Archiv der Kategorie: Zeitgeschichte & Gesellschaft

Effenberg, Claudia – Eigentlich bin ich ja ganz nett

Dass Claudia Effenberg bereits ihre eigene Biografie schreibt, mag für all diejenigen, die sich zumindest ein wenig mit dem einstigen Model und der Frau des berühmten Fußballers beschäftigt haben, recht befremdlich anmuten – denn an sich betrachtet hat diese Dame in ihrer medialen Laufbahn noch nicht derart viel (respektvolle) Beachtung bekommen, als dass hierfür die Berechtigung, geschweige denn ein Markt bestehen könnte. Die einstige Gattin von Ex-Bayern-Star Thomas Strunz hat ihr erstes Buch allerdings auch aus einer ganz eigenen Motivation geschrieben. Der Antrieb bestand darin, Mut zu machen, den Kampfgeist zu wecken und aufzurütteln, dass man mit ganz normalen Mitteln, aber eben mit dem nötigen Ehrgeiz, mehr erreichen kann, als man sich vorab je zugetraut hätte. Doch ist „Eigentlich bin ich ja ganz nett“ daher gleich das Buch einer ambitionierten Feministin? Oder sind es letzten Endes doch nur wiedergekäute Erfahrungswerte einer Karrierefrau, die das Glück hatte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein?

Die 160 Seiten, die Claudia Effenberg damit verbringt, ihren Erfahrungsschatz auszubreiten und persönliche Episoden aus ihrem Leben zu erzählen, lassen eher auf Letztgenanntes schließen. Die Autorin berichtet in erster Linie aus einer Art Rechtfertigungshaltung, die ihr stellenweise zweifelhaftes Bild aus den Medien zurechtzurücken bemüht und in der Gesamtdarstellung sehr plakativ wirkt. Effenberg schildert ihre Rolle als Mutter und Kämpfernatur, beschreibt die Probleme ihrer Ehe, ihre dauerhafte Medienpräsenz und letzten Endes auch den Weg, der sie in diese Position gebracht hat. Eine Menge Pathos ist im Spiel, wenn Effenberg auf relativ lockere Weise ihr Verhältnis zum Elternhaus und ihrer Schwester analysiert und immer wieder darauf zurückkommt, wie viel Herzblut sie in ihre Laufbahn investiert hat. Das alles ist bis zu einem gewissen Punkt auch recht unterhaltsam, führt allerdings schnell dazu, dass man sich durch die ständigen Wiederholungen auch gewissermaßen genervt fühlt. Bereits nach dem ersten Streckenabschnitt durchschaut man schließlich, dass die Motivation hinter dem Buchprojekt nicht lautete, eine fundierte Biografie zu schreiben, sondern einfach nur ein Buch auf den Markt zu bringen, dessen Triebfeder der klangvolle Name sein sollte. Es ist letzten Endes bei Weitem zu wenig Content, der den Leser bei der Stange halten könnte, und – eigentlich am schlimmsten – fast gar nichts, was man aus dem Geschriebenen mitnehmen und für sich herausziehen könnte, da es schwerfällt, Claudia Effenberg als Identifikationsfigur und Vorbild anzunehmen und ihre oberflächlichen Weisheiten produktiv zu verinnerlichen.

Schlussendlich ist „Eigentlich bin ich ja ganz nett“ daher auch in erster Linie ein Titel für die Klatschpresse, ein Statement aus erster Hand, jedoch zu einigen Themengebieten, die im Revolverblatt besser aufgehoben sind als in jedem erdenklichen Buchtitel. Es ist sicher in Ordnung, dass Claudia Effenberg ihr enormes Mitteilungs- und Geltungsbedürfnis in einem solchen Werk zum Ausdruck bringt. Aber die alles entscheidende Frage bleibt trotzdem bestehen: Wer soll das lesen?

|Taschenbuch: 168 Seiten
ISBN-13: 978-3426783320|
[www.droemer-knaur.de]http://www.droemer-knaur.de/home

Kampusch, Natascha – 3096 Tage

_Trauriges Resultat einer unfairen Hetzjagd_

Die Bilder sind noch lebhaft in Erinnerung: Die ersten Kontakte in den Medien, die triviale, manchmal gar grotesk-ambivalente Berichterstattung und diese unsichere junge Frau, die um ihre Würde bemüht war, der man aber zunächst nicht mehr zugestand als die Opferrolle bzw. den Part des großen Kuchens, von dem plötzlich jeder ein Stück für sich beanspruchte. Als Natascha Kampusch an jenem 23. August 2006 nach mehr als 8 Jahren ihrer Gefangenschaft entfliehen konnte, war die junge Österreicherin auf vieles gefasst. Bereits zuvor hatte sie kurze Ausflüge an der Seite ihres Entführers Wolfgang Priklopil genehmigt bekommen, hatte ein kleines Bild dessen erhaschen dürfen, was sich für Frau Kampusch zusehends als Scheinrealität darstellte und ihre Tagträumereien an diese kurzen Ausschnitte anpassen müssen.

Dennoch hätte sie geglaubt, dass nicht nur das Medienecho, sondern generell das Interesse an ihrer Person andere Züge angenommen hätte als diejenigen, die das traurige Schauspiel schließlich genommen hat. Sogar die Unterstellung, Kampusch habe potenzielle Komplizen Priklopils gedeckt, kursierte über viele Monate durch den Blätterwald und auch durch die Fahndungsbücher der Gendarmerie. Und so hat man am Ende eigentlich genau dort angesetzt – diese freie Wertung sei an dieser Stelle erlaubt – wo der Entführer kurz nach Natascha Kampuschs zehntem Geburtstag begonnen hatte: Aus dem jungen Mädchen wurde ein Opfer, und das direkt nach ihrer Zeit als Opfer eines der schlimmsten Verbrechen der letzten Jahrzehnte.

_Kämpferisch – mehr als 3096 Tage_

Dass sich die junge Dame ihren Stolz dennoch bewahrt hat, ja sogar noch die Kraft aufbringen konnte, sich gegen die Anschuldigungen zu wehren, während sie langsam aber sicher versuchte, im noch möglichen Rahmen Normalität in ihr Leben zu bringen, verdient Respekt. Größten Respekt. Doch Natascha Kampusch hat gleichzeitig auch einen therapeutischen Weg gefunden, der wohl noch viel beachtlicher ist als die bloße Tatsache ihrer Entführung bzw. der Selbstbefreiung: Sie hat ihre Erfahrungen zu Papier gebracht, ihr Grauen ein weiteres Mal durchlebt und sich letzten Endes gezwungen, all die schrecklichen Momente in Priklopils Verlies zu vertiefen, um sich einerseits mitzuteilen und nach Verständnis zu suchen (als wenn dies überhaupt nötig wäre …), andererseits aber auch soweit mit dieser Geschichte abzuschließen, wie das nach der psychischen und physischen Belastung jener 3096 Tage im Wiener Nebenbezirk Strassfeld überhaupt möglich ist.

Die Biografie ihres ganz persönlichen Schicksals soll nun endgültig dazu beitragen, Natascha Kampusch als den Menschen zu betrachten, der mit Sensationslust ebenso wenig gemein hat wie mit all den übrigen Verschmähungen, die man ihr infolge ihrer TV-Auftritte und Interviews nachgerufen hat. Und vor allem soll das Buch noch einmal ganz klar vergegenwärtigen, dass es sich hierbei um ein kleines Mädchen handelt, dessen Jugend nicht nur beraubt und verblendet wurde, sondern welches trotz der schier ausweglosen Situation ein für ihr Alter unglaubliches Durchhaltevermögen gezeigt hat und von der Gewalt und dem Psychoterror ihres Entführers nie ganz gebrochen wurde.

_Erschütternde Fakten – nicht mehr, nicht weniger_

Dementsprechend schwierig ist daher auch die Analyse des knapp 300 Seiten starken Werkes, welches sich vorrangig mit den prägnanten Erlebnissen in Priklopils Haus beschäftigen und einen Einblick in Geschehnisse liefern, bei dem man manchmal selbst nach der Kraft sucht, diese Fakten als gegeben zu betrachten – zumal Kampusch all dies oftmals mit einer paralysierenden Nüchternheit dokumentiert, die fast schon erschreckender ist als die Taten selber. Zu sehr ins Detail zu gehen, würde die Grenzen sprengen. Festzuhalten bleibt allerdings, dass vor allem die Gewaltauswüchse und die ständigen Drohungen Frau Kampusch derart eingeschüchtert haben, dass sie selbst in den sehr seltenen Momenten von Fremdkontakten nie daran gedacht hat, einen ersten Schritt in die Freiheit zu wagen. Und dennoch konnte sie sich Priklopil immer wieder widersetzen, dies zwar oftmals mit dem Preis von Tritten und Faustschlägen, doch mit einer Würde, die in dieser Situation naiv wirkt, ihr aber schließlich die Kraft gegeben hat, durchzuhalten.

So erfährt man von verschenkten Weihnachtsfesten, dauerhaft präsenten Sehnsüchten, der minutiösen Abkapselung von der Außenwelt, einem schimmligen Kellerraum, einem krankhaft-zwanghaften Verbrecher und einer Täter-Opfer-Beziehung, die einerseits abstrakt scheint, aber schließlich auch ein Arrangement wurde, welches für das Überleben der seinerzeit Jugendlichen Kampusch immens wichtig wurde. Und immer wieder stößt man auf die gleichen unglaublichen Sätze, das personifizierte Ekel, die monströsen Szenarien, beklemmend und in ihrer manchmal sehr objektiven Betrachtung auch intensiv – aber, damit wäre etwas Entscheidendes gesagt, niemals mit dem Hang zur Selbstdarstellung. Denn auch das schwebt aus unerfindlichen Gründen über dem Namen Kampusch und der Person, deren mediale Unsicherheit ihr oftmals als Arroganz ausgelegt wird. Dabei ist es lediglich das Bedürfnis, einen Ballast abzuladen, der so schwer wiegt, dass er nie ganz verschwinden wird, zu verarbeiten und mitzuteilen, was über mehr als acht Jahre nicht mitgeteilt werden konnte – und das ist ihr nicht nur zu gönnen, sondern darüber hinaus auch noch sehr lesenswert, vielleicht auch auf eine makabere Art und Weise.

_Ein trauriges Vermächtnis_

Dabei sollte zuletzt erwähnt werden, dass hinter diesem Buch auch eine bestimmte Erwartungshaltung steckt, die „3096 Tage“ voll und ganz erfüllt. Man bekommt die bislang versteckten Details, erfährt viel Persönliches, hört von Einstellungen und Motiven und erhält schließlich eine grobe Übersicht über all das, was Kampusch in ihrer Gefangenschaft erleben musste. Dass die Dokumentation dieses Lebensabschnitts zudem sehr spannend ist, liegt in der Natur der Sache, dass das Einfühlungsvermögen zum, ja man muss es so nennen, Mitfiebern animiert und man der jungen Natsacha, wie sie gebeugt mit Untergewicht und keinem Haar auf dem Kopf in ihrem grausamen Dilemma gefangen ist, einfach nur wünscht, endlich das letzte Bisschen Kraft zu schöpfen, um sich selber einen Ausweg zu bereiten.

Was währenddessen geschieht, sollte man in den eigenen Worten der Autorin in Erfahrung bringen, die es ferner schafft, wirklich alle oberflächlich effektreichen Inhalte auszuradieren und womöglich sogar bewusst das unterdrückt, was die Boulevardpresse in „3096 Tage“ am liebsten lesen würde. Genau das nennt man schließlich, es sei einmal mehr betont, Würde – und mit eben jener neigt der Rezensent sein Haupt vor einem aufwühlenden Zeitdokument einer außerordentlich tapferen, bewundernswerten Persönlichkeit und ihrem eigenartigen literarischen Lebenswerk.

|Hardcover: 288 Seiten
ISBN-13: 978-3471350409|
[www.ullsteinbuchverlage.de/listhc]http://www.ullsteinbuchverlage.de/listhc

Janesch, Sabine – Katzenberge

_Wenn man bedenkt_, wie viele Geschichten der Krieg zu erzählen hat, kann einem alleine schon beim Blick auf die vielen Einzelschicksale der Vertriebenen und plötzlich Heimatlosen regelrecht schwindelig werden. Vor allem im heutigen Polen wimmelt es von Nachzüglerfamilien, deren Ursprung nicht in ihrer jetzigen Heimat, ja manches Mal sogar völlig unbekannt ist. Dieses Thema hat Sabine Janesch offenkundig fasziniert und bewegt. Und die Nachwuchsautorin, die als Mittzwanziger definitiv das Zeug dazu hat, schon relativ bald als Shooting Star auf dem hiesigen Literaturmarkt zu landen, weiß definitiv, wovon sie spricht – bzw. wovon die vielen Inspiratoren reden, die mit ihren Geschichten Janeschs Phantasie zum Leben erweckt und ihr eine ganz außergewöhnliche, auf perfide Art und Weise gestaltete, mitreißende Geschichte entlockt haben.

Das bereits von Günter Grass in den höchsten Tönen gelobte Talent erzählt von der jungen, unscheinbaren Redakteurin Nele Leibert, die in ihrem Berliner Büro, nicht ganz überraschend, vom Tod ihres Großvaters erfährt. Leibert, die von der Aura des Verstorbenen stets beeindruckt und berührt war, lässt sich daher nicht lange bitten und tritt die Reise nach Schlesien an – wohlgemerkt ohne ihren emotionslosen Gatten Carsten, der die Herkunft seiner Frau immerzu missachtet hat und auch auf dieser Reise keine Rolle spielen möchte. Mit Ach und Krach stürzt Nele noch zur Beerdigungsgesellschaft und wird sich ein letztes Mal darüber im Klaren, was für ein geschätzter Mann Stanislaw Janeczko zu Lebzeiten gewesen ist.

Doch Leibert weiß ebenso um die Verbitterung, die er jahrelang mit sich getragen hat. Der Hass wendet sich vor allem gegen die deutschen und russischen Besatzer, die ihm seinerzeit die Heimat, damit auch auf noch bitterere Art seine Familie und schließlich auch seinen Stolz genommen haben. Auch wenn es Nele zunächst nicht leicht fällt, den Anlass zu Nutzen und auf Bitten ihrer Tante in der Vergangenheit zu stöbern: Gerade nach seinem Tod soll das Vermächtnis des alten Janeczko ein letztes Mal geehrt werden, so wie es bis dato nie geschehen ist.

Doch aller Anfang ist schwer, wie Leibert alsbald erfahren muss. Die Spurensuche erweist sich als schwierig, da sie sich nur auf den Erzählungen ihres begrabenen Großvaters stützen, sie vor allem jedoch in der ostpolnischen Heimat Janeczkos auf einige Widersprüche stößt. Doch das Puzzle, woher er kam, wer er vor seiner Zeit in Schlesien tatsächlich war, warum seine Familie ihn verstieß und welche Rolle sein Bruder dabei spielte, setzt sich nach und nach zusammen. Und weckt neben einigen nostalgischen Erinnerungen auch ein grausames Bild jener Zeit und jener Menschen, die unmittelbar für Janeczkos Werdegang verantwortlich waren.

_Sabine Janesch ist_ eine fabelhafte Erzählerin. Punkt! Man lässt sich von ihrer betören, mit simpel-philosophischen Texten verwöhnen, spürt ihre Leidenschaft für die einfachen, aber effizienten Gedankensprünge und lässt sich schließlich immer häufiger dazu verleiten, sich in den düsteren, mithin sehr emotionalen Text fallenzulassen. Dabei ist die Geschichte so unkonventionell und ungewöhnlich, beinhaltet nicht einmal einen klar herausgearbeiteten Spannungsbogen und droht so manches Mal, auf der Stelle zu treten und vor sich hin zu plätschern. Doch für derartige Fehltritte gibt Janesch letzten Endes dann doch nicht den erforderlichen Raum. Stattdessen erzählt sie einerseits aus der Vergangenheit und Sicht des Großvaters, andererseits aber auch von der suchenden Nele und lässt die beiden Stränge mit einigen unglaublichen Wendungen miteinander verschmelzen. Herausragend sind hierbei nicht etwa irgendwelche spektakulären Einheiten, sondern schlichtweg der Hang dazu, einfache Leute aus einer ebenbürtig einfachen Sicht einzufangen – und das ist über die Gesamtdistanz schlichtweg fantastisch gelungen.

Der Rahmen bleibt schließlich auch ein ungewohnter. Hört man ansonsten oftmals von den Flüchtigen und ihren existenziellen Nöten, beschreibt die Autorin von „Katzenberge“ die Geschichte eines Mannes und seiner Familie, wie sie auf schlesischem Boden neues, ebenfalls zurückgelassenes Land entdeckt und sich dort zwangsweise ansiedelt. Und genau in diesem Faktum schwingt besagte Verbitterung mit; allein deswegen, weil der Ursprung aufgegeben werden musste, aber auch weil der Geist der Besatzer, hier als Dämon symbolisch personifiziert, ein Leben lang die Verfolgung antritt und den neuen Bewohnern des Hofes keine Ruhe gönnt.

