Alle Beiträge von Meike Schulte-Meyer

Novik, Naomi – Drachenprinz (Die Feuerreiter Seiner Majestät 2)

Mit [„Drachenbrut“, 3781 dem ersten Teil ihrer Trilogie „Die Feuerreiter seiner Majestät“, hat Naomi Novik ein unterhaltsames und eigenwilliges Fantasy-Debüt vorgelegt. Entsprechend groß sind logischerweise die Erwartungen an „Drachenprinz“, den zweiten Band der Reihe.

Nach den bestandenen Schlachten aus dem ersten Teil erwarten Feuerreiter Will Laurence und seinen Drachen Temeraire nun neue Abenteuer. Schon am Ende des ersten Teils deutete sich ein Szenario an, das nun vollends Gestalt annimmt. Temeraire war ursprünglich als Geschenk des chinesischen Kaisers an Napoleon gedacht. Nach dem Kapern einer französischen Fregatte fiel Temeraires Drachenei den Engländern in die Hände, und dort hat er nach Meinung der Chinesen gar nichts zu suchen. Vor allem wird Laurence auch als nicht würdig empfunden, als Kapitän dieses hochgeschätzten und äußerst seltenen Himmeldrachen zu dienen. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Die Chinesen wollen Temeraire, bzw. Lung Tien Xiang, wer er bei den Chinesen heißt, zurückhaben.

Zu diesem Zweck reist eine chinesische Delegation nach England, um den Drachen dort abzuholen, möglichst ohne ihren Kapitän. Doch so einfach lässt Temeraire sich nicht ohne seinen geliebten Laurence entführen. Durch Temeraires Weigerung sind die Chinesen gezwungen, auch Laurence die Reise nach China zu erlauben, wo alles weitere geklärt werden soll. Die Engländer erhoffen sich durch diese Reise nicht zuletzt eine günstige Verhandlungsposition in politischen und wirtschaftlichen Fragen.

Und so steht Temeraire und Laurence eine abenteuerliche Reise nach China bevor, auf der es so manche brenzlige Situation zu meistern gibt: Angriffe des Feindes, verheerende Stürme, Begegnungen mit Meeresungeheuern sowie Spannungen und Intrigen an Bord des Drachentransporters „Allegiance“. Doch so wirklich abenteuerlich wird es erst, als die beiden chinesischen Boden betreten …

Nach dem überaus positiven Eindruck von „Drachenbrut“, hat „Drachenprinz“ verständlicherweise mit einem ziemlichen Erwartungsdruck zu kämpfen. Naomi Novik hat die Latte mit dem ersten Band schon sehr hoch gelegt, und so bekommt sie im Laufe des zweiten Bandes dann doch stellenweise Schwierigkeiten, diese Erwartungen auch wirklich auszufüllen.

Schnell ist der Leser wieder mittendrin in der Handlung. Der Einstieg fällt leicht, und Temeraire, Laurence und die übrige Drachenbesatzung wachsen einem schnell wieder ans Herz. Erste Spannungen bauen sich gleich zu Beginn auf, als die chinesische Delegation in England die Herausgabe des Drachen fordern. Die Beziehung zwischen Laurence und Temeraire ist durch die Geschehnisse in Band eins gefestigt und sehr innig, eine Trennung der beiden somit auch für den Leser undenkbar.

Die Reise nach China, die eine Eskalation der Situation vermeiden und zu einer Verbesserung des englisch-chinesischen Verhältnisses beitragen soll, ist von Anfang an nicht mehr als ein fauler Kompromiss. Die Reise steht unter schlechten Vorzeichen, und so gibt es auf der Monate dauernden Fahrt so manche unangenehme Situation durchzustehen. Dass die chinesische Delegation unter der Leitung von Prinz Yongxing mit an Bord reist, verschärft die Situation nur und sorgt für weitere Spannungen.

Die Seereise der „Allegiance“ nimmt etwa die Hälfte des Buches in Anspruch, und da wären wir auch schon beim ersten Kritikpunkt. Die Fahrt zieht sich schier endlos, immer wieder unterbrochen von kleineren Abenteuern, Spannungen und Intrigen. Auch wenn es natürlich logisch ist, dass ein Segelschiff in der damaligen Zeit eine halbe Ewigkeit von England nach China unterwegs war, hätte man sich als Leser doch eine etwas straffere Abhandlung der Reise gewünscht.

So geht im Verhältnis betrachtet der Showdown in China viel zu schnell. Das Finale wird geradezu im Hauruck-Verfahren vorangetrieben und wirkt etwas gehetzt. Hätte Novik die Seereise etwas gestrafft, hätte sie für das Finale mehr Zeit gehabt. Dem Roman hätte das sicherlich gutgetan. Die Geschehnisse in China sind schließlich derart verwickelt, dass ihre Auflösung etwas mehr Platz verdient hätte, um sie stichhaltig und nachvollziehbar darzulegen. So wirkt die Schilderung mancher Ereignisse in China leider etwas unausgegoren, und gerade der Überfall der Hunhun-Bande erscheint etwas überzeichnet und in seinem Verlauf geradezu unwahrscheinlich.

Das ist insbesondere deswegen schade, weil Novik sich ansonsten sichtlich Mühe gibt, eine stimmige Atmosphäre heraufzubeschwören. Sie unterstreicht die kulturellen Unterschiede zwischen China und Europa und entwirft für die Chinesen eine völlig entgegengesetzte Art der Drachenkultur. Durch diesen Gegensatz haben auch Laurence und Temeraire reichlich Diskussionsstoff, der sicherlich auch ein wichtiger Bestandteil des nächsten Teils der Reihe sein wird, da dieser Themenkomplex über die Unterschiede in der Drachenhaltung zu bedeutungsvoll ist, als dass Novik ihn für die Zukunft einfach wieder fallen lassen könnte.

Die charakterliche Entwicklung der Figuren wird vor allem von dem Druck einer eventuell bevorstehenden Trennung von Laurence und Temeraire geprägt. Gerade Temeraire reift unter diesem Druck weiter heran. Er lernt, sich gegenüber den Chinesen zu behaupten, sieht sich aber gleichzeitig mit einer fremdartigen Welt konfrontiert, die gleichermaßen ein Teil von ihm wie auch völlig neu ist. Interessant dürfte sein, wie diese neuen Eindrücke Temeraires weitere Entwicklung beeinflussen. Das werden wir ab Oktober sehen, wenn mit „Drachenzorn“ der dritte Band der Reihe vorliegt.

Bleibt unterm Strich also ein etwas durchwachsener Eindruck zurück. Die Geschichte um Laurence und Temeraire ist noch immer eine sehr liebenswürdige. Novik legt ihre Welt mit viel Fantasie an und vermittelt sie dem Leser plastisch und farbenprächtig. Das Kampfgeschehen sorgt wie schon im ersten Teil für viele Spannungsmomente, dennoch hat „Drachenprinz“ auch mit ein paar Schwächen zu kämpfen.

So nimmt die Seereise im Verhältnis zu viel Raum ein, es schleichen sich einzelne Längen ein, wohingegen das Ende der Geschichte dann teilweise zu hastig abgespult wird und dabei nicht immer überzeugen kann. Trotzdem macht Naomi Noviks Fantasy-Reihe „Die Feuerreiter seiner Majestät“ noch immer Spaß: Lockere, unterhaltsame und größtenteils spannende Fantasy-Unterhaltung für Jung und Alt.

Offizielle Homepage der Autorin:
http://www.temeraire.org/

Deutsche Fanseite:
http://www.temeraire.de/

Website des Verlags:
http://www.cbj-verlag.de

Pessl, Marisha – alltägliche Physik des Unglücks, Die

Marisha Pessl hat für ihren Debütroman „Die alltägliche Physik des Unglücks“ reichlich Lobeshymnen eingeheimst. Die Presse überschlägt sich geradezu vor Lob, feiert den Roman als brillantes Debüt und eines der besten Bücher überhaupt seit langem ab. Wirft man einen Blick auf den Handlungsabriss, so hofft man wirklich, ein feines Romanjuwel in Händen zu halten, denn die Handlung klingt durchaus liebenswürdig und vielversprechend.

„Die alltägliche Physik des Unglücks“ erzählt die Geschichte der Blue van Meer. Blues Vater ist Universitätsprofessor, der als Gastdozent mal hier und mal dort lehrt, so dass Blues Kindheit und Jugendzeit vor allem von permanenten Ortswechseln geprägt ist. Doch Blue kommt damit im Grunde gut zurecht. Sie ist intelligent und vertieft sich leidenschaftlich gerne in Bücher.

Als sie ein letztes Mal vor ihrem Schulabschluss die Schule wechselt, weil ihr Vater einen Lehrauftrag in Stockton angenommen hat, ahnt sie noch nicht, was für ein turbulentes Schuljahr ihr bevorsteht. Während ihr Vater (wie üblich) die Damenwelt in Verzückungen versetzt, gerät Blue in den Bann der Lehrerin Hannah Schneider und einer mit ihr befreundeten Schülerclique.

Blue wird in die Gemeinschaft aufgenommen und beginnt das Leben zu genießen. Bis zum dem denkwürdigen Tag, an dem ein mysteriöser Mord geschieht. Blue versucht etwas Licht in die Hintergründe zu bringen, und was sie dabei entdeckt, wirbelt ihr ganzes Leben durcheinander …

„Die alltägliche Physik des Unglücks“ ist ein Buch, das im Grunde in keine Schublade passt. Was als Coming-of-Age-Geschichte anfängt, entwickelt mehr oder minder krimihafte Züge. Pessl garniert diesen sonderbaren Genremix mit einer Flut an Zitaten und mit bis an die Grenze des Vertretbaren gehenden blumigen Umschreibungen. Sie setzt sich dadurch überaus deutlich von anderen Autoren ab und legt ein Werk vor, das vor allem durch seinen konsequenten individuellen Stil besticht. Das ist es sicherlich, was die einen Leser in Verzückungen und wahre Begeisterungsstürme versetzt und die übrige Leserschaft eher irritiert zurücklässt. „Die alltägliche Physik des Unglücks“ dürfte ein Buch sein, an dem sich die Geister scheiden.

Die Geschichte fängt an sich ganz beschaulich an. Der Leser/Hörer lernt Blue und ihren Vater kennen und schmunzelt über so manchen sonderbaren Vergleich der Autorin und so manche obskure Umschreibung. Marisha Pessl bedient sich eines wunderbar reichhaltigen Wortschatzes. Sie umschreibt Menschen und Dinge auf die sonderbarste Art und Weise, so dass man immer wieder über ihre ungewöhnlichen Formulierungen schmunzeln muss. Das gestaltet bereits den Einstieg in das Buch sehr unterhaltsam und man mag gerne glauben, dass all die Lobeshymnen berechtigt sind.

Was Pessls Stil ebenfalls kennzeichnet, ist eine wahre Zitierwut. Immer wieder streut sie Zitate in Blues Schilderungen ein. Die belesene Blue neigt offensichtlich dazu, Dinge bevorzugt mit den Worten anderer zu sagen, und das stets unter Angabe von Autor, Textquelle und Erscheinungsjahr. Im Hörbuch stören diese Einschübe nicht sonderlich, im Buch könnte ich mir aber durchaus vorstellen, dass sie auf die Dauer ein wenig ermüden können.

Die Handlung gerät vor dem Hintergrund dieses prägnanten Erzählstils etwas zur Randerscheinung. Nachdem man mit den Figuren vertraut ist und Blue sich an der neuen Schule in Stockton eingewöhnt hat, beginnt die Handlung etwas vor sich hinzuplätschern. Es gibt Phasen, wo nicht viel passiert, aber die wenige Handlung durch den aufgebauschten Erzählstil als mehr erscheint, als sie wirklich ist. Es macht zwar dennoch Spaß zuzuhören und über Marisha Pessls farbenprächtige Sprache und die vielen treffenden Zitate zu staunen, aber die handlungsärmeren Phasen des Buches können (vor allem dann wenn man selbst liest und das Buch nicht so unangestrengt konsumieren kann wie bei der Hörbuchfassung) doch etwas ermüdend werden.

So wenig man einerseits Pessls ausschmückenden, bildgewaltigen Erzählstil beschneiden möchten, so sehr wünscht man sich andererseits auch eine Straffung der Handlung – gerade im Mittelteil, wo sich so manche Länge endlos hinzuziehen scheint. Und vor diesem Hintergrund fangen dann auch manche etwas zu ausschweifend geratenen Umschreibungen wenig an zu nerven. So sehr Pessls Stil auch über weite Strecken Spaß macht, manchmal treibt sie ihre originelle Umschreibungswut auch etwas zu sehr auf die Spitze.

Erst mit Beginn des letzten Drittels kommt dann wieder eine Phase, in der man neugierig und ungeduldig die Geschichte in sich aufsaugt. Mit dem mysteriösen Mord bekommt die Handlung eine Dynamik, die ihr vorher gefehlt hat. Es entsteht Spannung und man will unbedingt wissen, wie die Geschichte weitergeht.

Doch so unvermittelt, wie der Spannungsschub die erlahmende Handlung wieder auf Touren bringt, so abrupt ist die Geschichte dann auch schon zu Ende. Plötzlich ist die Geschichte vorbei, Blue verabschiedet sich aus der Handlung und der Leser bleibt etwas irritiert und unbefriedigt zurück. Ich persönlich habe glatt die letzten Takte noch mal bewusst von CD gehört, weil ich dachte, beim Übertragen auf den |iPod| wäre mir vielleicht ein Kapitel verloren gegangen, aber dem war nicht so. Plötzlich ist die Geschichte zu Ende, ohne dass sie eigentlich wirklich richtig zu Ende erzählt ist. Da bleibt man als Leser/Hörer schon etwas ratlos und unzufrieden zurück.

Die Hörbuchfassung muss man ansonsten aber durchaus als gelungen bezeichnen. Schauspielerin Anna Thalbach liest die Geschichte und füllt sie sehr schön mit Leben. Ihre Stimme passt wunderbar zum Charakter von Blue und auch die übrigen Personen werden gut umgesetzt. Das macht es zwar ganz angenehm, der Geschichte zuzuhören, und tröstet über so manche Länge hinweg, über die man leicht mal laut aufgestöhnt hätte, wenn man die Geschichte selber lesen müsste, kann die Schwachpunkte des Buches aber eben auch nicht ausradieren.

Alles in allem ist „Die alltägliche Physik des Unglücks“ nach all den überschwänglichen Lobeshymnen eher eine Enttäuschung als eine Offenbarung. Es gibt Züge an Marisha Pessls Schreibstil, die Freude bereiten und die „Die alltägliche Physik des Unglücks“ im Grunde zu einem liebenswürdigen Roman machen. Rein sprachlich betrachtet, ist es ein wirklich schönes und ungewöhnliches Werk. Die Handlung wirkt da manchmal fast wie schmückendes Beiwerk, und genau das ist der entscheidende Schwachpunkt des Romans. Eine Straffung der Handlung hätte gutgetan und der Geschichte etwas mehr Dynamik eingebracht. So nimmt die Geschichte nach zwischenzeitlichen Durststrecken erst zum Ende hin so richtig Fahrt auf.

Abgesehen davon ist die Hörbuchfassung von |Argon Hörbuch| durchaus gelungen umgesetzt. Ich weiß nicht, ob ich bei der Lektüre auch nur halb so viel Durchhaltevermögen an den Tag gelegt hätte, wenn ich selbst hätte lesen müssen. Durch Anna Thalbachs kurzweilige Lesung lassen sich schließlich so manche Längen in der Handlung durchstehen.

http://www.argon-verlag.de/

Birbaek, Michel – Beziehungswaise

Lasse liebt Tess. Tess liebt Lasse. Seit sieben Jahren schon. Doch das scheinbare Traumpaar hadert mit den Tücken einer langwierigen Beziehung, die im Hin und Her des beruflichen Alltags zu ersticken droht. Lasse ist ein abgehalfterter Comedian, der mittlerweile nur noch Seniorennachmittage auf Kreuzfahrten moderiert. Tess dagegen macht bei VW groß Karriere und hat daher noch weniger Zeit für Lasse, als Lasse für Tess hat.

Dennoch scheint das Paar nach außen glücklich zu sein – im Innern hingegen rumort es kräftig. Die mittlerweile zweijährige Sexflaute nagt am Selbstwertgefühl und wirft so manche Sinnfrage auf. Ist das noch eine Beziehung oder nur noch Freundschaft? Als Tess dann ein Jobangebot in China bekommt, können die beiden ihre Probleme nicht länger ignorieren. Sie müssen sich entscheiden, was sie wollen. Bedeutet ihnen die Beziehung noch genug, um sie aufrecht zu erhalten? Wollen sie Liebe oder Karriere, Freundschaft oder Sex?

Als wenn das nicht schon genug wäre, entpuppt sich dann auch noch Lasses Vater als schwerkrank. Lasse pendelt zwischen Castingterminen mitten im Kölner Karneval und dem Krankenbett des Vaters in Dänemark hin und her. Und der fordert von Lasse dann auch ausgerechnet einen ganz speziellen letzten Wunsch: Er soll Tess endlich einen Heiratsantrag machen …

„Beziehungswaise“ ist ein Roman, der schon dem Titel nach Wortwitz und Humor verspricht. Ein Comedian als Hauptfigur, da darf man wohl zu Recht so einiges erwarten. Michel Birbæk wird dieser Erwartung durchaus gerecht. Schon im ersten Kapitel, das Lasses Erlebnisse beim Besuch der Hochzeit eines Freundes in Amerika schildert, gibt viel Anlass zu Lachen und zu Schmunzeln.

Doch wer aufgrund dieser Tatsache auch in allen folgenden Kapiteln ein nicht enden wollendes Gagfeuerwerk erwartet, der sei gewarnt. Bei Birbæk jagt nicht über die gesamten knapp 500 Seiten eine Pointe die nächste. Dafür entwickelt die Geschichte eine zunächst unerwartete Tiefe, die die vielseitigen Facetten der Gefühle auslotet.

