro – und konfrontiert den Leser mit einer Menagerie entfremdeter Charaktere. Die Vampirin lebt offensichtlich nur für den nächtlichen Bluttrunk. Und Samassa selbst ist so entmenschlicht, dass er seine Verlobte in den Tod schickt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Allerdings verwendet Stein trotz dieses modernen Settings auch altbekannte Elemente: Rote Haare und grüne Augen weisen die Vampirin als Hexe und Femme Fatale aus. Je mehr Blut sie zu sich nimmt, desto mehr erblüht auch ihre Schönheit, während ihr Opfer immer mehr dahinsiecht. Auch das Motiv, dass sie im Moment des Todes so etwas wie inneren Frieden zu finden scheint, wird in vielen Erzählungen verwendet. Besonders interessant ist jedoch ihr einzelner Vampirzahn (überhaupt der einzige Zahn in ihrem Mund), der mit seinen eindeutig phallischen Konnotationen mehr als beunruhigend anmutet. Steins Erzählung bietet ein gutes Beispiel dafür, wie man sich den Vampir zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorstellen muss: Keine verwunschenen Schlösser, sondern profane Bürogebäude. Keine alten Münzen, die wie bei [„Dracula“ 210 einfach so in der Ecke rumliegen, sondern die proletarische Vampirin, die für ihre Miete arbeiten muss. Und ein unfreiwilliger Vampirjäger, der kleinbürgerlich und überängstlich ist.

In „Der Untote“ geht es um das Brüderpaar Henry und James. James, der im Sterben liegt, teilt seinem Bruder mit, dass er noch einen Zwillingsbruder George habe, dem er das Anwesen vererben würde. Sollte George sechs Monate nach James’ Tod noch nicht eingetroffen sein, so würde das Erbe an Henry fallen. Sagte es … und starb. Henry ist verwirrt, hat er doch noch nie etwas von diesem George gehört. Dieser trifft aber tatsächlich etwas später ein, gibt bekannt, dass er im Turm zu leben wünsche und ward nicht mehr gesehen. Stattdessen werden in der Umgegend zunehmend Personen vermisst und später tot aufgefunden. Und dann findet Henry auch noch ein Buch, das davon berichtet, wie man Tote wieder zum Leben erwecken kann. Ist dieser geheimnisvolle George vielleicht hier, um James wiederzuerwecken?

„Der Untote“ erinnert in einigen Motiven stark an Byrons „Fragment“: Wie bei Byron wird dem Protagonisten ein Schwur abgerungen, der die Identität und damit das Überleben des Vampirs sichern soll. In beiden Geschichten wird der (zukünftige) Vampir von einer siechenden Krankheit befallen, die ihn scheinbar das Leben kostet. Byrons Fragment endet an dieser Stelle, doch für Amelia Reynolds Long ist dies nur die Ausgangsposition. Und tatsächlich wird die Umgebung nach Georges Ankunft von mysteriösen Toden heimgesucht. Doch braucht Henry eine Weile, bis er die Identität dieses lange verschollenen Bruders entschlüsseln kann. Und gerade darin liegt das Problem der Erzählung. Ein heutiger Leser durchschaut sofort die Lösung des Rätsels, lange bevor Henry auch nur in die Nähe der Antwort kommt. Die Geschichte kommt einfach nicht schnell genug voran, um mit der Kombinationsgabe des Lesers (oder Hörers) mitzuhalten und so sticht sich der Grusel selbst aus, indem er einfach zu leicht zu durchschauen ist.

Die beiden Geschichten auf dieser CD könnten kaum unoriginellere Titel haben. Es muss unzählige Erzählungen und Kurzgeschichten geben, die „Der Vampyr“ oder „Der Untote“ heißen. Und tatsächlich bleiben Stein und Long kaum im Gedächtnis des Hörers zurück. Einige Passagen wirken durchaus gelungen, besonders in Steins Geschichte. Doch vor allem Longs Erzählung wirkt auf den modernen Leser antiquiert und uninspiriert. Helmut Krauss, der unter anderem Marlon Brando und Samuel L. Jackson seine Stimme leiht, macht das Beste aus den Texten und klingt gewohnt maskulin.

Alle vier Hörbücher im Überblick:

[HR Giger’s Vampirric 1: 581
Thomas Ligotti „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ und
Horacio Quiroga „Das Federkissen“

HR Giger’s Vampirric 2:
Leonard Stein „Der Vampyr“ und
Amelia Reynolds Long „Der Untote“

[HR Giger’s Vampirric 3: 583
Karl Hans Strobl „Das Grabmahl auf dem Père Lachaise“

[HR Giger’s Vampirric 4: 584
Guy de Maupassant „Der Horla“

Thomas Ligotti / Horacio Quiroga – HR Giger’s Vampirric 1 – Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts

HR Gigers Zusammenstellung von Vampirkurzgeschichten, die 2003 unter dem Titel „HR Giger’s Vampirric“ in Buchform bei Festa erschienen ist, ist nun auch in vier einzeln erhältlichen Hörbüchern bei LPL records auf den Markt gekommen. Eine Auswahl von insgesamt sechs Erzählungen (also eine Art „Best-of“ der Anthologie) soll beim Hörer für gepflegten Grusel sorgen – der Slogan des Verlags lautet schließlich nicht umsonst „Gänsehaut für die Ohren“. Zwei dieser Kurzgeschichten finden sich auf dieser ersten CD: „Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts“ (amerik. „The Lost Art of Twilight“, 1989) von Thomas Ligotti und „Das Federkissen“ (dem Band „Cuentos de Amour, de Locura y de Muerte“ von 1917 entnommen) von Horacio Quiroga. Eingeleitet werden beide Geschichten jeweils von einem kurzen Vorwort des „Meisters“ Giger selbst.

Thomas Ligotti / Horacio Quiroga – HR Giger’s Vampirric 1 – Die verloren gegangene Kunst des Zwielichts weiterlesen

Byron, Lord / Polidori, John William / Gustavus, Frank – Vampyr, Der – oder Gespenstersommer am Genfer See

1816 ereignete sich in der Villa Diodati am Genfer See ein Geschehen, das auch heute noch als literarische Anekdote in Vampiranthologien und Frankenstein-Nachwörtern regelmäßig Eingang findet. Damals nämlich verbrachte eine illustre Gesellschaft den verregneten Sommer in der Villa: Der englische Dichter Percy Shelley, seine spätere Frau Mary Wollstonecraft, deren Stiefschwester Claire (wohl die Einzige in der Runde ohne literarischen Nachruhm), der englische Dichter und Lebemann Lord Byron und dessen Leibarzt John William Polidori. Die Gruppe verbrachte einen angeregten Abend beim Lesen deutscher Gespenstergeschichten und aus einer Laune heraus schlug Byron vor, die Anwesenden sollten sich jeweils selbst an einer Geistergeschichte versuchen. Was aus Percy Shelleys Beitrag geworden ist, bleibt unbekannt. Mary Wollstonecraft jedoch begann ihre Arbeit am weltberühmten „Frankenstein“, Byron verfasste eine Fragment gebliebene Kurzgeschichte und Polidori, nicht nur Mediziner, sondern auch aspirierender Schriftsteller, trug sich mit einer Geschichte über eine Frau, der ein Totenkopf auf den Schultern sitzt.

Nun war die Beziehung zwischen dem exzentrischen Byron und seinem Leibarzt Polidori keineswegs eine harmonische. So kam es, dass Polidori bald aus Byrons Diensten entlassen wurde, doch die in der Villa Diodati geschriebenen Geistergeschichten ließen ihn scheinbar nicht in Ruhe. Er baute auf Byrons „Fragment“ auf und verfasste seine eigene Novelle: „The Vampyre, A Tale“ (dt. „Der Vampyr“). Sie erschien 1819 unter dem Namen Lord Byrons, der sofort die Urheberschaft bestritt. Doch der Siegeszug des „Vampyr“ war nicht mehr aufzuhalten, es folgten Übersetzungen, mehrere Auflagen und sogar Bühnenadaptionen. Mit „Der Vampyr“, so mittelmäßig die Novelle in ihrer literarischen Qualität auch sein mag, brach eine neue Ära für die Vampirliteratur an. Sicher, es hatte schon vorher Vampire in der Literatur gegeben (sogar große Namen wie Goethe waren sich nicht zu schade, sich mit den Untoten zu beschäftigen). Doch Polidoris Vampir, der aristokratische Lord Ruthven, war kein in Lumpen gehüllter Zombie mehr, der auf Friedhöfen lauerte. Stattdessen sucht er die Salons der Großstädte heim und macht sich an holde Jungfrauen heran, um sie ins Unglück zu stürzen. Er ist schön, blass, kaltherzig, reich, weltgewandt, grausam, aber auch charmant – das genaue Ebenbild Lord Byrons. Die Bedeutung von Polidoris Erfindung für spätere literarische Vampire lässt sich kaum unterschätzen, ist die Anziehungskraft des Byronschen Vampirs doch auch heute noch ungebrochen (man denke nur an Anne Rices Lestat oder Laurell K. Hamiltons Jean-Claude).