Es sind Sagen und Märchen aus der Vergangenheit, die hier ebenfalls Einzug halten, verknüpft mit einem authentischen Gesellschaftsbild aus einer ländlich-rückständigen Region, in der selbst die Ankunft einer Deutschen (und das ist Nele letzten Endes ja) ein geradezu bedeutsames Ereignis ist. Und das scheint ehrlich, in diesem Bereich – und auch das gibt es ja zuhauf – alles andere als sensationslüstern oder mit dem Drang versehen, möglichst krasse Schicksale ins Auge zu fassen, was „Katzenberge“ zu einem unspektakulär-aufregenden, vor allem aber aufwühlenden Buch macht, welches schließlich aber nur ein Ziel verfolgt: Eine Geschichte zu erzählen. Und diese sollte man lesen, da sie es wert ist, gelesen zu werden!

|Hardcover: 277 Seiten
ISBN-13: 978-3351033194|
[www.aufbau-verlag.de]http://www.aufbau-verlag.de

Dobyns, Jay – Falscher Engel – Mein Höllentrip als Undercover-Agent bei den Hells Angels

Was genau mag in Jay Dobins vorgegangen sein, als sein Arbeitgeber ihm die lukrative, aber eben auch gefährliche Mission offerierte, als Undercover-Agent die Hells Angels zu unterwandern und dem Arizona-Ableger neben Mord, Waffen- und Drogenschmuggel sowie Bandenkriminalität nachzuweisen, dass die Mitglieder zum größten Teil mehr Dreck am Stecken haben als so mancher gesuchter Schwerverbrecher? Dobyns, der in seinem Polizistendasein schon manchen lebensbedrohlichen Auftrag gemeistert hatte und dabei auch schon mehrfach verwundet wurde, wird es aus heutiger Sicht vielleicht nicht mehr ganz genau wiedergeben können. Doch eines, das betont er in diesem Zusammenhang sehr deutlich, weiß er genau: Er hätte diesen Auftrag jederzeit und in jeder Situation wieder angenommen – sei es wegen der speziellen Lebenserfahrung, die er ihm beschert hat, oder einfach nur des persönlichen Erfolgs halber, den die Operation “Black Biscuit“ mit sich gebracht hat. Dobyns hat über seine Mission Zeugnis abgelegt, die Enttäuschungen und Fortschritte festgehalten und vor allem für sich selber analysiert, was der Job und “Black Biscuit“ an Konsequenzen und Spätfolgen nach sich gezogen hat. Und der Mann teilt sein Wissen nun, einerseits weil die Geschichte schon fast unglaublich (weil eben real) anmutet, andererseits aber auch, um sich das von der Seele zu schreiben, was ihn seither prägt wie wohl keine andere Erfahrung in seinem nicht mehr ganz so jungen Leben.

_Wir schreiben das Jahr 2002_,als Slats, ein renommierter Ermittler und ein gebrandmarktes Technik-Genie, an Dobyns herantritt und ihn an den Fall heranführt. Die ATF möchte gezielter gegen die sich häufende Bandenkriminalität in den ansässigen Bikerverbänden ermitteln und vor allem die Drahtzieher an den Pranger stellen. Die Sache ist groß, richtig groß, vielleicht sogar zu groß, als dass sie für eine kleine Einsatztruppe wie das Team, das von nun an unter dem Banner “Black Bisscuit“ operieren soll, geschaffen ist. Dennoch ist Dobyns überzeugt, den Job übernehmen zu können und ein Schauspiel zu inszenieren, das in diesem Ausmaß wohl einmalig bleibt und bleiben wird.

Unter seinem neuen Spitznamen Bird macht er sich in Arizona schnell einen Namen als Waffenschieber und Geldeintreiber – und baut seinen Status dabei ausschließlich auf Gerüchten und Lügen auf. Die lokalen Schlägerbanden und Bikertruppen werden schnell auf Dobyns und seine Mitstreiter aufmerksam, was dieser wiederum nutzt, um einen weitestgehend unbekannten Verband zu missbrauchen und die eigentlich in Mexiko ansässigen Solo Angeles in Arizona zu etablieren. Mit einer Menge Selbstbewusstsein, weiteren, kunstvoll aufgebauten Lügen und einer Menge Einfühlungsvermögen für all die Gaunereien, die von den jeweiligen Verbandsgrößen bzw. den Vorsitzenden der einzelnen Hells-Angels-Charters begangen werden, schafft er tatsächlich sehr schnell das, was zunächst nur eine vage Hoffnung war: Akzeptanz für einen eigenen Motorradclub zu finden und sein Standing Schritt für Schritt auszubauen. Dobyns wird zu einem wichtigen Ansprechpartner, hängt mit den wichtigsten Leuten der Angels-Szene ab, besucht Partys, beteiligt sich an bedeutenden Besprechungen und arbeitet sich in der lokalen Hierarchie immer weiter hoch – bis ihm schließlich gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als die Offerte, als Anwärter bei den Hells Angels einzusteigen, anzunehmen.

_“Falscher Engel“ schildert_ diesen denkwürdigen, natürlich auch zweifelhaften Aufstieg mit all seinen Gefahren und den möglichen Risiken für Jay und seine Familie. Doch die Geschichte, die der Agent erzählt, hat weitaus mehr zu bieten, als einen oberflächlichen Bericht über die Infiltration der öffentlich bekannten Gangstervereinigung auf zwei Rädern. Vielmehr rechnet Dobyns auch mit sich selber ab und stellt seine Persönlichkeitsentwicklung zur Diskussion, die in den zwei Jahren der verdeckten Ermittlungen im Wespennest der Rocker einige beängstigend krassen Verlauf genommen hat. Spielt Dobyns alias Bird zunächst nur das Tough-Guy-Image, welches notwendig ist, um die Toleranz der Biker zu genießen, wird er immer mehr eins mit seiner Rolle und weiß irgendwann nicht mehr zwischen der eigentlichen Realität und der Scheinwahrheit als Mitglied der Motorradgang zu unterscheiden. Die Besuche in seiner Heimat werden seltener, die Abkanzlung von seiner Familie nimmt derweil immer gravierendere Formen an, was schließlich solch unwirkliche Formen annimmt, dass der Autor von „Falscher Engel“ irgendwann an einen Punkt angelangt, an dem er sogar bereit ist, sein bürgerliches Leben aufzugeben, um sich ganz seiner Aufgabe zu widmen – oder vielleicht sofort ganz zu den Hells Angels überzutreten.

Das Buch zeigt daher vor allem den bemerkenswerten Lebenswandel, die Persönlichkeitsveränderung, aber eben auch all das, was die Hells Angels und ihren ständigen Konflikt mit dem gesetzt ausmacht. Dobyns geht stark ins Detail und beschreibt anhand von Fakten, was sich tatsächlich im Untergrund abspielt, wer die Drahtzieher sind, aber auch welchen Weg man gehen muss, um endlich den entsprechenden Aufnäher auf seine Kutte nähen zu dürfen. Er gebärdet sich als absoluter Outlaw, lügt sich hierbei an den Rand des eigenen Verderbens und setzt alles auf eine Karte, damit die Mission Erfolg haben kann. Und gerade jene Faktoren, die in der Draufsicht wie die Sage eines Machos und Möchtegernhelden erscheinen, sind letztendlich so leidenschaftlich aufbereitet und auch in der schriftlichen Performance (und Übersetzung) so überzeugend dargeboten, dass einen die Erlebnisse, die Dobyns von nun an auch mit der übrigen Welt teilt, kaum mehr loslassen. Unbegreiflich ist lediglich, dass der gute Mann noch keinem Attentat zum Opfer gefallen ist. Denn nach all diesen Offenbarungen sollte der Herr zu denjenigen Persönlichkeiten gehören, deren Kopfgeld astronomische Summen annimmt – doch dieses Risiko, und wenn es eines seiner letzten im Falle „Black Biscuit“ sein sollte, ist er eingegangen um ein fast schon romanartiges, spannendes und aufregendes Buch zu verfassen, welches das Prädikat ‚lesenswert‘ wahrscheinlich mehr verdient als nahezu alle Künstler- und Starbiografien, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden. Und die Ursache liegt auf der Hand: Hier wurde nichts beschönigt oder nachgebessert, sondern lediglich das festgehalten, was (erschreckenderweise) tatsächlich geschehen ist!

_Mehr zum Thema_ findet man im Übrigen in einer DMAX-Reportage, die den Fall noch einmal neu aufrollt und den Protagonisten noch einmal persönlich in den Fokus rückt. Diverse Online-Videoportale bieten hier einen Einblick, der die bewegenden Eindrücke von „Falscher Engel““ nur noch weiter verstärkt.

|Hardcover: 400 Seiten
ISBN-13: 978-3868830262|
[www.rivaverlag.de]http://www.rivaverlag.de

Sala Rose, Rosa – Lili Marleen. Die Geschichte eines Liedes von Liebe und Tod

_Muss man in einen Song_ überhaupt so viel hineininterpretieren, dass er geradezu in jeder Silbe zerpflückt wird und die wahre Schönheit des Liedes im analytischen Kontext seines Genusses verlorengeht? Man kann sicher darüber streiten, zumal die heutige Popkultur mit ihren größtenteils oberflächlichen Inhalten kaum mehr Anlass gibt, den lyrischen Output einer Komposition näher zu diskutieren. Dass dies mal anders war, steht außer Frage, man denke nur auf die intelligenten Geschichten des [Krautrocks,]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1492 die Symbiose aus Wort und Text in den frühen Momenten der progressiven Musik oder schließlich an die Anfänge der Hippie-Singer/Songwriter-Kultur mit Protagonisten wie Bob Dylan und Joan Baez. Doch auch Jahrzehnte vorher entstanden Lieder bzw. in erster Linie Texte, deren Deutung ein Millionenpublikum beschäftigte und deren wortgewandte Wirkung die Gesellschaft in der ganzen Welt in Aufruhr brachte.

Eines der passendsten Beispiele ist sicherlich „Lili Marleen“, jenes Lied, welches womöglich sogar den globalen Soundtrack des Zweiten Weltkrieges abzugeben gezwungen war, da es nicht nur von der Wehrmacht motivierend gesungen wurde, sondern auch im Bereich der Alliierten Anklang und Bewunderung fand. Als Hans Leips Verse, vertont von der legendären Lale Anderson, zu Beginn des „Dritten Reichs“ erstmals beim Militärsender Belgrad gespielt wurde, hatte noch niemand eine Vorstellung davon, welche Wellen das Ganze schlagen sollte. Doch kurzerhand wurde das sehnsüchtige Flehen der Lili Marleen zum Sensationserfolg, zur bittersüßen Kriegssymphonie melancholischer Soldaten, zur Erkennungsmelodie für die verlorenen Hoffnungen von ganzen Armeen, schließlich aber auch zum Schauplatz der bitteren Tragödien, die in diesem Hoffnungsschimmer begraben sind. Letzten Endes avancierten die Rechte und der Ursprung von „Lili Marleen“ zur dramatischen Schlammschlacht.

_Wer sollte sie gewesen sein_, die Lili, die in diesem Song besungen wurde? Welche Zusammenhänge ergeben sich hierdurch für den Textautor Leip und dessen undurchdringliches Liebesleben? Warum ist die Familie des sozioanalytischen Meisters Sigmund Freud ein Teil des Ganzen? Und welche Rolle spielt Marlene Dietrich, die berühmte Diva, die den Welthit auch für den amerikanischen Markt salonfähig machte? Dass ein Lied so viele Fragen aufwirft, scheint übertrieben, vor dem Hintergrund des schlichten Textes sogar regelrecht paradox. Doch gerade vor dem Hintergrund der immensen Nachwirkungen, die das Ganze hinterließ, scheint es sinnvoll, noch einmal näher in das Treiben einzutauchen und den offenen Komplex in einer umfassenden Diskussion zu beleuchten.

Die Frau, die sich dieser Aufgabe angenommen hat, stammt aus Spanien, heißt Rosa Sala Rose und ist dem Song ähnlich verfallen wie die Heerscharen, die vor gut und gerne 70 Jahren gegeneinander in den Krieg zogen. Die Autorin beschreibt vor allem dem Mythos und die Wirkung der Worte, ergründet hierbei Schritt für Schritt die Ursprünge und die hierin verstrickten, tragenden Figuren. Und es sind zumeist hässliche Erlebnisse, Streitereien, Familienzwiste, Fehden um Wahrheit und Betrug und schließlich themenübergreifende, theatralisch inszenierte Dramen, die jedoch den Mythos nur weiter nährten und eine Faszination auslösten, wie sie wohl kein Song zuvor in dieser Vehemenz für sich beanspruchen konnte. Doch das Buch „Lili Marleen“ ist mehr als eine Situationsanalyse respektive eine biografische Aufarbeitung eines Liedes im Zeitraffer eines halben Jahrhunderts. Es ist vielmehr eine Ergründung von bisher noch nicht bestätigten Tatsachen, eine gezielte Auseinandersetzung mit Herkunft, Motiv und Nachwirkung, vielleicht auch die Suche nach noch viel mehr von dem, was zwischen den Zeilen steht, schließlich aber ein Essay der ganz besonderen Art, da es zeigt, was sich aus einem Stück weltlichen Kulturguts alles herausholen lässt, wenn man einmal die nötige Distanz aufgebaut hat, um sich ihm wieder peu à peu anzunähern.

_Zuletzt hat Rosa Sala Rose_ es geschafft, das Interesse zu wecken und etwas Emotionales sachlich und doch fokussiert aufzugreifen, ohne dabei genau jenes Emotionale in seiner Wirkung zu zerstören. Gerade das schmucke Extra, eine CD-Beilage mit elf Fassungen und Abhandlungen des Liedes, beschreibt dabei die Sorgfalt der Autorin, die nichts unversucht gelassen hat, um den Mythos greifbar zu machen, ihn aber auch auf alle erdenklichen Ebenen auszuweiten. Aus diesem Grund muss man weder mit der Komposition selber noch mit dem vertraut sein, was „Lili Marleen“ umgibt. Die spanische Germanistin mit deutschem Ursprung weiß nämlich auch bei fehlendem Background mit einer Hingabe zu fesseln, in die man sich langfristig zu verlieben weiß – ähnlich wie so mancher Soldat in einer der schwierigsten Zeiten seines ganzen Lebens …

|Kartoniert: 239 Seiten mit 21 Abbildungen und Audio-CD
Originaltitel: Lili Marleen – Canción de amor y muerte
Übersetzer: Andreas Löhrer
ISBN-13: 978-3-423-24801-3|
[www.dtv.de]http://www.dtv.de

Hujer, Marc – Arnold Schwarzenegger – Die Biographie

_Was ist bloß_ in Marc Hujer gefahren? Der Autor der aktuellen autorisierten Schwarzenegger-Biographie begeht bereits auf den ersten Seiten seines kürzlich veröffentlichen Werkes künstlerischen Selbstmord, indem er das Objekt seines Interesses im Vorwort als Karikatur darstellt. Hujer beschreibt hier das schwarzeneggersche Treiben in seiner Motorrad-Gang, das Macho-Gehabe, welches selbst von der hohen politischen Verantwortung des derzeitigen Gouverneurs von Kalifornien nicht ad acta gelegt wurde, kommentiert den Aufstieg in die obersten Regionen des größten Staates der USA mit einigen abschätzigen Worten und betrachtet den sogenannten amerikanischen Traum mit dem entsprechenden Zynismus.

Schreibt hier etwa jemand, der mit Staat, Politik und Persönlichkeit in einer Tour abrechnen möchte? Mitnichten! Stattdessen versucht der Autor lediglich all das greifbar zu machen, wofür die lebendige Laufbahn des einstigen Muskelprotzes steht. Er analysiert Systeme und eigenwillige Strukturen, die Macht von Worten und außergewöhnlich gewöhnlichem Gebaren. Dabei produziert er das womöglich abstoßendste Bild eines weitestgehend komischen Helden, ist aber leidenschaftlich darum bemüht, Arnold Schwarzenegger ein Forum zu schaffen, in welchem die Fehlleistungen und Plattitüden eine Möglichkeit bekommen, von der Menschlichkeit und Besonnenheit einer Persönlichkeit kompensiert zu werden, die letzten Endes nicht ohne Grund dort rangiert, wo sie am heutigen Tage positioniert ist.

Und gerade dieser wirklich aufopferungsvoll recherchierte Kampf – und das ist diese Ausgabe in der Tat – für Schwarzeneggers Recht, einfach nur Schwarzenegger zu sein und sich eben nicht immer anpassen zu müssen bzw. unangepasst an die Macht zu kommen, ist in „Arnold Schwarzenegger – Die Biographie“ schlicht und einfach genial herausgearbeitet. Das macht diesen Titel selbst für diejenigen interessant, für die der vermeintliche Titelheld nichts weiter ist als das aufgeblasene Beispiel einer, grob betrachtet, kitschigen Seifenblase im noch kitschigeren Hollywood-Format. Schließlich ist Marc Hujer mit ähnlichen Gedanken an die Sache herangegangen, als er anno 2003 beschloss, dem Phänomen Schwarzenegger etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken …

_Hujer stützt sein Wissen_ hierbei auf zahlreiche literarische Quellen und Zeitzeugen aus dem Umfeld des exilierten Österreichers und baut vor allem die Geschichten über die Bodybuilder-Karriere und den rasanten Aufstieg in den weltweiten Muckibuden auf den Erfahrungen Dritter auf. Dennoch setzt er gerade in diesem Bereich Prioritäten und analysiert, wie der spätere Terminator nicht mit Hirn, aber mit eisernem Willen seine Ziele verfolgt und auch tatsächlich erreicht. Schwarzenegger ist stets dem Spott derjenigen ausgesetzt, die in ihm genau das sehen, was er unterm Strich für eine lange Zeit auch sein wird: Ein eindimensional denkender, plumper Dörfler, der seinen Verstand vorrangig hinter einem mächtigen Oberarmumfang versteckt hat und, das konnten eigentlich die wenigsten verstehen, trotzdem zu einem der extremsten Emporkömmlinge in der gesamten Medienlandschaft avancierte.