Birbæks Roman dreht sich um die großen Fragen, die rund um Beziehung, Trennungsschmerz, Familienleben, Freundschaft aber auch um Krankheit, Trauer, Tod und Abschied auftauchen. „Beziehungswaise“ wird dadurch zu einem Wechselbad der Gefühle – mal heiter, charmant und unkompliziert, mal voller Ernsthaftigkeit, Schwermut und Traurigkeit. Der Balanceakt, sowohl die Tragik, als auch die Komik, die das Leben von Lasse widerspiegelt, unter einen Hut zu bringen, gelingt Birbæk ausgesprochen gut.

Lasse wirkt als Protagonist durchaus glaubwürdig. Er zweifelt an seinem Job, zweifelt an der Sinnhaftigkeit seiner Beziehung zu Tess und während in Dänemark sein Vater dem Tod ins Antlitz schauen muss, versucht Lasse irgendwie die Freude an dem wiederzufinden, was er tagein, tagaus tut. Die Entwicklung, die er dabei innerhalb der Geschichte durchläuft, ist größtenteils durchaus glaubwürdig und nachvollziehbar, nur mit Lasses erwecktem Interesse an der Umweltschutzarbeit seines Mitbewohners Arne und seinem Wunsch, sich zu engagieren, scheint Birbæk irgendwie ein bisschen über das Ziel hinauszuschießen. Das ist dann doch ein bisschen viel der Charakterwandlung.

Überhaupt sind die Mitbewohner in Lasses Kölner WG der einzige Knackpunkt in Sachen Glaubwürdigkeit. Mag man Arne den schweigsamen, kraftraumgestählten Ökoterroristen noch halbwegs im Rahmen des Möglichen ansiedeln, so sprengt Frauke, die dauerbekiffte Rechtsanwältin, dann doch ein bisschen das Vorstellungsvermögen. Solche Anti-Klischees wirken dann eben doch etwas überzeichnet, wenngleich sie sicherlich einen gewissen Unterhaltungswert versprechen.

Dabei sind die Figuren und ihre Verhaltensweisen ansonsten durchaus nachvollziehbar. Vor allem Lasses emotionale Lage lässt sich gut mitfühlen, egal ob es um den Umgang mit seiner scheiternden Beziehung geht oder um die Auseinandersetzung mit dem zu befürchtenden Tod seines Vaters oder seine Gedanken um Freundschaft und Familie ganz allgemein. „Beziehungswaise“ enthält viele Gedanken, in die man sich gut hineinfühlen kann und die sich unter Umständen auch auf das eigene Leben projizieren lassen.

Sprachlich kann Birbæk auf ganzer Linie punkten. Er schreibt gewitzt und höchst unterhaltsam und jongliert seine Sätze mit einer Prise Wortwitz, die den Lesegenuss besonders würzt. „Beziehungswaise“ macht so gesehen mit jeder Seite Spaß, ohne dass es Birbæks Gedanken an der nötigen Tiefe mangeln lassen.

Ironische Seitenhiebe auf den Medienbetrieb gibt es stets dann, wenn Lasse im Casting darum bangt, in die nächste Runde zu kommen und gegen die mal mehr und mal weniger witzige Konkurrenz antritt. Diese Episoden bilden einen ziemlich drastischen Kontrast zu den Episoden in Dänemark, in denen Lasse sich um die Familie kümmert und mit seiner Schwester zusammen um das Wohlergehen des Vaters bangt. Dennoch ergibt sich aus diesem Kontrast ein durchaus stimmiges Ganzes, das sowohl einfühlsam als auch unterhaltsam erzählt daherkommt.

Bleibt unterm Strich also ein durchaus positiver Eindruck zurück. Trotz der etwas überspitzt wirkenden Anti-Klischees in Form von Lasses Mitbewohnern Frauke und Arne und einer etwas zu weit vollzogenen Charakterwandlung von Lasse weiß „Beziehungswaise“ gut und überzeugend zu unterhalten. Ein lockerer, gewitzter Erzählstil, viel Stoff zum Schmunzeln und Lachen, aber nicht minder Gedanken, die bewegen und anrühren und dem Buch eine gewisse Tiefe verleihen, die man anfangs nicht vermuten mag – so ist „Beziehungswaise“ ein ausgewogener und unterhaltsamer Lesegenuss, den man gerne weiterempfiehlt.

http://www.luebbe.de

|Siehe ergänzend auch unsere [Rezension 714 zu „Wenn das Leben ein Strand ist, sind Frauen das Mehr“.|

McCall Smith, Alexander – verschmähten Schriften des Professor von Igelfeld, Die

Einen Platz in der Reihe der skurrilsten Romantitel hat Alexander McCall Smith mit seinem aktuellen Werk „Die verschmähten Schriften des Professor von Igelfeld“ in jedem Fall verdient. Der Inhalt steht dem Titel in Sachen Skurrilität im Grunde in nichts nach. Wir Deutschen dürfen es mal wieder über uns ergehen lassen, dass ein Brite sich über uns lustig macht. Wie gut, dass McCall Smith wenigstens Schotte ist und nicht Engländer …

Doch so schlimm zieht McCall Smith auch schon wieder nicht über deutsche Gepflogenheiten her. Objekt seine Spottes ist eben in erster Linie besagter Professor von Igelfeld, und der hat sich den Spott ob seiner Verschrobenheit redlich verdient.

Professor Moritz-Maria von Igelfeld ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der romanischen Philologie. Er ist der vielgepriesene Autor des über 1000-seitigen Standardwerks „Portugiesische unregelmäßige Verben“ – ein Werk, das in der Philologie an sich und in der Wissenschaft ganz allgemein seinesgleichen sucht. Dennoch führt Professor von Igelfeld ein akademisches Schattendasein. So unübertroffen sein Werk auch sein mag, es ist in mindestens gleichem Umfang auch unverkäuflich. Und so kämpft von Igelfeld mit dem unermüdlichen Eifer eines Don Quijote um Anerkennung und Wertschätzung.

Mit einem zielsicheren Gespür für Fettnäpfchen und einem nicht immer ganz so fein ausgeprägten Sinn für den Umgang mit anderen Menschen, kämpft er gegen die Bedeutungslosigkeit seines eigenen Schaffens und nicht zuletzt gegen die Intrigen, die sein Regensburger Kollege Detlef Amadeus Unterholzer stets zu spinnen scheint. Von Igelfeld ist eine Ausgeburt deutscher Tugenden und akademischer Werte, stets darum bemüht, dass ihm die Ehre zuteil wird, die er verdient zu haben glaubt.

Alexander McCall Smith skizziert das wissenschaftliche Wirken und Leben des Professor von Igelfeld in insgesamt fünfzehn Episoden. Die englische Originalausgabe erschien 2003 in drei einzelnen Bänden, die für die deutsche Ausgabe zu einem Buch zusammengefasst wurden.

„Die verschmähten Schriften des Professor von Igelfeld“ ist ein durchweg humoristisches Werk, das vor allem auf den ersten Blick schwierig in einen zeitlichen Kontext einzuordnen ist. Von Igelfeld und seine beiden Kollegen Florianus Prinzel und Detlef Amadeus Unterholzer haben selbstverständlich in Heidelberg studiert, und so bekommen die Geschichten einen Anstrich von deutschem Studententum und Burschenschaften. Man ordnet das Ganze im ersten Moment irgendwo in Richtung 19. Jahrhundert ein und hat das Gefühl, McCall Smith hätte sich von Mark Twains „Bummel durch Europa“ inspirieren lassen hat, in dem Mark Twain mit einem Augenzwinkern die Erlebnisse seiner Deutschlandreise schildert, die ihn unter anderem in Heidelberger Studentenkreise geführt hat.

Umso überraschter ist man, wenn man dann im weiteren Verlauf auf immer mehr Anzeichen stößt, die belegen, dass von Igelfeld eine Figur der Gegenwart sein soll. Das verleiht dem ganzen Buch eine recht eigenartige Note, denn von Igelfelds ganze Art und Weise, sein hölzernes Benehmen, sein ständiges Schielen auf Ansehen und Ehre passen doch ins 19. Jahrhundert sehr viel besser als in die heutige Zeit. Und obwohl es ja gerade diese Züge seiner Persönlichkeit sind, welche die Lektüre würzen (allem voran seine chronische Überschätzung der eigenen Bedeutung für den Fortbestand von Kultur und Wissenschaft), so wirkt dieser Gegensatz doch etwas unstimmig.

Dennoch hat man gerade zu Beginn der Lektüre durchaus so manchen Anlass nicht nur zu schmunzeln, sondern herzhaft zu lachen. McCall Smith hat durchaus ein Händchen für die humoristische Betrachtung seiner Figuren und zieht so manche Begebenheit durch von Igelfelds sonderbare Eigenarten so herrlich ins Lächerliche, dass man wirklich seinen Spaß hat.

Sehr amüsant liest sich beispielsweise eine Episode um ein Duell, das von Igelfeld für seinen unsportlichen Kommilitonen Florianus Prinzel mit hartgesottenen Burschenschaftlern organisiert, in dem Glauben, Prinzel sei der geborene Athlet. Auch von Igelfelds Erlebnisse als vermeintlicher Veterinärmediziner und Dachshund-Experte in Amerika lesen sich sehr unterhaltsam, ebenso wie die Geschehnisse während mehrerer Arbeitsaufenthalte in Italien. Von Igelfeld hat ein Talent dafür, sich selbst in die unmöglichsten Situationen zu manövrieren, und zu beobachten, wie er immer wieder versucht, einen möglichst ehrenvollen Abgang zu machen, ist schon sehr komisch.

Dennoch schlägt man das Buch am Ende mit gemischten Gefühlen zu. Von Igelfelds steife, hölzerne Art ist zwar ganz lustig, lässt sich aber auch nicht als endloses Gagfeuerwerk strapazieren. Hat man anfangs noch seine helle Freude an der Absurdität der Figur von Igelfeld an sich und dem Augenzwinkern, mit dem McCall Smith ihn beschreibt, so zieht sich die Lektüre im Laufe der Zeit doch immer mehr in die Länge. Es gibt zwar immer noch Stellen, über die man herzhaft lachen kann, doch tendenziell wird es zum Ende hin dünner. Der Humor nutzt sich ab und man kommt gerade im dritten Teil des Buches zum unausweichlichen Schluss, dass die Figur des Moritz-Maria von Igelfeld allein eben doch nicht genug hergibt, um damit 447 Seiten zu füllen. Hätte der dritte Buchteil komplett gefehlt, ich hätte ihn keine Sekunde vermisst.

Unterm Strich sind „Die verschmähten Schriften des Professor von Igelfeld“ ein nicht ganz ungetrübtes Lesevergnügen. Zwar versteht Alexander McCall Smith sich auf eine gewitzte, augenzwinkernde Erzählweise mit einer teils wirklich herrlich absurden Note, dennoch nutzt sich der Humor mit der Zeit etwas ab. Weniger wäre hier mehr gewesen, denn hätte McCall Smith sich auf etwa die Hälfte der Episoden beschränkt, hätte man von vorne bis hinten genüsslich durchlachen können.

So ist die Lektüre eben doch nicht von Anfang bis Ende unterhaltsam, und zum Ende hin macht sich etwas Unmut breit. Ebenso nimmt man McCall Smith auch in zunehmenden Maße die Unstimmigkeit zwischen den dem 19. Jahrhundert entliehenen Figuren und dem Umfeld der modernen Welt krumm. Solange man viel zu lachen hat und durchweg gut unterhalten wird, stört man sich an solchen Aspekten nicht so leicht, hat man aber Zeit, sich um solche Dinge den Kopf zu zerbrechen, weil der Plot müde vor sich hinplätschert, wird ein kleiner Makel schnell zum Störfaktor.

http://www.blessing-verlag.de/

Åsa (Asa) Larsson- Weiße Nacht

Åsa Larsson gehört zu den neueren Krimihoffnungen Schwedens. Ihr Debütroman „Sonnensturm“ wurde als bestes Krimidebüt 2003 prämiert. Der Nachfolgeroman „Weiße Nacht“ wurde ein Jahr später als Krimi des Jahres ausgezeichnet. Bevor in diesem Monat mit „Der Schwarze Steg“ Larssons dritter Roman auf Deutsch erscheint, hat |Hörbuch Hamburg| noch die Hörbuchfassung zu „Weiße Nacht“ nachgeschoben.

Larssons Krimis spielen im äußersten Norden Schwedens, unweit von Kiruna. Eine verschlafene Gegend, die nun allmählich vom Tourismus entdeckt wird. Hier wird in der Mittsommernacht die umstrittene Pastorin Mildred Nilsson tot in ihrer Kirche aufgefunden.

Über einen Mangel an Verdächtigen kann die Polizei sich nicht beklagen. Mildred Nilsson hat sich durch ihr Engagement weit aus dem Fenster gelehnt. Frauen haben bei ihr Rat gesucht, bevor sie ihre Männer verlassen haben. Der ortsansässigen Jagdgemeinschaft hat Nilsson Paroli geboten und auch die männlichen Kollegen waren nicht gerade glücklich über die Art, wie Mildred Nilsson ihre Männerdomäne auf den Kopf gestellt hat. Kurzum, der halbe Ort könnte ein Motiv haben. Und so schleppen sich die Ermittlungen schwerfällig dahin, bis die Kriminalbeamtin Anna Maria Mella Order bekommt, den Fall noch einmal aufzurollen.

Zur gleichen Zeit hält sich Rebecka Martinsson zufällig in der Gegend auf. Sie ist Juristin in einer Stockholmer Kanzlei, die derzeit im Auftrag eben jener Kirche arbeitet, in der Mildred Nilsson ermordet aufgefunden wurde. Rebecka stammt aus der Gegend, war nach den Ereignissen in „Sonnensturm“, aber bislang nicht wieder zurückgekehrt. Rebecka hat gewisse Schwierigkeiten, sich wieder mit dem Alltag zu arrangieren. Zu sehr lasten noch die damaligen Ereignisse auf ihrer Seele. Und so nutzt sie die Tage in der ehemaligen Heimat, um ein wenig aus ihrem Stockholmer Alltag herauszukommen und zu sich selbst zu finden.

Unversehens wird sie dabei in den Fall Mildred Nilsson hineingezogen. Im Safe der Pastorin findet sie einen Haufen Drohbriefe, die sie an Anna Maria Mella weiterleitet. Sie spürt das feindselige Klima im Ort und den aufgestauten Hass. Dennoch hat sie keine Vorstellung davon, wie gefährlich die Situation wirklich werden kann, bis sie dem Mörder von Mildred Nilsson zu Nahe kommt …

Åsa Larsson legt ihren Krimi mit viel Feingefühl an. Sie kennt die Gegebenheiten des Ortes, den Charakter der Menschen dort. So vermittelt sie dem Leser ein Gefühl für das Leben in Kiruna, für die Weite der Landschaft und die unerträgliche Helligkeit der Mittsommernächte. Larsson stammt selbst aus Kiruna und hat wie ihre Protagonistin Rebecka Martinsson jahrelang als Juristin gearbeitet. Sie selbst steht also sehr nah an der Handlung ihres Romans. Sie weiß, wovon sie schreibt ,und so hat man als Leser bzw. Hörer auch permanent das Gefühl, den Figuren ganz nah zu sein.

Es ist auch diese Nähe, aus der die Krimihandlung ihre Spannung zieht. Larsson beobachtet still und leise und präsentiert damit dem Betrachter einen Verdächtigen nach dem anderen. Motive gibt es in Hülle und Fülle, und in diesem dichten Geflecht der Figuren und Beziehungen lauert gut versteckt der wahre Täter. Larsson offenbart die Gefühlswelt ihrer Figuren und entblößt damit auch die gesellschaftlichen Strukturen ihrer alten Heimat. Voller Stolz sind die Menschen dort, aber auch sehr verwundbar, wie es scheint und so trägt jeder der Einheimischen sein Paket verletzter Gefühle und gekränkten Stolzes mit sich umher.

Dabei erscheinen viele Denkweisen eher konservativ. Die strikte Verteilung der geschlechterspezifischen Rollen demonstriert Larsson vor allem anhand des Verhaltens der Kirchenmänner, die Mildreds Stelle „um des Gemeindefriedens Willen“ auf keinen Fall wieder mit einer Frau besetzen wollen, und auch anhand der rein männlichen Jagdgemeinschaft, die sich nicht von einer Frau wie Mildred Nilsson Vorschriften machen lassen wollte. Die Rollenverteilung ist eben eher klassisch, und wenn eine Feministin daherkommt, um daran zu rütteln, läuft sie halt ins offene Messer. Und so schwingt in Larssons Roman eben am Rande auch eine unterschwellige Gesellschaftskritik mit.

Die Hauptfigur von Larssons Romanen ist stets Rebecka Martinsson, die gleichermaßen sympathisch wie interessant wirkt. Sie ist eine gebrochene Persönlichkeit, die die Geschehnisse des ersten Larsson-Romans noch immer nicht verdaut hat, die darum kämpfen muss, ihren Alltag zu bewältigen und nicht unter der Last ihrer Emotionen zusammenzubrechen. Sie gerät eher unbeabsichtigt in die Mordermittlungen, ermittelt nicht im eigentlichen Sinne und arbeitet auch nur bei der Übergabe der Drohbriefe aus dem Safe der Pastorin mit Anna Maria Mella zusammen. Sie beobachtet viel mehr im Stillen, und als sie daraus ihre Schlüsse zieht, ist es schon fast zu spät für sie. Auch Anna Maria Mella ist eine Figur, die Sympathien auf sich zieht. Nach der Babypause gerade in den Dienst zurückgekehrt, soll sie sich noch einmal den ins Stocken geratenen Fall Mildred Nilsson vornehmen und kommt dabei der Lösung näher, als es die Kollegen jemals waren.