Mit „Der Vampyr“ hat |Ripper Records| in Zusammenarbeit mit |Lübbe Audio| nun ein liebevoll produziertes Hörspiel auf den Markt gebracht, das sich den Ereignissen am Genfer See widmet. Dass die beiden CDs den Titel von Polidoris Novelle tragen, zeigt gleich, wo die Sympathien von Frank Gustavus liegen, der für Buch und Regie zuständig war. Man folgt Polidoris Sicht der Dinge, wenn er am Totenbett einem namenlosen Journalisten seine Geschichte erzählt: Wie er von Byron angestellt wird und mit ihm auf den Kontinent reist. Wie er mit den anderen Schriftstellern in der Villa Diodati zusammentrifft und deren Spott über seine mittelmäßigen literarischen Werke ertragen muss. Wie er nur in Mary Shelley eine Freundin findet und schließlich den „Vampyr“ verfasst, nur um ihn unter Byrons Namen veröffentlicht zu sehen. Diese Katastrophe wird sich fatal auf sein Leben auswirken. Der Streit um die Urheberschaft ruiniert ihn, andere seiner Werke werden verrissen oder gar nicht erst verlegt. Desillusioniert nimmt er sich mit 26 das Leben, ohne je literarischen Ruhm erreicht zu haben. Ironischerweise hat sich sein im Hörspiel geäußerter Wunsch, seinen Namen einmal neben Byrons zu sehen, mittlerweile mehr als erfüllt. In Anthologien stehen die Erzählungen Byrons und Polidoris in der Regel nenebeneinander und literaturgeschichtlich markiert Polidoris Novelle die Geburt des modernen Vampirs.

Frank Gustavus verbindet gekonnt Teile der Erzählungen (man hört Auszüge aus Byrons „Fragment“, Polidoris „Der Vampyr“, Coleridges „Christabel“, aber auch Abschnitte aus Briefen und Tagebucheintragungen) mit überlieferten Tatsachen (so stimmt es tatsächlich, dass Shelley bei der Rezitation von „Christabel“ einen Nervenzusammenbruch erlitt) mit frei erfundenen Teilen (beispielsweise die Ausgangssituation des Hörspiels, in dem Polidori seine Geschichte einem Reporter erzählt). Sämtliche Sprecher erwecken ihre Charaktere überzeugend zum Leben, allen voran natürlich Andreas Fröhlich als Polidori und Joachim Tennstedt als Byron. Fröhlich, der seine Stimme auch schon Edward Norton lieh, lässt seinen Polidori zwischen dem jungen Naiven in der Gesellschaft von hochgebildeten Literaten und dem vom Leben enttäuschten und vollkommen desillusionierten Selbstmörder changieren. Joachim Tennstedt, der unter anderem auch John Malkovich synchronisiert, lässt Byron wie einen manischen Irren klingen und macht es dem Zuhörer damit leicht, diesen genialen, aber menschlich wohl unleidlichen Dichter leidenschaftlich zu hassen. Unterstützt werden beide von atmosphärischer Musik und überzeugenden Soundeffekten.

Wer die jeweiligen Erzählungen von Byron und Polidori kennt, der wird im Hörspiel von |Ripper Records| eine engagierte und lohnende Bearbeitung der Ereignisse um die Entstehung der Geschichten finden. Allen anderen wird „Der Vampyr“ garantiert Lust auf mehr machen: mehr Hörspiele, mehr Vampirgeschichten, vielleicht ein wenig „Frankenstein“. |Ripper Records| ist ein kleines Juwel mit hohem Unterhaltungswert gelungen, in dem eine bekannte Anekdote zu neuem Leben erweckt wird. Die Geschichte zieht den Hörer sofort in ihren Bann und man mag keine Sekunde von Polidoris Erzählung verpassen. Die Handlung ist spannend, unterhaltsam, gruselig, aber auch mit Witz aufgearbeitet worden, deswegen gibt es eine ganz klare Empfehlung: Kaufen, hören, genießen!

(p.s.: Falls nun jemand nach dem Hören auf die beiden Geschichten von Byron und Polidori neugierig geworden sein sollte, so kann demjenigen natürlich geholfen werden. Beide Erzählungen finden sich in einer hervorragenden Anthologie von Dieter Sturm und Klaus Völker, die sich bereits seit Jahrzehnten als Standardwerk behauptet: „Von denen Vampiren oder Menschensaugern“ enthält zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten, aber auch historische Dokumente. Im Dezember erscheinen übrigens bei |Ripper Records| die kompletten „Vampyr“-Erzählungen als Hörbuch, gelesen von A. Fröhlich und J. Tennstedt.)

Maturin, Charles Robert – Melmoth der Wanderer

Gegen Ende es 18. Jahrhunderts erblickte in England das Genre der |gothic novel| den Buchmarkt und erfreute sich alsbald großer Beliebtheit. Zwar ging es darum, dem Leser wohlige Schauer über den Rücken laufen zu lassen, doch verdankte die |gothic novel| auch viel dem Gedankengut der Aufklärung und des Rationalismus. Oftmals wurde in den Romanen eine mystifizierte Welt vorgestellt, in der übernatürliche Dinge vor sich gingen, nur um am Ende mit natürlichen und rationalen Ursachen wegerklärt zu werden. Dem heutigen Leser mögen Romane wie Walpoles „The Castle of Otranto“ oder Radcliffes „The Mysteries of Udolpho“ kaum noch Schrecken verursachen. Zu allgemein bekannt sind die Konventionen des gotischen Schauers, als dass verlassene Burgruinen oder mondbeschienene Friedhöfe tatsächlich zum Fürchten wären. Doch dies heißt nicht, dass diese Romane nach 200 Jahren ihren Reiz verloren hätten. So wird auch „Melmoth der Wanderer“ von Charles Robert Maturin keinem Leser schlaflose Nächte bescheren, allerdings ist der Roman gleichzeitig ein besonders gutes Beispiel dafür, dass die |gothic novel| viel mehr bietet als den Schauer von Ruinen und alten Klöstern.

Maturin, 1780 in Dublin geboren, ist dem Liebhaber wohl höchstens durch „Melmoth der Wanderer“ (1820) oder sein Drama „Bertram“ (1816) bekannt, mit dem er noch zu Lebzeiten einen bescheidenen Erfolg erzielte. Sorgenfrei lebte er jedoch nie, meist musste er mit den bescheidenen Geldmitteln, die ihm zur Verfügung standen, genauestens haushalten. Sein erster Roman, den der Hilfsgeistliche Maturin noch ganz in der Tradition Radcliffes 1807 veröffentlichte, blieb weitgehend unbeachtet. Doch ein namhafter Rezensent fand sich dennoch: Der Schotte Walter Scott, der hauptsächlich mit phantastisch durchsetzten historischen Romanen Erfolg hatte („Waverley“ oder „Ivanhoe“ stammen aus seiner Feder). Scott setzte sich in Zukunft für Maturins Werk ein; er plante eine Biographie und eine Ausgabe von Maturins gesammelten Werken. Doch das Schicksal kam dem zuvor: Scotts Verlage gingen pleite und er musste die letzten Jahre seines Lebens buchstäblich um sein Leben schreiben, um die Schulden abzubezahlen. Maturin erging es finanziell kaum besser.

Seinem „Melmoth“ stellt er eine Vorwort voran, in dem er bündig zusammenfasst, was er im Roman auf fast 800 Seiten ausarbeiten wird: |“Gibt es in diesem Momente wol Einen unter uns“|, fragt er den Leser, |“ob wir uns gleich von dem HErrn entfernet haben mögen, nicht achtend Seines Willens und ohneingedenk Seines Worts – giebt es wol Einen unter uns, welcher in eben diesem Augenblicke und um der Eitelkeit menschlicher und irdischer Güter willen hingeben wollte die Hoffnung auf seine ewige Seeligkeit? – Nein, kein einziger ist hier, kein solcher Thor hienieden, und versuchte auch der Leibhaftige selbst, ihn in seine Fallstricke zu locken.“| Auf der Suche nach einer solche Person nämlich ist Melmoth, eine faustische Figur, die über 150 Jahre lang die Welt durchstreift, um Menschen zu versuchen. Melmoth selbst wurde von seinem Wissensdrang („Habe doch ach …“, hört man Goethe im Hintergrund deklamieren) dazu verführt, einen Pakt mit dem Teufel einzugehen. Ihm wird Erkenntnis zuteil und eine verlängerte Lebensspanne. Doch am Ende der 150 Jahre wird der Teufel Melmoths Seele als Unterpfand einfordern. Außer natürlich, und das ist der entscheidende Unterschied zu Goethes „Faust“, Melmoth fände jemanden, auf den er seinen Kontrakt „übertragen“ könnte.

So zieht er denn durch die Welt, halb Mensch und halb Geist, und wendet sich an Menschen in verzweifelten Notlagen, um sie zu verführen, eine Linderung ihres Leides gegen ihre Seele einzutauschen. Bis auf eine indische Insel verschlägt es ihn, doch nirgends findet sich jemand, dessen Verzweiflung ihn zu solch drastischen Maßnahmen treiben würde. Und so muss Melmoth, nachdem die 150 Jahre abgelaufen sind, seine Seele dem Teufel überantworten und die Strafe für seinen Erkenntnisdrang annehmen.

Dabei ist Melmoth eine sehr widersprüchliche Figur. Er ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid mit seinen Opfern und einem beißenden Zynismus gegenüber deren Notlagen. Doch seine Situation verlangt, zuerst an sich zu denken und so stürzt er auch Isidora, die Person, der er wohl die meisten Gefühle entgegenbringt, ins Unglück. Nachdem er sie heimlich geehelicht und geschwängert hat, sterben sie und ihr Kind in den Fängen der Inquisition, die das Kind für einen Satansbraten hält.