Es sind daher auch vor allem die Zeiten, in denen sich Schwarzenegger von Titel zu Titel hangelte, dabei seine voyeuristische Art in allen Zügen auslebte und den eigenartigsten Szene-Publikationen Interviews und Auskunft gab, die in dieser Biographie einen großen Stellenwert bekommen und damit vor allem die Hollywood-Episode quantitativ um ein Vielfaches übertrumpfen. Es ist gerade diese Zeit, die aus heutiger Sicht völlig absurd scheint und in den modernen Beschreibungen des westamerikanischen Gouverneurs zumeist ausgeblendet wird, da die Distanz zwischen dem, was war und ist, kaum mehr fassbar scheint.

Und es sind die harten Trainings, der steinharte Weg, die knallharte Disziplin, die Konzentration auf nichts anderes als das Wesentliche und der brutale Wille, nach oben zu kommen, die aus einer an für sich klassischen Erfolgsbiographie herausragen und wahrscheinlich selten so knallhart ausgeprägt sind wie bei jener Figur des Jahrgangs ’47. All das zu lesen, fordert wider Erwarten jedoch nicht den Proleten im Manne, der hier nach Selbstbestätigung sucht, denn hierzu geht Hujer viel zu kritisch mit seiner literarischen Figur um. Es ist vielmehr ein brillantes Portrait eines sehr eigenwilligen, von seiner nicht immer leichten Jugend geprägten Menschen, der nie den Anspruch erhebt, Vorbild zu sein, sondern stattdessen immerzu kompromisslos seinen Weg geht, nur um sich und seiner selbst willen. Und, das weiß man vom heutigen Standpunkt her: Das hat Arnie definitiv geschafft!

_Das zweite große Kapitel_ dieser chronologisch angeordneten Biographie beschäftigt sich schließlich mit dem Politiker und Republikaner Schwarzenegger, jedoch auch hier nicht ohne auf die Fehltritte und naiven Leichtsinnsaktionen des Steirers einzugehen. Schwarzeneggers Niederlagen im Wahlkampf kommen ebenso ins Gespräch wie der leichtsinnige Feldzug gegen überzeugte Polit-Veteranen, die er seinen Filmrollen gleich aus dem Weg zu räumen versucht, dabei aber die Grundfeste der völkischen Politik Kaliforniens launisch und ohne den entsprechenden Background missachtet. Und auch hier wird Schwarzenegger in Hujers Text nicht bloß an seinen durchaus spürbaren Erfolgen gemessen, sondern in erster Linie an den radikalen Umbrüchen und seiner Überzeugung, überall noch größer und besser sein zu können – und das eben auch mit manch unangenehmem Hintertürchen!

_Zum Ende hin_ spannt der Autor schließlich den Bogen zu seinem gewagten Vorwort und bringt den Personenkult, der nach wie vor um Schwarzenegger betrieben wird, noch einmal auf den Punkt, allerdings mit einem völlig gewandelten Verständnis für das, was Schwarzenegger ist. Hujer hat begriffen, warum die Geschichte um den heutigen Gouverneur von Kalifornien mehr ist als bloß ein mediales Phänomen. Er hat sie haargenau gespürt und gelebt, die Atmosphäre um den einstigen Körpergiganten, seine Lebenseinstellung und seine immer noch konsequente und manchmal auch größenwahnsinnige Art. Und genau diese Erfahrung hat er dem Leser auch geschenkt und mit auf den Weg gegeben, dies eindrucksvoll erzählt und fantastisch aufgearbeitet.

Skepsis soll dennoch erlaubt sein, schließlich ist und bleibt diese Figur eine, die die Gemüter auseinandertreibt und in vielen Belangen polarisiert. Aber was eigentlich viel wichtiger ist: Es lohnt, über sie nachzudenken und sich ihre Biographie anzusehen. So gewöhnlich sie eigentlich ist, so außergewöhnlich wirkt sie in der Inszenierung von Marc Hujer. Insofern ist die Empfehlung ein verdientes Lob für sechs Jahre harte Arbeit und aufopferungsvolle Recherche. Vielleicht auch, weil Biographien über Personen, deren zwiespältiger Charakter nicht zwingend ansprechend ist, oftmals die besten sind …

|Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3421044051|
[www.randomhouse.de/dva]http://www.randomhouse.de/dva

Strasser, Patrick – Hier ist Hoeneß!

_Es ist eigentlich paradox._ Jahrelang gehörte Uli Hoeneß zu den schillernden Gestalten der deutschen Fußballwelt, polarisierte ständig mit Statements und Äußerungen über die Stellung ‘seines‘ FC Bayern, galt als Haarspalter der deutschen Ballsportnation, wurde für seine legendären Wutreden und seinen permanenten Hitzkopf auch wieder als Kultobjekt gefeiert. Nun, was ist jetzt paradox? Definitiv die Tatsache, dass der Mann, der sich mit seinem Übergang in das Präsidentschaftsamt des größten deutschen Interessenvereins im Prinzip in den Vorruhestand begeben hat, plötzlich in der hiesigen Literatur so umfassend gewürdigt wird. Christoph Bausenwein hat unlängst mit der sehr ausführlichen Biografie „Das Prinzip Uli Hoeneß“ erfolgreich vorgelegt und ein klares Zeichen in Sachen Persönlichkeitsbeschreibung für den deutschsprachigen Markt gesetzt. Mit anderen Worten: Viel besser, detaillierter und wortgewandter kann man eine objektive Geschichte über einen solch komplex gestrickten Menschen kaum zusammentragen.

Patrick Strasser hat es daher ungleich schwerer, mit seinem Werk „Hier ist Hoeneß!“ Fuß zu fassen und den vielleicht nicht beabsichtigten, aber unvermeidlichen Konkurrenzkampf ohne Blessuren zu überstehen. Alleine schon die reduzierte Quantität macht ihm einen klaren Strich durch die Rechnung, da er auf den gut 300 Seiten nicht alle pikanten Themenbereiche anreißen kann, die im Zusammenhang mit dem einstigen Bayern-Manager wirklich belangvoll sind. Außerdem konzentriert sich Strasser nicht auf die gesamte Historie, sondern folgt in seiner Abhandlung nahezu ausschließlich brisanten Inhalten und den insgesamt wohl bekannteren Ausschnitten aus der persönlichen Biografie – knackig und bündig, fokussiert mag man auch sagen. Aber ist das dann auch noch der wahre Hoeneß, der sich hier zu Wort meldet?

Nun, die Antwort muss im Nachhinein ebenfalls ganz klar Ja lauten. Strassers Arbeit ist definitiv oberflächlicher, man mag auch sagen sensationslüsterner, deswegen aber kaum weniger lesenswert, zumindest als unabhängiges Werk. Die gesamte Aufteilung bringt einen komplett anderen Blick auf die Dinge, da nicht im klassischen Zeitraffer berichtet wird, sondern mit dem jeweiligen Schwerpunkt auf bestimmte Verhaltensweise und Konfliktpunkte. So stellt Strasser im Laufe seiner Schilderung im Kapitel „11 Feinde müsst ihr sein“ ein komplettes Fußballteam mit Persönlichkeiten auf, die Hoeneß in seiner Laufbahn zu hassen gelernt hat. Dies zunächst als Beispiel. Doch auch sonst handelt der Autor vollkommen themenbezogen und beschreibt einerseits die gute Seele des stets hochroten Enthusiasten, andererseits aber auch seine Einstellungen zu klassischen Management-Themen oder eben auch die wohlbekannte Hitzköpfigkeit, die ihm schon die verschiedensten Titel in mehr als 30 Jahren beim FC Bayern eingebracht hat.

Nur, und da würde man dem Werk seines Kollegen Bausewein jederzeit den Vorzug geben: Den Anspruch, das Leben dieses Menschen komplett erfasst zu haben, seinen Lebensweg im Anschluss verstehen zu können und vor allem den Charakter mit all seinen Facetten in den Blickpunkt gerückt zu haben, sollte Strasser an sein Buch nicht haben. Es geht eher darum, das mediale Interesse an Hoeneß zu beurkunden, herauszustellen, warum dieser Mann selbst in Zeiten jenseits von Gut und Böse eine der gefragtesten Persönlichkeiten in der TV- und Boulevardlandschaft geblieben ist, letzten Endes aber auch sein verwöhntes Erfolgsstreben an festen Eckpunkten zu dokumentieren und den postwendenden Erfolg in seiner allgemeinen Kontrastwirkung zu analysieren.

_Wo Bausewein vorrangig Infotainment_ auf höchstem Niveau bietet, geht es bei Strasser um die pure Unterhaltung, oftmals angeheizt durch einen gewissen Zynismus, zugleich aber auch von humorigen Passagen und eleganten Wortspielereien untermalt. Außerdem spürt man, dass der Autor eine bestimmte Distanz zu der beschriebenen Person hat und sich ihr zwar verbunden fühlt, aber dennoch auch ein kritisches Augenmerk auf gewisse Situationen und Lebensabschnitte von Herrn Hoeneß legt. Die Daum-Affäre beispielweise wird kurz hervorgehoben, dann natürlich das kritische Verhältnis zu Intimfeind Willi Lemke, schließlich aber auch die Verdienste für den Verein, die persönliche Nähe zu Fans und Spielern und als allerletztes auch die ununterbrochenen Auseinandersetzungen mit den Herrschaften Rummenigge und Beckenbauer, die vor allem die letzten Jahre am Kaiserhof geprägt haben. Erstaunlich hierbei ist im Übrigen, dass Karl-Heinz Rummenigge als einer der engsten Vertrauten und Freunde vorgestellt wird, wohingegen in Bauseweins Buch noch von einer kleinen Hassliebe die Rede ist, im Zuge derer sich Hoeneß vom Bayern-Vize in seiner Position stets gefährdet sieht – andere Blickwinkel, andere Meinungen.

Doch gerade Letzteres gibt am Ende doch den Ausschlag pro Strasser, selbst wenn man in „Das Prinzip Uli Hoeneß“ eigentlich schon alles Wissenswerte über den Menschen und die Karriere des vielleicht gewieftesten wie emotionalsten deutschen Geschäftsmannes erfahren hat. Hier und dort geht „Hier ist Hoeneß“ ein bisschen mehr in die Tiefe und liefert die nötigen Ergänzungen zu manchen kleinen Details. Aber auch das ist wichtig: Patrick Strasser schreibt letzten Endes eine Ergänzung, die als eigenständiges Werk sicher ganz gut funktioniert, für eine umfassende Biografie aber zu sehr an der Oberfläche bleibt, zumindest in vielen bedeutsamen Aspekten. Vergleichbar sind die beiden Hoeneß-Bücher daher nur in den vielen inhaltlichen Parallelen. Da man aber jeweils von einem völlig anderen Ansatz startet, sollte man schon beide gelesen haben, um das Phänomen Uli Hoeneß besser begreifen zu können. Muss man sich indes entscheiden, ist Bauseweins Arbeit aufgrund ihrer vermehrten Vielschichtigkeit sicher vorzuziehen!

|Gebundene Ausgabe: 304 Seiten
ISBN-13: 978-3868830484|
[www.rivaverlag.de]http://www.rivaverlag.de

Achim Achilles – Der Vollzeitmann – Endlich das eigene Leben zurückerobern

Mann sein, bedeutet heutzutage definitiv nicht mehr, den Macho heraushängen zu lassen, im Stehen zu pinkeln oder nach einem 9-to-5-Job ganz locker die Füße hochzulegen. Das Gesellschaftsbild hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten derart rapide verändert, die Emanzipation der Frau ist derweil so stark fortgeschritten, dass man sich anno 2010 mit voller Berechtigung fragen muss: Wann ist der Mann ein Mann?

Der Mann darf alles, zumindest auf dem Papier; vor allem aber darf er parieren und einem Idealbild gerecht werden, welches voller weiblicher Attribute steckt und bei weitem nicht mehr der Fassung entspricht, die unsere Väter und Großväter in ihrer Position genießen, ja, wirklich genießen durften. Der Mann steckt in der Krise, das hat auch Achim Achilles alias Hajo Schumacher erkannt, der sich dieses pikanten Gesellschaftswandels in seinem neuen Werk „Der Vollzeitmann“ angenommen hat.

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Schanz, Peter – Mitten durchs Land: Eine deutsche Pilgerreise

_Das Ziel seiner Wanderung_ war klar, der Weg auch, doch irgendwie wusste Peter Schanz am Ende doch nicht so recht, worauf er sich bei seiner Pilgerreise „Mitten durchs Land“ einlassen würde. Ging es in erster Linie darum, Geschichte aufzuarbeiten und den Wandel hautnah zu spüren? Sollte der Mauerfall kurz vor dem zwanzigsten Jubiläum noch einmal ins Gedächtnis gerufen werden, mit all seinen Hoffnungen und Ängsten? Oder wollte Schanz bei seinem Marsch über den K-Weg letzten Endes doch nur zu sich selbst finden und wie bei vielen seiner vorherigen ländlichen Expeditionen die Idylle der natürlichen Umgebung aufsaugen?

Als der geschätzte Schreiber zu seiner knapp drei Monate währenden Reise aufbrach, schlummerten sicherlich die unterschiedlichsten Gedanken in seinem Unterbewusstsein, von denen sich viele bestätigen sollten, viele aber auch auf eine andere, kaum fassbare Art und Weise an ihn herantreten. Schanz erwartete sicherlich alles, vom Kulturschock bis hin zum gemütlichen Treffen mit einigen Ewiggestrigen. Doch die Vielfalt, die ihm während dieses Pilgermarsches durch ein gewaltiges Stück deutsch-deutscher Geschichte begegnete, sollte selbst einen Menschen wie Peter Schanz völlig verblüfft haben.

Und diesen Umstand lässt er seine Leser spüren, unter anderem im feinen Humor, mit dem er die Kontakte und vor allem die außergewöhnlichen Begebenheiten beschreibt. Es sind einfache Wirtsleute, die er antrifft und die den gesellschaftlichen Wandel in den letzten anderthalb Dekaden hautnah erlebt haben. Vom Profit zur Pleite, von der Hoffnungslosigkeit in die Euphorie und zurück, von Vorurteilen zu Intoleranz und Verbohrtheit, von Offenheit und Freude über die Wiedervereinigung – sie haben so vieles zu erzählen, und dennoch hat wirklich jeder Bürger, dem Schanz über den Weg läuft, eine komplett andere Einstellung zu den Entwicklungen während und nach der deutschen Einheit.

Nun beschäftigt sich „Mitten durchs Land“ im Kern sicherlich nicht bloß mit dem Thema Ost versus West beziehungsweise den Folgen der erneuerten Zusammengehörigkeit, sondern viel eher mit dem Gesellschaftsbild in den völlig unterschiedlichen Regionen entlang des alten Mauerstrichs. Und das färbt nicht nur auf die Meinungen und Urteile derjenigen ab, die sich von Schanz ins Gespräch bringen lassen, sondern auch auf das Landschaftsbild, welches stellenweise deutlich aufgewertet, dann aber wieder verkommen, verwahrlost, ja manchmal fast schon nicht mehr beachtet erscheint. Gleich mehrfach kommt der Autor vom Weg ab und dringt kurzzeitig tiefer ins Land ein, trifft dort wieder neue Menschen, schlemmt unerwartete lokale Spezialitäten, betreibt selber eine umfassende Meinungskunde und lässt sich zuletzt immer wieder überraschen und verblüffen von all dem, was seinen Weg kreuzt und ihn in seiner eigenen Einstellung formt.

_Schanz schafft es_ bei all diesen kontrastreichen Einflüssen aber stets, die eigene Note schön in die Geschichte einzubringen und unterschwellig auch seine Eindrücke subjektiv zu verwerten; wenn er beispielsweise die heruntergekommene Landschaft jenseits des K-Wegs mit spitzfindigen Bemerkungen kommentiert oder etwa den Ost-West-Konflikt zwischendurch mit trockenem, nüchternem Humor abstraft, so wird man immer wieder zum Schmunzeln verleitet. Ebenso fein arbeitet der Autor auch gern irgendwelche Anglizismen und modern-deutsche Floskeln ein, die sich prima mit den Gesprächsfetzen, die er zwischen den Zeilen aufarbeitet, vermischen und eine ganz eigene Form des philosophischen Wortwitzes kreieren – und ganz egal, wie er es auch anstellt: Schanz redet um den heißen Brei herum, indem er auf den Punkt kommt und hat die Lacher stets auf seiner Seite.