„Weiße Nacht“ ist ein Krimi mit einer sehr subtilen Spannung. Er ist nicht temporeich inszeniert und verzichtet auf Effekthascherei. Keine wilden Verfolgungsjagden, kein nervenaufreibendes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Polizei und Mörder, keine unappetitlichen Schilderungen des Tathergangs für den letzten Thrill. Dennoch schafft Åsa Larsson eine dichte Atmosphäre, aber es ist eben eher das Figurengeflecht, das Spannungsfeld der aufgeheizten Kleinstadtidylle rund um das Mordopfer, aus dem „Weiße Nacht“ seine Spannung bezieht. Dadurch ist der Roman eine intensive Lese- bzw. Hörerfahrung. Es ist eben auch die Kunst, sich in die Figuren einzufühlen, ihr Seelenleben zu offenbaren, hinter die Fassade des wohlgeordneten, anständigen Alltagslebens zu schauen und den Leser/Hörer so ganz intensiv und nah an das Geschehen zu rücken, was Åsa Larssons Qualitäten ausmacht. Und so darf man sicherlich gespannt sein, was Rebecka Martinsson in Zukunft noch so alles in Kiruna erleben wird.

Die Hörbuchfassung von |Hörbuch Hamburg| ist in jedem Fall als gelungen zu bezeichnen. Schauspielerin Nina Petri liest den Roman vor und macht ihre Sache dabei ausgesprochen gut. Ihr Erzählfluss und ihre Intonation passen gut zur intensiven Figurenbetrachtung Åsa Larssons und transportieren auf diese Weise die Stimmung des Romans zum Zuhörer. Die 384 Minuten des Hörbuchs vergehen wie im Flug und man taucht tief in die Geschichte, die Stimmung und den Ort ein.

Bleibt also unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. Wer Krimis mit subtiler Spannung, einer intensiven Atmosphäre und interessant skizzierten und sehr menschlich wirkenden Figuren mag, der sollte sich den Namen Åsa Larsson merken. Ihre Krimis haben in jedem Fall ihre Daseinsberechtigung, und man darf sicherlich gespannt sein, wie es mit Rebecka Martinsson weitergeht. Wer Schweden-Krimis à la Camilla Läckberg [(„Die Eisprinzessin schläft“) 3209 mag, der wird auch an Åsa Larsson seine Freude haben und dem sei „Weiße Nacht“ ausdrücklich ans Herz gelegt.

http://www.HoerbucHHamburg.de
|Die gebundene Ausgabe erschien im Juni 2006 bei C. Bertelsmann.|

Hill, Susan – Des Abends eisige Stille

Vor zwei Jahren erschien mit [„Der Menschen dunkles Sehnen“ 1698 der erste Krimi von Susan Hill rund um ihren Ermittler Simon Serrailler. Nun legt die Britin mit „Des Abends eisige Stille“ den Nachfolgeband vor.

Simon Serrailler versucht in Venedig auf andere Gedanken zu kommen und mit dem Tod seiner Kollegin Freya Graffam klarzukommen, als ihn ein Anruf aus seiner Heimat erreicht: Seine schwerstbehinderte Schwester Martha liegt auf der Intensivstation und ringt mit dem Tod. Kaum ist Simon zurück in seinem Heimatstädtchen Lafferton, lastet neben den privaten Problemen auch schnell wieder beruflicher Druck auf dem Polizeichef.

Der 9-jährige David Angus wartet am frühen Morgen vor dem Haus seiner Eltern darauf, zur Schule abgeholt zu werden, als er zuletzt gesehen wird. In der Schule kommt er nie an, niemand hat den Jungen gesehen, niemand weiß, wo er sein könnte. Die Polizei findet keinerlei Anhaltspunkte. Es gibt weder Zeugen noch Spuren. Vieles spricht dafür, dass der Junge das zufällige Opfer eines Kindesentführers geworden ist.

Simon und seine Truppe versuchen alle Hebel in Bewegung zu setzen, aber die Spur ist längst kalt. Derweil droht Davids Familie an diesem Schicksalsschlag zu zerbrechen, und da auch die Ermittlungen kaum Neues ergeben, kann auch Simon das Leid der Familie nicht verringern.

Und auch privat geht es weiterhin turbulent zu. Nachdem seine behinderte Schwester sich kurzzeitig wieder erholt hat, stirbt sie völlig unerwartet. An Simon nagen Zweifel: Ist sie wirklich eines ganz natürlichen Todes gestorben? Oder hat vielleicht jemand nachgeholfen? Oder geht sein kriminalistisches Denken schon mit ihm durch? Zu allem Überfluss taucht dann noch eine Frau aus Simons Vergangenheit auf, die ihn bedrängt …

Susan Hill baut ihren Roman ganz gemächlich auf. Sie lässt sich Zeit, ihre Figuren in die Handlung einzuführen, lässt den Leser in aller Ruhe beobachten, bevor es mit der eigentlichen Krimihandlung überhaupt erst losgeht. Das mag bei anderen Autoren problematisch sein, weil der Leser mit Nebensächlichkeiten gelangweilt wird, im Fall von Susan Hill sieht das etwas anders aus.

Ihre Stärke liegt ganz eindeutig in der Figurenzeichnung. Sie schafft lebendige Protagonisten, bei denen es schon Freude bereitet, einfach nur zuzusehen, wie sie durch ihren Alltag gehen. Man schließt sie schnell ins Herz und fühlt sich ihnen auf gewisse Art ganz nah.

Das gilt insbesondere für Simon und die Familie seiner Schwester Cat. Cat und ihr Ehemann Chris sind Ärzte. Cat selbst pausiert derweil, weil sie kurz vor der Geburt des dritten Kindes steht, dafür hängt Chris sich umso aufopferungsvoller in den Job. Das Haus von Cat und Chris ist für Simon stets eine wichtige Zufluchtsstätte. Hier findet er Halt und Geborgenheit und kann sich über alles mit seiner Schwester aussprechen.

Auch Simon ist eine sympathische Hauptfigur, wenngleich er ein etwas ungewöhnlicher Polizeichef ist. Simons Leidenschaft ist das Zeichnen, und er bereitet sich auf eine neue Ausstellung vor. Das erscheint doch als ein eher untypisches Hobby für einen Polizisten. Simon ist ein verschlossener Mensch, der kaum jemanden hinter seine Fassade schauen lässt. Er lässt kaum jemanden an seinen Gefühlen teilhaben und versucht auf seine ganz eigene Art, den zurückliegenden Tod von Freya Graffam und den Todesfall seiner Schwester Martha zu verdauen.

Der Roman spielt besonders im Spannungsfeld zwischen Simons privaten Problemen und dem beruflichen Druck, der sich rund um die Entführung von David Angus aufbaut. Hier sind es besonders auch das Schicksal der Familie Angus und die Auswirkungen des Ereignisses auf das allgemeine Leben in Lafferton, die Hill besonders eindringlich schildert. Das Grauen des Ereignisses wird für den Leser greifbar, und durch ihren einfühlsamen Erzählstil rückt sie den Leser ganz nah an das Geschehen heran.

So entwickelt sich „Des Abends eisige Stille“ von Anfang an anders als herkömmliche Krimis. Wer einen typischen englischen Krimi erwartet, der könnte etwas enttäuscht werden, denn die typische Krimispannung ist bei Hill eher eine Randerscheinung. Das soll nicht heißen, dass „Des Abends eisige Stille“ spannungsarme Kost wäre, aber sie spielt auf einer gänzlich anderen Ebene als die durchschnittliche Krimispannung. Hier sind es vor allem die Figuren, die in den Bann ziehen und den Leser fesseln, bei denen er unbedingt erfahren will, wie es mit ihnen weitergeht.

Das trifft auch auf den Nebenplot zu, in dem der frisch entlassene Ex-Häftling Andy Gunton versucht, wieder im normalen Leben in Lafferton Fuß zu fassen, während die Polizei nach den Entführern von David Angus sucht. Hill versteht es einfach, ihre Figuren interessant zu gestalten, so dass sie fast im Alleingang die Spannung des Romans tragen.

Und so verwundert es auch nicht, dass es am Ende eben auch der Krimiplot ist, der für eine Prise Unzufriedenheit beim Leser sorgt. Ungewöhnlich für einen Krimi ist, dass die Geschichte sehr offen endet. Hill findet nicht so recht den passenden Schlusspunkt, und so wird der Leser wohl warten müssen, bis der nächste Roman um Simon Serrailler erscheint, um zu erfahren, wie die Geschichte wirklich ausgeht.

Hills Romane sind miteinander verknüpft. In „Des Abends eisige Stille“ nimmt sie immer wieder Bezug auf die Geschehnisse in [„Der Menschen dunkles Sehnen“, 1698 weshalb die Lektüre in der richtigen Reihenfolge ratsam ist, wenn man sich nicht die Spannung madig machen will.

Insgesamt hinterlässt „Des Abends eisige Stille“ sowohl positive als auch zwiespältige Gefühle. Hill kann vor allem mit ihrer Figurenskizzierung punkten, die das Buch zu einer intensiven und kurzweiligen Lektüre macht. Der Krimiplot bleibt dagegen etwas zu offen und vage. Er hängt seltsam in der Schwebe und lässt den Leser mit einem leicht unzufriedenen Gefühl zurück. Ansonsten machen Susan Hills erzählerische Qualitäten in jedem Fall Lust auf die Fortsetzung, die hoffentlich nicht zu lange auf sich warten lässt, damit sich das jetzige Gefühl der Unzufriedenheit möglichst bald klären kann.

http://www.knaur.de

Novik, Naomi – Drachenbrut (Die Feuerreiter Seiner Majestät 1)

Es klingt auf den ersten Blick ein bisschen nach einer Mischung aus [„Eragon“ 1247 und „Jonathan Strange & Mr. Norrell“, was Naomi Novik uns mit dem ersten Teil ihrer – im Englischen bald zur Tetralogie ausgewachsenen – Trilogie |Die Feuerreiter seiner Majestät| serviert. Das Szenario ist ganz ähnlich wie bei „Jonathan Strange“, denn Noviks Drachen-Reihe spielt zur gleichen Zeit. 1805 befindet sich England mitten im Krieg gegen Napoleon, nur sind es keine Magier, die mit an die Front ausrücken, sondern Drachen. Und das auf beiden Seiten, denn in Naomi Noviks Welt sind die Drachen das Glanzstück der Streitkräfte.

Als Kapitän Will Laurence eine französische Fregatte kapert, deren Fracht ein echtes Drachenei enthält, ahnt er noch nicht, dass seine Zeit bei der Marine ihrem Ende entgegengeht. Wie es das Schicksal nun einmal so will, schlüpft der Drache auf hoher See. Im Leben eines Drachen ist dieser Augenblick stets ein sehr entscheidender. Nur wenn dem Drachen gleich nach dem Schlüpfen ein Geschirr angelegt wird, wird es gelingen, ihn zu zähmen, und derjenige, der dem Drachen sein Geschirr anlegt, wird auf immer seine Bezugsperson sein.

Der Einzige, der die Sympathien des Drachen wecken kann, ist Laurence, und von dem Moment an, als Laurence dem Drachen Temeraire das Geschirr angelegt hat, ist auch schon entschieden, dass er fortan für den Drachen verantwortlich sein muss. Und so wechselt er von den vertrauten Planken seines Schiffes auf den Rücken des Drachen, um fortan auf diese Weise seine Pflicht für die Krone zu erfüllen. Und die kann einen Drachen wie Temeraire gut gebrauchen. Es sieht nicht gut für die Engländer aus im Krieg gegen Napoleon. Ein weiterer Drache ist da Gold wert.

Doch um sich als nützlich erweisen zu können, müssen Temeraire und Laurence erst einmal eine Ausbildung in Schottland absolvieren, wo sie lernen, in Formation mit anderen Drachen Einsätze zu fliegen. Und schon nach wenigen Monaten kommt der große Augenblick für Laurence und Temeraire. Im Kampf gegen die französischen Drachen müssen sie zeigen, was in ihnen steckt, und in Temeraire steckt noch eine ganze Menge, von dem weder Drache noch Flieger etwas ahnen …

Es ist schon eine schöne Fantasygeschichte, die Naomi Novik da aus dem Hut gezaubert hat. „Drachenbrut“ bildet eine vielversprechende Ausgangslage für die beiden folgenden Teile der Reihe.

Laurence ist eine sympathische Hauptfigur. Als sich herausstellt, dass er es ist, der nun sein Leben an der Seite des Drachen verbringen soll, trägt er diese einschneidende Veränderung seines Lebens mit erstaunlicher Fassung. Er weiß, dass sich von nun an alles ändern wird, denn von nun an hat seine erste Sorge stets dem Drachen zu gelten. Unter diesen Bedingungen ein normales Leben mit allen dazugehörigen gesellschaftlichen Verpflichtungen zu führen, ist schlichtweg unmöglich. Und so verwundert es auch nicht, dass Laurence‘ „berufliche Umorientierung“ bei der Familie auf wenig Gegenliebe stößt. Sein Eheversprechen an seine Verlobte ist damit auch hinfällig und Laurence muss schon bald seinen ursprünglichen Lebenstraum begraben.

Doch das nimmt er vermutlich auch deswegen mit so viel Fassung, weil er mit Temeraire einen sehr sympathischen neuen Gefährten an seiner Seite hat. Er genießt es, Zeit mit dem Drachen zu verbringen, und die beiden verbindet schon bald eine innige Freundschaft. Das Leben der Feuerreiter erfordert viele Opfer, aber die besondere Freundschaft zwischen Drache und Flieger birgt eben auch ein ganz besonderes Gefühl.

Interessant ist, wie Novik die Drachen in ihre Welt einbettet. Sie sind ein wichtiger Teil des militärischen Apparates. Zu Zeiten, in denen der Krieg sich immer auf festem Boden oder auf dem Wasser abspielt, markieren die Drachen so etwas wie den Einstieg in den Luftkampf. Und der sieht gar nicht so fantastisch und romantisch aus, wie man sich das bei dem Gedanken an Drachen vorstellen mag. Es gibt eine feste Besatzung von mehreren Personen, die Geschosse abfeuert und über Signalflaggen mit den Besatzungen anderer Drachen kommuniziert. Der Drache mutet da wie ein rustikaler Vorläufer des Kampfflugzeugs an.

Doch auch der Drache selbst muss im Kampf seine Fähigkeiten in die Waagschale werfen. Es kommt nicht nur auf Schnelligkeit, Kraft und Wendigkeit an, viele Drachen haben auch noch eine besondere Fähigkeit auf Lager, die im Kampf von enormer Bedeutung ist. Sie spucken Säure oder Feuer und tragen so nicht unerheblich zum Kampfgeschehen bei.

So hat Novik ausreichend Stoff für fesselnde Schlachtenschilderungen, die sie vor allem in der finalen Schlacht über dem Ärmelkanal zum Höhepunkt des Buches herausarbeitet. Die Luftkämpfe sind absolut spannend und es liegt nahe, warum Herr-der-Ringe-Regisseur Peter Jackson sagt, dass aus diesem Stoff seine Kinoträume wären. Man darf also durchaus gespannt sein, wie dieser Stoff irgendwann einmal filmisch von ihm umgesetzt wird. Es kann eigentlich nur großartig werden.

So richtig auftrumpfen kann Novik mit spannenden Kampfhandlungen allerdings wirklich erst im letzten Drittel des Buches. Die ersten zwei Drittel dienen eher dem Handlungsaufbau. Laurence nimmt nach dem Schlüpfen von Temeraire Abschied vom Seemannsleben und tritt seine Ausbildung in Schottland an. Hier steht eher die beginnende tiefe Freundschaft zwischen Temeraire und Laurence im Vordergrund, genau wie die Grundsätze des Lebens auf dem schottischen Stützpunkt, der Umgang der Flieger miteinander und das vor allem anfangs etwas gespaltene Verhältnis zwischen Laurence und seinen Kollegen.

Typisch gerade auch für die Zeit in der das Buch spielt, sind Etikette und ein bestimmter militärischer Verhaltenskodex von zentraler Bedeutung. Auch Laurence muss sich trotz militärischer Erfahrung erst eingewöhnen und findet unter den Fliegern nicht gleich die Akzeptanz, die er sich später hart erarbeitet. Viele, die auf dem schottischen Stützpunkt arbeiten, warten seit Jahren darauf, Kapitän eines eigenen Drachen werden zu dürfen. Dass Laurence als Außenstehender einfach mit einem eigenen (noch dazu äußerst seltenen und wertvollen) Drachen daherspaziert kommt und ohne Vorkenntnisse seinen Dienst als Kapitän antritt, schürt jede Menge Neid und Missgunst.

Insgesamt baut Novik den Roman ganz gut auf. Auch wenn man sich wünschen möchte, sie würde schon früher an der Spannungsschraube drehen, liest sich der Roman flott herunter und es kommt keinerlei Langeweile auf. Sie entwickelt ihre Geschichte auf ganz eigenständige Art und schafft damit einen Roman, der sich gegenüber anderen Fantasygeschichten abgrenzt und individuell definiert, auch wenn man sich beim Lesen der Inhaltsangabe noch an ein Werk wie Susanna Clarkes [„Jonathan Strange & Mr. Norrell“ 2253 erinnert fühlt.

Am Ende wartet man neugierig und ungeduldig darauf, wie es mit Laurence und Temeraire weitergeht, denn Noviks Finale macht Lust darauf, die Fortsetzung möglichst bald zu lesen. Wie gut, dass der nächste Band schon im August erscheint. So hält sich die Wartezeit in Grenzen.