„Melmoth der Wanderer“ ist kein einfaches und schon gar kein geradliniges Buch. Es ist aufgebaut wie eine Matrioschka, eine dieser russischen Holzfiguren, in denen sich immer noch eine neue, kleinere Figur versteckt. So verschachtelt Maturin immer neue Erzählungen ineinander, stellt immer neue Schicksale und Verführungsszenen vor, bis der Leser den Überblick über die Erzählstruktur zu verlieren droht. Rahmen- und Binnenerzählungen sind nicht auszumachen, auch hat keine Erzählung wirkliche Priorität vor den anderen. Die verschachtelte Erzählstruktur gemahnt eher an einen überspannten Spleen des Autors, seiner Geschichte freien Lauf zu lassen und die Geschichten untereinander über komplizierte Gemeinsamkeiten zu verbinden. Melmoth, der alle diese Erzählungen als böser Geist heimsucht, bildet den roten Faden, die Verbindung zwischen all den menschlichen Schicksalen, die Maturin in weit ausholenden Handlungsbögen schildert. Und doch ist er es, den am Schluss das bedauernswerteste Schicksal ereilt, können doch alle anderen Charaktere auf ein besseres Dasein im Jenseits vertrauen.

Maturins groß angelegter Roman eignet sich kaum zum Gruseln. Stattdessen wechseln sich handlungs- und spannungsintensive Passagen mit philosophischen und gesellschaftskritischen ab. Besonders Maturins scharfe Religionskritik (auf die Katholiken und die Kalvinisten hat er es insbesondere abgesehen) scheint fast immer durch. Religion, für ihn das bloße Abarbeiten von Riten, stellt er einem natürlichen Glauben gegenüber, der durch ein tiefes Empfinden für Gott geprägt ist und ohne den Pomp katholischer Regeln auskommt. Allein seine deutlichen Ansichten zu Religion und Staatskirche machen „Melmoth der Wanderer“ zu einer lohnenden Lektüre.

Der |area|-Verlag hat eine ganze Reihe bekannter Horrorklassiker neu in preiswerten Hardcovern aufgelegt. Im Verlagsprogramm finden sich nicht nur moderne Autoren wie Clive Barker („Die Bücher des Blutes“) oder Dean Koontz („Nackte Angst“), sondern auch ältere Schriftsteller wie Matthew Gregory Lewis („Der Mönch“) oder eben Maturin. Damit werden diese Texte endlich wieder auf Deutsch verfügbar und für ein breites Publikum zugänglich. Es lohnt sich durchaus, sich durch die erschwinglichen Hardcover von |area| zu lesen. Die Auswahl des Verlags garantiert: Jeder Griff ein Treffer.

Tolkien, J. R. R. – Hobbit, The

J. R. R. Tolkiens drei Hauptwerke sind so unterschiedlich im Ton, im Stil und in ihrer Beschaffenheit, dass man fast nicht glauben mag, dass sie alle aus der Feder eines Autoren stammen. „The Lord of the Rings“ (dt. „Der Herr der Ringe“) ist ein gigantisches, detailverliebtes Epos. [„The Silmarillion“ 408 (dt. „Das Silmarillion“) ist sowohl Mythos, Epos als auch eine breit angelegte Chronik von Tolkiens imaginärer Welt. „The Hobbit“ (dt. „Der kleine Hobbit“) jedoch, seine erste belletristische Veröffentlichung, ist ein verspieltes und leichtfüßiges Kinderbuch, das auch dem erwachsenen Leser das eine oder andere Lächeln aufs Gesicht zaubern wird. Vergeblich sucht man hier nach dem Faktenreichtum des „Silmarillion“ oder der Handlungsbreite des „Herrn der Ringe“. Stattdessen erzählt Tolkien im „Hobbit“ kurzweilig, gut gelaunt und vor allem mit einem guten Schuss Ironie, der nahelegt, dass der mittlerweile als Genie gefeierte Tolkien seine eigene Geschichte nicht unbedingt bierernst nimmt. Denn der „Hobbit“ soll in erster Linie unterhalten und Spaß machen!

Der Hobbit, das ist Bilbo Baggins, in den besten Jahren, delikatem und reichlichem Essen durchaus zugeneigt und ein Liebhaber guten Tabaks. Abenteuer sind das Letzte, woran er denkt, als Gandalf – seines Zeichens Zauberer – vor seiner Hobbithöhle auftaucht. Gandalf nun, komplett mit spitzem Zaubererhut und dem passenden Stab, sucht für eine Kompanie Zwerge einen vierzehnten Mann und hat sich in den Kopf gesetzt, dass Bilbo die perfekte Wahl wäre. So sieht sich der Arme tags darauf dreizehn hungrigen Zwergen unter der Führung von Thorin gegenüber, die ihn auf eine Reise zum Lonely Mountain mitnehmen wollen, um dem dort ansässigen Drachen Smaug einen ganzen Haufen Gold zu entwenden. Nun hat, wie bereits erwähnt, der sehr respektable Bilbo mit Abenteuern nichts am Hut, doch wäre die Geschichte hier zu Ende, hätte Gandalf es nicht geschafft, Bilbo aus seiner Höhle zu locken. So überstürzt muss er aufbrechen, dass er gar sein Schnupftuch vergisst.

Nun erleben Zwerge, Hobbit und Zauberer allerlei wundersame Abenteuer, bis sie zum Lonely Mountain kommen. So nimmt Bilbo beispielsweise dem geheimnisvollen Gollum einen gewissen Ring ab, der später noch eine prominente Rolle in Tolkiens Schaffen spielen soll. Auf dem Weg nach Rivendell wollen drei hungrige Trolle sie kochen. In den Misty Mountains geraten sie an eine ganze Horde Orks. In Mirkwood müssen sie sich mit Riesenspinnen und scheuen Waldelben rumschlagen. Und schließlich am Lonely Mountain angekommen, gilt es immer noch, einen ziemlich unleidlichen Drachen zu besiegen und einen Krieg zu verhindern, der zwischen Zwergen, Elben und Menschen ob des in greifbare Nähe geratenen Schatzes zu entbrennen droht. Und in all diesen prekären Situationen denkt Bilbo zwar am liebsten an seine gemütliche Hobbithöhle und sein zweites Frühstück; doch alles in allem erweist er sich zumeist als Retter in der Not und durchaus brauchbarer Abenteurer.

Dass „The Hobbit“ als Kinderbuch konzipiert ist, wird ziemlich schnell klar. Ein väterlicher Erzähler nimmt den (jugendlichen) Leser an die Hand, erklärt ihm Hobbits und Zauberer und Mittelerde und hält auch sonst mit seiner Meinung nicht hinterm Berg. Recht amüsant kommentiert er so, was in der Geschichte passiert, spricht den Leser von Zeit zu Zeit auch direkt an. Darüberhinaus ist der Roman in Kapitel eingeteilt, die sich jeweils gemütlich in einer Sitzung lesen lassen und jedes Mal ein abgeschlossenes Abenteuer behandeln. Außerdem ist „The Hobbit“ fast komplett bar aller Hintergrundinformationen, die das „Silmarillion“ und „Lord of the Rings“ zu so reichhaltigen (und schwer verdaulichen) Texten machen. Es wird hier zwar schon auf zukünftige Ereignisse angespielt (die Handlung spielt rund 60 Jahre vor „The Lord of the Rings“) – so begegnet man hier bereits Elrond, Gandalf und auch Sauron wird verschlüsselt erwähnt -, doch im Großen und Ganzen ist der Text viel geradliniger und einfacher als das, was man sonst von Tolkien gewohnt ist. Damit eignet sich „The Hobbit“ auch hervorragend als Einstiegsdroge für jene, die sich Mittelerde langsam und bedächtig nähern wollen.

Die englische Taschenbuchausgabe ist, obwohl preiswert, mit Liebe gestaltet worden. Das elegant schwarze Cover schmücken der Titel in Silber und ein Porträt Smaugs in auffälligem Rot aus der Feder Tolkiens. Und wie es sich gehört, beinhaltet der Roman auch einige Illustrationen, um das Buch für junge Leser ansprechender zu gestalten. Für all jene, die sich in der Geographie Mittelerdes nicht gut auskennen, schmückt die letzte Seite des Romans eine Karte der Route, die Bilbo und die Zwerge genommen haben, sodass man Mirkwood und die Umgebung von Lake Town dort gut nachvollziehen kann.

Zu Recht ist „The Hobbit“ ein Klassiker der modernen Kinderliteratur. Tolkien hat hier mit den Hobbits originäre Kreaturen erschaffen, die Kinder jeden Alters ansprechen dürften. Man erlebt die Geschichte durch Bilbos Augen und mit ihm kann sich der Leser identifizieren. Er ist kein überlebensgroßer Held, sondern ein Persönchen von einem Meter zwanzig, das sein Leben auch gern in der sorglosen Abgeschiedenheit des Auenlandes weitergelebt hätte. Eigentlich vollkommen unneugierig und genügsam, kann er sich doch einer gewissen Begeisterung für die Reise nicht erwehren und dieser Gegensatz des Charakters ist wohl der sympathischste Zug, den Tolkien seinem Bilbo verleihen konnte. Denn ohne es zu wollen, macht das Abenteuer Bilbo zu einem Abenteurer, ohne dass er dadurch ein Held würde. So bleibt er, gerade für Kinder, immer verständlich und begreifbar. Doch auch erwachsene Leser werden sich Bilbos Charme kaum enziehen können!