Als er schließlich nach mehr als 80 Tagen und 1500 Kilometern seine Reise beendet und die norddeutsche Küste erreicht, wissen er und seine Leser zumindest eines: Dieser Marsch war lohnenswert und aufschlussreich – und lädt ein, bei entsprechender Fitness ebenfalls bestritten zu werden. Mehr Inspiration – und das trotz der hiermit überhaupt nicht in Verbindung stehenden Grundaussage des Buches – hätte man kaum geben können! Und mehr schlicht behaftete Leidenschaft für ein solches Projekt kann man sich kaum erhoffen – ebenso wie einen größeren Unterhaltungswert für ein Buch, das eigentlich lediglich die Verschriftlichung einer Pilgerreise durch unseren eigenen, vertrauten Staat darstellt.

|Gebunden: 253 Seiten mit 64 Farbfotos
ISBN-13: 978-3-351-02705-6|
[www.aufbau-verlag.de]http://www.aufbau-verlag.de
[www.peterschanz.de]http://www.peterschanz.de

Wilfling, Josef – Abgründe. Wenn aus Menschen Mörder werden

Josef Wilfling, Jahrgang 1947, ging 2009 nach 42 Jahren des aktiven Polizeidienstes in Pension. Die letzten 22 Jahre arbeitete er für die Münchener Mordkommission, davon die letzten sieben als deren Leiter, klärte die prominenten Mordfälle an Walter Sedlmayr und dem Modezar Moshammer auf und schnappte den Frauenmörder Horst David. Er gilt als erfahrener und sehr erfolgreicher Spezialist bei Vernehmungen von Opfern, Zeugen und Tätern.

Im |Heyne|-Verlag ist nun sein erstes Buch „Abgründe. Wenn Menschen zu Mördern werden“ erschienen.

_Inhalt_

Schon im Vorwort des Autors und ehemaligen Ermittlers wird dem Leser deutlich, wie sehr Josef Wilfling seinen Beruf geliebt hat, denn der bestand für ihn aus mehr als nur einer täglichen Arbeit – es war seine Bestimmung, Menschen zu überführen, die aus den ganz verschiedenen Gründen ihre Hemmungen fallen lassen, die Grenze der Menschlichkeit überspringen und zu berechnenden und/oder kaltblütigen Mördern werden können.

Angelehnt an den „7 Todsünden“ (Hochmut, Habgier, Neid, Zorn, Wollust, Völlerei, Trägheit), berichtet der Kommissar nicht nur über seine Erfolge bei den manchmal strapaziösen und zeitintensiven Ermittlungen, sondern auch über seine persönlichen Fehler und die Opfer. So spannend und manchmal auch abgründig grausam ein Krimi sein kann, so ist es doch das Leben, das immer wieder die spannendsten und naturgemäß leider auch realistischen Tragödien und Dramen wiedergibt.

So obskur und unbegreiflich manches wirken mag, schildert Wilfling ohne Scheu Tathergänge, die Motivation des Täters oder der Täter, die Feinheiten des Zuhörens bei Verhören, bei denen man sich jegliche Moral besser sparen sollte und sich gänzlich an den bestehen Fakten und Indizien orientiert. Der Autor Wilfling entnimmt aus dem Fundus seiner Erfahrungen die Fälle, die ihn mit am meisten geprägt haben und die sich überwiegend intensiv immer und immer wieder in seinem Kopf abspiel(t)en. Schnell entsteht der Eindruck, dass ein Mordermittler immer auch psychisch auf Höchste gefordert wird, dass die Leichen, die traumatisierten Angehörigen, die vielleicht ihr Kind zu betrauern haben, oder die Beweggründe von raffinierten Mördern immer tiefe seelische Spuren hinterlassen. Sich dagegen zu verschließen, funktioniert nicht. Gerade als Ermittler, so beschreibt der Autor es selbst, muss man mit dem „Mörder“ denken, wissen, was in diesem vorgeht, und wie ein Raubtier, das auf die Beute lauert, in Vernehmungen blitzschnell reagieren, wenn sich eine Chance auftut und der Kontrahent Signale sendet, um sich beichtend den Beamten zu offenbaren. Als Ermittler also ist man neben dem eigentlichen Beruf zugleich noch Psychologe, Psychotherapeut und Sozialarbeiter in einer Person.

Josef Wilfling erzählt zwar kühl und nüchtern, trotzdem werden die Leser über seine Erfahrungen und seine Fälle zweifelsohne nachdenken. In seiner Laufbahn hat Wilfling viel gesehen und menschliche Schicksale und Tragödien, aber auch Erfolg und Freude bei der Überführung eines Täters erlebt, und deswegen weiß er, wovon er schreibt.

Sein Stil ist prägnant, klar und deutlich, wenn auch stellenweise wiederholend; zugleich kritisiert er auf den ersten Seiten und im Laufe des Buches die deutsche Gesetzgebung und das Strafmaß. Hier spricht er sich ganz klar für eine Sicherheitsverwahrung aus und bezieht deutlich und überzeugt Stellung zu diesem brisanten Thema. Dass Mord als Gewalttat vom Gesetz bestraft werden muss, davon weicht er natürlich nicht ab, aber zugleich erklärt und hinterfragt er in den Berichten zu seinen Fällen, warum manche Menschen die letzte Barriere durchbrechen und zum Mörder werden. Ist ein Mord entschuldbar oder gar verständlich, wenn das Opfer ein Sadist war, der die Kinder und seine Frau gefoltert, erniedrigt und geschlagen hat? Hier kommt neben dem Verstand auch das Gefühl zum Ausdruck, dem sich auch ein Kriminalbeamter nicht verweigern kann, schließlich ist der Beamte auch ein emotionaler Mensch und nicht nur ein Werkzeug der Gesellschaft und des Staates. Dass sich in diesen Fällen auch der Leser persönlicher Gedanken nicht erwehren kann, ist sicherlich gewollt.

Josef Wilfling beschönigt oder überzeichnet die Grausamkeiten nicht, was ich im höchsten Maße lobenswert finde. Als Kritikpunkt habe ich nur empfunden, dass er nicht so sehr auf die Angehörigen und deren Situation eingegangen ist. Es ist ja zweifelsfrei so, dass bei enem Mord nicht nur ein Opfer auf der Strecke bleibt, sondern oftmals eine ganze Familie den Verlust zu spüren bekommt. Welche Grausamkeit und psychologischen Schäden solch ein brutaler Eingriff in das tägliche Leben mit sich bringt, bleibt leider etwas im Dunklen. Vielleicht ist es aber auch reiner Selbstschutz des Autors, denn die Geister die man dadurch wachruft, werden nicht wieder lebendig, sie quälen nur weiter. Trotzdem hätte ich gerne mehr darüber gelesen, was ein Ermittler fühlt und empfindet, woran er denkt, wie lange das nachwirkt, wie er mit solchen Gewalttaten in seinem persönlichen Umfeld umgeht und auch, welche immense Aufgabe auf den Beamten zukommt, wenn er den nächsten Angehörigen den gewaltsamen Tod eines geliebten Menschen möglichst schonend beibringen muss.

_Fazit_

Alles in allem ist Josef Wilflings Werk „Abgründe“ absolut empfehlenswert. Es hält sich an Fakten, driftet nicht ab in fantasievolle Erzählungen, zeichnet ein realistisches Alltagsbild der Ermittlungsarbeiten und macht sehr deutlich, wie Mörder denken bzw. was deren ausschlaggebendes Motiv sein kann.

Das Thema Mord ist ein komplexer Bereich mit vielen unterschiedlichen Ebenen und Perspektiven des Verstehens, die der ‚Normalbürger‘ in seinen Leben hoffentlich gar nicht erst kennenlernen wird. Wilfling präsentiert seine Erfahrungen aus der Perspektive des Ermittlers, oftmals auch des Täters, allerdings weniger aus Sicht der Angehörigen. So spektakulär ein guter und durchdachter Krimi auch sein kann – die Wahrheit zu analysieren und zu hinterfragen, ist spannender als jeder atemberaubende Thriller im Kino.

Ein Wermutstropfen bei der Lektüre ist das schwache Lektorat. Neben Formulierungsschwächen und Wiederholungen treten immer wieder Flüchtigkeitsfehler wie vertauschte Personennamen zutage. Nichtsdestotrotz ist „Abgründe. Wenn Menschen zu Mördern werden“ als eine Art von authentischem Thriller eine Klasse für sich. Eindrucksvoll spannend, kritisch und hinter die Kulissen blickend – ein fabelhaftes Buch, das auf eine „Mordserfahrung“ zurückgreifen kann.

|Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-16753-7|
http://www.heyne.de

Dimitri Verhulst – Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten

Inhalt:

Alles begann in einer Art Ursuppe. Eines der Suppeningredienzien wollte höher hinaus als alle anderen, kroch an Land und mehrte sich redlich. Den Weg dieses mit dem Willen zur Macht ausgestatteten Wesens vollzieht Dimitri Verhulst nach. In raschen Schritten saust er über die Menschheitsgeschichte hinweg, stößt mit ausgestrecktem Finger direkt in die ekligen Tatsachen und lässt durch seine Auswahl des Erzählten im Lesergehirn immer wieder unwillkürlich die Frage aufblitzen, ob man nicht doch besser namenloses Teilchen der Ursuppe geblieben wäre, anstatt aufrecht gehen zu wollen und schließlich die Atombombe zu zünden.

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Kaul, Johannes – Höhenrausch und Atemnot

Das Extrembergsteigen hat sich in den letzten zwei Dekaden kontinuierlich und immer mehr zum Volkssport entwickelt. Die riesigen Giganten im Himalaya sind längst keine unbezwingbaren Illusionen mehr, die 8000er haben sich gleichermaßen vom puren Phantasiegebilde in erreichbare Kultgipfel verwandelt. Und da man auch als leicht trainierter Hobby-Alpinist problemlos in die für europäische Verhältnisse enormen Höhen aufsteigen kann, haben sich in besagter Zeit viele Mythen schleppend aber doch effektiv in Luft aufgelöst.

Ein Berg, für den diese Form der Vermarktung mehr als jede andere zutrifft, ist sicherlich der Kilimandscharo, kurz Kibo, den vor ungefähr 30 Jahren höchstens drei Personen jährlich zu besteigen wagten. Heute ist er zum Zentrum eines eigenartig ausgelegten Massentourismus geworden, welcher mit 25.000 Mensche in jedem Jahr mehr Leute anzieht als einige namhafte Gipfel im Gebiet der Alpen. Dass der Kilimandscharo deshalb aber längst kein Berg ist, den man im spielerischen Alleingang meistern kann, steht außer Frage, und wird von ARD/WDR-Reporter Johannes Kaul in seinem Erlebnisbericht noch einmal mit vielen schlagkräftigen Argumenten und einschlägigen Erfahrungen untermalt.

Dabei stellt sich aber erst einmal die Frage, ob Kaul lediglich ein weiterer Hobby-Schreiber ist, der dieses Medium nutzt, um sich und seinen Gipfelerfolg abzufeiern. Der Markt boomt, und gerade weil der Kibo einer jener Berge ist, der diesbezüglich immer mal wieder gerne in Augenschein genommen wird, ist eine gewisse Skepsis durchaus angebracht. Bei 25.000 Besteigungen jährlich erscheint die Leistung Kauls bei allem Respekt nämlich nicht mehr ganz so grandios wie beispielsweise in den Himalaya-Tagebüchern einer Gerlinde Kaltenbrunner.

Doch „Höhennot und Atemrausch“, so der Titel des Buches, ist weitaus mehr als das Tagebuch eines medienpräsenten Menschen, der seine Expedition für wichtig genug hielt, sie auch in literarischer Form abzufassen. Es ist gleichzeitig die Dokumentation eines ausgefallen TV-Projekts, dessen Ziel darin bestand, als erster Trupp live von der Gipfelbesteigung des höchsten Berges in Afrika mit der Kamera zu berichten. Ferner ist es ein in eindringliche Worte gefasster Motivationsschub für die ältere Generation, da der weniger sportliche Kaul zeigt, dass man mit einem bekämpften inneren Schweinehund und einer Menge Willenskraft und Entschlossenheit selbst vermeintlich unerreichbare Ziele wie etwa diesen knapp 6000m hohen Berg erreichen kann. Immerhin ist der Autor des Buches zum Zeitpunkt der Besteigung schon stolze 67 Jahre alt.

Als Letztes ist „Höhennot und Atemrausch“ aber auch eine sehr persönliche Analyse der Vorgänge am Kilimandscharo, angefangen bei den manchmal recht dramatischen Background-Storys der Träger, über den Umgang mit Leichtsinn, Überheblichkeit und Fehleinschätzungen in den Gipfelregionen, bis hin zur sehr authentischen Umschreibung der Aufstiegsbedingungen und den eher bedenklichen hygienischen Zuständen vor Ort. Kaul erlebt seine Expedition durchaus als Abenteuer, bleibt aber dennoch kritisch und setzt bei seinen kleinen Sticheleien auch auf politischer Ebene an. Die Frage danach, wohin das Geld wandert, das der Nationalpark dank seiner enorm hohen Besucherzahlen Jahr für Jahr einfährt, steht vornan. Ebenso hinterfragt der Autor das Trägersystem, welches für die Beteiligten Geringverdiener alles andere als gesundheitsförderlich ist, das gleichzeitig aber auch viel zu schlecht von Seiten der Regierung Tansanias unterstützt wird.

Und dann – und dieser Einblick gefällt mitunter am besten – nutzt der Autor am Ende seine Position als Reporter immer wieder, um den Menschen in der direkten Umgebung einige persönliche Geschichten zu entlocken und ihr Leben am Berg bzw. mit dessen religiösen Verbindungen besser zu verstehen. Als Kaul beispielsweise eine Frau anspricht, deren Sohn als Träger an der Höhenkrankheit umgekommen ist, erfährt man aus erster Hand, dass die Besteigung des Kilimandscharo bei weitem nicht so glanzvoll arrangiert ist, wie man es in der ersten Euphorie gerne mal beschreibt. Ebenso häufig bringt der Berg nämlich auch seine Schattenseiten hervor und stellt den Wahn, der mittlerweile um ihn und seine kontinuierlich schmelzende Gletscherfläche betrieben wird, deutlich in Frage.

Dennoch: „Höhennot und Atemrausch“ bleibt in erster Linie ein Erfahrungsbericht, der trotz der geringen Seitenzahl sehr detailliert ist und die Route zum Gipfel viel transparenter darstellt, als man es in vergleichbaren Titeln bislang lesen konnte. Kaul spart auch nicht an Kleinigkeiten und gibt einem gerade im letzten Drittel des Buches das Gefühl, leibhaftig an diesem Trek teilgenommen zu haben.

Der letzte Punkt, der noch lobenswert hervorgehoben werden muss, ist die sehr praxisnahe Aufstellung des logistischen Aufwandes für einen solchen Trip. Die Vorbereitungen in der Heimat werden in diesem Zusammenhang in aller Ausführlichkeit angeschnitten, weiterhin wird aber auch mit Informationen nicht gespart, welche die nötige Ausrüstung für eine solche Mammuttour betreffen. Man gewinnt einfach schnell eine Vorstellung davon, was das Abenteuer Kilimandscharo bedeutet, was an persönlichem Einsatz erforderlich ist und welche Grundvoraussetzungen mitzubringen sind, um das Wagnis einzugehen, es mit dem Berg der Götter aufzunehmen – und letzten Endes ist es ja auch gerade das, was man in einem solch abenteuerlich präsentierten Erlebnisbericht lesen will.

Ergo: „Höhenrausch und Atemnot“ ist informativ auf der einen, unterhaltsam auf der anderen Seite, darüber hinaus mit vielen persönlichen Anekdote geschmückt und in Sachen Erzählatmosphäre in diesem Genre eine absolute Bereicherung. Nicht nur passionierte Alpinisten sollten daher dringend mal einen Blick riskieren; denn was man aus diesem Buch mitnehmen kann, ist in der Summe schon eine ganze Menge!

|Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
ISBN-13: 978-3517085425|
[südwest-Verlag]http://www.randomhouse.de/suedwest/verlag.jsp?men=537&pub=32000

Bausenwein, Christoph – Prinzip Uli Hoeneß, Das – Ein Leben für den FC Bayern

Ein Leben für den FC Bayern, ein Leben als Reizfigur, ein Leben im ständigen öffentlichen Interesse, und ab und an auch ein Leben für die ‚Abteilung Attacke‘: Uli Hoeneß gehört von Jugendbeinen an zu den Figuren im deutschen Sport, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ständig die Extreme zu leben, permanent zu polarisieren und mit klaren Ansagen und ohne Blatt vorm Mund an die Öffentlichkeit zu treten. Bereits als aufstrebender, bulliger Stürmer beim Münchener Erfolgsclub konnte er diesen Status verbuchen und galt in der Ära Beckenbauer eher als Störenfried denn als Leitfigur. Doch der Erfolg gab ihm schon zu jener Zeit immer wieder Recht und führte ihn schließlich an jenen Posten, der ihn berühmt und berüchtigt machte, nämlich den des Managers in Deutschlands inzwischen größtem Prestigeverein.