Bleibt unterm Strich ein positiver Eindruck zurück. Novik entwickelt sympathische Protagonisten und kreiert nach einer ersten Aufbauphase einen absolut spannenden Plot, der Lust auf mehr macht. Man darf gespannt sein, welche Abenteuer sie für Laurence und Temeraire noch aus dem Hut zaubert. „Die Feuerreiter seiner Majestät“ hat das Zeug dazu, eine große begeisterte Leserschaft anzuziehen und sich als eigenständiger Fantasyroman von der Masse anderer Werke des Genres klar abzugrenzen. Auf jeden Fall ein Lesespaß, der Jugendliche wie Erwachsene gleichermaßen begeistern kann und dem man noch viele Leser wünscht.

Der Roman ist derzeit nominiert für den |Hugo Award| (Bester Roman), den |Compton Crook Award| (Bester Debütroman) und den |Locus Award| (Bester Debütroman). Die Autorin selbst wurde für den |John W. Campbell Memorial Award for the Best New Writer| nominiert. Diese Auszeichnung erhielten zuletzt John Scalzi und Elizabeth Bear.

http://www.cbj-verlag.de

Kallifatides, Theodor – kalte Blick, Der

Wenn man der Meinung der |Svenska Dagbladet| Glauben schenken darf, so scheint ein hoffnungsvoller Name in Sachen „Schweden-Krimi“ Theodor Kallifatides zu sein, auch wenn der ganz und gar nicht schwedisch klingt. Besagte Zeitung sieht in ihm |“einen der besten Erzähler hierzulande“|. In Deutschland liegt mit „Der kalte Blick“ nun der dritte Roman des gebürtigen Griechen vor.

Kallifatides‘ Chefermittlerin heißt Kristina Vendel, eine junge und erfolgreiche Kriminalkommissarin, von der in „Der kalte Blick“ ein pikantes Foto in der Stockholmer Unterwelt kursiert. Es zeigt die Polizistin unbekleidet in einer obszönen, wollüstigen Stellung. Mikal Gospodin, russischer Schwerverbrecher mit einem seltsam guten Draht zu Kommissarin Vendel, bekommt das Bild in die Finger und will es ihr zurückgeben. Doch ehe es dazu kommt, wird Gospodin ermordet – brisanterweise von einer Frau, die Kristina Vendel sehr ähnlich sieht.

Bevor Kristina sich damit befassen kann, wer für das Auftauchen des Bildes verantwortlich ist, sieht sie sich auch schon mit dem Verdacht konfrontiert, etwas mit dem Ableben Gospodins zu tun zu haben. Es ist kein deutlich ausgesprochener, konkreter Verdacht, aber Kristina ist klar, dass sie in die Offensive gehen muss. Sie muss so schnell wie möglich die Hintergründe des Fotos und des Mordes an Gospodin lüften, um sich selbst zu entlasten.

Da geschieht kurz darauf ein Mord an dem berühmten Schachspieler Alain Karpin und es kommen Gerüchte auf, dass Islamisten einen Anschlag auf den Literatur-Nobelpreisträger V. S. Naipaul geplant haben. Bei all der beruflichen Hektik bleibt aber unerwartet auch noch Zeit für die Liebe. Kristina verliebt sich in den attraktiven Kemal und ist hin und weg von ihm. Bis plötzlich ein schrecklicher Verdacht aufkommt …

„Der kalte Blick“ ist ein Krimi und ist es dennoch nicht. Kallifatides geht den Plot auf eine erstaunlich „unkrimihafte“ Weise an und liefert damit eher ein Kammerspiel verzwickter menschlicher Schicksale ab als einen klassischen Krimi. Er verzichtet auf klischeehafte Schwarzweiß-Skizzierungen und setzt den Spannungsbogen so an, dass der Leser sehr schnell weiß, wer der Mörder ist. Es geht weniger um die Frage des Täters als vielmehr um den Menschen, der sich dahinter verbirgt, und das, was ihn bewegt, und so ist die Art der Spannung, die Kallifatides aufbaut, auch eine ganz andere, weniger subtile.

Punkten kann Kallifatides in jedem Fall auf menschlicher Ebene. Er hat ein tolles Ermittlerteam zusammengestellt mit ebenso sympathischen wie menschlichen Figuren. Da wäre Maria, die liebenswerte Tochter eines italienischen Pizzabäckers, die nach einer gescheiterten Ehe immer noch auf der Suche nach dem richtigen Mann ist. Dann wäre da Östen, der, nachdem seine Frau ihn verlassen hat, zunehmend im Alkohol Trost sucht und dem die Freundschaft zu Maria noch ein wenig Halt gibt. Und dann wäre da noch Thomas, dessen Privat- und Liebesleben durch die Behinderung des Sohnes in Mitleidenschaft gezogen ist. Jeder hat an seinem eigenen Schicksal zu tragen, und die Art, wie Kallifatides diese Ebene der Figurenskizzierung in die Handlung einfließen lässt, gibt dem Krimi ein ganz und gar menschliches Antlitz.

Die Einzige, die dabei nicht immer ganz überzeugt, ist Kristina. Gleich zu Beginn des Romans, noch in der Phase, als sie das Trauma abzuschütteln versucht, in dessen Zuge auch das Foto entstanden ist, das sie in so eine heikle Lage bringt, kauft sie aus einer Bauchentscheidung heraus eine Axt, um die Rache an ihren Peinigern zu vollstrecken. Ich muss gestehen, dass mir dieser Zug gewisse Schwierigkeiten bereitet. Eine Frau, in deren Rachephantasien eine Axt die Hauptrolle spielt, das klingt doch ein wenig abwegig. Obwohl Kallifatides Kristina am intensivsten beobachtet, sowohl dienstlich als auch privat, bleibt ihr Charakter dennoch merkwürdig blass. Sie wirkt ein wenig unnahbar und schwer durchdringlich, so dass man als Leser nur schwer einen Bezug zu ihr aufbauen kann.

Als Gegenpol zu Kristina baut Kallifatides die Figur des Kemal auf, die ihren ganz eigenen Reiz hat. Auch er bleibt etwas mysteriös, aber dieser Zug tut seiner Figurenskizzierung sehr gut. Kallifatides schafft es, mit Kemal eine gleichermaßen faszinierende wie auch geheimnisvolle Figur aufzubauen, in der sich ein Großteil der Spannung der Geschichte manifestiert.

Der Plot an sich hat positive wie auch negative Seiten. Kallifatides beweist ein ausgesprochenes sprachliches Feingefühl. Er kleidet die Handlung und die Gedanken der Figuren stets in so passende Worte, dass sehr stimmige Bilder entstehen. Andererseits setzt er verstärkt auf den Faktor Zufall, und so sehr sein Roman im Detail auch fein ausbalanciert sein mag, so wirkt dennoch die Auflösung nicht in allen Belangen ganz stimmig und schlüssig.

Bleibt am Ende festzuhalten, dass Kallifatides‘ Qualitäten nicht von der Hand zu weisen sind. Dennoch kann er als Krimiautor nicht auf ganzer Linie überzeugen. Sprachlich ist „Der kalte Blick“ sehr schön komponiert und ein echter Lesegenuss. Das Ermittlerteam, das er ins Rennen schickt, zählt ebenso zu den schönen Seiten des Roman. Lediglich die letzte Schlüssigkeit des Krimiplots und die etwas unnahbare Art von Kristina Vendel trüben ein wenig die Freude. Was Kallifatides hier inszeniert, kann als Drama eben eher überzeugen als als Krimi.

http://www.dtv.de

Delaney, Joseph – Spook 2 – Der Fluch des Geisterjägers

Nachdem der junge Geisterjäger-Azubi Tom Ward sein erstes Abenteuer in [„Spook – Der Schüler des Geisterjägers“ 2303 wohlbehalten überstanden hat, läutet Autor Joseph Delaney mit „Spook – Der Fluch des Geisterjägers“ nun die zweite Runde der Geisterjagd und Dämonenbannung ein.

Tom Ward ist mittlerweile seit einem guten halben Jahr bei dem alten Spook in der Lehre und hat schon eine Menge gelernt. Wenn notwendig, lässt Mr. Gregory seinen Schüler sogar schon alleine losziehen, um einen Dämon zu bannen, und der Junge macht seine Sache durchaus gut. Vor ihrer größten Herausforderung stehen die beiden aber schon bald gemeinsam. Sie reisen nach Priestown, um einen Dämon zu besiegen, vor dem einst selbst der alte Spook kapitulieren musste.

In den Katakomben unterhalb der Kathedrale von Priestown treibt der Bane sein Unwesen. Dort hockt er zwar in einer Art Verbannung, da er aber zunehmend mächtiger wird und er die Fähigkeit besitzt, sich in die Gedanken der Menschen einzuschleichen und sie sich gefügig zu machen, ist für den Spook die Zeit gekommen, zu Ende zu führen, was ihm einst versagt bliebt: Den Bane endgültig zu besiegen.

Doch der Bane ist nicht die einzige Sorge des Spooks in der Stadt. Der Inquisitor ist in Priestown eingetroffen, um Hexen und Zauberern auf dem Scheiterhaufen den Garaus zu machen. Der Spook ist für ihn ein besonders prächtiges Opfer, pflegt er doch ganz offensichtlich stetigen Kontakt mit den Mächten der Dunkelheit. Und so kommt es, wie der Leser befürchten müssen: Der Inquisitor verhaftet den Spook und verurteilt ihn zum Tode durch Verbrennen. Nun steht Tom mit seiner Freundin Alice ganz alleine da und muss gleich zwei dringliche Probleme lösen: Den Spook befreien und sich mit dem Bane befassen, und das ist alles andere als einfach …

Schon rein äußerlich steht „Der Fluch des Geisterjägers“ dem Vorgängerroman in keiner Weise nach. Ein schöner Schutzumschlag in der Optik abgegriffenen Leders – das sieht vergleichsweise edel aus und ist eine hübsche Entsprechung zur ohnehin schon sehr liebevoll grafisch aufgepeppten Aufmachung des Innenlebens. „Spook“ ist also schon allein von der Art der Präsentation her ein Leckerbissen.

Erfreulich ist auch, dass der Verlag hier nicht nach dem Schema „außen hui, innen pfui“ verfahren ist, denn der Inhalt steht den Äußerlichkeiten in kaum einer Hinsicht nach. Schon der Auftaktroman war eine schaurig-schöne Geschichte mit einer ordentlichen Prise Fantasy, einem Spritzer historisch angehauchtem Roman und einer wohldosierten Portion Grusel. Aus der Vielzahl an Jugend-Fantasyromanen sticht „Spook“ gerade auch wegen des Gruselfaktors heraus, und das lässt sich auch auf den Nachfolgeband „Der Fluch des Geisterjägers“ beziehen.

Delaney lässt hier wieder die im ersten Roman vertraut gewordenen Figuren agieren: Den alten Mr. Gregory, in dessen Diensten Tom Ward steht, Tom Ward selbst, seine Freundin Alice, die der Leser auch schon aus dem ersten Band kennt, und nicht zuletzt Toms Familie. Insgesamt fasst Delaney den Horizont diesmal etwas weiter. Es geht nach Priestown, in eine Stadt, die Tom vorher noch nie gesehen hat und in der vieles anders ist, als er es kennt.

Gerade für ihn als Schüler eines Geisterjägers ist Priestown ein gefährliches Pflaster. Ein Spook ist hier nicht nur ungern gesehen, sondern lebt in ständiger Angst vor Entdeckung durch die Inquisition, die hier durch die Allgegenwart der vielen Priester der Stadt (der Name kommt schließlich nicht von ungefähr) zahlreiche wachsame Augen hat. Tom und Mr. Gregory gehen ein enormes Risiko mit ihrem Besuch der Stadt ein, und das sorgt für zahlreiche Spannungsmomente.

Überhaupt ist die Spannung sehr zum Greifen. Delaney dreht gleich von Anfang an mächtig an der Spannungsschraube und fesselt dadurch den Leser an die Seiten. Man steckt sofort wieder drin in der Welt des Tom Ward, und wird durch den aufregenden Plot gleich mitgerissen. Die Spannung wird noch greifbarer als im ersten Band, weshalb man das Buch kaum aus der Hand legen möchte – und das dürfte gleichermaßen für Kinder wie für erwachsene Leser gelten.

Der Plot ist zwar größtenteils recht einfach gestrickt, also auch für Kinder bzw. Jugendliche gut zu begreifen, aber das kann den erwachsenen Leser bei all den schönen, schaurig-spannenden Momenten der Geschichte höchstens marginal stören. Delaney lässt zu keinem Moment Langeweile aufkommen und hält das Tempo der Erzählung auf einem gleichmäßig hohen Niveau.

Besonders schön für den Leser ist auch, dass er zu verschiedenen Figuren, vor allem Mr. Gregory und Toms Mutter, einige Hintergrundinformationen bekommt. Die werden sicherlich auch noch für den nächsten Band „Das Geheimnis des Geisterjägers“, der für August 2007 angekündigt ist, von Bedeutung sein.

Bleibt abschließend festzuhalten, dass Joseph Delaney seine „Spook“-Reihe mit dem zweiten Band wunderbar fortgesetzt hat. Die Geschichte ist noch spannender und atmosphärisch dichter als die des ersten Teils, und das stets hohe Erzähltempo fesselt den Leser förmlich an die Seiten.

Insgesamt betrachtet, ist der zweite Band noch düsterer und schauriger als der erste. Wer das Buch also Kindern zur Lektüre geben will, sollte sicherstellen, dass das hier nicht zu harter Tobak ist. „Der Fluch des Geisterjägers“ macht auf jeden Fall Lust darauf, bei „Spook“ am Ball zu bleiben. Wie schön, dass man auf den nächsten Band nicht mehr lange warten muss …

|Originaltitel: The Wardstone Chronicles – The Spook’s Curse, 2005
ca. 350 Seiten
Aus dem Englischen von Tanja Ohlsen
Illustriert von Patrick Arrasmith|
http://www.randomhouse.de/cbjugendbuch/

Bergting, Peter – The Portent – Zeichen des Unheils 1: Das Reich der Geister

Helden haben’s schwer. Da will man sich als Held nützlich machen und die Welt retten und eh man sich versieht, hat man selbige auch schon versehentlich zerstört. So ergeht es Milo, dem Helden in Peter Bergtings Comic-Werk „The Portent – Zeichen des Unheils 1: Das Reich der Geister“.

Milo ist der Held, der gesandt wurde, die Welt vor den Dämonen zu schützen und den Geist der Menschheit zu retten. Das zumindest glaubt der Rat und schickt Milo zusammen mit zwei Vertretern des Rates los, um genau diese Mission zu erfüllen. Die eine ist die junge Frau Lin, der andere ist der Wächter des Rates Alkuin. Sie sollen zusammen mit Milo Dai-Jiu den ersten und ursprünglichen Geist der Menschheit vor der Zerstörung durch den Mokkurkalven bewahren, einen mächtigen Diener des bösen Dämons Guishen, der die Macht über das Reich der Lebenden erringen will.

Doch die Mission misslingt, am Ende ist Dai-Jui zerstört und die Welt damit dem Untergang geweiht. Nun verdunkelt sich die Welt und das Zeitalter der Toten bricht heran. Milo muss sich in der Welt der Geister direkt Guishen zum Kampf stellen und versuchen, dort einen Sieg zu erringen, um das dunkle Schicksal der Menschheit abzuwenden …

Die Zusammenfassung von „Das Reich der Geister“ klingt nach einem gruseligen Horror-Fantasy-Mix, doch Peter Bergting vereint in „The Portent – Zeichen des Unheils“ einiges mehr. Peter Bergting selbst sagt, dass er das „F-Wort“ (Fantasy) nicht mag, auch wenn sein Verlag „The Portent“ als Fantasy vermarktet. Er sieht sein Werk vor allem als mythologisch inspirierte Horrorgeschichte, aber eben als eine Horrorgeschichte, bei der nicht einfach Dämonen abgeschlachtet werden, sondern als komplexe und vor allem auch dramatische Geschichte voller „echter“ Gefühle.

„The Portent“ ist von der ersten Seite an durch eine melancholische Grundstimmung geprägt, die den Charakter der Geschichte sehr stark dominiert. Bergting bedient sich ausgiebig chinesischer und nordischer Mythologien und bindet sie als feste Bestandteile in seine Geschichte ein. Durch diesen Mythenmix entsteht eine ganz faszinierende Grundstimmung, die „The Portent“ zu einem besonderen Genuss macht.

Mit Milo wirft Bergting eine Art tragischen Antihelden in den Ring. Milo hat gute Absichten, will ein großer Held werden und steht sich dabei doch einigermaßen selbst im Weg. Wenn man hört, dass die Hauptfigur versehentlichen die Welt zerstört, erwartet man einen trotteligen, tollpatschigen und witzigen Titelhelden. Doch diese Vorstellung deckt sich absolut nicht mit dem, was Bergting uns in der Person des Milo serviert. Milo ist selbstbewusst und geht keinem Kampf aus dem Weg. Ihn umgibt ein sonderbares Geheimnis, das sich im Laufe von „Das Reich der Geister“ auch nicht wirklich lüftet.

Die heimliche Heldin der Geschichte ist im Grunde Lin. Sie ist eine weniger ambivalente Figur als Milo, der Held und Zerstörer zugleich ist. Sie weiß, was zu tun ist und schreckt vor keinem Dämon zurück. Sie stellt sich mutig dem Kampf und stellt damit auch Milo leicht mal in den Schatten.

Peter Bergting hat „The Portent“ im Alleingang geschaffen. Er ist der alleinige Autor, er zeichnet und koloriert seine Geschichte selbst. Besonders die Zeichnungen verdienen dabei Lob. Die Farben spiegeln die wunderbar melancholische Atmosphäre der Geschichte wider, schaurige und düstere Elemente kommen sehr schön zur Geltung. Die Ausdruckskraft von Bergtings Geschichte liegt vor allem in der Kraft seiner Bildern begründet.