Hinweis: Unsere Rezension zur deutschen Hörbuchfassung findet ihr [hier. 130

Carter, Lin – Tolkiens Universum

Tolkiens „Der Herr der Ringe“ ist an sich schon ein Mammutwerk (meine Ausgabe beispielsweise hat nicht weniger als 1300 eng bedruckte Seiten) und auch (literatur)wissenschaftlich hat man sich immer wieder mit dem Roman auseinandergesetzt. Doch seit der Verfilmung durch Peter Jackson ist nochmal ein ganzer Stoß begleitender Bücher auf den Markt geschwemmt worden, die dem alten und neuen Fan Mittelerde, Elben und böse Zauberringe erklären sollen. Was da Wunder, dass sich auch der |List|-Verlag eine Scheibe vom Kuchen abschneiden wollte. Anders lässt es sich kaum erklären, dass der Verlag ein Buch aus dem Jahre 1969 ausgrub, es mit einem Cover versah, das frappant an das Design der Verfilmungen erinnert, und das Ganze kurzerhand 2002 in deutscher Erstfassung auf den Markt warf. Das Vorwort zur deutschen Ausgabe weist das Buch als „authentisches Dokument der allgemeinen Faszination aus, die Tolkiens mythisches Universum bereits vor Jahrzehnten ausübte.“ Damit ist bereits in blumigen Worten umschrieben, um was es sich bei Lin Carters „Tolkiens Universum“ eigentlich handelt – nämlich ein Buch, das höchstens noch literaturhistorisch von Interesse ist, ansonsten aber komplett veraltet daherkommt. Einsichten in die Grundlagen von Tolkiens Mythologie und die Fundamente seines Weltenentwurfs finden sich höchstens im letzten Teil von Carters Ausführungen.

Lin Carter war selbst Autor von Fantasyromanen; ein Mann vom Fach also. Er editierte für |Ballatine Books| die „Adult Fantasy“-Reihe und interessierte sich augenscheinlich für den Werdegang der Fantasy in der Weltliteratur. Dass ihn Tolkiens Werk, das bei vielen alten Mythen Anleihen nimmt, dabei besonders faszinierte, überrascht kaum. In „Tolkiens Universum“ versucht er nun, anderen Lesern diese Welt nahe zu bringen, schließlich war „Der Herr der Ringe“ zu diesem Zeitpunkt erst gute zehn Jahre auf dem Markt und begann erst langsam, seinen Kultstatus zu entwickeln. Carter betrat zu seiner Zeit also relatives Neuland und tastete sich dementsprechend vorsichtig an sein Studienobjekt heran.

Zunächst bringt er einige biographische Fakten zu Tolkien, seine universitäre Laufbahn als Professor, sein Interesse für alte Mythen und Legenden (hier nennt er besonders den „Beowulf“ und die [„Edda“) 62 und seine Beschäftigung mit der Form des Märchens.
Von da kommt er auf die Entstehungsgeschichte vom „Herrn der Ringe“ und eine erste kleine Rezeptionsgeschichte, die illustriert, dass ein so unhandliches Buch unmöglich einen einfachen Start haben kann. Dieser Teil von „Tolkiens Universum“ ist mäßig interessant, besonders unterhaltsam muten Carters Spekulationen über den Inhalt des [„Silmarillion“ 408 an, das zu dem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht war.

Um seine Studie über den „Herrn der Ringe“ ordentlich vorzubereiten, bietet Carter dann eine Zusammenfassung sowohl des [„Hobbit“ 22 als auch des „Herrn der Ringe“. Auf nicht weniger als 60 Seiten erläuert er, worum es in den Büchern geht und man fragt sich zwangläufig, an welchen Leser diese Zeilen wohl gerichtet sein mögen. Carters Buch werden sicherlich nur zwei Arten Leser in die Hand nehmen: Diejenigen, die den „Herrn der Ringe“ kennen und tiefer in die Materie einsteigen wollen und diejenigen, die noch vorhaben, das Buch zu lesen. Beide Gruppen werden keine 60-seitige Inhaltsangabe benötigen. Für die einen ist sie überflüssig und für die anderen der ultimative Spoiler. Was Carter also mit diesem Teil seines Buches erreichen wollte, bleibt ungeklärt.

Im Anschluss daran nimmt er den Leser mit auf eine Tour durch die Weltliteratur und erklärt ihm, dass die Form des Epos eine Art Urformel der heutigen Fantasy ist und führt als Beweis unzählige bekannte und unbekannte Epen mitsamt Inhaltsangaben auf. Dies mag lesenswert sein, wenn man sich ohnehin für diese Form interessiert und mehr über „Edda“, „Nibelungenlied“, „Beowulf“ etc. erfahren will. Doch auch für diesen Leser ist Carters Buch nicht unbedingt zu empfehlen. Für einen Überblick bringt er einfach zu viel Material auf zu kleinem Raum und büßt dafür die Tiefe seiner Analyse ein. Seine Betrachtungen bleiben oberflächlich und polulärwissenschaftlich, höchstens ein kleiner Appetitmacher auf Texte wie die „Ilias“. Den Hunger muss man jedoch mit anderen Publikationen stillen. Auch bleibt er den Zusammenhang zwischen den genannten Epen und Tolkiens Schaffen schuldig. Vergleiche werden niemals gezogen und somit stehen Carters Betrachtungen zum Epos frei im Raum ohne direkt für die Tolkien-Analyse herangezogen zu werden.

Im letzten Teil kommt Carter dann endlich zur Sache und gräbt einige Primärtexte aus, die Tolkien beeinflusst und inspiriert haben. Der Mehrwert dieser Entdeckungen ist unterschiedlich. So ist es nicht gerade eine Erleuchtung, herauszufinden, dass „theoden“ (bei Tolkien der König Rohans) das angelsächsische Wort für „Fürst einen Stammes“ ist oder dass „myrkwid“ (engl. „Mirkwood“, dt. „Düsterwald“ – Legolas‘ Heimat) 17-mal in der „Alten Edda“ erwähnt wird. Schon erstaunlicher sind die inhaltlichen Zusammenhänge, wenn er beispielsweise den Sternenfahrer Earendil bis zur „Prosa-Edda“ zurückverfolgt und feststellt, dass die Figur (die ebenfalls Earendil bzw. Orvandel heißt) auch dort mit einem Stern in Verbindung gebracht wird. (Bei Tolkien wird Earendil mit seinem Schiff an den Himmel gesetzt und der Silmaril an seiner Stirn leuchtet den Bewohnern Mittelerdes als Stern der Hoffnung – entspricht dem Morgen- und Abendstern.)

Große Erleuchtungen bleiben bei der Lektüre also aus, was sicherlich dem frühen Entstehungsdatum von „Tolkiens Universum“ geschuldet ist. Wer sich für die Rezeptionsgeschichte Tolkiens interessiert, wird hier sicherlich fündig und kann an Carters Ausführungen ablesen, wie „Der Herr der Ringe“ damals aufgenommen wurde. Wer jedoch wirklich etwas über die Hintergründe des Romans erfahren will, der wird in diesem Buch hauptsächlich im Kreis herumgeführt. Eine Publikation neueren Datums ist da empfehlenswerter und materialreicher.

Tolkien, J. R. R. – Das Silmarillion

Spätestens seit den Verfilmungen von Peter Jackson ist „Der Herr der Ringe“ wohl jedem ein Begriff. Die groben Züge der Handlung sind auch denen bekannt, die die Filme nie gesehen und das Buch nie gelesen haben, und dass Mittelerde in Neuseeland liegt, wurde mittlerweile auch oft genug festgestellt. Doch die Ereignisse, die in „Der Herr der Ringe“ erzählt werden, sind nur der historische Endpunkt von Tolkiens überbordender Fantasie, erzählen sie doch den Übergang des Dritten in das Vierte Zeitalter. Dies impliziert schon recht deutlich, dass Mittelerde, das Tolkien Arda nennt, schon einige tausend Jahre Geschichte gesehen hat. Die wichtigsten Ereignisse dieser früheren Zeitalter erzählt „Das Silmarillion“. Wen also Hintergründe und Vergangenheit von Mittelerde interessieren, wer wissen möchte, wo Elben, Menschen und Zwerge herkommen, der sollte „Das Silmarillion“ ruhig einmal zur Hand nehmen. Doch der geneigte Leser sei gewarnt: Eine wirklich leichte Lektüre ist das Buch nicht!

„Das Silmarillion“ verbindet eine ganze Anzahl von in sich abgeschlossenen und doch verbundenen Erzählungen vom Anfang der Welt bis zu einer kurzen Rekapitulation des Ringkriegs, dem ja „Der Herr der Ringe“ gewidmet ist. Tolkien macht hier eine komplette Mythologie auf und beginnt naturgemäß am Anfang, nämlich mit der Musik der Ainur, seiner Götter. Durch deren Musik entsteht Arda und solange ihre Musik dauert, dauert auch Arda. Die Ainur, die auf die Erde geschickt werden, um sie zu formen, werden fortan die Valar genannt, die im heiligen Land Valinor leben – vergleichbar etwa mit dem Paradies der christlichen Religion. Zu diesem Zeitpunkt ist der Rest von Mittelerde noch ein unwirtlicher und dunkler Ort, denn einer der Vala, Melkor (später Morgoth genannt), entwickelt einen reichlich zerstörerischen Charakter und lässt sich in Mittelerde nieder, um niederzureißen, was die anderen Valar aufgebaut haben.