Was sich unterm Strich wie die makellose Bilanz einer erfolgreichen Karriere als Geschäftsmann liest, ist auf der anderen Seite auch der ständige Kampf gegen Mauern und um Akzeptanz, den Hoeneß auf allen nur erdenklichen Ebenen ausgetragen hat. Als Spieler galt er aufgrund seiner Gehaltsvorstellungen und seiner großen Klappe bereits vereinsintern als Buhmann, konnte sich mit seinen Qualitäten aber am Ende immer wieder durchsetzen. In seiner Rolle als Manager wiederum bewies er häufig Mut und wählte unbequeme Wege, zehrte aber auch hier jederzeit von seinem kreativen Geschäftssinn, für den unter anderem das heutige Budget des Rekordmeisters spricht. Und in seiner ungeliebten Rolle als inoffizieller Presseabgeordneter des FC Bayern, wurde er ununterbrochen für seine scharfe Zunge und seine nicht selten arroganten, großspurigen Ansagen getadelt.

Doch Hoeneß wäre nicht Hoeneß, wäre ihm der steinige Weg nicht jederzeit der liebste gewesen. Geboren in einer hart arbeitenden Metzgerfamilie, lernte er bereits sehr früh, Werte anzuerkennen und zu leben, und führte den damit verbundenen Ehrgeiz so weit, wie es die Leistungsgrenzen finanziell und physisch erlaubten.

Mit seinem Ausscheiden als Bayern-Manager und seinem Wechsel ins Präsidium der deutschen Fußball-Topadresse ist für den stets hochroten Choleriker nun die Zeit gekommen, auf sein Leben zurückzublicken. Dies tut Hoeneß nun mit Fußballexperte und Autorengenie Christoph Bausenwein. Chronologisch, aber dennoch stets reflexiv, geht der Autor von „Das Prinzip Uli Hoeneß“ Stationen, Einstellungen, Siegen und Niederlagen nach – und entdeckt dabei vor allem eines: den Menschen Uli Hoeneß, der in allen medialen Zwistigkeiten fast ausnahmslos zugunsten einer skandalsuchenden Berichterstattung nach hinten gedrängt wurde.

Doch Bausenwein geht mit seinem kurzzeitigen Alter Ego nicht gerade zimperlich um; die Figur Hoeneß wird sehr kritisch aufgearbeitet und weniger auf ihre zahlreichen Erfolge reduziert. Ganz im Gegenteil: Während der Autor in kaum einem Nebensatz das Manager-Genie des beschriebenen Protagonisten außen vor lässt, kommt er auch immer wieder auf die Unzulänglichkeiten und Affären zu sprechen, die unmittelbar mit dem FC Bayern und der Person Uli Hoeneß verbunden waren. Zuallererst kommt er natürlich auf den unendlichen Zwist mit Christoph Daum zu sprechen, der fast das Karriereaus für den Manager bedeutet hätte. Und natürlich werden die Wortgefechte mit Werder Bremens Ex-Manager Willi Lemke hervorgehoben, diesmal aber mit dem spitzfindigen Sieger Hoeneß, der insgeheim auch immer die besseren Argumente parat hatte als sein norddeutsches Pendant.

Aber es sind nicht nur die Streitereien und die Arroganz, die die öffentliche Person Hoeneß charakterisieren sollen. Immer wieder schildert Bausewein, der überdies auf eine überragende Recherchearbeit verweisen kann, wie der Manager seinen Posten genutzt hat, um aufzurütteln und im Rahmen des Möglichen kleine Revolutionen loszutreten. Und es sind eben genau diese Phasen in der Karriere dieses Menschen, die – und das wird auch der große Teil der Hoeneß-Hasse zugestehen müssen – insgesamt nicht den Respekt erbracht haben, der für die jeweilige Leistung angebracht gewesen wäre. Die Vermarktung der Bundesliga und die Etablierung dieses Markenzeichens gehen zu einem wesentlichen Teil auf die Kappe des Bayern-Präsidenten. Aber auch die hiesigen Entwicklungen im Merchandise-Bereich darf sich Hoeneß auf seine Verdienstliste schreiben, da er hier rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und effizient für den FC Bayern genutzt hat. Im Großen und Ganzen hat er sich daher auch nicht nur um seinen Stammverein, sondern auch für den kontinuierlichen Aufschwung der Bundesliga verdient gemacht und den vielleicht größten Anteil daran gehabt, wie sich der deutsche Vereinsfußball seit den Siebzigern verändert und entwickelt hat. Und alleine zu lesen, mit welchen raffinierten Tricks und Kniffen Hoeneß hierbei gearbeitet hat, wie viel Gegenwind er dafür in Kauf nehmen musste und – ganz wichtig auch – warum ihm daran lag, in der Öffentlichkeit auch mal zur Attacke zu blasen, ist lohnenswert genug, sich mit „Das Prinzip Uli Hoeneß“ auseinanderzusetzen.

Doch den eigentlichen Reiz des Buches machen jene stillen Kapitel aus, in denen auch mal die persönliche Seite herausgekehrt wird. Da kommt der Familienmensch Uli Hoeneß zum Vorschein, sein soziales Engagement, das er bewusst aus den Medien heraushalten möchte, seine Fürsorge für das Etikett Deutscher Fußball und auch sein ungebrochener Kampf für Fairness und Gerechtigkeit auf internationaler Ebene. Das Vorbild Real Madrid sportlich, das Vorbild FC Bayern wirtschaftlich – das war stets das Bestreben seiner Arbeit; und dieser facettenreiche Komplex wird in „Das Prinzip Uli Hoeneß“ packend, teils auch humorvoll, aber eben auch sehr fokussiert wiedergegeben. Der relativ hohe Preis mag zwar noch ein grundsätzliches Hindernis für eine Investition sein, doch die ist inhaltlich jeden Cent wert – genauso wie der Kosten-Nutzen-Effekt, den Hoeneß in seinen 33 Jahren als Bayern-Manager zum höchsten Gut erklärt hat. Von daher ist die Empfehlung das Mindeste, was man dieser eigentlich so ungeliebten Person aussprechen muss. Gerade aus der neu gewonnenen Erkenntnis heraus, dass ‚der Uli eigentlich ein prima Kerl ist‘!

http://www.werkstatt-verlag.de
http://www.christophbausenwein.de

Köhler, Horst (Horn, Guildo) – Doppel-Ich

Er ist der ‚Meister‘, als solcher ein echter Vorzeige-Hippie, der Retter der Nussecken und des deutschen Schlagers, und vor allem hat er uns alle lieb: Guildo Horn ist aufgrund seines gewöhnungsbedürftigen, nicht gerade konventionellen Erscheinungsbilds eine Person, die unfreiwillig polarisiert, der es aber nie darum gegangen ist, die Meinungen zu spalten oder wegen seines auffälligen Äußeren im Rampenlicht zu stehen. Stattdessen ist Horn vor allem als Mensch in Erscheinung getreten, der mit seinen Meinungen nicht zurückhält, der auch unbequeme Themen anspricht, der sich vor allem nicht verdrehen lässt und mit seinem Idealismus immer mehr Leute von sich überzeugt hat.

Dem gegenüber steht aber auch ein sehr sensibler Mensch, eine zielorientierte Person, die für Werte, Traditionen und den Erhalt der Kultur einsteht, die Moral verteidigt, sich aber auch bemüht, sie adäquat neu zu definieren. Kurzum: Dieser Guildo Horn, der eigentlich Horst Köhler heißt und nicht nur einmal mit dem aktuellen Bundespräsidenten verwechselt wurde, ist ein Eigenbrödler, aber ein sympathischer dazu – und dass er viel zu erzählen hat, ergibt sich aus seinem bunten, bewegten Lebenslauf von selbst.

In „Doppel-Ich“ präsentiert Horn alias Köhler seine zweite, bislang oft zurückgehaltene Identität als Privatmensch. Er berichtet von seinem Beruf – oder besser gesagt seiner Berufung – als soziale Kraft in der Arbeit mit geistig behinderten Menschen, spricht von den vielen Vorurteilen, die auch ihm immer wieder entgegengebracht wurden, und vom Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten. Und wie es seinem Naturell entspricht, bleibt Köhler hierbei sehr gelassen, vermeidet jeglichen Ansatz von Wut und Aggression und formuliert selbst die unliebsamsten Erfahrungen auf positive Art und Weise. Unterdessen beschreibt er wichtige Stationen in seinem Leben, schneidet seine Kindheit an, die Beweggründe für den eingeschlagenen Lebenswandel, kommt immer wieder auf das Minderheiten-Thema zu sprechen, das ihn tagtäglich im Berufsalltag beschäftigt, und orientiert sich erst einmal nicht an der Person, die über das Showbusiness an die Öffentlichkeit getrieben ist und ihn spätestens seit der Grand-Prix-Teilnahme zum Superstar im hiesigen Schlager gemacht hat.

Bis Guildo jedoch ins Spiel kommt, hat man schon so einiges über den Menschen erfahren, der mit der nötigen Entschlossenheit, aber auch mit der so seltenen Authentizität an sein Werk gegangen ist. Natürlich verkündet Horn zwischen den Zeilen sehr stolz, dass er sich mit seinem musikalischen Konzept durchgesetzt hat, ohne zwangsläufig im Strom mitschwimmen zu müssen. Zwar blieben ihm weitere Hits versagt, doch alleine dieser Moment, es geschafft zu haben, mit einem ehrlichen Stück Arbeit an die Spitze gekommen zu sein, wird ausgekostet und mit ein wenig Detailverliebtheit weitergegeben – schließlich ist es wahrscheinlich auch der Knackpunkt gewesen, der überhaupt erst dazu führen konnte, dass das Interesse an diesem Menschen gewachsen ist und diese Biografie überhaupt erst realisiert werden konnte.

Doch was will Köhler/Horn uns nun überhaupt mit der ebenfalls alles andere als normal strukturierten Lebensgeschichte sagen? Steckt tatsächlich eine tiefere Intention hinter „Doppel-Ich“? Tja, sie tut’s, doch sie ist ebenso simpel wie effektiv: Es geht einfach darum zu vermitteln, dass man auch als vergleichsweise unauffälliger Durchschnittsbürger zu etwas kommen kann, wenn man sich nicht verdrehen und ummodellieren lässt, sondern einfach nur ehrlich und selbstbewusst sein Ding durchzieht. Mit dieser Lebensweisheit hat Guildo Horn es zu einer der wichtigsten Personen des letzten Jahrzehnts gebracht, sich bis heute immer wieder im Gespräch gehalten und trotz des Erfolgs immer seinen Standpunkt verteidigen können. Das macht den Sympatico nicht bloß zu einem glaubwürdigen Idol oder einem stillen Helden, sondern auch zu einem der angenehmsten Zeitgenossen, die der Buchmarkt im Hinblick auf die derzeit publizierten Biografien zu bieten hat. Denn was könnte lesenswerter sein als das Leben an sich? Gerade wenn es zeigt, dass Randerscheinungen wie geistige Behinderungen keine Barrieren für ein Miteinander mehr sein müssen …

|Gebundenes Buch, Pappband, 192 Seiten
ISBN: 978-3-579-06990-6|
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Zachert, Christel – Mein Weg auf den Kilimandscharo

Christel Zachert ist eine Kämpfernatur, als solche durch Höhen und Tiefen gegangen, aber nie so weit gelangt, den Glauben an sich selbst zu verlieren. Vor 25 Jahren verstarb ihre Tochter im Alter von gerade mal 15 Jahren an Krebs und gab ihr jeden Grund, die Hoffnung am Leben aufzugeben. Auch die Misere ihres Sohnes Christian hat ihr schwer zu schaffen gemacht, sie aber nicht zu Boden gerissen. Doch Zachert hat zeit ihres Lebens auch eine gesunde Stütze: Ihr Ehemann Hans galt in der Position des BKA-Präsidenten als einer der mächtigsten Beamten in der gesamten Republik, sie wiederum stand als Finanzberaterin im gehobenen Dienst ebenfalls auf sicheren Beinen.

Christel Zachert ist zudem vor allem eines: eine sehr selbstbewusste Frau. Aus eigenem Engagement hat sie eine Stiftung für krebskranke Kinder gegründet und ein Camp für diese Menschen errichtet, das seit der Gründung auf eine finanzielle Stütze von beinahe einer Million Euro bauen kann. Doch die inzwischen 67 Jahre alte Dame ist mit ihren Träumen längst nicht am Ende. Während eines Vortrags in ihrem Betrieb wurde sie auf das Kilimandscharo-Programm von Hubert Schwarz aufmerksam, welches vor allem Leuten im gesetzten Alter noch beweisen soll, dass man Grenzen überschreiten kann, die unerreichbar scheinen. Vor zwei Jahren ließ sie sich schließlich nicht mehr von der Idee abbringen, dieses Projekt selber anzupacken und ihre alte Liebe fürs Bergsteigen in einem finalen Gewaltakt neu entflammen zu lassen. Nach intensiver Vorbereitung und vielen Abwägungen erreichte Christel Zachert im September 2007 den Gipfel des höchsten Berges Afrikas. Mit ein wenig Distanz veröffentlicht sie nun ihren aufschlussreichen Reisebericht, der vor allem ein Ziel verfolgt, nämlich allen Menschen zu zeigen, dass man für seine Träume kämpfen und einstehen muss, damit sie schlussendlich auch realisiert werden können.

Zachert verfolgt dabei einen sehr offenen Schreibstil, der auf Anhieb ein sehr buntes Publikum ansprechen sollte. Die Autorin verbirgt nicht sonderlich viel Privates, spricht über ihre Vorlieben und Wünsche, reflektiert aber auch in kurzen Zügen sehr positiv ihr Leben, das trotz der herben Schicksalsschläge nie aus dem Ruder gelaufen ist. Flink wechselt sie schließlich zur Verwirklichung eines spät entwickelten Lebenstraums und beschreibt vorab die Umstände, die das Kilimandscharo-Projekt erst angeleiert haben. Zachert redet von Bedenken, dem schlechten Gewissen ihrem körperlich nicht mehr ganz so leistungsstarken Mann gegenüber, andererseits aber auch von ihrer ungebändigten Motivation und ihrer persönlichen Fitness, die sie schließlich auch auf den Gipfel treiben sollen.

Dementsprechend ist das eigentliche Kernthema des Buches auch nicht zwingend die beschwerliche Tour zum Gipfel, sondern vielmehr eine Aufforderung an die ältere Generation, jeglichen Antrieb zu nutzen und sich nicht von den Klischees der alternden Knochen unterkriegen zu lassen. Es ist vor allem der Lebensmut, mit dem die Autorin dies beschreibt, der hier prägend ist und auch später haften bleibt, quasi als Motivationsstütze für den angesprochenen Leser. Und daher ist „Mein Weg auf den Kilimandscharo“ auch kein typischer Erlebnisbereicht, sondern einfach eine Art persönlicher Message, verpackt in die Schilderung einer Reise mit einem ungewöhnlichen, beeindruckenden Ziel.

Nichtsdestotrotz: Wer ein bisschen etwas über die Gegebenheiten im Grenzgebiet von Tansania und Kenia erfahren möchte, ein paar Eindrücke von der dortigen Berglandschaft sammeln mag und auch eine grobe Vorstellung davon bekommen will, wie sich eine solche Tour organisiert und was zu beachten ist, der findet hier auch die nötige Inspiration, ergänzt von einigen Erfahrungsberichten von der Basis und einer sehenswerten Fotostrecke aus dem Herzen Afrikas – und natürlich die sympathischen Geschichten, die Zachert über sich und die beteiligte Wanderschaft erzählt.

Am Ende ist „Mein Weg auf den Kilimandscharo“ zwar nur ein sehr kurzes Vergnügen, aber auf jeden Fall eine nette, unterhaltsame Lektüre, die locker darüber berichtet, was es erfordert, seine Träume zu realisieren und seine Grenzen kennen zu lernen. Nicht zuletzt wegen des schlichtweg freundlichen Erzählstils entfällt daher auch die Limitation auf bestimmte Lesergruppen, was den Titel gleich noch empfehlenswerter macht.

|143 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-86506-310-6|

Brendow Verlag

John Naish – Genug. Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen

Praktische Anleitung zum Zufriedensein

Mehr Informationen, mehr Essen, mehr Sachen, mehr Statussymbole. Heute gibt es von allem mehr, als wir jemals nutzen, genießen oder uns leisten können. Trotzdem rücken wir in der Überflussgesellschaft keinen Millimeter von der ältesten Überlebensstrategie der Menschheit ab: zu horten. Wir wollen immer mehr, auch wenn es uns krank, müde, übergewichtig, unzufrieden und arm macht. Die Welt des Überflusses zerstört jedoch unsere persönlichen Ressourcen ebenso gründlich wie die unserer Heimatwelt. (abgewandelte Verlagsinfo) Naish zeigt uns die Probleme ebenso wie die Strategien, wie wir sie bewältigen können. Praktische To-do-Listen helfen den Betroffenen ganz konkret – sofern sie sie beherzigen.

Der Autor

John Naish – Genug. Wie Sie der Welt des Überflusses entkommen weiterlesen

Wieland, Karin / Kraushaar, Wolfgang / Reemtsma, Jan Philipp – Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF

Der alte Mann ist ärgerlich. „Solche wie die RAF müsste es wieder geben, damit sich hier etwas ändert.“ Ein Zitat aus dem Spätsommer 2008, während einer Umfrage vor der Kommunalwahl in Potsdam. Drei andere Männer stehen an diesem Morgen um den wütenden Herren herum, alle mit kleinen Hunden an der Leine. Und alle nicken, als er die RAF und ihre Taten verherrlicht.