Ein Grund dafür ist sicherlich auch darin zu suchen, dass Bergting auf erzählerischer Ebene noch einige Schwächen offenbart, die den Lesegenuss von „The Portent“ leider trüben. Da Bergting seine Geschichte an manchen Stellen etwas verwirrend erzählt, da dem Leser manche Verknüpfungen und Zusammenhänge auch bei zweimaliger Lektüre nicht unbedingt klar werden, geht die Anziehungskraft von „The Portent“ eben in erster Linie von den Zeichnungen aus. Von der Geschichte selbst bleibt am Ende leider kaum etwas hängen. Klappt man den Comic zu, wird man das Gefühl nicht los, eine entscheidende Szene verpasst zu haben, und wenn man daraufhin das ganze Werk noch ein zweites Mal liest, ändert sich das Gefühl leider nicht wesentlich.

Manchmal sind es Bezüge zwischen Personen, die Bergting undeutlich lässt, mal ist es der gesamte Handlungsrahmen, der etwas wackelig erscheint. Der Leser bleibt mit vielen unbeantworteten Fragen zurück und dem Wunsch, Bergting hätte sich etwas klarer ausgedrückt. So bleibt der Gesamteindruck am Ende ein flüchtiger und es bleibt einfach zu viel Raum für Interpretationen. Man hat Schwierigkeiten, die Geschichte überhaupt richtig zu rekapitulieren, und so ist „The Portent“ eben auch ein sehr komplexes Werk, das nicht immer klar und verständlich ist. Das ist gerade deswegen sehr bedauerlich, weil ansonsten die Zutaten stimmen: hervorragende Zeichnungen, eine dichte Atmosphäre und ein eigentlich interessanter Plot.

„The Portent“ ist ein Stoff, aus dem man eigentlich Großartiges machen könnte, aber wenn unterm Strich in der Umsetzung nicht alle Elemente überzeugen können und die erzählerischen Mängel sich am Ende als großes Manko entpuppen, bleibt außer schönen Bildern und einer schönen Idee leider nicht mehr viel im Gedächtnis haften. Bleibt zu hoffen, dass Peter Bergting sich mit den folgenden Bänden der Reihe weiterentwickelt und diese anfänglichen Schwächen noch ausbügeln kann.

http://www.cross-cult.de/

Gaiman, Neil – Anansi Boys

Nachdem Neil Gaiman sich schon mit seinem Vorgängerroman [„American Gods“ 1396 über das Leben der alten Götter in der modernen Welt ausgelassen hat, knüpft er inhaltlich mit seinem aktuellen Roman „Anansi Boys“ an diesen Themenkomplex an, wenngleich die Geschichte eine komplett eigenständige ist, die nicht die Kenntnis des Vorgängeromans erfordert.

Während der Leser in „American Gods“ zugesehen hat, wie der mythische Allvater Odin die alten Götter um sich geschart hat, um mit ihnen zusammen in einer letzten großen Schlacht gegen die Götter der Moderne (Fernsehen, Internet und Co.) anzutreten, steht diesmal vor allem eine Gottheit im Mittelpunkt: der afrikanische Spinnengott Anansi, bzw. dessen beiden Söhne Fat Charlie und Spider.

Alles beginnt damit, dass der große Anansi eines Abends auf einer Karaokebühne tot umfällt und damit seinem Sohn Charles (der immer nur Fat Charlie gerufen wird) das Leben schwer macht. Bei Anansis Beerdigung erfährt Charlie, dass sein Vater ein Gott war und er einen Bruder namens Spider hat, der im Gegensatz zu ihm alle göttlichen Eigenschaften des Vaters geerbt hat.

Als Spider kurz darauf Charlie besucht, gerät dessen Leben aus den Fugen. Spider nistet sich bei Charlie ein und bringt alles durcheinander, woraufhin Charlie seinen Job verliert, von der Polizei verhaftet und von seiner Verlobten abserviert wird. Für Charlie ist das zu viel und er will Spider schnellstmöglich loswerden. Doch wie wird man einen lästigen Gott los? Charlie setzt alle möglichen Hebel in Bewegung, was eine ganze Kette von Ereignissen auslöst, deren Ende nicht abzusehen ist …

Neil Gaiman selbst beschreibt „Anansi Boys“ als „Horror-Thriller-Geister-Romantik-Comedy-Familien-Epos“ und das ist trotz des sich hier offenbarenden, etwas obskur anmutenden Genremixes schon eine ausgesprochen treffende Umschreibung. „Anansi Boys“ ist wie so oft bei Gaiman ein Werk der so genannten „Urban Fantasy“, ein Fantasy-Roman, der im Hier und Jetzt spielt, mitten in unserer Realität.

Fat Charlie weiß nichts von Göttern und hat bis zum Tag der Beerdigung seines Vaters auch nicht gewusst, dass sie Teil der Realität sind. Charlie führt ein überaus geregeltes Leben. Er hat eine Verlobte, die er zu heiraten gedenkt. Sein Job als Buchhalter ist eher langweilig und sein Leben verläuft weitestgehend unspektakulär. Das ändert sich schlagartig, als Spider plötzlich vor seiner Tür steht. Mit Spiders Auftreten entwickelt der Plot zunehmend Tempo, Witz und Spannung. Spider stiftet Chaos in Fat Charlies Leben und sorgt damit auch in der Geschichte für so manche unerwartete Wendung.

Das, was sich aus diesen ganzen Verwicklungen dann im Laufe des Romans ergibt, ist zwar nicht unbedingt überraschend und geschieht vor allem zum Finale hin unter inflationärer Verwendung des Faktors Zufalls, aber das mag man Neil Gaiman im Grunde gar nicht übel nehmen. Er konstruiert eine so unterhaltsame und sympathische Geschichte mit so interessanten Figuren, dass so manche Zufälligkeit eigentlich keine störende Rolle spielt.

Zudem lässt sich nach „American Gods“ wieder eine eindeutige qualitative Steigerung feststellen. Krankte „American Gods“ noch an seinem voluminösen Umfang und schien Gaiman sich gerade bei den Nebensträngen der Handlung hier und da zu verzetteln, so jongliert er bei „Anansi Boys“ gekonnt mit den unterschiedlichen Figuren und Handlungsebenen. Der Plot ist straffer und gradliniger, als es noch bei „American Gods“ der Fall war. Wer dort noch so manche Länge im Plot kritisieren mochte, darf sich bei „Anansi Boys“ wieder auf einen äußerst unterhaltsamen und flotten Gaiman-Roman freuen.

Natürlich dürfte Neil Gaiman wieder vorrangig eine Fantasy-Leserschaft anziehen, dennoch spielt er erneut so schön an den Grenzen des Genres, dass „Anansi Boys“ sicherlich auch darüber hinaus seine Leser finden wird. Nicht umsonst hat das Buch es auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste geschafft. Es ist keine lupenreine Fantasy, die Gaiman mit „Anansi Boys“ abliefert. Er blickt über die Grenzen des Genres hinaus und würzt seinen Roman gleichermaßen mit Belletristik-, Thriller- und humoristischen Elementen. Gaiman versteht sich darauf, diese so unterschiedlichen Komponenten wohldosiert zu einem großen Ganzen zusammenzufügen. Trotz des Genremixes ist „Anansi Boys“ ein Roman aus einem Guss.

Erzählerisch ist es Neil Gaiman also nach dem etwas schwächeren „American Gods“ gelungen, ein absolut überzeugendes Werk abzuliefern. Mit Wortwitz erzählt er seine Geschichte, lässt seine sympathischen Hauptfiguren agieren und die Bösewichte intrigieren und lässt dabei so manchen schrägen Einfall einfließen. Damit schafft er einen Plot, der in gleichem Maße unterhaltsam wie spannend ist. „Anansi Boys“ wird dadurch zu einem Buch, das man eher widerwillig aus der Hand legen mag und bei dessen Lektüre die Zeit wie im Flug vergeht. Dass Gaiman für „Anansi Boys“ mit dem |British Fantasy Award| 2006 für den besten Fantasy-Roman ausgezeichnet wurde, ist durchaus verdient.

Bleibt unterm Strich also nur Lob für Neil Gaimans aktuellen Roman. Schräge Ideen hatte er schon immer, aber mittlerweile hat er sich auch als Erzähler zu einem echten Könner entwickelt. „Anansi Boys“ ist ein fein durchkomponierter Roman, der hochgradig unterhaltsam, witzig und spannend ist. Für Gaiman-Fans und Freunde der „Urban Fantasy“ ohnehin Pflichtlektüre, aber auch für Neueinsteiger in Sachen Neil Gaiman ein feiner Leckerbissen, der Lust auf mehr macht.

http://www.neilgaiman.de/
http://www.heyne.de

_Neil Gaiman bei |Buchwurm.info|:_

[„American Gods“ 1396
[„Sternwanderer“ 3495
[„Sandman: Ewige Nächte“ 3498
[„Die Wölfe in den Wänden“ 1756
[„Coraline – Gefangen hinter dem Spiegel“ 1581
[„Keine Panik! – Mit Douglas Adams per Anhalter durch die Galaxis“ 1363
[„Die Messerkönigin“ 1146
[„Verlassene Stätten“ 2522 (Die Bücher der Magie, Band 5)
[„Abrechnungen“ 2607 (Die Bücher der Magie, Band 6)

Fitzek, Sebastian – Amokspiel

Mit seinem Debüt „Die Therapie“ ist Sebastian Fitzek im letzten Jahr ein rundum guter und erfolgreicher Thriller geglückt, der mittlerweile auch schon fürs Kino verfilmt wird. Nun liegt mit „Amokspiel“ sein zweiter Roman vor und man darf gespannt sein, ob Fitzek damit an den Erfolg des Vorgängerwerks anknüpfen kann.

Eigentlich wollte Kriminalpsychologin Ira Samin schon längst ihren geplanten Selbstmord hinter sich gebracht haben, als ihr SEK-Kollege Oliver Götz sie Hals über Kopf zu einem wichtigen Einsatz mitschleppt. Ein unberechenbarer Psychopath hat einen Radiosender besetzt und hält dort mehrere Menschen als Geiseln fest. Er treibt dort ein makaberes Spiel. Wahllos ruft er Leute an. Wenn sie sich mit der Parole „Ich höre 101Punk5 und jetzt lass die Geisel frei“ melden, darf eine Geisel gehen. Sagt der Angerufene etwas Falsche, so soll eine Geisel sterben.

Wie ernst es dem Geiselnehmer ist, stellt sich gleich in der ersten Spielrunde heraus. Das muss auch die Polizei einsehen, und so stehen Ira Samin und ihren Kollegen harte Stunden bevor. Iras Verhandlungen mit dem Geiselnehmer werden live übertragen. Der Geiselnehmer schwört weiterzuspielen, bis seine Verlobte Leonie zu ihm ins Studio gebracht wird, die Monate zuvor unter merkwürdigen Umständen bei einem Unfall gestorben sein soll. Doch ist sie wirklich tot, wie Jan May, der Geiselnehmer, behauptet? Oder ist der Mann einfach ein Wahnsinniger, dem der Realitätsbezug entglitten ist? Ira muss es herausfinden, doch die Verhandlungen sind ein Wettlauf mit der Zeit. In jeder Stunde will der Geiselnehmer „Cash Call“ spielen und jemanden anrufen. Jede Stunde steht damit aufs Neue das Leben der Geiseln auf dem Spiel …

Der Plot verspricht zunächst einmal jede Menge Spannung. Ein Wettlauf mit der Zeit, eine Geiselnahme, die in der Abgeschlossenheit eines Sendestudios stattfindet und damit wenig Ansatzpunkte für die Polizei zur Stürmung bietet. Obendrein ist der Geiselnehmer selbst Psychologe und kann somit die Tricks der Verhandlerin Ira Samin leicht durchschauen. Für die Polizei und das SEK ist die Situation absolut verfahren, und dadurch, dass der Geiselnehmer bei erster Gelegenheit schon beweist, wie ernst er es meint und dass auch sein einziger Verhandlungsspielraum, sein einziges Pfand (nämlich seine Geiseln) ihm nicht sonderlich viel wert ist, will die Polizei das Dilemma möglichst schnell lösen.

Was für Ira und ihre Kollegen die Sache ebenfalls erschwert, ist die Tatsache, dass Jan May keine wirklich konkreten Forderungen stellen kann. Er fordert den Kontakt zu einem Menschen, der nachweislich bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Keiner weiß so recht mit dieser Situation umzugehen, und während Ira versucht, wenigstens einen Aufschub für die nächste Spielrunde zu erzielen, arbeiten die Kollegen fieberhaft an einem Plan zur Stürmung des Studios.

Für Spannung ist allein durch den Plot somit schon zur Genüge gesorgt. Fitzek verschwendet keine Seite mit Ausschmückungen. Er beginnt acht Monate vor der Geiselnahme mit dem Moment, als Jan May von Leonies Autounfall erfährt, und setzt die Geschichte dann unmittelbar am Tag der Geiselnahme fort. Eine kurze Einführung in das Leben der beiden Protagonisten an diesem Tag, und schon beginnt die nervenaufreibende Geiselnahme, die für Spannung bis zur letzten Seite sorgt.

So gesehen ist „Amokspiel“ auf jeden Fall ein Roman mit „Pageturner“-Potenzial. Man mag das Buch einfach nicht mehr zur Seite legen, denn Fitzek versteht es gut, den Leser bei der Stange zu halten. Immer wieder setzt er in Sachen Spannung neue Akzente, streut Andeutungen ein, welche die Neugier anstacheln, und zieht den Leser in den Bann seiner Geschichte.

Einblicke in die Figuren erhält der Leser dabei vor allem während der Verhandlungen. Ira ist eigentlich als Psychologin arbeitsunfähig. Sie fühlt sich verantwortlich für den Selbstmord ihrer ältesten Tochter, ist Alkoholikerin und wollte sich noch wenige Momente vor ihrem Einsatz das Leben nehmen. Im Grunde ist sie ein psychisches Wrack, und dass sie die Verhandlungen mit Jan May dabei noch so gut meistert (auch trotz des einsetzenden Alkoholentzugs), lässt sie leider ein wenig überzeichnet wirken. Sie mag die beste Verhandlerin des SEK sein, aber dass sie in ihrer gegenwärtigen psychischen Verfassung noch so gute Arbeit leistet, lässt dann doch hie und da Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit aufkommen.

Nichtsdestotrotz machen auch gerade die Verhandlungen einen Reiz des Buches aus. Fitzek lässt insbesondere über die Verhandlungen den Leser einen näheren Blick auf Ira Samin und Jan May werfen. Dass beide gut geschulte Psychologen sind, macht die Verhandlungen nur umso interessanter.

Besonders die Figur des Jan May ist ein interessantes Objekt der Betrachtung. Fitzek lässt den psychopathischen Geiselnehmer im Laufe der Verhandlungen immer menschlicher erscheinen. May wird zu einem Menschen, für den man einerseits Mitleid für seine Situation und andererseits auch eine Portion Sympathie empfindet. Er steht im Grunde ahnungslos einer Situation gegenüber, von deren Ausmaßen er nicht den Hauch einer Idee hat. Mit seiner Forderung versetzt er einige Menschen in rege Betriebsamkeit und setzt eine Reihe von Entwicklungen in Gang, deren ganzes Ausmaß niemand einzuschätzen weiß.

Auch der Leser weiß lange Zeit nicht, worauf das Ganze hinauslaufen wird. Ist Leonie nun tot oder lebt sie doch noch? Sicher ist nur, dass an der Sache irgendetwas faul ist. Das ganze Ausmaß der Geschichte kann der Leser nicht so leicht erahnen. Es gibt irgendwo im Polizeiapparat einen Maulwurf, doch den hat Fitzek leider nicht sehr gut versteckt, und so gibt gerade diese Rolle in der Auflösung dann doch Anlass zur Kritik. Den Maulwurf zu entlarven, stellt für den Leser keine große Herausforderung dar, und so ist dementsprechend ein Teil der Auflösung recht unspektakulär.

Bleibt unterm Strich ein durchwachsener Eindruck. „Die Therapie“ war im Vergleich zu „Amokspiel“ wesentlich raffinierter konstruiert und konnte auch am Ende noch sehr schön überraschen. „Amokspiel“ ist zwar kein schlechter Thriller, denn immerhin mag man das Buch bei der Lektüre kaum aus der Hand legen, dennoch kann Sebastian Fitzek die hochgesteckten Erwartungen, die „Die Therapie“ geweckt hat, nicht so ganz erfüllen. Dafür ist der Maulwurf bei der Polizei zu offensichtlich platziert und dafür wirken auch manche Aspekte der Figurenskizzierung ein wenig zu überzeichnet. Dennoch ist „Amokspiel“ ein ausgesprochen spannungsgeladener Lesegenuss, der aber eben aus der Masse an Thrillern auch nicht sonderlich deutlich hervorsticht.

http://www.knaur.de

Goga, Susanne – Tod in Blau

2005 erschien Susanne Gogas Debütroman [„Leo Berlin“. 1597 Mit „Tod in Blau“ löst der Berliner Kommissar Leo Wechsler nun seinen zweiten Fall. Wie schon der erste Band, spielt auch „Tod in Blau“ im Jahr 1922 und ist damit in bewegten Zeiten angesiedelt. Deutschland ächzt unter den Reparationszahlungen, die Inflation schreitet voran. Das politische Klima der Weimarer Republik ist aufgeheizt. Die rechtskonservative Oberschicht sehnt die alte Kaiserzeit herbei, während die Arbeiterklasse in tristen Hinterhöfe vor sich hinvegetiert.

Mit „Leo Berlin“ hat Susanne Goga diese Zeit wunderbar heraufbeschworen, und nun soll „Tod in Blau“ direkt daran anknüpfen. Es sind provozierende Bilder, die der Maler Arnold Wegner malt. Ungeschönt stellt er die sozialen Spannungen der frühen 20er Jahre dar. Er malt bettelnde Kriegsveteranen, Prostituierte in dunklen Hinterhöfen und fängt die widersprüchlichen Kontraste seiner Zeit in seinen Bildern ein: Armut und Luxus, Vergnügungssucht und Kriegsschrecken. Die einen bewundern Wegner für seine Bilder und mutigen Darstellungen, die anderen verabscheuen ihn.