Als nun die Elben in Mittelerde erwachen, die Erstgeborenen, laden die Valar sie ein, mit ihnen in Valinor zu leben und ein Großteil folgt dieser Einladung auch. So verbringen die Elben zunächst viele glückliche und ungetrübte Jahrtausende in Valinor im Angesicht der Valar. Doch so handlungsarm darf die Geschichte natürlich nicht bleiben. Und so werden die drei Silmaril, Edelsteine von unbeschreiblicher Schönheit, den Elben zum Verhängnis. Sie treiben einen Keil zwischen sie und die Valar und viele der Elben verlassen Valinor, um nach Mittelerde zu ziehen. Dort aber lebt immer noch Melkor und fortan, auch nach der Ankunft der Menschen, wird das Land immer wieder von Krieg überzogen.

„Das Silmarillion“ erzählt hauptsächlich von den Wanderungen und Taten der Noldor-Elben, die Valinor verließen. Tolkien bedient sich hierbei einer seinem Thema angemessenen Sprache – der Text klingt antiquiert, da er sich hauptsächlich an alten Sagen und Mythen orientiert. Erzählt wird in großen Panoramen, Personen sind meist der Handlung untergeordnet, Dialoge oder direkte Rede sind eher selten. Da Tolkien ganze Zeitalter abhandelt, wird dem Leser automatisch große Aufmerksamkeit abverlangt. Namen und Orte tauchen reichlich und in unterschiedlichen Sprachen auf, sodass es sich anbietet, eine entsprechende Tolkien-Enzyklopädie zur Hand zu haben, um nicht schon nach den ersten Seiten komplett den Überblick zu verlieren. Klett-Cotta hat sich mit seiner Ausgabe zumindest die Mühe gemacht, ein kleines Namensregister und Wortstämme in Quenya und Sindarin (den beiden Elbensprachen) anzuhängen. Außerdem gibt es eine kurze Stammtafel ( die jedoch keineswegs umfassend ist) und zwei Karten auf den Buchklappen, auf die man während des Lesens öfter mal einen Blick werfen sollte. So gerüstet übersteht man hoffentlich auch Verwirrspiele wie jenes: „Hadors Söhne waren Galdor und Gundor; und Galdors Söhne waren Húrin und Huor; und Húrins Sohn war Túrin, Glaurungs Verderber; und Huors Sohn war Tuor, Vater Earendils des Gesegneten.“ Und so weiter und so fort. Da Tolkiens Geschichten sehr konzentriert sind, empfiehlt es sich „Das Silmarillion“ in kleinen Dosen zu genießen, da sonst kaum etwas vom Erzählten beim Leser hängen bleibt.

„Das Silmarillion“ ist sicherlich für Leser interessant, denen schon „Der Herr der Ringe“ gefallen hat und die tiefer in die Geschichte von Mittelerde eindringen wollen. Aber auch für jene, die sich allgemein für Mythologie interessieren, dürfte Tolkiens Mammutwerk eine wahre Fundgrube sein. Orientiert an alten nordischen Sagen, hat Tolkien hier eine komplette Mythologie des fiktiven Mittelerde geschaffen, die so reich an Tiefe und Details ist, dass es dem Leser glatt die Sprache verschlägt. Egal, ob man nun Tolkiens Fantasyreich verfallen ist oder nicht, diese schriftstellerische Leistung lässt sich kaum unterschätzen. Doch gerade diese Details machen „Das Silmarillion“ zu einer anstrengenden Lektüre – sprachlich wie inhaltlich. Wer nicht die Bereitschaft mitbringt, sich auf den Text einzulassen und Passagen auch mehrmals zu lesen, den wird die Lektüre schnell langweilen oder überfordern.

„Das Silmarillion“ liegt mir in der neuen Übersetzung von Wolfgang Krege vor, die ja wegen ihrer modernen Sprache in die Kritik geraten ist. Krege hält sich allerdings, bis auf wenige Ausnahmen, mit Modernismen im „Silmarillion“ relativ zurück und bedient sich einer – stellenweise monotonen – „und dann, und dann“-Sprache, die den Effekt alter Sagen hervorrufen soll. Nur an einigen Stellen gehen ihm die Zügel durch und absolut unpassende Wendungen ragen plötzlich unschön aus dem Text heraus. Solche stilistischen Ausrutscher lassen sich natürlich ganz einfach vermeiden, wenn man eine der zahlreichen englischen Ausgaben zur Hand nimmt und sich damit gleich dem Original widmet.

„Das Silmarillion“ eignet sich also für Tolkien-Fans und solche, die es werden wollen. Der panoramische Stil verbietet es, Charaktere darzustellen, mit denen man sich durch das Buch hindurch identifizieren kann. Figuren werden eingeführt und wieder fallen gelassen. Tolkien erweckt tatsächlich überzeugend den Eindruck einer Sage, die von lang vergangenen Reichen erzählt. Wem dies nicht liegt, der wird sich mit dem „Silmarillion“ schwer tun. Allen anderen sei das Buch empfohlen!

(p.s.: Wer keine Tolkien-Enzyklopädie zur Hand hat, um die Lektüre gut gerüstet zu beginnen, der findet einen treuen und zuverlässigen Begleiter in der [Encyclopedia of Arda]http://www.glyphweb.com/arda/ im Internet.)

Ramsland, Katherine – Vampire unter uns

Bram Stoker veröffentlichte 1897 einen Roman, der gleichzeitig den Höhepunkt und das Ende der Gothic Novel bezeichnen sollte: [„Dracula“ 210. Stokers Figur des Vampirs hat unsere Wahrnehmung der Blutsauger so nachhaltig geprägt, dass die Worte „Dracula“ und „Vampir“ in vielen Fällen synonym verwendet werden. Dracula ist ein Verführer, aber auch ein ruchloser Killer. Besonders interessant an Stokers Roman ist die Tatsache, dass der Vampir nur im ersten Drittel wirklich auftaucht. Danach glänzt er durch Abwesenheit und wird durch die Beschreibung der handelnden Figuren nur noch mysteriöser, grausamer, blutgieriger und unbesiegbarer. Stokers Dracula ist ein Monster, das nichts anderes verdient hat, als am Ende des Buches zu Staub zu zerfallen.

Doch wollen wir heutzutage wirklich noch, dass der Vampir am Ende unterliegt? Es scheint nicht so und ein Beweis dafür sind die erfolgreichen Vampir-Romane von Anne Rice („Die Chronik der Vampire“). Sie hat die leblose Gestalt des Untoten in eine moderne Figur verwandelt, mit der sich der Leser tatsächlich identifizieren kann. Ihre Vampire sind empfindsam, sie stellen sich die Frage nach dem Sinn des Lebens. Sie wollen ihre eigene Existenz erforschen und sie fühlen sich von der Unendlichkeit und Einsamkeit ihres Daseins erdrückt. Dies alles scheinen Eigenschaften zu sein, die heutige Leser ansprechen – so weit ansprechen, dass sie sich selbst wünschen, Vampire zu sein.

Katherine Ramsland kennt sich mit Vampiren aus, zumindest mit fiktiven. Sie hat mehrere Bücher über Anne Rice veröffentlicht, unter anderem auch eine Biographie. In ihrem hier vorliegenden Bericht (nennen wir es mal so) hat sie sich nun an den realen Vampir herangewagt. Sie wollte herausfinden, ob es tatsächlich Wesen gibt, die nachts durch die Gegend streifen und das Blut ihrer Opfer trinken. Anlass für ihre Recherchen war das Verschwinden von Susan Walsh 1996. In „Vampire unter uns“ beschreibt Ramsland Susan Walsh als aufstrebende Journalistin, die bis zu ihrem großen Durchbruch in einem Striplokal arbeitet und im Vampirmilieu von New York forscht. Das Transcript von „Unsolved Mysteries“ auf FOX spricht eine etwas andere Sprache: Susan Walsh hatte auch schon früh in ihrem Leben Bekanntschaft mit Alkohol und Drogen gemacht. War ihr Verschwinden also den Vampiren geschuldet? Wurde sie entführt, getötet, weil sie einer Verschwörung oder großen Geheimnissen auf der Spur war? Oder ist sie „einfach“ wieder ins Drogenmilieu abgerutscht – profan und überhaupt nicht übernatürlich? Fragen, die im Buch von Katherine Ramsland nicht gelöst werden. Sei’s drum – Susan Walsh ist Ramslands Vorwand, sich tief in die amerikanische Subkultur vorzuwagen.

Zunächst geht sie es allerdings vorsichtig an. Sie recherchiert im Internet und macht einige interessante, aber in ihren Ansichten auch widersprüchliche Vampirsites ausfindig. Sie verbringt Nacht um Nacht in Vampir-Chats und knüpft dort Kontakte. Bald verselbstständigen sich diese und ihr Buch bewegt sich daraufhin zwischen Conventions, wissenschaftlichen Symposien, S/M-Clubs und Fetischpartys.

Um es kurz zu machen: Ja, es gibt Vampire. Es gibt Menschen, die sich von der Natur des Vampirs genug angezogen fühlen, dass sie sich nicht nur in der Gothic-Szene bewegen (dass die Vampire aus „Vampire unter uns“ alle schwarz tragen, ist wohl selbstverständlich), sondern auch anfangen, Blutspiele in ihre Sexpraktiken einzubauen oder ihre Haustiere auszusaugen. Ramslands Interviews zeigen recht deutlich, dass der moderne Vampir sein Verlangen nach Blut oft an Sex koppelt. Die Hingabe des Opfers an eine übermenschliche Figur, die totale Aufgabe des eigenen Selbst ist dabei nur noch eine Täuschung. Denn auch Vampire können sich böse Krankheiten einfangen. So ist das Einverständnis des Opfers in der Regel Voraussetzung. Und viele der beschriebenen Vampire leben ohnehin in einer festen Beziehung. Somit ist die Rolle des Opfers gewollt – es zieht aus dem Blutaustausch ebenso seinen Vorteil wie der Vampir.