Die Bombenattentate von damals finden immer noch Sympathisanten – und sind inzwischen auch Filmattraktionen. Mit Streifen wie dem für den Oscar nominierten „Der Baader Meinhof Komplex“ (die Schreibung entspricht einer neueren Unsitte der Filmindustrie; die Buchvorlage schreibt sich ganz korrekt „Der Baader-Meinhof-Komplex“) oder dem Fernsehfilm „Mogadisch“ sind erst jüngst wieder die Rote Armee Fraktion und Namen wie Andreas Baader, Gudrun Enslin oder Brigitte Mohnhaupt zentral ins Gedächtnis der deutschen Öffentlichkeit gerückt – als Stoff für actionreiche Dramen. Und auch die Diskussionen um die Taten der RAF vor mehr als 30 Jahren halten an.

Einen betont nüchternen Beitrag zum Thema haben schon vor vier Jahren die Politikforscher Karin Wieland, Wolfgang Kraushaar und Jan Philipp Reemtsma vorgelegt. In ihrem Büchlein versuchen sie auf 150 Seiten den Mythos RAF und dazugehörige Legenden zu entzaubern. Drei Thesen stellen sie auf: Die Studentenbewegung, aus der die RAF schließlich entstanden ist, war längst nicht so unschuldig wie oft behauptet, der Terror längst nicht zufällig. In einem weiteren Text wird die Persönlichkeit von RAF-Chef Andreas Baader beschrieben, sein Narzissmus, sein Hochmut, seine Aggression, seine Unfähigkeit zu Selbstreflexion. Schließlich geht es um den Mythos RAF an sich: Wie vor allem schafften es Terroristen dieses Schlages, eine breite Unterstützerszene für ihr Tun zu gewinnen. Dieses Thema zieht sich auch durch die anderen Texte, besonders die linke Bewegung der Bundesrepublik wird kritisiert: Die Verbrechen der RAF seien oft übersehen worden. Stattdessen sei den Terroristen häufig mit Verständnis begegnet worden, weil diese angeblich von Staat und Gesellschaft isoliert worden seien – stattdessen hätten aber gerade ihre Taten die Isolierung bewirkt. Dazu werfen die Autoren der extrem linken Szene der damaligen Zeit eine Art Undankbarkeit vor: „Rückblickend besteht der Eindruck, als habe diese Generation alles unternommen, um zu vertuschen, dass sie die eigentlichen Gewinner der Bundesrepublik sind.“

Solche Positionen sind freilich streitbar. Doch sind die Argumentationsstrukturen der drei Autoren zumindest so klar aufgebaut, dass ihre Grundannahmen schlüssig belegt scheinen. Allein ein Problem gibt es: Leider sind vor allem die Texte von Kraushaar und Reemtsma allzu oft in stark wissenschaftlichem Stil gehalten, Laien könnten dies schnell als dialektisches Geschwurbel abtun. Dieser vielfach umständliche Ausdruck ist es dann aber auch, der Menschen mit Interesse für das Thema abschrecken könnte – gerade bei so spannender Materie wie dem Verhältnis von linker Szene und RAF ist das eine bedauernswerte Schwäche. Wer sich allerdings dann doch durch die 150 Seiten gekämpft hat, wird die RAF möglicherweise neu sehen – nicht als Heilsbringer, nicht als moderne Kinohelden. Sondern als ideologisch verblendete Verbrecher.

|142 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-936096-54-5|
http://www.his-online.de

Keen, Andrew – Stunde der Stümper, Die

_Eine digitale Höllenfahrt in neun Kapiteln_

Im 21. Jahrhundert scheint ein alter Menschheitstraum endlich Wahrheit geworden zu sein: Die weite Welt ist durch das Internet 2.0 vernetzt, der Informationsprozess bleibt nicht länger einer Elite von Forschenden und Wissenden vorbehalten. Jede Frau und jeder Mann, die oder der sich berufen fühlt, kann einsteigen und öffentlich = global ihre/seine Meinung kundtun. Es wird gebloggt, was die Leitungen hergeben; heute teilt sich eine Menschenschar in unbekannter, aber dreistelliger Millionenzahl regelmäßig über das Internet mit. Sie beschränken sich nicht auf die Ausstellung persönlicher Befindlichkeiten. ‚Wissenschaftliche‘ Artikel aus den Natur- und Geisteswissenschaften stehen neben tagesaktuell vorgestellten & kommentierten Neuigkeiten; Romane, Gedichte, Musik und neuerdings Filme zeugen von der kreativen Ader der Internet-2.0-Gemeinde.

Längst sind Wirtschaft und Politik aufmerksam geworden und nutzen das Web zur Realisierung eigener Vorhaben. Internetportale sind wertvoll geworden. Immer größere Informations- und Unterhaltungsdateien treten ihre digitale Reise an. Die Welt verwandelt sich in einen riesengroßen, kunterbunten Selbstbedienungsladen, in dem alles ständig verfügbar ist.

Oder? Mit einer gewissen Verspätung treten die Kritiker des Internet 2.0 auf den Plan. Sie haben es schwer, denn ihnen zuvor kamen die Befürworter und Profiteure, die von unendlichen Möglichkeiten schwärmten und gewaltige Gewinne ankündigten. Dass noch jede Innovation in der Geschichte der Menschheit ihre Schattenseiten hatte, wurde geflissentlich ausgeblendet. Wieso ausgerechnet das Internet 2.0 so lange nicht kritisch hinterfragt wurde, ist eines der Themen, denen sich Andrew Keen in „Die Stunde der Stümper“ nicht nur mit viel Wissen, sondern auch mit Verve widmet.

_Wird der Planet der Affen Realität?_

In den 1990er Jahren war Autor Keen selbst im berühmt-berüchtigten kalifornischen Silicon Valley tätig und ein eifriger Vertreter der „Neuen Medien“. Er kennt die Materie deshalb gut, und auch wenn er sich allzu kompromisslos vom Saulus zum Paulus gewandelt hat – dazu weiter unten mehr -, beeindrucken und beunruhigen die Fakten, mit denen er seine Thesen untermauert.

Eine endlose Kette aufgedeckter Internet-Sünden bildet den roten Faden in einem ansonsten recht wüst (oder wenig) gegliederten Buch, was Keen in seinem Nachwort gar nicht leugnet. „Wes‘ Herz ist voll, des‘ Mund läuft über“: Diese Haltung verleiht dem Verfasser Schwung und Überzeugungskraft, aber es lässt ihn auch wie eine wütende Gämse von Thema zu Thema springen.

In neun Kapitel presst Keen seine Darstellung. Mit einem Paukenschlag beginnt er: seiner Einleitung, die den angedeuteten Erweckungsprozess schildert, der in diesem Buch gipfelte. Schon auf diesen ersten Seiten legt Keen sich keinerlei Zurückhaltung auf. Ausgehend von einem bekannten Lehrsatz des Evolutionsbiologen Thomas Henry Huxley (1825-1890), nach dem man nur eine unendliche Anzahl von Affen mit Schreibmaschinen ausrüsten müsse, die irgendwann ein literarisches Meisterwerk vom Format eines Dramas von Shakespeares liefern würden, definiert Keen den Alltag des Internet 2.0 so: |“Doch … Millionen und Abermillionen übermütiger Internetnutzer, von denen vielen nicht mehr Talent haben als unsere äffischen Verwandten, produzieren keine Meisterwerke, sondern einen endlosen Dschungel der Mittelmäßigkeit. Diese Amateuraffen von heute können mit ihren vernetzten Computern nämlich alles publizieren: politische Kommentare ohne Informationsgrundlage, ungehörige selbst gedrehte Videos, peinliche Amateurmusik oder unlesbare Gedichte, Rezensionen, Essays und Romane.“| (S. 10)

Mit dem Sturz des „edlen Amateurs“ (der deutsche Titel ‚übersetzt‘ dies marktschreierisch als „Stümper“), der sich dank Internet vor allem selbst auf sein hohes Ross gesetzt hat, beginnt Keen denn auch seine Expedition in ein digitales Land des Grauens, erzählt von selbst ernannten „Bürgerjournalisten“, die ohne jede Vor- oder journalistische Ausbildung das Internet mit Halb- und Null-‚Wissen‘ verstopfen und damit Glauben finden, weil die menschliche Mehrheit lieber glaubt, was sie glauben möchte, und simplifizierte Gedankengänge der oft komplexen Realität vorzieht. Weiter geht es mit „Spammern und Abzockern“, mit Lügnern, Wirrköpfen, Faktenverdrehern und anderen manipulativen Zeitgenossen, die im Internet endlich das Medium gefunden haben, über das sie, die bisher mit Fug und Recht mit Fußtritten davongejagt wurden, ihren Schwachsinn verbreiten können.

Das Kapitel „Wahrheit und Lügen“ räumt mit dem Irrglauben auf, dass Blogs der Welt etwas zu sagen haben. In der Regel ist es reine Nabelschau, die auf diese Weise betrieben wird, was kräftig dazu beiträgt, die wenigen lohnenswerten bzw. künstlerisch relevanten Texte, Musikstücke oder Filme im weißen Hintergrundrauschen des Internet 2.0 untergehen zu lassen.

_Der Autor, der Dieb, seine User und ihre Nutznießer_

„Wikipedia“ und „YouTube“ sind besonders rote Tücher für Keen, was er wiederum mit deprimierend einsichtigen Beweisen belegen kann. Unter dem Titel „The Day the Music Died“ beschäftigt er sich intensiv mit der Frage des geistigen Eigentums. In einer Ära der digitalen Tauschbörsen ist dank der modernen technischen Möglichkeiten nichts mehr vor dem unendlichen Kopieren sicher, was unter anderem die Musikbranche in eine existenzielle Krise stürzte; in einen ähnlichen Abgrund wird wohl auch das kommerzielle Kino stürzen.

Während Keen sich mit seinem Appell an die Wahrung von Eigentumsrechten in der digitalen Welt der Gegenwart eher lächerlich macht, kommt auch der hartgesottenste Downloader an einer Frage ins Grübeln: Wer kreiert zukünftig die originären Inhalte, wenn niemand mehr bereit ist, für Kultur und Kunst zu zahlen? Die Apologeten des Internet 2.0 vertreten den Standpunkt, dass der geistige Input einer nach Milliarden zählenden Schar von Beiträgern einen frei verfügbaren Pool unendlichen Wissens und unglaublich schöpferischer Kunst generieren wird. Keen kontert nüchtern mit einer elementaren Tatsache: |“Talent war schon immer eine begrenzte Ressource, und heute ist es die Nadel im digitalen Heuhaufen. Begabte, gut ausgebildete Menschen wird man nicht im Schlafanzug am Computer finden, wie sie geistlose Blog-Beiträge oder anonyme Filmrezensionen schreiben. Zur Talentförderung sind Arbeit, Geld und Erfahrung nötig.“| (S. 39) Das ist eine heutzutage offenbar unangenehme Wahrheit, die indes Wahrheit bleibt.

Der Aufstieg der Dummbärte und ihre wahlweise parasitäre Aneignung der Leistungen talentierter Mitmenschen bzw. die Ignorierung derselben, wenn diese einem bereits vorgefassten und erschütternd engem Weltbild nicht entsprechen, geht einher mit dem Abbau bewährter Informationsstrukturen. Die klassische Zeitung verliert immer mehr Leser: Wieso für die tägliche oder wöchentliche, von einem geschulten Team fachkundiger Journalisten und Redakteure betreute Ausgabe zahlen, wenn man sich kostenfrei per Internet ‚informieren‘ kann? Wie gut sich hinter professionell gestalteten Layouts Unwissen, Werbung oder politische Manipulation verbergen können, deckt Keen anhand zahlreicher Beispiele auf.

_Schöne, neue, abgründige Welt_

Zu den Gewinnern der Internet-2.0-Ära gehören erwartungsgemäß primär jene, die sich niemals naiv und früh genug der Möglichkeiten der neuen Technik bewusst waren und diese planvoll zu ihrem Nutzen einsetzen oder missbrauchen. Die Zeche zahlen die weniger Dreisten oder Klugen. „Moralische Verwirrung“ überschreibt Keen ein Kapitel, dass sich mit moderner Online-Spiel- oder Sex-Sucht beschäftigt und weiter beschreibt, wie sich von den Bedürfnissen ihres Alltags überforderte oder gelangweilte Menschen in der Traumwelt der „Second Lives“ verlieren.

Eher kurz, aber nichtsdestotrotz deutlich geht Keen auf das Thema Datenschutz ein. Am Beispiel der nichtsahnend genutzten Suchmaschinen weist er nach, wie deren Betreiber nicht nur unkontrolliert Userdaten sammeln, die sie nichts angehen, sondern diese der Werbung zur Verfügung stellen und – der Gipfel der Dreistigkeit – den zusammengerafften Datenbestand nicht nur ungeschützt lassen, sondern ihn nicht selten selbst preisgeben. Die intimsten Geheimnisse des sich anonym wähnenden Internet-Users können mit fatalen Folgen plötzlich öffentlich und dankbare Identitätsdiebe aktiv werden.

In einem abschließenden Kapitel versucht sich Keen an Lösungen für die zuvor aufgeworfenen Probleme. Für ihn läuft es auf die Bewahrung akademischer bzw. intellektueller Eliten hinaus, die nicht umsonst als solche gelten: Sie verfügen über das ‚echte‘ Wissen und benötigen in erster Linie fachkundige Mediatoren, die es dem interessierten Laien zur Verfügung stellen. Damit erteilt Keen den selbst ernannten Fachleuten der „Wikipedia“-Kategorie eine eindeutige Absage, was man ihm objektiv unterschreiben kann: Auf dieser Erde werden unterdrückte oder bisher unentdeckte Superhirne nur im Ausnahmefall durch das Internet 2.0 offenbar!

_Noch ist die Menschheit nicht verloren!_

Nachdem er auf über 200 Seiten ein Szenario des geistigen und moralischen Untergangs zelebriert hat, wird Keen im letzten Teil seines Buches versöhnlich. Am Beispiel der Wahl des US-Präsidenten von 2008 meint er zu erkennen, dass die ‚wichtigen‘ Aspekte des Alltags noch nicht in den Sog des zweiten Internets geraten sind. Obwohl der Wahlkampf durchaus von nutzergenerierten Dümmlich- und Hinterhältigkeiten begleitet wurde, hat sich nach Ansicht von Keen die klassische Demokratie durchgesetzt: Die Präsidentschaft wurde nicht durch das Internet entschieden – eine Furcht, die (nicht nur) Keen durchaus gehegt hatte.

Dieser Nachklapp passt nicht zum Tenor des bisher Gesagten & Beklagten. Es relativiert Keens Äußerungen, die nachträglich überspitzt klingen. Dies sind sie zweifellos, weil sich ihr Verfasser Gehör verschaffen möchte. Das ist ihm gelungen, und seine Polemik ist ein nützliches Instrument, weil in der Regel die Fakten auf Keens Seite sind.

Darüber vergisst der Leser jedoch leicht, dass auch Keen nur eine Stimme in dem Chor ist, der sich über die Vor- und Nachteile des Internets auslässt. Keen muss sich selbst der Kritik stellen, die er zumindest einem entsprechend vorgebildeten Publikum ausdrücklich zugesteht. Bei näherer Betrachtung finden sich dann schnell Positionen, die sich objektiv nicht halten lassen, weil sie übertrieben oder aus dem Zusammenhang gerissen oder – dies vor allem – subjektiv allein auf Keens Mist gewachsen sind.

Aus Saulus wurde wie schon erwähnt Paulus. Dabei ist das Pendel verständlicherweise ein gutes Stück zu weit auf die negativkritische Seite ausgeschlagen. Mehrfach entlarvt sich Keen als Vertreter allzu trivialer ‚Tatsachen‘. Im Rahmen seiner sonst ausgefeilten Ausführungen fallen Banalitäten wie diese unangenehm auf: „13-jährige sollten Fußball spielen oder Fahrrad fahren und nicht im abgeschlossenen Schlafzimmer Hardcore-Pornografie anschauen.“ (S. 173) Das sind exakte jene Verallgemeinerungen, die Keen so gern den „Affen“-Usern nachweist.

„Die Stunde der Stümper“ ist deshalb keine ‚Bibel‘ für den Internet-Skeptiker. Als solche werden sie nur jene betrachten, die bereits vor der Lektüre ‚wussten‘, dass das Internet ‚böse‘ ist. Solche Zeitgenossen sind indes ebenso kontraproduktiv wie die allzu kritiklosen Jünger der digitalen Wunderwelten. Keen besitzt eine Stimme, die sich Gehör verschaffen konnte. Ob oder besser: wie weit ihr zu trauen ist, bleibt den Lesern überlassen. Sie haben Fakten erfahren und vor allem Denkanstöße erhalten. Das ist es, was Keen ursprünglich wollte, bevor er in seinem (Über-)Eifer selbst zu predigen begann. Von dieser Welt muss jeder Mensch sich weiterhin selbst sein Bild machen. Worin man Keen zustimmen muss, ist die Forderung, die Quellen, aus denen man dabei schöpft, sehr sorgfältig und heute sorgfältiger denn je auf ihre Genießbarkeit zu überprüfen. Dabei ist „Die Stunde der Stümper“ auf jeden Fall hilfreich.