Doch reicht das für einen Mord? Dieser Frage muss Leo Wechlser mit seinen Kollegen auf den Grund gehen, als der Maler tot in seinem Atelier aufgefunden wird. Spuren gibt es nur wenige. Eine führt zu Wegners vernachlässigter Ehefrau Nelly. Eine andere in die illustren Kreise der rechtsextremen Asgard-Gesellschaft, in der viele ehemalige Offiziere Mitglied sind. Gibt es gar eine Verbindung zu der Leiche, die kurz zuvor aus dem Landwehrkanal gefischt wurde und ebenfalls eine Verbindung zur Asgard-Gesellschaft erkennen lässt?

Leo und seine Kollegen versuchen die mageren Spuren zu deuten und den Täter zu finden. Da bringt ihn unerwartet ein Hinweis der avantgardistischen Tänzerin Thea Pabst voran, und dann scheint es da plötzlich auch einen Zeugen zu geben, der den Täter möglicherweise gesehen hat. Doch der entzieht sich dem Zugriff durch die Polizei …

Der Plot verspricht zunächst einmal Spannung. Wie schon in „Leo Berlin“ verwebt Susanne Goga ihre Krimihandlung mit den zeitgeschichtlichen Zusammenhängen und lässt damit das Berlin der 20er Jahre vor dem Auge des Betrachters auferstehen. Man muss ihr schon zugestehen, dass sie sich für ihre Krimis ein außerordentlich interessantes Jahrzehnt herausgepickt hat.

Die politisch unruhige Lage zwischen erstem und zweitem Weltkrieg, die gesellschaftlichen Kontraste zwischen adeliger Oberschicht und den ärmlichen Arbeiterschichten, die in düsteren Hinterhöfen unter menschenunwürdigen Bedingungen leben, die wirtschaftlich zunehmend heikler werdende Lage, die mit steigender Inflation für so manche Familie den Ruin bedeutet – die 20er Jahre sind eine Zeit, die wie geschaffen ist für Romane, die auch den zeitgeschichtlichen Kontext widerspiegeln wollen. Und genau das gelingt Susanne Goga mit ihren Romanen sehr gut.

Neben der interessanten Epoche sind es auch die Figuren, mit denen Goga punkten kann. Mit Leo Wechsler hat sie einen sympathischen Titelhelden geschaffen. Wechsler, Witwer mit zwei Kindern, der zusammen mit seiner Schwester in einer kleinen Berliner Wohnung lebt, wird sehr menschlich und einfühlsam skizziert. Er hadert mit seinem Privatleben, das in diesem Fall auch sein Berufsleben nicht unbeeinflusst lässt, und ist ein Mensch, mit dem man fühlen kann.

Die übrigen Figuren nehmen sich gegenüber Leo stets ein wenig zurück. Ihre Gedankenwelt und ihre Gefühle werden nicht so offen dargelegt. Das Spannungspotenzial, das sich bereits im ersten Band zwischen Wechsler und seinem Kollegen Herbert von Malchow entwickelt hat, findet im aktuellen Band seine Fortsetzung und würzt den Plot mit zwischenmenschlichen Scharmützeln im gesellschaftlichen Kontext.

Schaffte Goga es noch mit „Leo Berlin“, sowohl in Sachen Atmosphäre, Figurenskizzierung und Plot zu punkten, kommt Letztgenannter in diesem Band nicht so gut in Schwung wie in Gogas Debütroman. Der Verlauf des Krimiplots ist insgesamt etwas schwächer als im ersten Teil. Die Spannung ist nicht so sehr greifbar, wie sie es im Vorgängerband war, wo der Leser durch Perspektivenwechsel und die stetige Beobachtung des Täters zwar mehr wusste als Leo Wechsler, aber eben auch mehr mitgefiebert hat.

Diesmal verläuft der Spannungsbogen nicht ganz so steil. Zum Einstieg wird die Untersuchung des Mordes an dem Mann begleitet, der aus dem Landwehrkanal gefischt wird. Leo und seine Kollegen stellen die Identität fest und untersuchen das Umfeld des Toten. Mit dem Mord an Arnold Wegner rückt dieser Fall völlig in den Hintergrund, bis die Frage nach einem Zusammenhang aufgeworfen wird. Interessanterweise wird dieser Frage aber später gar nicht weiter nachgegangen. Auch in der Auflösung wird der erste Todesfall mit keinem Wort mehr erwähnt, was den gesamten Erzählstrang in ein merkwürdiges Licht rückt. Die Geschichte wirkt dadurch unausgewogen und verzettelt.

Die Auflösung der Geschichte vollzieht sich am Ende dann recht schnell und nicht unbedingt zur vollen Zufriedenheit. Nachdem die erste Hälfte des Buches größtenteils eher beschaulich ausfällt und die Spannung sich nur langsam aufbaut, geht am Ende alles plötzlich ganz schnell, und so fällt dann auch die Erwähnung der Leiche aus dem Landwehrkanal völlig unter den Tisch.

Das ist insgesamt betrachtet sehr schade, denn mit „Leo Berlin“ hat Susanne Goga einen Roman abgeliefert, der sowohl spannend erzählt ist als auch voller Atmosphäre und Lokalkolorit steckt und sich auf interessante und sympathische Figuren stützt. Mit „Tod in Blau“ kann sie die durch ihr Debüt geweckten Erwartungen leider nicht ganz so gut erfüllen, und es fällt ihr sichtlich schwerer, daran anzuknüpfen. Mag die persönliche Betrachtung ihrer Hauptfigur Leo Wechsler auch noch so gelungen sein, der Krimiplot schwächelt demgegenüber leider.

Bleiben unterm Strich also gemischte Gefühle zurück. Zum einen ist „Tod in Blau“ zwar wie auch schon „Leo Berlin“ ein Buch mit interessanten Figuren und einer Atmosphäre, die das Berlin der 20er Jahre sehr schön heraufbeschwört, andererseits kann aber leider der Krimiplot nicht gänzlich überzeugen. Die Spannung baut sich nur gemächlich auf und ein eingangs eigentlich durchaus wichtig erscheinender Nebenhandlungsstrang fällt am Ende komplett unter den Tisch. So wirkt der Roman leider nicht völlig stimmig und kann die Erwartungen, die Susanne Goga mit „Leo Berlin“ geweckt hat, nicht so ganz erfüllen.

http://www.dtv.de

Richler, Mordecai – Lehrjahre des Duddy Kravitz, Die

Mordecai Richler gilt einer der meistgelesenen Autoren Kanadas. „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ stammt aus dem Jahr 1959 und zählt zu den bekanntesten Werken des 2001 im Alter von 70 Jahren verstorbenen Autors. Es erscheint nun erstmals in deutscher Übersetzung.

Duddy Kravitz wächst im jüdischen Viertel von Montreal in einfachen Verhältnissen auf. Duddy ist gewitzt, verschlagen und stets zu Streichen aufgelegt und verschafft sich so den Respekt der Jungs aus dem Viertel. Nachdem er die Mittelschule beendet hat, strebt Duddy sein großes Ziel an: ein Stück Land erwerben. Sein Großvater Simcha hat ihm einst erzählt, dass ein Mann ohne eigenes Land ein Niemand ist und als Niemand will Duddy nicht enden.

Duddy hat sich schon ein schönes Stück Land ausgesucht, das er gerne hätte. Versteckt an einem romantischen See gelegen und wie geschaffen dafür, touristisch erschlossen zu werden. Und so tut Duddy alles, um das Geld zusammenzukratzen, das er für den Erwerb „seines“ Landes braucht. Duddy verkauft Toilettenartikel, verdingt sich als Kellner, fährt Taxi und versucht sich als Schmuggler und Filmproduzent. Hauptsache es kommt genug Geld rein.

Doch mit der Zeit verstrickt Duddy sich in immer turbulentere Unternehmungen und vergrault sich damit auch schon mal diejenigen, die ihm eigentlich wohlgesonnen sind und die er eigentlich als Freunde betrachtet hatte …

„Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ ist ein schöner „Comming-of-Age“-Roman, gewitzt und flott erzählt. Richler erzählt pointiert und mit bissigem Humor von den Abenteuern eines jungen Mannes, der seine großen Träume verwirklichen will und alles dafür tut. Es ist schon faszinierend zu beobachten, wie Duddy Kravitz seinen Weg geht. Er hat sich ein Ziel gesetzt, dessen Verwirklichung er verbissen voranbringt. Dabei riskiert er eine Menge und der Leser wartet förmlich darauf, dass Duddy sich irgendwann verspekuliert.

Doch Duddy ist gleichermaßen gerissen wie charmant, und so schafft er es immer wieder, potenzielle Geldgeber und Geschäftspartner erfolgreich zu umgarnen. Duddy scheint der geborene Geschäftmann zu sein, der es stets schafft, mehrere heiße Eisen gleichzeitig im Feuer zu haben. Zu beobachten, wie Duddy mit so vielen Bällen gleichzeitig jongliert, birgt schon eine gewisse Spannung, zumal man stets erwartet, dass er auf die Nase fällt.

Mordecai Richlers Werk blieb immer sehr umstritten, und warum, das lässt sich sehr gut nachvollziehen. Mit Duddy Kravitz skizziert Richler das Bild des geschäftstüchtigen Juden, der überall Geld wittert. Wegen seiner Darstellung jüdischer Lebensweise und jüdischer Traditionen musste Richler sich oft den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen. Richler, selbst Jude, antwortete auf solche Vorwürfe meistens mit dem Hinweis: |“Sie schämen sich für Dinge, die ich verherrliche.“|

Und so spielt das Judentum auch in „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ eine durchaus gewichtige Rolle und zeigt dabei, wie Richler das Judentum thematisiert. Er packt den Stoff nicht mit der Vorsicht an, die für die heutige Zeit typisch ist, sondern skizziert unverfälscht Positives wie Negatives und sucht dabei stets nach der satirischen Komponente. Richlers Humor ist schon eher von der respektlosen Sorte, doch der Vorwurf des Antisemitismus zeigt mal wieder, dass dabei wohl eher die moralische Keule mitschwingt, die immer gleich gezückt wird, sobald jemand die Themen Judentum und Israel mal nicht mit Samthandschuhen anfasst.

Duddy Kravitz ist sicherlich genauso wenig der Vorzeigejude wie Mordecai Richler, aber gerade das macht ihn zu einer durchaus interessanten Figur. Er ermöglicht einen differenzierteren Blick auf das Judentum. Duddy hadert mit den Vorurteilen und tut gleichzeitig eine Menge für deren Bestätigung.

„Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ entwickelt sich mit zunehmender Seitenzahl zu einer fesselnden Lektüre. Man fiebert mit Duddy und versinkt dabei förmlich in der Geschichte. Obwohl Duddy kein uneingeschränkt sympathischer Mensch ist, obwohl er seine besten und loyalsten Freunde nicht so behandelt, wie sie es verdient hätten, schließt man ihn auf eine gewisse Art doch ins Herz.

Und am Ende ist „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ eben auch ein schöner Roman über die Verwirklichung der Träume. Duddy richtet sein ganzes Sein auf dieses Ziel aus. Doch was aus Träumen wird, wenn man sie dann verwirklicht, steht immer noch auf einem ganz anderen Blatt, und diese Erfahrung muss auch Duddy machen.

So ist „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ unterm Strich ein ausgesprochenes Lesevergnügen. Ein gewitzter und flotter „Coming-of-Age“-Roman mit sympathischen und vor allem auch skurrilen Figuren. Richler erzählt seine Geschichte gleichermaßen erheiternd wie fesselnd. Er garniert das Ganze mit satirischem Witz und ironischen Blicken auf das Judentum und das Leben im französischsprachigen Teil Kanadas. „Die Lehrjahre des Duddy Kravitz“ ist in jedem Falle eine Empfehlung wert.

Verlagsbuchhandlung Liebeskind:
[www.liebeskind.de]http://www.liebeskind.de

Gowdy, Barbara – Hilflos

Kindesmissbrauch ist ein äußerst sensibles Thema. In ihrem Roman „Hilflos“ nähert die Kanadierin Barbara Gowdy sich diesem schwierigen Komplex an und hat dabei ein äußerst einfühlsames Werk geschaffen.

Rachel Fox ist neun Jahre alt und ein hübsches Mischlingskind, das Interesse erweckt. Braune Haut mit blonden Haaren und blauen Augen – das ist ein Erscheinungsbild, das so manchen Blick auf sich zieht. Rachel stammt aus einfachen Verhältnissen. Die Mutter ist alleinerziehend, der Vater unbekannt. Die Mutter Celia verdient den Lebensunterhalt als Pianistin in einer Bar, aber das Geld reicht nur so gerade eben.

Rachel weiß, dass ihre Mutter sich ständig Sorgen macht, und so erwähnt Rachel auch nicht, dass sie seit einer Weile ein Mann beobachtet. Sie will nicht, dass ihre Mutter sich noch mehr sorgt. Der Mann, der Rachel beobachtet, ist Ron. Er ist hin und weg von Rachel und kann sich von ihrem Anblick kaum losreißen. Und so passiert eines Tages das, was unvermeidlich zu sein scheint und wovor die Mutter immer Angst hatte. Rachel wird entführt – von Ron.

Ron hat im Keller seines Hauses ein schickes Kinderzimmer eingerichtet, mit allem, was das Kinderherz begehrt: hübsche Möbel, viele Spielsachen, eine DVD-Sammlung. Und so versteht Ron auch gar nicht so recht, warum Rachel unbedingt wieder nach Hause will und sich weigert, sich bei ihm einzuleben. Zum Glück ist da aber noch Nancy, Rons Freundin. Ron selbst bringt es kaum fertig, in die Nähe von Rachel zu gehen, und so kümmert Nancy sich um das Kind und entwickelt dabei wahre Muttergefühle.

Während draußen die Fahndung auf Hochtouren läuft und Rachels Mutter vor Sorge und Verzweifelung fast umkommt, träumt Ron davon, mit Nancy und Rachel in Florida einen Neuanfang zu starten – als Familie. Rachel lässt er glauben, dass er sie vor bösen Männern gerettet hat, die hinter ihr her sind. Und so fasst Rachel doch irgendwann langsam Vertrauen, während Ron darum kämpft, seine Liebe zu Rachel unter Kontrolle zu halten. Doch wie lange wird ihm das gelingen?

„Hilflos“ ist das Porträt einer fehlgeleiteten Liebe. Ron ist voller Liebe für Rachel, und so will er selbst an seine edlen Motive glauben. Er will glauben, dass er Rachel retten musste, weil die nackte Wahrheit auch für ihn zu schmerzhaft ist. Er weiß, dass mit seiner Liebe zu Rachel etwas nicht in Ordnung ist, aber dagegen anzugehen, ist für ihn ein ständiger Kampf. Er ringt mit sich, um nicht so zu enden wie andere Männer, und er kämpft gegen einen Trieb an, den er nicht abstellen kann.

Dieses Bild des Kindesentführers Ron entwirft Gowdy und setzt dem Leser damit einen schwer verdaulichen Brocken vor. Ron ist ein schüchterner und zurückhaltender Mensch, stets höflich zu seinen Mitmenschen und wegen seiner Fähigkeiten als Mechaniker geschätzt. Dass er gleichzeitig ein Pädophiler ist, ist nicht das eigentlich Erschreckende, schließlich sind die Medien voll mit Menschen, die ein Doppelleben führen.

Das eigentlich Erschütternde ist, dass Ron ein Pädophiler mit Gewissen ist, denn das macht ihn menschlich. Er ist nicht das Kinder missbrauchende Monster, das die Medien so gerne darstellen, und so muss der Leser ganz anders mit ihm umgehen und ihn ganz anders begreifen. Man tut sich teils schwer damit, eindeutig Stellung zu beziehen. Rons Annäherung gegenüber Rachel ist so behutsam und vorsichtig; er wirkt dabei so schüchtern und eingeschüchtert zugleich, dass sich irgendwo tief im Leser auch ein gewisses Mitleid für diesen seltsamen Menschen mit seiner fehlgeleiteten Liebe regt.

Genau das ist eine der Stärken von Gowdys Roman. Sie zeichnet nicht schwarzweiß, sondern bewegt sich irgendwo in den schummrigen Grauzonen der Liebe, die man schwer begreifen kann. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse. Und dabei lotet sie ihre Figuren überaus einfühlsam aus. Auf der einen Seite die der Opfer in Form von Rachel und Celia, und auf der anderen Seite die der Täter in Form von Nancy und Ron.

So einfach, wie man es sich wünschen mag, lassen sich Täter und Opfer dabei nicht abgrenzen. Zum eindeutigen Täter lassen Nancy und Ron kriminelle Energie und skrupellose Entschlossenheit vermissen. Sie wirken stets unsicher, haben keinerlei böse Absichten und handeln teilweise in gutem Glauben und aus Liebe, und allein das erscheint schon fast unglaublich.

Und so tut man sich auch etwas schwer damit, die Taten der beiden eindeutig zu verurteilen. Natürlich ist es falsch, was sie machen, aber da man nicht umhinkommt, sie selbst aufgrund ihrer persönlichen Geschichte in gewisser Hinsicht als Opfer zu sehen und ihnen eine gewisse moralische Hemmschwelle zuzugestehen, fällt es schwer, sie mit aller Entschiedenheit zu verurteilen. Gowdy zwingt den Leser zu einem differenzierteren Urteil, in dem es nicht einfach nur Schuldige und Unschuldige gibt, und das ist eben auch eine der Herausforderungen des Buches.