Die interessanteste Frage aber, warum nämliche Menschen zu Vampiren „werden“ (schließlich handelt es sich ja um eine bewusste Entscheidung), bleibt oberflächlich betrachtet und ungeklärt. Von einer studierten Philosophin und Psychologin (Ramsland wird nicht müde, ihre akademische Bildung zu betonen) hätte ich tiefere Einsichten in dieses kulturelle Phänomen erwartet. Sie liefert keine Lösungen; möchte man tiefer in die Materie eindringen, so muss man ihr Material genau und kritisch lesen und sich selbst seine Gedanken dazu machen. So scheint das (sehr junge) Vampirphänomen auf drei Hauptvoraussetzungen aufzubauen: Wie eingangs schon erwähnt, hat Anne Rice den Vampir zu einer romantischen Figur gemacht. Für den Leser ist es sowohl verführerisch, sich einen Vampir herbeizuwünschen, wie sich einzubilden, selbst ein Vampir zu sein. Eine Identifikation auf dieser Ebene ist mit dem guten alten Dracula nicht möglich. Anne Rice spiegelt in ihren Romanen moderne Probleme – die Probleme der Generation X nämlich. So liefert ein Psychologe in Ramslands Buch eine sehr interessante Theorie, die einen Zusammenhang zwischen Vampirkultur und Generation X zu beweisen sucht: Sie entstammen zerrütteten Familien, haben das Vertrauen in die Gesellschaft und ihre Politik verloren und nehmen ihre Zeit als eine Zeit des Niedergangs und Zerfalls wahr. In dieser Gesellschaft fühlen sie sich einsam und als Außenseiter – da wird der Vampir die perfekte Projektionsfläche.

Ein weiterer Faktor ist das Rollenspiel „Vampires: The Masquerade“, das 1991 von White Wolf entworfen wurde und eine große Anhängerschaft besitzt. Das soll natürlich nicht bedeuten, dass in Rollenspielen nur versteckte Vampire agieren: Dennoch, das Rollenspiel hat zur Popularisierung des modernen Vampirs beigetragen (unter anderem auch mit einer kurzlebigen Fernsehserie) und kann Anziehungspunkt für zukünftige Kinder der Nacht sein.

Ein dritter – und sehr wichtiger – Punkt ist meiner Ansicht nach das Internet. Katherine Ramsland ergeht sich nicht umsonst in der Beschreibung ihrer umfangreichen Online-Recherchieren und durchchatteten Nächte. Es scheint, als würde die Anonymität des Internets der Vampirsubkultur in die Hände spielen. Webseiten und Chats ermöglichen eine übergeordnete Organisation dieser Subkultur und machen es einfacher, Menschen mit den selben Vorlieben und Interessen (für Blut) ausfindig zu machen. Außerdem ist es in einem so anonymen Medium einfacher, Rollen und Identitäten auszuprobieren und zu erfinden. So kann der zukünftige Vampir im Chat zuerst virtuell testen, wie seine Vampiridentität „ankommt“.

Wenn sich Ramslands Interviews und Recherchen auch spannend lesen (und manchmal kann man sich eines gewissen „Ick-Faktors“ nicht erwehren), so haben sie doch einen fahlen Beigeschmack. Das liegt zum größten Teil daran, dass Ramsland ihre Interviews mit Vampiren unreflektiert im Raum stehen lässt. Als Psychologin versucht sie nicht, auch bei augenscheinlich schizoiden Persönlichkeiten, das Verhalten ihrer Gesprächspartner zu deuten. Sie bleibt fast immer neutral. Das lässt sie leichtgläubig scheinen und erweckt beim Leser zeitweise sogar das Gefühl, dass es sich um ein zumindest teilweise fiktionales Buch handelt. Haben sich ihr all diese Vampire wirklich so freimütig anvertraut? Ich habe nicht das Gefühl. Vielmehr schien mir bei der Lektüre, dass sie es mit drei unterschiedlichen Typen von Menschen zu tun hatte: Da waren zum einen Personen, die sie augenscheinlich auf den Arm nehmen wollten und sich Geschichten ausdachten. Manche Erzählungen klingen so phantastisch und romantisierend, dass man sich dieses Eindrucks einfach nicht erwehren kann. Dann scheint es eine weitere Gruppe von Menschen zu geben, die zwar glauben, was sie erzählen, dies aber nicht wirklich erlebt haben. Überschäumende Phantasie also oder Schizophrenie? Und die letzte Gruppe sind dann die wirklich Aufrichtigen – bei einigen Personen ist man sich sicher, dass sie die Wahrheit sagen und dass sich die Dinge so abgespielt haben können.

„Vampire unter uns“ ist damit ein Buch, das man auf jeden Fall einer kritischen Lektüre unterziehen sollte. Da die Autorin selbst kaum Antworten, sondern nur eine Stoffsammlung liefert, muss man sich darauf einstellen, eigene Denkarbeit leisten zu müssen. Ansonsten wäre das Buch nur ein weiteres im Regal „Horror“ – mit besonderem Kick natürlich, da man den Zusatz „real“ als besonders schaurig empfinden kann.

Homepage der Autorin: http://www.katherineramsland.com/

Lecouteux, Claude – Geschichte der Vampire, Die

Vampire sind vielseitig. Das ist an sich noch keine neue Erkenntnis. Man kann sie in der Literatur finden und auch im Film. Mit ein wenig genauem Hinschauen kann man ihnen auch im wahren Leben begegnen – als real vampyres. Doch das hier zu besprechende Buch widmet sich keinem dieser Themenbereiche, sondern packt das vampirische Übel an der Wurzel. Der Franzose Claude Lecouteux befasst sich in seinem Buch „Die Geschichte der Vampire – Metamorphose eines Mythos“ mit der Kulturgeschichte des Vampirs und versucht zu erhellen, welche Mythen an der Entstehung des Vampirs beteiligt waren und welche Ausprägungen des Vampirmythos man wo findet. Dabei beschränkt er sich, wie andere Studien vor ihm auch, hauptsächlich auf das Europa von circa 1700 bis 1900. Das heißt keineswegs, dass man nur hier und zu dieser Zeit Vampirmythen finden kann, doch sind die Entwicklungen in diesem Zeitraum entscheidend für die Entstehung des Vampirs, wie wir ihn heute kennen: Als einen wiedergekehrten Toten, der sein Grab verlässt, um das Blut der Lebenden zu trinken.

Dabei startet Lecouteux eher überraschend in seine Analyse, nämlich mit einer kurzen Einführung in die Gründerväter des literarischen Vampirs (er wählt hier exemplarisch Polidori, Le Fanu, Stoker und Tolstoi) und die Weiterverbreitung des Mythos durch Enzyklopädien. Erst mit dem zweiten Kapitel widmet er sich der Kulturgeschichte und fängt hier an, den Vampirmythos Europas weiträumig zu umkreisen. Als Einstieg beschäftigt er sich mit der Wahrnehmung des Todes ab dem 18. Jahrhundert. Hier unterscheidet er klar zwischen einem „guten“ und einem „schlechten“ Tod, um zu illustrieren, dass Sterben keine einfache Angelegenheit war. Beim und nach dem Tode konnte einiges schiefgehen, was dazu führte, dass der Tote keine Ruhe fand und dadurch eventuell als Vampir wiederkehrte. Hatte der Tote kein vorbildliches Leben geführt (handelte es sich beispielsweise um eine Hexe, einen Exkommunizierten, einen Mörder etc.) gehörte er zur Gefahrengruppe, sprang ein Tier über die Leiche oder ließen sich die Augen des Toten nicht schließen, so galt dies als schlechtes Omen. Folglich umgaben Tod und Begräbnis zahlreiche strenge Rituale, die es einzuhalten galt, wollte man Wiedergängertum verhindern.

Doch ein Wiedergänger ist nicht unbedingt mit einem Vampir gleichzusetzen, stellt Lecouteux in einem folgenden Kapitel fest. Der Volksglauben war in ständigem Wandel begriffen und zusätzlich auch immer lokal geprägt. Das führt dazu, dass verschiedene Mythen einander beeinflussen oder gar zusammenfließen. So lief eine Hexe immer Gefahr zum Vampir zu werden. Und die in Dalmatien für den Vampir gebräuchliche Bezeichnung „vukodlak“ bildet sich aus dem Wortstamm für Wolf – eine eindeutige Verbindung zum Werwolf. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, versucht Lecouteux daher, verschiedene wiederkehrende Tote zu identifizieren: So den Rufer (jemand, der wiederkehrt und von draußen nach seinen Angehörigen ruft), den Aufhocker (ein Toter, der sich einem Schlafenden auf den Brustkorb setzt und ihm die Lebenskraft raubt) oder den Nachzehrer (ein Toter, der im Grab sein Totenhemd isst). Auch hier sind Überschneidungn zwischen verschiedenen Mythen unvermeidlich. Im Folgenden werden dann einige Bezeichnungen für den Vampir angeführt und erklärt, so der griechische broukolakos, die rumänischen strigoi oder walachische murony. Da die jeweiligen Bezeichnungen unterschiedlichen Nationen zuzuordnen sind, erwachsen auch hier wieder Unterschiede im eigentlich Vampirmythos: Wer wird zum Vampir und wie kann man ihn vernichten? Diese Dinge variieren von Land zu Land. Lecouteux geht daher sehr ausführlich darauf ein, wer nach dem Tode als Vampir wiederkehrt und wie selbiger vernichtet wurde. Erst 1755 verbot beispielsweise Maria Theresia die Hinrichtung von Verstorbenen, was darauf schließen lässt, dass das Exhumieren und Pfählen bzw. Köpfen bei Verdacht auf Vampirismus eine gängige Praxis war. Dies lässt sich auch durch archäologische Funde stützen, bei denen man immer wieder Leichen findet, die förmlich am Sarg festgenagelt wurden oder deren Kopf zwischen den Beinen niedergelegt wurde, damit der Vampir ihn nicht finde.