_Impressum_

Originaltitel: The Cult of the Amateur: How Today’s Internet Is Killing Our Culture (New York : Doubleday 2007)
Übersetzung: Helmut Dierlamm
Deutsche Erstausgabe (geb.): September 2008 (Carl Hanser Verlag)
247 Seiten
EUR 19,95
ISBN-13: 978-3-446-41566-9
http://www.hanser.de

Schneider, Frank Apunkt – Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW

_Inhalte:_

„Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW“ beschreibt, wie der Titel bereits andeutet, die beiden Begriffswelten Punk und NDW nicht als geographische, zeitliche oder ideologische Gegensätze, sondern als Kontinuum; wobei Frank Apunkt Schneider den Begriff NDW im weitesten Sinne auslegt, sodass zwischen |030| und |ZZZ HACKER| dort alles seinen Platz findet: von Unbekanntem mit mehr oder weniger gewollt banalen bis seltsam-lustigen Namen (|ARMUTSZEUGNIS|, |B. TRUG|, |THE DIESE HERREN|, |DIN-A-TESTBILD|, |DON CAMILLO UND DIE SCHILDBÜRGER|, |ERSTE WEIBLICHE FLEISCHERGESELLIN NACH 1945|, |WAFFELSCHMIEDE|, |KNUSPERKEKS|) über jazzig Angehauchtes (|ES HERRSCHT UHU IM LAND|, |HUBA HUBA HOPP|), die mit den krassen Namen (|ERTRINKEN VAKUUM|, |BRUTAL VERSCHIMMELT|, |KOTZEN UND ERHÄNGEN|, |SÄUREKELLER|, |MASSENMORD|, |ROTZKOTZ|, |BLITZKRIEG|), Elektro-Experimentelles (|KRAFTWERK|, |DIG IT AL(L)|, |CONRAD SCHNITZLER|, |MONOTON|) und Bekanntes (|ABWÄRTS|, |DAF|, |EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN|, |IDEAL|, |DIE KRUPPS|, |FISCHER Z|, |FEHLFARBEN|, |NORMAHL|, |OHL|, |PALAIS SCHAUMBURG|, |SLIME|, |SOILENT GRÜN|, |BOSKOPS|, |DIE ÄRZTE|, |FOYER DES ARTS|, |CHUZPE|, |FALCO|, |THE BUTTOCKS|, |HANS-A-PLAST|, |NEONBABIES|, |DER PLAN|, |DIE TÖDLICHE DORIS|, |TOXOPLASMA|) bis hin zu allzu Bekanntem (|NINA HAGEN BAND|, |IXI|, |NENA|, |HUBERT KAH MIT KAPELLE|, |DIE TOTEN HOSEN|).

Frank Apunkt Schneiders grundlegende Hypothese ist die, dass Punks und Neue-Deutsche-Welle-Macher, egal ob am Untergrund oder am Kommerz interessiert, ob als Alternativgesellschaftler, Gesellschaftsfeinde oder Subversive, ja sogar als im Mainstream verhaftete Spötter, Anfang der Achtziger vor allem durch das Damoklesschwert der nuklearen Totalvernichtung geprägt waren: |“Dieses Szenario wurde von der zeitgenössischen Popmusik verarbeitet, sei es in der Bettina-Wagner-und-Nicole-Fassung oder in der „Osten währt am längsten“-Version von |DAF|. Selbst in Markus‘ „Ich will Spaß“ schwingt mit, dass das Projekt „Menschheitsgeschichte“ jeden Moment vorbei sein konnte. Auf dieses Faktum konnte mit penetrantem Mahnverhalten oder eben mit Hedonismus reagiert werden.“|

Die Generation, die Punk & NDW hervorbrachte, war somit politisch geprägt, selbst wenn sie dezidiert keine Politik mehr machen wollte. Schneider schreibt: |“Vor diesem also doch verdammt realen Weltende-Hintergrund waren Punk und New Wave politisch. Nicht weil sie oft dieselben überflüssigen Kommentare dazu abgaben wie Kirchentage, sondern weil Punk und New Wave das mögliche Ende ab den späten 1970ern als Realitätsmaterial akzeptierten, mit dem gespielt werden konnte. Sie waren keine systemimmanente Instanz, sondern Opposition um der Opposition willen. Und die erste, der alles erlaubt war, weil sie selbst keine Utopie mehr aufbieten wollte. Die Pershing- und SS-20-Raketen machten es leicht, alle zu hassen und zu verachten, die dafür verantwortlich waren. Und sie dabei aus Spaß und Überaffirmation in einer von diesen wahrscheinlich zu keinem Zeitpunkt bemerkten Weise zu umarmen. Identifikation mit dem Aggressor, aber als Aggression! ‚Wir sind die Bomben von Hiroshima‘ sangen |ABWÄRTS| 1980. Punk und New Wave akzeptierten den (kalten) Krieg, der sie umgab, und fochten dementsprechend an zwei Fronten: gegen die Herrschenden und gegen eine ältere Gegenkultur, die sich aus ihrer radikalen Gegnerschaft gelöst hatte und ihrerseits nun mitherrschte.“|

Das Diktum „No Future“ wirkte dabei befreiend, ermöglichte es doch, aus starren Konventionen auszubrechen, ohne sich dafür – so wie die Hippies – erst auf eine lange Reise ins Innere begeben zu müssen, um „sich selbst zu finden“; dafür blieb ja ohnehin keine Zeit mehr! „No Future“, das bedeutete auch: keine Angst mehr haben zu müssen, sich selbst die eigene Zukunft verbauen zu können oder sie sich von der Gesellschaft verbauen lassen zu müssen, wenn man sie öffentlich bespuckte. Denn wenn die Doomsday Clock ohnehin die letzten Minuten vor Mitternacht vertickt, dann sind Konformität und Konventionen hinfällig. Dann ergibt sich daraus allerdings auch kein Anlass mehr, noch für höhere (utopische) Ziele, für Ideen und Sinngebung zu kämpfen.

Frank Apunkt Schneider: |“Auch ‚Sinn‘ ist eine solche moralische Übereinkunft. Die Sinnlosigkeit, die Punk und New Wave zelebrierten, kappte den Dialog mit der moralisierenden Diskussionskultur. Es war zunächst noch keine existenzialistische Weinerlichkeit um den toten Sinngott – die kam erst später auf im düster klagenden Proto-Dark-Wave -, sondern eine Sinn-Orgie; ein Gelage mit den freigesetzten Sinnbruchstücken. Ein ‚Fest der vielen Sinne‘, so der Titel der zweiten |GEISTERFAHRER|-LP.“| Punk und New Wave waren demnach die ersten populären Subkulturen der Postmoderne.

Doch nachdem er sein Feld abgesteckt hat, beschäftigt sich Schneider erst einmal mit der Geschichtsschreibung und Rezeption der NDW – verstärkt vor allem seit Jürgen Teipels ‚Doku-Roman‘ „Verschwende Deine Jugend“ (2001) – und stellt damit heute gängige Wahrnehmungsmuster infrage, indem er Ursachenforschung betreibt. Diesen Wahrnehmungsmustern stellt er dann seine eigene Sicht auf Punk und New Wave als popinterne Jugendrevolte entgegen. Dabei weist er darauf hin, dass Jugend seinerzeit gesellschaftlich vor allem als zu überwindende Übergangsphase gerahmt wurde – eine Sichtweise, gegen die sich der Punk mit seiner Verweigerung eines ernsthaften, reifen, erwachsenen Diskurses gestellt habe.

In einem solchen Diskurs verortet er auch die Vorgeschichte von Punk & NDW als deren Ausgangslage: Rockmusik in Deutschland sei bis dato in der Regel „als Bandsein nur in einer langfristigen, existenzgründerischen Perspektive“ verstanden worden. Schneider spricht in diesem Zusammenhang von unumgänglichen Anpassungs- und Institutionalisierungsprozessen, die zu Ergebnisähnlichkeit und einem leblosen Virtuositäteneintopf geführt hätten – „zumindest, wenn man/frau den deutschen Rockmainstream aus |JANE|, |ELOY|, |BIRTH CONTROL| oder |LAKE| zum Maßstab nimmt und die zahlreichen experimentellen Krautrockgruppen außer Acht lässt“. Auch die „Technologiespirale“ immer günstigerer Synthesizer habe musikalisch keine Innovation, sondern im Gegenteil zu Herzeige- und Vorführeffekten und damit „zu immer armseligeren Platten“ geführt. Das „technologische Downsizing“ in Punk und Wave habe demgegenüber ein hohes Maß diverser kreativer Energie freigesetzt.

Als Deutsche Punkübernahmen bezeichnet Schneider die stilistische Ausrichtung früher Bands im Lande wie |PACK|, |MANIACS|, |STRASSENJUNGS|, |BIG BALLS & THE GREAT WHITE IDIOT|, |PVC| und |RIZZO|, die einige Merkmale der britischen oder us-amerikanischen Avantgarde für sich nutzbar gemacht hätten, allerdings integriert in bestehende deutsche Rocktraditionen. Verortet hätten sie sich eher auf der Streetpunk-Seite der in den Ursprungsländern bereits zerfallenden, bzw. sich ausdifferenzierenden Szene.

Eine solche Fraktionierung der Punk-Szene macht Schneider dann auch in Deutschland aus, wobei er mit der eigenen Subjektivität nicht hinter dem Berg hält: |“Dass für mich die Art-School-Tradition von Punk zu Post-Punk bedeutsamer ist, ist eine rein subjektive Entscheidung, bedingt durch meinen bürgerlich-akademischen Hintergrund. Man/frau hätte die Geschichte von Punk und New Wave in Deutschland aus einer |BUTTOCKS-NORMAHL-CHAOS Z|-Perspektive erzählen können, was unbedingt erwähnt werden muss, da sich die Art-School-Perspektive spätestens mit ‚dem Teipel‘, eigentlich aber schon vorher, eingebildungsbürgert hat, trotz oder gerade wegen der zu plumpen Gegensteuerungsversuche in bestimmten Punkfanzines.“|

Nach den bereits erwähnten Urpunks mit ihrem proletarischen Image hätte die zweite Phase der deutschen Bewegung jedoch ebenfalls eher in die Richtung Art-School-Punk tendiert. Der Unterschied zwischen der ersten und zweiten Generation habe sich teils auch im Bandnamen niedergeschlagen – genannt sei hier nur ein Beispielpaar: |RABID| versus |MUSELMANISCHES TÜRKMENEN BATAILLON DER SS BEI GEBETSÜBUNG|. Die Fraktionsbildung in diese beiden Sub-Szenen führt Schneider in erster Linie auf Vereinnahmungsversuche durch die unterschiedlichen Klassenmilieus von ArbeiterInnen (mit Betonung auf Tradition – Folge: stilistisches Einfrieren) und BürgerInnen (mit Betonung auf Progression – Folge: Distinktions-Spiele) zurück. Beide Extreme des Spektrums hätten sich damit jedoch vom „Energiezentrum des Punk“ abgekoppelt: „nichts zu wollen, wie im wichtigsten Programmsatz von Punk verlautbart, dem ‚I don’t know what I want‘ der |SEX PISTOLS|.“ Das rein destruktive Spiel des willkürlichen und ziellosen Herausbrechens und Gegenüberstellens von Sinnbruchstücken scheint demnach ein Kernelement des Apunkt Schneiderschen Ursprungsmythos‘ von Punk zu sein.

Sobald das also geklärt ist, arbeitet er sich an den diversen Veröffentlichungslandschaften ab – zunächst einmal geographisch; beginnend mit Düsseldorf und seiner stark künstlerisch geprägten Szene um den Ratinger Hof (u. a. |CHARLEY’S GIRLS| / |MITTAGSPAUSE|, |MINUS DELTA T|, |WELTENDE| / |WELTAUFSTANDSPLAN| / |DER PLAN|, Chrislo Haas von |DAF| und |LIAISONS DANGEREUSES|), anhand der einwohnerstärksten Städte jener Zeit weiter über Berlin (u. a. |PVC|, |STUKA PILOTS|, |NEONBABIES|, |IDEAL|, |SPLIFF|), Hamburg (u. a. |BUTTOCKS|, |SCREAMER| / |SLIME|, |FRONT|), München (u. a. |FREIWILLIGE SELBSTKONTROLLE|, |SPIDER MURPHY GANG|, |TOLLWUT|, |FKK STRANDWIXER|), Köln (u. a. |CHARLEY’S GIRLS|, |ZLOF|, |REIZENTZUG|, |ZELTINGER BAND|, |DUNKELZIFFER|), Essen (u. a. |RAABS BALLA BALLA|, |GESUNDES VOLKSEMPFINDEN|, |DIE REGIERUNG|), Frankfurt/Main (u. a. |STRASSENJUNGS|, |BÖHSE ONKELZ|, |BILDSTÖRUNG|), Dortmund (u. a. |KONEČ|, |ST 42|, |THE IDIOTS|), Stuttgart (u. a. |NORMAHL|, |CHAOS Z|, |MANNSCHRECK|, |PETER SCHILLING|), Bremen (u. a. |OH 87|, |A5|, |ORGANBANK|, |AGM|), Duisburg (u. a. |LOUIS PASTEUR|, |PROFIL|, |LA DOLCE VITA|), Hannover (u. a. |HANS-A-PLAST|, |ROTZKOTZ|, |BLITZKRIEG| / |BOSKOPS|), Nürnberg (u. a. |STAUBSAUGER|, |GASHAHN AUF!|, |FIT & LIMO| / |SHINY GNOMES|), Bochum (|VORGRUPPE|, |EIN JAHR GARANTIE|), Wuppertal (u. a. |MATERIALSCHLACHT|, |ARMUTSZEUGNIS|, |DIE ALLIIERTEN|, Gabi Delgado-Lopez von |DAF|), Saarbrücken (u. a. |ALTES EISEN|, |CHAOTIC BROTHERS|, |SINALCO FLUOR S|, |SYNTHENPHALL|), Bielefeld (u. a. |DER WAHRE HEINO|, |ZZ HACKER|, |NOTDURFT|), Mannheim (diverse Undergroundbands), bis hin zur Bundeshauptstadt Bonn (|ACHMED UND DIE ARSCHKRIECHER|, |CANALTERROR| u. a.), dann quer durch die bundesdeutsche Provinz (u. a. |EXTRABREIT| und |NENA| aus Hagen, |THE NOTWIST| aus Weilheim, |THE WIRTSCHAFTSWUNDER| und |DIE RADIERER| aus Limburg), durch Österreich (u. a. |NOVAK’S KAPELLE|, |DRAHDIWABERL|, |CHUZPE|, |MINISEX|, |ROSACHROM|, |MORDBUBEN AG|, |ANDRÉ HITLER|, Ronnie Urini von |STANDARD OIL| u. v. m.), Schweiz (u. a. |NASAL BOYS| / |EXPO|, |GLUEBEAMS|, |SPERMA|, |MOTHER’S RUIN|, |FRESH COLOUR| / |FRISCHE FARBE|, |GRAUZONE|) und DDR (u. a. |DIE ART|, |REGGAE PLAY|, |SCHESELONG|, |KEKS|, |PANKOW|, |AG GEIGE|, |SAUKERLE| / |SCHLEIM-KEIM|, |L’ATTENTAT|) werden alle möglichen Band-Projekte auf Vinyl und Kassette durchgehechelt.

Hier gibt sich der Autor ganz der manchmal schon etwas trockenen Chronistenpflicht hin; wobei man fairerweise sagen muss, dass er damit zum einen Pionierarbeit geleistet, zum anderen dazwischen immer wieder einige interessante oder doch zumindest auflockernde allgemeine Betrachtungen sowie Anmerkungen zu regionalen Strukturen, Stilistiken, Befindlichkeiten, auch zu Labels, Fanzines, Läden, wichtigen Szenepersonen und deren Netzwerken eingestreut hat. Besonders die (leider etwas kurz geratenen) Anmerkungen zum Punk-Regionalismus im Spannungsfeld zwischen teils fast schon kryptischem Individualismus („Kassettentäter“ mit Kleinstauflagen), mitunter kreativem Crossover aus globaler und regionaler Kultur und nicht zuletzt auch (manchmal gar als Widerstand verstandener bzw. verkappter) Identitätspolitik sind interessant zu lesen.

Danach geht es ans Eingemachte: Der Autor weist darauf hin, dass in der Popkultur Rezeptionsfragen für die Künstler ebenso wichtig sind wie die traditionellen Formen des Ausdrucks, ja dass beides zu einer Einheit verschmilzt: „Über Michael Jackson oder David Bowie nur als Musiker zu reden, ist ein Ding der Unmöglichkeit“, und die Aufarbeitung ihres Schaffens in diversen Medien deshalb unauslöslicher Bestandteil ihrer Gesamtwahrnehmung.