Das Szenario, das sie entwirft, das Luxus-Kinder-Gefängnis im Keller von Rons Haus, ist geradezu furchteinflößend. Die Gegensätzlichkeit seiner großen Liebe zu Rachel und der Abgründigkeit seiner Tat ist absolut erschreckend. Man fürchtet und ahnt, worauf das Ganze hinauslaufen wird und auch hinauslaufen muss. Wie lange wird es Ron gelingen, seinen Trieb zu unterdrücken? Je mehr Rachel Zutrauen zu Ron fasst, desto gefährlicher entwickelt sich die Lage für sie, ohne dass sie es ahnt, und das sorgt dafür, dass „Hilflos“ sich zu einer wirklich nervenaufreibenden Lektüre entwickelt.

Gowdys Roman entfaltet ein enormes Spannungspotenzial und schöpft dieses auch voll aus. Dabei bleibt bis kurz vor Schluss offen, wie das Ganze überhaupt endet. Alles erscheint möglich, ein Happyend genauso wie die Katastrophe, und doch kann es eigentlich gar nicht anders enden als so, wie Gowdy es auflöst.

„Hilflos“ ist ein Buch, das voller Emotionen und Abgründe steckt und sich dabei zu wahrer Spannungslektüre entwickelt. Gowdy blickt tief in die Seelen ihrer Protagonisten und skizziert ein differenziertes Bild von ihnen. „Hilflos“ ist eine Lektüre, die es wirklich in sich hat, sie steckt voller Leben und Liebe und ist im gleichen Moment gespenstisch und düster.

Bleibt unterm Strich ein sehr positiver Eindruck zurück. „Hilflos“ ist eine intensive Leseerfahrung. Gowdy zieht das Thema Kindesmissbrauch einmal von einer ganz anderen Warte auf und entwirft so das Porträt einer krankhaften und fehlgeleiteten Liebe, das es in sich hat.

http://www.kunstmann.de/

Boyd, William – Ruhelos

William Boyd wird vielfach als einer der überragenden Erzähler der europäischen Gegenwartsliteratur betrachtet. Seine Werke wurden mehrfach prämiert, so auch sein aktuelles Werk „Ruhelos“. „Ruhelos“ steht in der Tradition des Spionageromans, geht aber dabei auch ganz klar über die Grenzen des Genres hinaus.

Die Handlung spielt sich auf zwei zeitversetzten Ebenen ab. Ausgangspunkt ist Oxford im Jahr 1976. Im Sommer dieses Jahres erfährt Ruth Gilmartin Details aus dem Leben ihrer Mutter Sally, die alles auf den Kopf stellen. Sally Gilmartin heißt in Wirklichkeit Eva Delektorskaja, ist eine russische Emigrantin und wurde 1939 von Lucas Romer für den britischen Geheimdienst angeworben. Eva soll die Arbeit fortführen, die ihr von den Nazis ermordeter Bruder Kolja angefangen hat.

Eva willigt ein, wird unter Lucas‘ Anleitung zu einer hochkarätigen Spionin ausgebildet und arbeitet fortan für die British Security Coordination. Ziel dieser kleinen Geheimdiensteinheit ist es, durch geschickte Nachrichtenmanipulation den Weg für den Kriegseintritt der Amerikaner zu ebnen. Eva macht ihre Sache gut und arbeitet stets zur vollen Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten, bis es bei einem Einsatz in New Mexico zu einem heiklen Zwischenfall kommt, der für Evas gesamtes weiteres Leben von Bedeutung ist …

Im Jahr 1976 fühlt Eva sich immer noch von den damaligen Ereignissen verfolgt und vertraut sich ihrer Tochter Ruth an, die daraufhin eigene Recherchen beginnt. Ehe Ruth sich versieht, steckt sie auch schon selbst mitten in der Geschichte drin und wird vom Sog der Ereignisse mitgerissen …

William Boyd greift in seinem Roman einen Aspekt der britischen Geheimdienstgeschichte auf, der in der Öffentlichkeit eher wenig bekannt ist: die Geschichte der British Security Coordination. Diese Einheit operierte von New York aus und versuchte dort direkten Einfluss auf die Medien zu nehmen. Man manipulierte die Nachrichten so, dass der in Europa tobende Krieg den Amerikanern als größere Bedrohung der eigenen Sicherheit erscheinen musste, als er es bis zum Angriff auf Pearl Harbour wirklich war. Die Briten wussten, dass die Amerikaner wohl nur dann in das Kriegsgeschehen eingreifen würden, wenn auch Amerika einer unmittelbaren Bedrohung ausgesetzt war, und genau diesen Eindruck versuchte die British Security Coordination mit ihrer Arbeit zu erwecken.

Auch Eva Delektorskaja arbeitet in „Ruhelos“ für diese Einheit, und ihre Geschichte sorgt für einige Spannung. Es ist eine typische Agentengeschichte, die stets dem Leitsatz „Traue niemandem“ folgt. Trauen und Misstrauen spielen eine zentrale Rolle. Eva vertraut wirklich niemandem, denn auch unter den Kollegen durchwühlt man sich gerne mal gegenseitig die Manteltaschen, während der andere gerade auf dem Klo sitzt. Und dennoch ist es gerade das Vertrauen, das Eva am Ende in Gefahr bringt. So gesehen ist der Handlungsverlauf zwar nicht wirklich überraschend, aber dennoch ist es aufregend zu beobachten wie die Agentin Eva mit der Situation umgeht.

Ein wenig erinnert „Ruhelos“ an die Romane, die Ken Follett rund um das Thema zweiter Weltkrieg und Spionage geschrieben hat. Die Spannung ist eine ganz ähnliche, wenngleich sie bei Follett noch wesentlich greifbarer ist. Auch Follett rückt die Protagonisten in den Mittelpunkt der Betrachtung und inszeniert ein spannendes Geflecht aus Spionagethriller und Liebesgeschichte. Boyd arrangiert seine Geschichte in einem ganz ähnlichen Spannungsfeld.

So gesehen ist das, was er mit „Ruhelos“ abliefert, nicht unbedingt neu, aber Boyd geht das Ganze mit einer sehr dichten Erzählweise und einer hohen Intensität an, und das macht dann eben doch den Reiz der Geschichte aus. Die zeitversetzte Erzählweise baut eine gewisse Spannung auf. Der Leser ist gespannt zu erfahren, wie Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft sind, welche Auswirkungen die eine Erzählebene auf die andere hat.

In der Gegenwart ist es vor allem das Leben von Ruth, das im Mittelpunkt steht. Boyd erzählt von Ruths Erlebnissen als Englischlehrerin, die Sprachunterricht für ausländische Berufstätige anbietet. Er erzählt von ihrem Privatleben, ihrem Sohn, der aus einem kurzen Verhältnis zu einem deutschen Professor hervorgegangen ist, von Ludger, dessen Bruder, der mit der RAF in Verbindung steht und sich bei Ruth eingenistet hat. Boyd baut einige Nebenstränge auf, die aber allesamt von eher marginaler Bedeutung für die eigentliche Handlung sind.

Teilweise kann man sicherlich den Kritikpunkt äußern, dass die Nebenhandlungen eher wie schmückendes Beiwerk erscheinen. Sie mögen zwar von Bedeutung für Ruth sein, aber für die Handlung spielen sie im Grunde eine so untergeordnete Rolle, dass man auf sie auch hätte verzichten können, zugunsten eines etwas gradlinigeren Plots – zumal sie tendenziell dann auch im Nichts verschwinden.

Dennoch stören diese Randerscheinungen der Handlung zumindest im Hörbuch nicht wesentlich. Martina Gedeck liest die Geschichte so gekonnt, dass die Handlung mit der Zeit zu einem faszinierenden Sog wird. Man verliert sich in der Geschichte, vergisst dabei die Zeit und stört sich daher auch kaum an Teilen der Handlung, die im Grunde keine Bedeutung haben. Ich könnte mir gut vorstellen, dass mich diese Dinge mehr gestört hätten, wenn ich den Roman selbst gelesen hätte und das reicht in meinen Augen auch schon aus, um leise Zweifel daran zu hegen, ob „Ruhelos“ wirklich das große literarische Meisterwerk ist, als das der Verlag es anpreist.

Doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass „Ruhelos“ eine sehr intensive und atmosphärisch dichte Geschichte erzählt, die den Leser in seinen Bann schlägt. Die Figur der Eva Delektorskaja ist faszinierend und ein spannendes Objekt der Beobachtung, ihre Geschichte eine wirklich fesselnde. Auch die Art und Weise, wie ihre Erlebnisse sich in die Gegenwart fortsetzen, ist absolut interessant.

So bleibt unterm Strich trotz kleinerer Schönheitsfehler ein positiver Eindruck zurück, der sicherlich gerade auch in der absolut gelungenen Hörbuchproduktion und der tollen Vortragsweise von Martina Gedeck begründet liegt. „Ruhelos“ ist spannend und dicht erzählt, eine intensive Geschichte, welche die Bandbreite der menschlichen Gefühle auslotet und sehr schön mit den Begriffen Vertrauen und Misstrauen umgeht. Und so ist „Ruhelos“ dann auch mehr als einfach nur ein Spionagethriller. Obendrein beleuchtet Boyd mit der Medienmanipulation der British Security Coordination ein interessantes und wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Alles in allem also durchaus empfehlenswerte Kost, die gerade auch als Hörbuch für ein paar kurzweilige Stunden sorgt.

http://www.hoca.de

Haddon, Mark – wunde Punkt, Der

Die Durchschnittsfamilie aus der Vorstadt war in der Vergangenheit schon so manche gute Story wert. Man denke nur an einen Film wie „American Beauty“, der wie kein anderer die piefige Vorstadtwelt porträtiert. Ähnlich kleinbürgerlich, aber eben dennoch gänzlich anders als die Welt von Lester Burnham sieht das Leben von George Hall aus: Zwei-Kinder-Standardfamilie, Vorstadthaus mit Garten – alles in bester Ordnung.

George Hall ist Rentner, aber diese einschneidende Veränderung birgt für ihn scheinbar keine Probleme. Seine Zeit verbringt er damit, an seinem Gartenhäuschen herumzuwerkeln oder dezenten Jazz zu hören. Das Familienleben läuft in geregelten Bahnen, die Kinder sind aus dem Haus, die Gattin Jean pflegt ein außereheliches Verhältnis, von dem er nichts weiß, und die Homosexualität des Sohnes Jamie wird dezent totgeschwiegen.

Doch alles ändert sich mit dem Tag, an dem George in der Umkleidekabine eines Kaufhauses einen seltsamen Fleck an seiner Hüfte entdeckt. Das muss Krebs sein, denkt er und macht sich gleich darauf Gedanken, wie er am unkompliziertesten von dieser Welt abtreten kann, ohne anderen größere Umstände zu bereiten. Mit der Konsequenz, dass er einen Blackout erleidet.

Doch schon zu Hause ereilt den Rentner der nächste Schock: Tochter Katie will zum zweiten Mal heiraten, und das, obwohl ihre Eltern mit ihrem Auserwählten alles andere als glücklich sind. George bekommt auf den Schreck prompt seinen nächsten Blackout. Während Jean sich in die Vorbereitung der Feierlichkeiten stürzt, beginnt George mehr und mehr an seinem Verstand zu zweifeln. Und auch das Krebsgeschwür an seiner Hüfte macht ihm Kummer, führt es ihm doch die eigene Vergänglichkeit vor Augen und zwingt ihn dazu, sich gedanklich auf den Tod einzustellen. Und warum nimmt sein Hausarzt das alles nicht wirklich ernst?

Sohnemann Jamie hat derweil ganz andere Sorgen. Da hat er nun endlich einen festen Freund, aber kann er den auch mit auf eine Vorstadthochzeit im spießbürgerlichen Peterborough mitnehmen? Der Geliebte nimmt im Angesicht des zögerlichen Verhaltens seines Freundes prompt Reißaus, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, da nun auch noch die Hochzeit zu platzen droht. Mitten in dem ganzen Trubel steht George allein und machtlos seinem vermeintlichen Krebsgeschwür gegenüber. Aber er resigniert nicht, und so entscheidet er sich für eine Radikalmaßnahme …

Ein wenig erinnern die chaotischen Halls von Mark Haddon an die nicht minder merkwürdigen Lamberts aus Jonathan Franzens [„Korrekturen“. 1233 Beide Familien sind sonderbar und alltäglich zugleich, und beiden Autoren ist gemein, dass sie mit ihren jeweiligen Romanen außerordentlich unterhaltsame Familienporträts entworfen haben.

Jede Figur hat ihre Macken, und doch wirkt jede auf ihre Art ziemlich normal. George, der Rentner, der kein Mann großer Worte ist, der eigentlich ein so bescheidenes Leben führt und nun auf so eigentümliche Art und Weise aus seinen bisherigen Bahnen ausbricht, ist sicherlich die schillerndste Figur der Geschichte. Seine Charakterisierung nimmt schon gewisse verrückte Züge an, bleibt nichtsdestotrotz aber stets sehr liebenswürdig.

Der Rest der Familie hat auch seine Macken, wirkt dabei aber etwas bodenständiger. Sie alle werden von Problemen im Liebesleben geplagt, und in allen Fällen entblättert Haddon wunderbar nachvollziehbar Motive und Gedanken der Protagonisten. Er wechselt immer wieder die Perspektive, spult die Handlung immer wieder aus neuen Blickwinkeln ab und schafft es auf diese Weise sogar, eine gewisse Spannung zu erzeugen.

Der Leser ahnt, dass alles auf einen unvermeidlichen Höhepunkt zuläuft, eine Katastrophe, in der das Chaos seinen Zenit erreicht. Das ganze Buch, der ganze Spannungsverlauf zielt auf diesen einen Moment ab, und so schafft Haddon es mit Leichtigkeit, den Leser bei der Stange zu halten. Man muss einfach wissen, wie es weitergeht, und so entwickelt sich „Der wunde Punkt“ zu ganz unerwarteter Spannungslektüre.

Haddon bedient sich so gesehen einer sehr geschickten Erzählweise. Was auf den ersten Blick wie ein ganz lockerer Unterhaltungsroman wirkt, zeigt bei genauerer Betrachtung ganz andere Qualitäten. Ein spannend aufgebauter Plot wird mit facettenreichen Figurenskizzierungen und unerwartet tiefen Einblicken in die Abgründe der verschiedenen Persönlichkeiten verquickt – und das glaubwürdig und in sich stimmig.

Eine weitere Qualität ist Haddons wunderbarer Erzählton. Ganz leichtfüßig erzählt er seine Geschichte, locker und unverkrampft. Er streut immer wieder Gags ein und bringt den Leser zum Schmunzeln, baut dabei aber im Laufe der Kapitel auch eine gewisse Dramatik auf. „Der wunde Punkt“ ist eine ausgeglichene und toll erzählt Tragikomödie, die voller Leben steckt und dabei das Kunststück vollbringt, gleichermaßen herrlich skurril, unspektakulär normal und voller ehrlicher Ansichten über das Leben zu sein.

Von Anfang bis Ende schafft Haddon ein stimmiges Romangefüge und eine dichte Atmosphäre. Leichtfüßiger Unterhaltungsroman und tiefgründiges Drama in einem: Haddon gelingt damit ein gewisser Balanceakt, der sich ganz nebenbei wunderbar unterhaltsam liest.

Bleibt unterm Strich ein durchweg positiver Eindruck zurück. Mark Haddon hat mit „Der wunde Punkt“ ein herrlich liebenswürdiges und skurriles Familienporträt abgeliefert, das von der ersten bis zur letzten Seite keine Sekunde Langeweile aufkommen lässt. Wer schon Spaß daran hatte, Jonathan Franzens Lamberts in den „Korrekturen“ zu beobachten, und wer britisch angehauchte Tragikomödien mag, für den dürfte „Der wunde Punkt“ absolut lohnenswerte Lektüre sein.

http://www.blessing-verlag.de

Stieg Larsson – Verdammnis (Millennium 2)

Mit „Verblendung“ erschien 2006 der erste Teil von Stieg Larssons „Millennium-Trilogie“. Hier durfte der Leser erstmals dem Journalisten Mikael Blomkvist und der raffinierten Hackerin Lisbeth Salander bei den Ermittlungen über die Schulter schauen. In Larssons aktuellem Roman „Verdammnis“ kann der Leser nun sehen, wie es mit Blomkvist und Salander weitergeht.

Nachdem Mikael Blomkvist in „Verblendung“ mit der Aufdeckung eines Skandals reichlich Schlagzeilen gemacht und für sein Magazin „Millennium“ einen wahren Knüller gelandet hat, besteht nun Aussicht auf die nächsten heißen Schlagzeilen. Der junge Journalist Dag Svensson bietet „Millennium“ eine absolut wasserdichte Knüllerstory zum Thema Mädchenhandel an. Junge russische Frauen werden zur Prostitution gezwungen und „dürfen“ in Schweden gegen ihren Willen für „Zerstreuung“ bei hohen Amts- und Würdenträgern sorgen.

Svensson kennt die Namen der Täter und kann alles belegen. Blomkvist und seine Kollegen bei „Millennium“ bereiten die Veröffentlichung dieses Skandals vor. Eher zufällig bekommt auch Lisbeth Salander Wind von der Geschichte und schaltet sich in die Recherchen ein, denn pikanterweise scheint es eine Verbindung zwischen Lisbeths Betreuer Nils Bjurman und dem Mädchenhandel zu geben.

Wenig später werden Dag Svensson und seine Freundin und auch Nils Bjurman ermordet aufgefunden; auf der Tatwaffe sind ausgerechnet Lisbeths Fingerabdrücke zu finden. Sie gerät ins Fadenkreuz der Ermittler und taucht unter, während Mikael Blomkvist die wahren Hintergründe der Morde aufzudecken versucht. Dabei stößt er auf einige haarsträubende Details aus Lisbeths Vergangenheit …

Nachdem Stieg Larsson mit „Verblendung“ einen außerordentlich vielversprechenden Auftakt zu seiner „Millennium-Trilogie“ hingelegt hat, ist die Lektüre des Nachfolgebandes „Verdammnis“ logischerweise mit entsprechend hohen Erwartungen verknüpft. In Schweden schlug die Veröffentlichung der Trilogie hohe Wellen. Die Verfilmung ist in Arbeit (angedacht sind drei TV-Zweiteiler und ein Kinofilm) und die schwedische Akademie für Krimi-Literatur zeichnete „Verdammnis“ mit dem Preis als besten Krimi des Jahres 2006 aus. Für den Autor kommen diese Ehrerbietungen leider zu spät, denn er starb 2004 an den Folgen eines Herzinfarkts.