Erst im letzten Kapitel beleuchtet Lecouteux etwas genauer verschiedene Erklärungsversuche für das Phänomen des Vampirismus. Warum gab es ab 1700 eine derartige Blüte des Glaubens an Vampire? Ganze Scharen von Wissenschaftlern setzten sich zu damaliger Zeit (vollkommen ernsthaft) mit dem Phänomen auseinander und versuchten, bluttrinkende Tote logisch zu erklären. Erklärungen, die sich auch heute noch großer Beliebtheit erfreuen, finden sich ebenfalls hier wieder: So die Seuchentheorie, die erklären könnte, warum ganze Dörfer Vampiren zum Opfer fielen. Hierbei nimmt man an, dass der vermeintliche Vampir tatsächlich ein Cholera-, Tollwut- oder Typhusopfer war und dass das Ausgraben der Leiche die Seuche daher nicht eindämmte, sondern im Gegenteil noch verschlimmerte.

Claude Lecouteux hat ein umfassendes Buch geschrieben für all jene, die sich für die historischen Facetten des Vampirs interessieren. Er liefert zahlreiche Quellen und historische Berichte und beleuchtet den Volksglauben in Europa durchaus tief, sodass man sich nach der Lektüre exzellent informiert fühlt. Dennoch muss angefügt werden, dass Lecouteux keineswegs Pionierarbeit leistet. Wer sich ein wenig mit dem Vampirmythos beschäftigt hat, wird vieles schon kennen, was in „Die Geschichte der Vampire“ besprochen wird. Schon 1926 hat Montague Summers mit „The Vampire in Lore and Legend“ ein Standardwerk geschrieben, das auch Lecouteux mit seinem siebzig Jahre später erschienenen Buch nicht überflügeln kann. Er liefert stattdessen eine abgespeckte und lesbarere Version des Buches von Summers und ist daher für Einsteiger besonders zu empfehlen.

Allerdings finden sich in „Die Geschichte der Vampire“ auch einige Fehler, die entweder Lecouteux selbst oder seinem deutschen Übersetzer unterlaufen sind. So basiert der Film „Interview mit einem Vampir“ natürlich nicht auf dem Roman „Der Fürst der Finsternis“ und die deutsche Abhandlung „Tractatus von dem Kauen und Schmatzen der Todten in den Gräbern“ wird in der Rückübersetzung aus dem Französischen ganz modern in „Die Kaubewegungen der Toten in ihren Gräbern“ umbenannt. Solche Kleinigkeiten schmälern die Zuverlässigkeit des Werkes, wenn sie auch den meisten Lesern in der Regel nicht auffallen werden.

Davon abgesehen, ist Lecouteuxs Rundumschlag durchaus für all jene zu empfehlen, die sich für die Wurzeln des europäischen Vampirs interessieren. Denn der Vampir war zu jener Zeit eine durchaus reale Erscheinung, deren Existenz zumindest auf dem Lande keineswegs angezweifelt wurde. Und die zahlreichen wissenschaftlichen Traktate aus jener Zeit zeigen, dass trotz Aufklärung auch die gebildeten Schichten nicht gefeit waren vor der Angst vor den Toten!

Thorne, Tony – Kinder der Nacht

Vampirliteratur wird ja gern in die Schublade der „Unterhaltungsliteratur“ gesteckt und ruft hierzulande bei seriösen Wissenschaftlern nur ein Naserümpfen hervor. Im Land von Goethe und Schiller will man mit dem großen „U“ nichts zu tun haben. Dabei wird dann die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem uralten und weltumspannenden Mythos des Vampirs gleich mit wegrationalisiert, will man doch die mögliche Stigmatisierung vermeiden. Der angloamerikanische Raum ist da nicht so pingelig. Dort widmet man sich nicht nur mit Hingabe der Untersuchung von Kriminalliteratur, sondern eben auch dem Horror. Deswegen wird es auch nicht verwundern, dass der Autor des vorliegenden Bandes, Tony Thorne, Professor am Londoner King’s College ist. Sein Buch mit dem recht populärwissenschaftlichen Titel „Kinder der Nacht. Die Vampire sind unter uns“ erschien erstmals 1999 und wagt einen fundierten, wenn auch unterhaltsamen Rundumschlag in das Land der Vampire.

Dabei ist Thornes Ansatz ganz klar ein kulturhistorischer. Er widmet sich nur am Rande den literarischen oder filmischen Inszenierungen des Vampirs. Natürlich werden Meilensteine wie Polidoris „Der Vampyr“ oder Stokers [„Dracula“]http://www.power-metal.de/book/anzeigen.php?id_book=210 vorgestellt. Auch filmische Highlights finden neben der humoristischen Betrachtung absoluter Tiefpunkte der Filmkunst Eingang in das Buch. Doch Thornes eigenliche Prämisse ist es, den sich wandelnden Mythos des Blutsaugers in verschiedenen Kulturen und über die Zeiten hinweg zu verfolgen.

So stellt er zunächst fest, dass der (mythische) Urvampir weiblich gewesen ist. Ausgehend von weiblichen Blutsaugern wie den lamia oder styx kommt er zur Königin der frühen weiblichen Vampire: Lilith, die nach dem jüdischen Glauben die erste Frau Adams war. Allerdings war sie nicht gefügig, wollte sie doch beim Geschlechtsverkehr nicht unter Adam liegen, mit der Begründung, sie seien beide ebenbürtig. Die beiden kommen zu keiner Einigung und Lilith flieht. Von da an wird sie zu einer Ausgestoßenen, die kleinen Kindern die Lebensenergie aussaugt.

Von diesen mythischen Ursprüngen kommt Thorne dann bald zu „realen“ Vampiren und Vampirplagen. Personen, die immer wieder in die Nähe des Vampirismus gestellt wurden, sind zum Beispiel Vlad Tepes (ein grausamer mittelalterlicher Feldherr), die Blutgräfin Elisabeth Bathory (die im Blut von Jungfrauen badete, um ihre Jugend zu erhalten) oder der Serienmörder Peter Kürten (der im Köln der 1930er Jahre unzählige Morde beging). Natürlich sind all diese Personen in diesem Buch vertreten. Doch auch die Vampirplagen des 18. Jahrhunderts werden näher untersucht. So wurden in südosteuropäischen Gegenden Leichen ohne zu fackeln exhumiert, wenn man annahm, sie wären Wiedergänger. Da zu diesem Zeitpunkt kaum Kenntnisse darüber bestanden, was mit einer Leiche geschieht, nachdem sie beerdigt ist, wurden Merkmale (z.B. rosige Haut, das vermeintliche Weiterwachsen von Haaren und Nägeln, die spitzer gewordenen Zähne) falsch interpretiert. Doch auch in der Neuen Welt gab es „Vampirplagen“. In Neuengland schien man die Tuberkulose mit Vampirismus zu verwechseln und exhumierte ganze Familien, um sie zu pfählen und zu köpfen.

Vom nordamerikanischen Kontinent bewegt sich Thorne abwärts nach Lateinamerika, wo es noch in den 1990er Jahren einen kuriosen Fall von Vampirismus gab, der hier erstmals in Buchform dokumentiert ist. Der Fall des Chupacabras, einer Mischung aus Roswell-Alien und blutsaugendem Tier, zeigt deutlich, wie alte Mythen und Ängste (die Angst vorm Vampir) mithilfe von Massenmedien auch eine Massenhysterie auslösen können. Und wenn diese eigentlich lächerliche Geschichte eines beweist, dann ist es die Tatsache, dass das wohlige Gruseln vorm Vampir in unserer aufgeklärten Zeit keineswegs anachronistisch ist. Der Mythos des Vampirs ist so langlebig und wandelbar, weil er Urängste verkörpert, die uns auch in unserer modernen Zeit noch nicht in Ruhe lassen. Er verkörpert die Angst vor den Toten, die Ungewissheit dessen, was nach dem Sterben kommen mag und er verkörpert auch die Angst vor dem Verlust der eigenen Lebensenergie (des Blutes).

Ebenfalls hochaktuell ist Thornes Betrachtung der nordamerikanischen Real Vampires, die gerade durch neue Technologien wie das Internet einen Aufschwung erlebt haben. Dabei handelt es sich um Menschen, die sich selbst als Vampire bezeichnen. Entweder sie trinken tatsächlich Blut – was meist im Zusammenhang mit sadomasochistischen Sexpraktiken passiert. Oder sie bezeichnen sich als Psychovampire und ernähren sich von der Lebensenergie ihrer Mitmenschen. Katherine Ramsland hat sich in ihrem Buch „Vampire unter uns“ ebenfalls in die Szene der Real Vampires begeben, doch Thorne liefert die weniger blumige Betrachtung, die dadurch aber kaum weniger schauerlich ist. Er bietet einen Einblick in eine Subkultur, die von schwarzgekleideten Gothics bis zu gewaltbereiten Psychopathen reicht.