Mit „Verdammnis“ führt Larsson konsequent fort, was er mit „Verblendung“ begonnen hat. Man taucht schnell wieder in die Handlung ein und hat die Protagonisten Blomkvist und Salander sofort wieder bildlich vor Augen. Wie schon bei „Verblendung“ geht Larsson auch diesmal den Spannungsbogen wieder ganz gemächlich an. Er widmet sich einem ausgiebigen Portrait seiner Figuren, wobei Lisbeth Salander im Mittelpunkt des Interesses steht. Und die ist alles andere als langweilig, so dass die ausführliche Figurenbetrachtung absolut nicht stört.

Lisbeth ist eine wunderbar ambivalente Figur mit einer geheimnisvollen Vergangenheit. Sie ist scharfsinnig und gewitzt, moralisch, aber nicht gesetzestreu, und schlägt aus dem Umstand, dass sie aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung immer wieder unterschätzt wird, Kapital. Im Grunde reicht schon allein die Betrachtung von Lisbeth dazu, einen Roman zu füllen. Sie ist die Figur, in der sich die Spannung bündelt, die den Plot zusammenhält und um die sich alles dreht. Ihre Person hat schon im ersten Band gewisse Fragen aufgeworfen, denen Larsson sich nun ausgiebiger widmet.

Der Blick in Lisbeths Vergangenheit ist dabei gleichermaßen spannend wie düster. Stück für Stück kommt eine unheimliche Wahrheit ans Tageslicht, deren ganzes Ausmaß durchaus erschreckend ist. Der um Realismus besorgte Leser wird hier aber auch so manchen Kritikpunkt finden. Manches mag ein wenig zu konstruiert klingen, und auch die Figur der Lisbeth Salander, die manchmal wie eine moderne Ausgabe einer technikbegabten und aggressiven Pippi Langstrumpf wirkt, erscheint teils ein wenig zu überzeichnet. Dennoch geht von der Figur eine nicht zu leugnende Faszination aus, die den Leser zu fesseln vermag.

Und so versetzt auch der teils etwas konstruiert wirkende Plot der Euphorie nicht mehr als einen kleinen Dämpfer. Am Ende schießt Larsson zwar ein wenig über das Ziel hinaus, lässt Salander zu sehr wie einen mutierten Superhelden erscheinen, der Übermenschliches zu leisten vermag, und reizt damit ihre Möglichkeiten bis an die Grenze aus, dennoch ist „Verdammnis“ absolut spannende Kost mit „Pageturner“-Potenzial.

Der gemächliche Start täuscht ein wenig darüber hinweg, aber wenn der Krimi-Plot erst einmal richtig losgeht, zieht Larsson kontinuierlich die Spannungsschraube an. Wechselnde Perspektiven tragen das Ihre zur Spannung bei, und so entwickelt „Verdammnis“ sich zu einem Roman, den man kaum aus der Hand legen mag und bei dem man zu keinem Zeitpunkt das Gefühl hat, Larsson hätte auch nur eine Seite zu viel geschrieben. Er hält den Spannungsbogen bis zum letzten Augenblick straff gespannt.

Das Ende der Geschichte kommt dann etwas abrupt und der Leser wird ohne Vorwarnung und ohne dass eigentlich die Handlung richtig abgeschlossen wird, aus der Geschichte gerissen. Das lässt ihn etwas unbefriedigt zurück, sorgt aber gleichzeitig auch schon für Vorfreude auf den dritten Band der Trilogie.

Für Quereinsteiger ist die „Millennium-Trilogie“ übrigens gänzlich ungeeignet. Die Handlung baut aufeinander auf und in „Verdammnis“ werden viele Details ausgeplaudert, die man vor der Lektüre von „Verblendung“ definitiv nicht wissen sollte.

Bleibt unterm Strich trotz kleinerer Mängel und einem etwas überzogenen Finale immer noch ein sehr guter Eindruck zurück. Stieg Larsson hat auch mit dem zweiten Band der „Millennium-Trilogie“ die Erwartungen voll erfüllt und einen zweiten, durchgängig spannenden Roman abgeliefert. Lisbeth Salander ist eine absolut beeindruckende Figur, wenngleich sich zum Ende von „Verdammnis“ ein wenig das Gefühl breit macht, Larsson hätte ihre Figurenzeichnung nun etwas überspannt.

Dennoch ein Thriller, der von Anfang bis Ende die Spannung auf einem so hohen Niveau hält, dass man das Buch kaum zur Seite legen mag. Und so siegt am Ende eben doch die freudige Erwartung des dritten Teils der Trilogie über das Stirnrunzeln wegen dier vereinzelten Kritikpunkte an „Verdammnis“.

 

Willingham, Bill / Buckingham, Mark – Fables 2 – Farm der Tiere

Nachdem Bill Willingham mit [„Legenden im Exil“, 3175 dem ersten Teil seiner Graphic-Novel-Serie „Fables“ ein lesenswerter Auftakt geglückt ist, hat |Vertigo/Panini| nun den zweiten Teil am Start. In „Fables“ erzählt Willingham die Geschichte der aus ihrer Heimat vertriebenen Märchenfiguren. Sie flüchteten in die Welt der Menschen und leben unerkannt in New York in einer Gemeinschaft namens „Fabeltown“, der feste Regeln und Statuten zugrunde liegen. Das Leben im Exil begann für die Fables mit einer Generalamnestie. So kommt es, dass König Blaubart (bekanntermaßen in der Märchenwelt ein überführter Frauenmörder) oder auch der Böse Wolf akzeptierte Mitglieder der Fablegesellschaft sind.

Im zweiten Teil der Reihe, „Farm der Tiere“, geht es um das andere Gesicht der Fable-Gemeinde. Haben viele Märchenfiguren das Glück, dank ihrer menschlichen Gestalt unerkannt unter den Normalos wandeln zu können, so trifft es die nichtmenschlich erscheinenden Fables wesentlich härter. Sie leben auf einer abgeschotteten Farm mitten im Nirgendwo, wohin sich nie eine Menschenseele verirrt.

Nach den Ereignissen in „Legenden im Exil“ macht sich Bürgermeisterin Snow White auf, der Farm einen Besuch abzustatten, wie sie es alljährlich tut. Ihre Schwester Rose Red soll sie begleiten, damit die beiden in der Abgeschiedenheit des Farmlebens in Ruhe Zeit und Muße haben, sich auszusprechen und wieder zueinander zu finden – zumindest hofft Snow White darauf.

Doch schon bei ihrer Ankunft merken die beiden, dass auf der Farm irgendwas nicht stimmt. Weyland Smith, der Verwalter der Farm, ist spurlos verschwunden, und Snow White und Rose Red überraschen die Farmbewohner bei einer sonderbaren Versammlung. Als dann plötzlich auch noch die Telefonleitung tot ist, dämmert Snow White, was hier gespielt wird. Die Fables sind in Aufruhr. Revoluzzer versuchen, die Macht an sich zu reißen und einen Umsturz anzuzetteln. Snow White befindet sich in größter Gefahr. Hilflos steht sie einer Übermacht revolutionärer Fables gegenüber und kann nicht einmal Hilfe aus der Stadt herbeibeordern …

Wieder einmal bedient Willingham sich einer Vielzahl an Märchenfiguren. Teilweise kennt der Leser sie bereits aus Band 1, teilweise schickt er aber auch neue, unbekannte Gesichter ins Rennen. Goldilocks ist diesmal mit von der Partie, die bei den Bären wohnt und einer Kindergeschichte von Robert Southey entsprungen ist. Weyland Smith, ein nordisch-germanischer Schmiedegott, bekommt eine Rolle, ebenso diverse Figuren aus dem „Dschungelbuch“, und auch der Löwe aus den „Chroniken von Narnia“ taucht in einer Nebenrolle auf.

Die Art und Weise, wie Willingham die Originale dabei für seine Zwecke ummünzt, hat wieder mal einen tollen Charme. Gewitzt spielt er mit den Klischees, die den Figuren anhaften, und kreiert dabei durchaus ambivalente Charaktere. Während sich die Fables in Band 1 mit den Tücken des menschlichen Alltags herumgeschlagen haben, tritt diese Komponente auf der Farm mitten im Nirgendwo in den Hintergrund. Thema sind eher die Spannungen und die unterschiedlichen Interessen innerhalb der Gemeinschaft der Fables.

Die Zeichnungen von Mark Buckingham sind schnörkellos und klar, wie man es von Band 1 gewohnt ist, und wirken eher unspektakulär. Dennoch staunt man über die Lebendigkeit der Figuren. Rein künstlerisch gibt es zwar eine gewisse Kluft zwischen der anspruchsvollen, aufwändigen Covergestaltung und dem schnörkellosen Inhalt, dennoch genügt die Art der Zeichnungen der Geschichte in jedem Fall. Allein die Handlung trägt den Leser schon flott und locker durch den Plot. Sticheleien unter den Fables unterstreichen die humorvolle Note der Geschichte. Aufwändiger zeichnerischer Schnick-Schnack ist da gar nicht nötig.

Wie schon in Band 1, erzählt Willingham auch im zweiten Teil wieder mal eine Geschichte, die viel Spannung birgt. Er spart nicht mit Thrillerelementen, um den Plot zu würzen, und so entwickelt die Geschichte gewisse Page-Turner-Qualitäten. Snow White steht fernab der Zivilisation einem Haufen Revoluzzer gegenüber – das sieht nach einer wirklich ausweglosen Situation aus. Die Auflösung des Ganzen mag da ein wenig zu einfach aussehen, dennoch baut Willingham eine schöne Wendung in die Story ein, die gewitzt mit der Erwartungshaltung des Lesers spielt und den besonderen Humor der Fables-Reihe unterstreicht.

Die Ausgangslage, die dieser Band für den weiteren Verlauf der Geschichte entwirft, ist durchaus vielversprechend. Es deutet sich an, dass in „Fables“ noch einiges Potenzial steckt, das spannenden Stoff für die Zukunft verspricht. Man darf also gespannt sein und tut gut daran, die Serie im Auge zu behalten.

Bleibt am Ende also von „Fables: Farm der Tiere“ ein positiver Gesamteindruck zurück. Gewitzt und spannend erzählt Willingham seine Geschichte, die in ihren Bildern gradlinig und schnörkellos daherkommt, aber ihre Wirkung nicht verfehlt. Band 2 der „Fables“-Serie knüpft durchaus an die Vorzüge des Vorgängerbandes an und schafft gleichzeitig eine interessante Ausgangslage für die Zukunft.

http://www.paninicomics.de

Peace, David – 1980

Nach [„1974“ 1483 und „1977“ liegt mit „1980“ mittlerweile der dritte Teil des „Red Riding Quartett“ von David Peace vor. Mit dieser Reihe hat der in Tokio lebende Engländer für einigen Wirbel auf dem Krimimarkt gesorgt. Ian Rankin bezeichnete Peace einmal als |“die Zukunft des Kriminalromans“| und die Vielzahl der Preise, die der Autor für sein Werk bisher bekommen hat, scheint dessen Wichtigkeit zu bestätigen. Für „1974“ bekam Peace den |Deutschen Krimi-Preis 2006|.

„1980“ setzt kontinuierlich fort, was die beiden Vorgängerromane angefangen haben: Die Geschichte des Yorkshire Rippers, der in den Siebzigern und Anfang der Achtziger mindestens dreizehn Frauen ermordet und neun verletzt hat. Mittlerweile schreiben wir also das Jahr 1980. Die Polizei tappt noch immer im Dunkeln, die Öffentlichkeit lebt noch immer in Angst und Schrecken. Der Unmut in der Bevölkerung wächst und die Polizei muss dringend ihre Bemühungen intensivieren. Aus diesem Grund soll Peter Hunter auf Anordnung von ganz oben in die Ermittlungen einsteigen.

Hunter soll nicht nur die Suche nach dem Ripper zu einem Erfolg führen, er soll auch zum Hausputz bei der Yorkshire Police blasen und korrupte Kollegen ans Messer liefern. Das macht den Polizisten aus Manchester bei den Kollegen in Leeds logischerweise nicht gerade beliebter. Je tiefer Hunter gräbt, desto eisiger wird auch die Stimmung auf dem Revier für ihn. Und der Yorkshire Ripper bleibt inzwischen auch nicht untätig …

Dass David Peace keine Kriminalromane von der Stange schreibt, hat er mit seinen beiden Vorgängerwerken „1974“ und [„1977“ 2287 hinlänglich bewiesen. Er hat seinen ganz eigenen Stil, der sehr intensiv, aber auch gleichermaßen gewöhnungsbedürftig ist. Im Stakkatotakt haut er dem Leser die Sätze um die Ohren. Er pflegt einen außerordentlich knappen Satzbau, kommt teilweise gar mit nur einem Wort aus. Immer wieder streut er Zeilen aus Songs im Radio ein oder auch Schlagzeilen, und immer wieder werden wichtige, markante Sätze wiederholt. So beschwört Peace eine Atmosphäre herauf, die auch den Geist der Zeit aufleben lässt.

Auch wenn im Angesicht von Peaces Stakkatorhythmus seine sprachlichen Mittel und die teils etwas ermüdenden Wiederholungen sehr schlicht und nüchtern wirken, so ist die Atmosphäre dennoch dicht und komplex. Peace verlangt dem Leser in vielerlei Hinsicht einiges ab. Schnelle Schnitte, viele Namen – da kann man bei der Lektüre schon mal ins Straucheln kommen. Das Figurengefüge ist dicht und verschachtelt und gerade auch durch Peaces harten, schnellen Schreibstil muss man hochkonzentriert lesen, um folgen zu können.

Das Positive dieses Stils ist die hohe Emotionalität, die stets zu spüren ist. Peace lässt in Interviews immer wieder anklingen, dass er sich mit dem Red Riding Quartett ein persönliches Trauma von der Seele schreibt. Der Yorkshire Ripper trieb zu der Zeit sein Unwesen, als Peace in Yorkshire seine Kindheitstage verbrachte. Peace schreibt mit einer ständigen Wut im Bauch, als würde er permanent unter Strom stehen. Auch das macht „1980“ zu einem intensiven Leseerlebnis.

Wie schon „1977“, ist auch „1980“ nichts für Quereinsteiger. Die Romane bauen aufeinander auf, wechseln dabei aber die Perspektive und lassen auch die Geschehnisse des Vorgängerbandes in neuem Licht erscheinen. Manches, was nach dem Ende des zweiten Bandes noch in der Schwebe hing, wird aufgeklärt, so dass sich der Gesamteindruck der Reihe zunehmend vervollständigt. Und auch am Ende dieses Bandes hängt man wieder in der Luft, wird mitten aus der Handlung herausgerissen, so dass manches ungeklärt bleibt, das vielleicht im vierten Band zu Ende geführt wird.

Was sich seit dem ersten Band ebenfalls kontinuierlich fortsetzt, ist die düstere Atmosphäre. Hart, brutal und ungeschönt wird die Geschichte erzählt und auch bei den Gewaltdarstellungen hat Peace keine Gnade mit dem Leser. Er will nicht, dass die Gewaltszenen dem Leser Vergnügen bereiten, und daran lässt er zu keiner Sekunde Zweifel aufkommen. „1980“ ist genauso harter Tobak wie schon die Vorgängerbände.

Obendrein erweckt die Atmosphäre zunehmend den Eindruck von Perspektivlosigkeit. |“Mord und Lügen. Lügen und Mord.“| Dieser Satz geht Protagonist Peter Hunter während seiner Ermittlungen immer wieder durch den Kopf und er steht symptomatisch für das gesamte bisherige „Red Riding Quartett“. Ein Netz aus Intrigen, Halbwahrheiten und versteckten Interessen offenbart sich dem Leser. Eine klare Einteilung in Gut und Böse gibt es da nicht. Peace zeichnet nicht schwarz/weiß, sondern in Grauschattierungen. Jeder hat einen dunklen Fleck auf der Seele und wie im wahren Leben gibt es die uneingeschränkt Guten nicht. Peter Hunters Spitzname bei den Kollegen ist nicht umsonst „Das Heilige Arschloch“.

Angesichts dieser düsteren Atmosphäre, aus der es kein Entrinnen gibt, ist man am Ende auch ein bisschen froh, wenn das Buch zu Ende ist. Es ist eine intensive Leseerfahrung, die aber so roh und brutal geschildert wird und ein solches Gefühl der Ausweglosigkeit vermittelt, dass man schon ein wenig aufatmet, wenn dieser knallharte Stakkatotakt zu Ende ist. Nichtsdestotrotz bin ich gespannt, wie Peace im nächsten Band seine Geschichte zum Abschluss führen wird, auch wenn jegliche Hoffnung auf einen halbwegs glücklichen Ausgang wohl vergebens sein wird.

Bleibt unterm Strich ein Eindruck gemäß der Erwartungen zurück. Man weiß inzwischen, was man von David Peace erwarten darf und er führt mit „1980“ kontinuierlich fort, was er mit „1974“ und „1977“ angefangen hat. War gerade „1977“ auch eine etwas undurchdringliche und teils verwirrende Geschichte, so ist „1980“ wieder etwas gradliniger und klarer erzählt. Man darf gespannt sein, wie der Schlussakt dieser ungewöhnlichen Krimireihe mit dem nächsten Band ausfallen wird.

[www.liebeskind.de]http://www.liebeskind.de