Man merkt Tony Thorne seinen wissenschaftlichen Hintergrund an. Er betrachtet sein Thema sachlich, führt souverän durch Geschichte und historische Quellen und gleitet kaum ins Triviale ab. Trotzdem ist sein Buch eine unterhaltsame Lektüre, die an einigen Stellen von beschreibenden Szenen aufgelockert wird, in denen Thorne eine Vampir-Convention besucht oder im heutigen Slowenien ein „Vampirgrab“ auszumachen versucht. Der Erkenntnisgewinn an diesen Stellen tendiert natürlich gegen Null, Thorne schafft es aber hier, eine Atmosphäre zu evozieren, die den Leser gleichsam in die Vampirszene mit hineinzieht und neugierig darauf macht, was dieser Mythos wohl für den Einzelnen parat hält.

Davon abgesehen ist Thorne aktuell und ausführlich. Das sieht man nicht nur an seiner Rekonstruktion der „Chupacabras“-Geschichte, sondern auch an seiner ausführlichen Anaylse des Lilith-Mythos, der bisher in der Vampirliteratur seinesgleichen an Genauigkeit sucht. Was seinem Anspruch an Wissenschaftlichkeit und Seriösität allerdings Abbruch tut, ist das totale Fehlen von Fußnoten, die der interessierte Leser an vielen Stellen schmerzlich vermisst. Auch ein Literaturverzeichnis, in dem zitierte und benutzte Werke zumindest aufgeführt wären, fehlt komplett. So passiert es dann, dass Zitate entweder nur einem Autor (nicht aber einem Werk) zugeordnet werden oder komplett ohne Angabe frei im Text stehen. Das wirft ein schlechtes Licht auf Thorne und macht das Buch ungeeignet für eine wissenschaftliche Weiterverwendung.

Wen das allerdings nicht stört, der hat mit „Kinder der Nacht“ einen hervorragenden Einstieg in den Vampirmythos, der umfassend über die verschiedenen Aspekte (Literatur, Geschichte, Film, Subkultur) des Vampirs informiert.

Stoker, Bram – Dracula

Seit dem ersten Erscheinen des Romans 1897 hat „Dracula“ mittlerweile über 100 Jahre Zeit gehabt, um sich einen festen Platz in der heutigen Popkultur zu sichern, was dazu führte, dass Dracula und Vampir synonyme Wörter geworden sind. Zwar gab es bereits vor Stokers Roman Vampirgeschichten und -romane, doch hat keiner je wieder solch umfassende und weitreichende Nachwirkungen gehabt: Unzählige Verfilmungen haben sich Draculas angenommen und ebenso ungezählte nachfolgende Erzählungen und Romane haben versucht, dem Dracula-Stoff neues Leben einzuhauchen. So hat beispielsweise Freda Warrington mit „Dracula kehrt zurück“ eine moderne Fortsetzung geschrieben, die die Reise der Freunde um das Ehepaar Harker nach Transilvanien beschreibt, die am Ende von Stokers Roman erwähnt wird.

Doch worum geht es nun in „Dracula“? Der junge Anwaltsgehilfe Jonathan Harker wird nach Transilvanien geschickt, um dort mit dem Grafen Dracula den Ankauf eines Grundstücks in London abzuschließen. Einmal in dem baufälligen und mit sehr viel gotischer Atmosphäre ausgestattenen Schloss Draculas angekommen, wird Harker mit der Zeit immer misstrauischer gegenüber dem geheimnisvollen und exzentrischen Grafen. Nie sieht er ihn essend, nie sieht er ihn tagsüber und eines Nachts entdeckt er gar, wie Dracula auf allen Vieren die Hauswand hinunterklettert. Bald bestätigen sich Harkers Ängste, denn Dracula reist nach London ab, während er Harker als Gefangenen in seinem Schloss zurücklässt – bewacht von dessen drei Vampirbräuten.

Währenddessen ist Harkers Verlobte Mina zu Besuch bei ihrer reichen Freundin Lucy in der Hafenstadt Whitby. Lucy beginnt, nachts ihre alte Gewohnheit des Schlafwandelns wieder aufzunehmen und Mina ist ständig beschäftigt, sie wieder „einzufangen“. Eines Nachts jedoch entwischt Lucy in diesem Zustand nach draußen und wird von Dracula angegriffen, der zuvor mit dem Schiff in Whitby eingefallen ist. Lucys sich daraufhin rapide verschlechternder gesundheitlicher Zustand ruft eine ganze Schar von Männern auf den Plan (angeführt von ihrem Verlobten Holmwood), die versuchen, die Ursache ihrer Schwäche herauszufinden. Doch auch der eilig herbeigerufene Holländer van Helsing kann Lucys Leben nicht mehr retten. Den Männern bleibt nur, Lucy postmortem zu pfählen und zu köpfen, um zu verhindern, dass sie als Vampir umgeht. Kaum hat die heldenhafte Männerschar Lucy den ewigen Frieden geschenkt, schnappt sich Dracula Mina. Um wenigstens ihr Leben zu retten, müssen die Männer den Grafen bis nach Transilvanien verfolgen, um ihn endgültig unschädlich machen zu können.

Der irische Autor Bram Stoker (eigentlich eher ein Theatermann, da er Agent des damals berühmtesten Shakespeare-Darstellers Henry Irving war) soll sehr pikiert darüber gewesen sein, dass sein „Dracula“ in der Erstausgabe in gelbem Einband erschien – der Farbe, die damals pornographische Literatur kennzeichnete. Tatsächlich lassen sich in „Dracula“ ohne große Mühe vielerlei kaum verhüllte sexuelle Anspielungen finden, denn die wirkliche Gefahr, die von dem Vampir ausgeht ist nicht etwa, dass er seinen Opfern den (Un)Tod bringt. Stattdessen verwandelt er die Frauen, die er anfällt (und als Nahrungsquelle wählt er nur Frauen) von sittsamen und angepassten Frauenzimmern in wolllüstige und laszive Femmes Fatales – eine Tatsache, die im viktorianischen Zeitalter natürlich nicht ungeahndet bleiben darf. Im Schlagabtausch mit van Helsing kämpft Dracula um die Vorherrschaft über die von ihm gebissenen Frauen – und muss in beiden Fällen als Verlierer hervorgehen, damit die westliche, englische Moral am Ende des Romans wieder hergestellt ist.

Nicht unerwähnt darf bleiben, dass „Dracula“ darum wirbt, als authentisches Dokument betrachtet zu werden. Der Roman setzt sich komplett aus Tagebucheintragungen der handelnden Personen, Briefen, Notizen und Zeitungsartikeln zusammen. Somit wird die Geschichte von multiplen Erzählern vorgetragen, der einzige, der vollkommen stumm bleibt, ist der Titelheld selbst. Dracula erscheint immer nur gefiltert durch die Sichtweise eines der Protagonisten. Dabei schildert ihn Harker im ersten, in Transilvanien spielenden, Teil des Romans am eindrucksvollsten. Dracula agiert hier vor unterschiedlichen gotischen Kulissen – düsteren Wäldern, dem monströsen Schloss, den heulenden Wölfen und immer wieder in Beziehung zum Mond. Stokers Landschaftsbeschreibungen setzen die Stimmung für das gesamte Buch und das, obwohl er Transilvanien nie gesehen hat. In den Jahren, die er an „Dracula“ gearbeitet hat, verfiel er von seinem ursprünglichen Schauplatz, der Steiermark, auf Transilvanien als Heimat des Vampirs, als er alte Dokumente über Vlad Dracula fand. Bis dahin sollte sein Roman einfach „The Un-Dead“ heißen, doch Dracula war schon als historische Persönlichkeit so eindrucksvoll, dass sie leicht als Titelheld herhalten konnte. Vergleicht man Stokers Beschreibung Draculas mit den Gemälden, die von Vlad Dracula bekannt sind, so wird man eine frappierende Ähnlichkeit ohne weiteres feststellen können.

Wirklich fürchten wird sich ein heutiger Leser bei der Lektüre wohl nicht mehr. Zu bekannt ist dafür die Mähr vom Vampir und wie man ihn besiegen kann, sodass man van Helsing und seinen Mannen unter Umständen zurufen möchte: „Seht doch hin! Ein Vampir!“ Trotzdem lohnt es sich auch heute noch, den Roman zur Hand zu nehmen, denn selten hat man einen so eindrücklichen Bösewicht wie hier gesehen – und das, obwohl Dracula selbst hauptsächlich durch Abwesenheit glänzt. Doch sein Schatten hängt unmissverständlich über der gesamten Erzählung, wie es der Titel ja auch verspricht. Wer also auch nur das geringste Interesse an Horror hat, der sollte „Dracula“ zur Hand nehmen. Ohne ihn ist die gesamte folgende Vampirliteratur nicht denkbar; ganz abgesehen von dem Genre des Vampirfilms, das sein ganz eigenes Dracula-Bild entwickelt hat (entweder Bela Lugosi mit Theatercape oder Christopher Lee mit blutroten Augen). Van Helsings wilde Jagd auf den untoten Grafen wirkt auch heute noch faszinierend und lohnt damit unbedingt die Lektüre!

|Siehe ergänzend dazu auch:|
Michael Matzers [Rezension 3489 anhand der Hörspielfassung von |Titania Medien|
Michaela Dittrichs [Rezension]http://www.buchwurm.info/book/anzeigen.php?id_book=622 der Hörspielfassung des |Hörverlags|