Auch das Phänomen Punk & NDW wurde so von den Medien mitgestaltet. Einerseits bezeichnet Schneider die zeitgenössischen Vereinnahmungsversuche seitens der bürgerlichen Kultur als gescheitert („Das Kultur-Establishment kapierte nicht mal ansatzweise, was da vor sich ging“), andererseits hätten gerade deren massenmedial-vulgärsoziologische Erklärungs-Versuche der Szene erst richtig Zustrom beschert (Schneider schreibt etwa über den |Spiegel|-Artikel „Punk: Nadel im Ohr, Klinge am Hals“: „Für die Verbreitung von Punk in Deutschland dürfte dieser Artikel von entscheidender Bedeutung gewesen sein, nicht zuletzt in den Zahnarztwartezimmern der Nation.“). Mainstream-Medien von |Bild| bis |Die Zeit|, aber auch etablierte Musik-Fachblätter (|Sounds|, |Musik Express|, |Spex|) und beispielhaft auch die Masse der Fanzines nimmt Schneider in den Blick, aber auch unabhängige Labels.

Dies alles jedoch ist lediglich der Vorlauf für das, was dem Autor offenbar besonders am Herzen liegt, was aber auch den großen, heute – zumindest in der massenmedialen Wahrnehmung – weitgehend in Vergessenheit geratenen Löwenanteil ausmacht, nämlich subkulturelle Massenmedien: die Kassettenszene. Schneider spürt dem gesamten Umfeld nach: Klein- und Kleinstauflagen bis hin zur Kinderzimmerproduktion, Vernetzungen, zeitgenössische Besprechungen in Zines und Radiomitschnitte von Sendungen zur Szene, Analysen von dazumals – alles wird zitiert und kommentiert. Auf Bootlegs wird am Rande eingegangen, auf Vertriebe etwas ausführlicher, und natürlich dürfen Namen wie die des Kritikers Alfred Hilsberg oder des |Rough Trade|-Labels nicht fehlen, auch wenn das Gros der Privatproduktionen und Briefkastenvertriebe besonders gewürdigt wird. Dazwischen finden sich immer wieder Cover, Anzeigen, Fotos usw. der Protagonisten aus allen Größenordnungen – natürlich schwarzweiß. Aber auch die LP kommt zu ihrem Recht, wie auch das Filmformat Super-8.

Unter dem Stichwort ‚Niedrigschwellige Ästhetik‘
wird abgehandelt, worin auch ein wesentlicher Unterschied zwischen straightem Rock / Rock ’n‘ Roll und seiner Gegenbewegung lag: „Das Masseninstrument der Neuen Wellen schlechthin“, der Synthesizer, „befreite von der Entfremdung durch Arbeit am Bandsein.“ Der Künstler als Einzelperson rückte in den Vordergrund, was sich szenedynamisch auch auf Gruppen auswirkte, die gar nicht mit ihm arbeiteten: Es genügte, dass die Vorherrschaft der Vorstellung vom zünftigen Bandmitglied gebrochen war. Ähnlich ermöglichte die Loslösung von traditionellen Instrumenten und ihrer vordem zwingend notwendigen, mühselig zu erlernenden Beherrschung nicht nur das Sampeln von synthethisch erzeugten Tönen, sondern bewirkte auch eine „ungerichtete Aggression der befreiten Geräusche“ insgesamt. Hierin hoben sich die neuen Wellen von jener Art des Punk ab, der mehr oder weniger traditionelles Musikantentum lediglich mit einer programmatischen Anti-Haltung verband; dessen Feindbildtexte auch bloß Negative des Altbekannten waren, und der musikalisch bieder dann eben doch wieder (wenn auch limitiertes) Können und Virtuosität-als-ob einforderte.

Frank Apunkt Schneider formuliert es ganz radikal: |“Das Politische von Punk lag nie in seiner mal besser (CRASS), mal schlechter (DAILY TERROR) durchdachten Institutionenkritik begründet, sondern darin, organlos, unkontrollierbar, streuend und giftig Geräusch zu produzieren, das keinen bekannten diskursiven Spielregeln folgte, aber auch nicht völlig willkürlich war, sondern in zahllosen möglichst fremden, seltsamen und schwachsinnigen Konzepten organisiert war, die sich kraft ihrer Fremdheit dem Zugriff der bürgerlichen Welterklärungsinstanzen, dem Sinnknast entzogen. ‚Alien Culture‘ hieß dieses Geräusch bei THROBBING GRISTLE.“|

Da kommt die Rede auf den „Kleister, der die Kunst zusammenhält: Dilettantismus als Kulturbewegung“ – was sich nicht wie im Punk bereits in der DIY-Idee erschöpfte, sondern das Element des Unkontrollierten bewusst zum Programm erhob. Exemplifiziert und versinnbildlicht wird das am Beispiel der Künstlergruppe |Geniale Dilletanten| (sic!) um Blixa Bargeld, bei der die Falschschreibung im Namen bereits von Anfang an zum Konzept gehört haben könnte. |EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN|, |HERVÉ & KILOWATT|, |SPRUNG AUS DEN WOLKEN| und |DIE TÖDLICHE DORIS| werden ebenso vorgestellt wie auf die weitaus größere Zahl kurzlebiger Projekte, Sessions oder Einmal-Festivalauftritte verwiesen, bei denen wenige Protagonisten in ständig wechselnden Konstellationen miteinander experimentierten. Der Autor betont, dass Gruppen wie die |NEUBAUTEN|, obwohl auch sie – etwa in |TON STEINE SCHERBEN| – Vorbilder haben konnten, mit einer Sache konsequent brachen: „utopischem Gehalt“. Und das auch bei |EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN| von Anfang an, wo es schon zu psychedelischen Ursprungszeiten statt ‚LSD ins Trinkwasser‘ ‚Bakterien für eure Seele‘ geheißen hat.

Dem gegenüber stellt Schneider eine Reihe von UmsattlerInnen, gestandenen Musikern bzw. angestaubten Deutschrockern, die sich Punk als Parfüm aufgetragen hätten, „um den eigenen Verwesungsgeruch zu übertünchen und um sich einen Hauch von Gefährlichkeit zu verleihen.“ Hier nennt er einige Namen, die im Mainstream bis heute als Aushängeschilder gelten: Nina Hagen, die für „ihr mit Abstand punkigstes Stück“ ‚Pank‘ Schützenhilfe im Schreiben von SLITS-Sängerin Ari Up benötigte und deren |NINA HAGEN BAND| er als gefundenes Feindbild der im Aufbau befindlichen Szene tituliert; ihre Mitmusiker von SPLIFF, die für ihn zwar „eine gelungene Rockaktualisierung“ repräsentieren, aber eben der durch New Wave vorangebrachten Popgeschichte zuzurechnen seien, und nicht der wild blühenden Subkultur; schließlich auch |IDEAL|, die mit ihrer unterstellten Orientierung „an der einzigen deutschen Pop-Tradition der Nachkriegszeit, dem Schlager,“ das offizielle NDW-Bild geprägt hätten: ein Schlager-Tanzkapellen-Image. Sie hätten damit den Startschuss für die Talentschnüffler der Plattenindustrie und für eine Reihe an Epigonen, Klonen und Kalkülbands gegeben – namentlich |ZEITGEIST|, |FISCHER Z|, |PETER GORSKI BAND|, |EXTRABREIT|, |DR. KOCH VENTILATOR|, |CAT’S TV| und |FEE|.

Gleichzeitig sei es aber auch zu wunderschönen Rückkopplungen zwischen Rockavantgarde und Punk gekommen, die sich gegenseitig stark beeinflusst hätten, und so mancher NDW-Avantgardist hätte Jazzrockwurzeln gehabt. Gerade in der Provinz sei es oft zu – wenn auch instabilen – Verbindungen von Altrock- und Punk-Musikern zu Bands gekommen, die auch vom Spielniveau her unterschiedliche Hintergründe aufwiesen. Als dann auch von gestandenen Rocker erkannt worden sei, dass die Zeit für den neuen Minimalismus reif war, habe die Stunde von |TRIO| geschlagen, die mit „maximaler Perfektion und Präzision“ ihren Stil entschlackten und auf rudimentäre Basisakkorde zurückschraubten und daraus funktionierende Popsongs entwickelten, die irgendwo zwischen Punk-Verschrägung und Musikclownerie-Kleinkunst-Tradition Erfolge feierten, die zwar – erst einmal auf die Bühnen gebracht – spontan wirkten, hinter denen sich jedoch „ein perfekt durchgestyltes Programm“ verbarg.

Dann kippt die Bewegung in Schneiders Chronik auch schon in ihre Selbstzerfleischungsphase, in der sich Punk zum einen die Klassenfrage stellt, zum anderen aber – teils deckungsgleich – die Frage, ob nun Art School oder Hard School die wahren Bannerträger stellten. Für die einen war die Revolution quasi erfolgreich abgeschlossen, sodass Punk als ein Genre unter – bzw. in der eigenen Wahrnehmung über – anderen fortan so auszusehen hatte, wie man sich das seither vorstellte. Kollektive Identität war ihnen wichtig, und die erforderte eben auch einen kollektiv verbindlichen Formenkatalog – im Zweifel Hardcore. Diese Sichtweise fasst der Autor treffend unter das Schlagwort „Punkrockismus“. Die anderen begriffen Punk als Strategiemodell, als Mittel und Ausdruck einer permanenten künstlerischen Revolution und einer möglichst individuell-authentischen Selbstverwirklichung. Die Anhänger dieses Ideals liefen, wenn sie allzu individualistisch bzw. experimentell wurden, schließlich Gefahr, von den Punkrockisten als bürgerliche Avantgardisten verschrien und ausgegrenzt zu werden. Der Autor nennt in diesem Zusammenhang |MATERIALSCHLACHT| und |GEISTERFAHRER| als Objekte eines regelrechten Hasses. Sowohl unter den Punk-als-Rock-Betreibern als auch im Avantgarde-Flügel kam es zu einer weiteren Zersplitterung der Szenen.

Was freilich in dieser Phase auch nicht fehlen durfte, waren (teils völlig haltlose) Unterstellungen wie „Industriescheiße“; Frank Apunkt Schneider: |“Dem Kommerzverdacht liegt in der Regel keinerlei andere ökonomische Analyse zugrunde als: ‚Schweinesystem‘.“| Im Extremfall konnte er jedoch auch schon einmal der Legitimierung eines Raubüberfalls unter dem Schlagwort ‚Kommando gegen Konsumterror‘ gegen die verhasste Konkurrenz dienen. Schließlich hatte sich die Neue Deutsche Welle, dem Autor zufolge spätestens 1982, so weit gebrochen, dass selbst „aus dem Boden gestampfte NDW-Kapellen, deren einzige Existenzberechtigung in diesen drei Buchstaben zu finden wäre,“ sich von ihr zu distanzieren begannen. Was blieb, war ein neuer Markt.

Dass Schlagworte wie ‚Kommerzialisierung‘, ‚Ausverkauf‘ und ‚Verrat‘ der Realität nicht gerecht wurden, obwohl die kommerzielle Verwertung für das diffuse Verebben der Neuen Deutschen Welle durchaus eine Rolle spielte, wird im Kapitel „Die Enden der NDW“ aufgedröselt. Zur kommerziellen Ausschlachtung des Phänomens bedurfte es auch der Massenmedien. 1980 hievten die Sounds Gruppen wie |ABWÄRTS|, |MITTAGSPAUSE|, |DAF|, |FEHLFARBEN|, |MANIA D.|, |S.Y.P.H.|, |RAZORS| und |DER PLAN| in ihre neu ins Magazin aufgenommenen Alternativ-Charts, welche freilich nur die Verkaufszahlen einiger großstädtischer Szeneläden widerspiegelten.

Ungefähr zeitgleich begannen sich auch die Großen der Musikindustrie für die Erfolge der Indie-Label im neugeborenen Sektor zu interessieren. Man erhoffte sich wohl, ein Potenzial an steady sellers wie |TALKING HEADS|, |DEVO|, |BLONDIE| oder |XTC| nun auch aus dem deutschen Band-Pool für den deutschsprachigen Markt abschöpfen zu können, woran die hauseigenen ProduktentwicklerInnen bisher allerdings gescheitert waren. Statt Investitionen in mögliche (falls überhaupt) One-Hit-Wonder zu verbraten, hieß die neue Strategie nun: Indie-Bands abwerben und/oder Indie-Strukturen simulieren; Letzteres beispielsweise durch das neugegründete |Phonogram|-Sublabel |Konkurrenz|. Allerdings warb dieses sogleich die |GEISTERFAHRER| von Alfred Hilsbergs Zick Zack-Label ab und machte so seinem Namen alle Ehre. Doch auch die |Phonogram| selbst kaufte Bands wie |PALAIS SCHAUMBURG| ein. Schneider betont, dass es für die NDW-Bands durchaus unterschiedliche Beweggründe zu einem solchen Schritt in Richtung Plattengroßkonzern geben konnte. |DAF| wollten erklärtermaßen immer schon die Massen erreichen, und für |ABWÄRTS| fallen dem Autor gleich vier unterschiedliche mögliche Gründe ein.

Die größten Erfolge feierte die Plattengroßindustrie jedoch nicht mit den experimentelleren bzw. avantgardistischen Bands aus dem Stall ihrer auf die neue Welle spezialisierten Sublabel, sondern mit von deren Entwicklungen lediglich beeinflussten Pop- und Rock-Updates wie |TRIO| (|Phonogram|) und |EXTRABREIT| (|Reflektor Z / Metronome|). Da hinein flossen nun die Investitionen, während die ursprüngliche Klientel auf derlei finanzstarke Studio- und PR-Unterstützung verzichten musste. Vertriebs-Kooperationen mit Indie-Labels steckten noch in den Kinderschuhen; und wenn sich ein Sublabel in Konkurrenz zu den Indies aus Sicht eines Majors nicht mehr rentierte, konnte es sogar auch schon einmal an eine bei ihm unter Vertrag stehende Band abgestoßen werden. Andersherum konnte ein bandbegründetes Label wie |Welt-Rekord| (|FEHLFARBEN|; dann: |GRAUZONE|, |RHEINGOLD|) von der |EMI| als ihr neues Sublabel erworben werden – dessen Geschäftspraktiken von ROTZKOTZ dann schon bald im Lied ‚Tante Emi‘ kritisiert wurden.

Erst 1982, zu der Zeit, für die Schneider bereits die „Selbstzerfleischungsphase“ der Graswurzelszene konstatiert, hätten die Majorlabel ihre Strategie wieder geändert und eigene Phantasiegruppen auf den Markt geworfen, die sich allerdings bereits mit der ersten Single als überlebensfähig hätten erweisen müssen, da sie sonst nicht weiter gefördert worden seien. Dies habe die weitere Spaltung der Szene in Sell-Out-Gruppen und Untergrundtümler begünstigt. Allerdings dürfe man auch nicht übersehen, dass die Auslösesummen der Majors an die Indies die von denen geleistete Aufbauarbeit in erwähnenswertem Umfang mitfinanziert hätten.

Ironischerweise fällt der Niedergang der Szene als solcher laut Schneider mit den Verkaufs-Erfolgen des Phänomens NDW zusammen: Erste NDW-Charts-Hits waren 1981 ‚Blaue Augen‘ (|IDEAL|), ‚Eisbär‘ (|GRAUZONE|), ‚Polizisten‘ (|EXTRABREIT|), ‚Dreiklangdimensionen‘ (|RHEINGOLD|), ‚Ein Jahr (Es geht voran)‘ (|FEHLFARBEN|), ‚Der Goldene Reiter‘ (|JOACHIM WITT|). Anfang 1982 folgten ‚Da Da Da‘ (|TRIO|), ‚Rosemarie‘ (|HUBERT KAH|) und ‚Taxi‘ (|JAWOLL|). Einzig |GRAUZONE| konnte von diesen Kapellen auf eine eigene Punkvergangenheit zurückblicken. Im Laufe des Jahres ’82 sei dann das letzte bisschen Profil der NDW in der großen Flut des „Neuen Deutschen Schlagers“ abgeschliffen worden und die Anspielung des Begriffs auf die ursprünglichen New Wave-Formationen für die Rezeption völlig unwichtig geworden, sodass selbst |NOVALIS| mit ‚Was ist Zeit?‘ auf einem der vielen NDW-Sampler erschien, die fortan das Bild dessen, was NDW war, maßgeblich prägten . Als symptomatisch für den ‚Genre‘-Spagat führt Schneider das „Neue Deutsche Welle Special“ des |Musik Express| vom Sommer 1982 an, welches weitgehend zusammenhanglos aus Insider-Städteberichten zur (Untergrund-)Szene, Pop-Star-Portraits auf PR-Agenturtext-Basis und Bravo-für-Erwachsene-Niveau sowie wahllosen Auflistungen von (teils sogar falsch abgeschriebenen) Bandnamen zusammengestoppelt worden sei.

Am Beispiel der |Bravo| selbst und ähnlicher Magazine wie |Popcorn| macht Schneider fest, wie die Umdeutung der Neuen Welle in eine „Rock mit“-Ästhetik erfolgte, die sich in erster Linie durch Attribute wie „verrückt“, „ausgeflippt“, „deutsch“ und „bizarr“ auszeichnete. Diese Berichterstattung habe zum einen in einer „sensationalistisch und freakwhoistisch motivierten Medientradition“ gestanden, zum anderen (ähnlich wie der Genre-Spagat des |Musik Express|) dazu beigetragen, die Trennung zwischen Mainstream und Untergrund für die Teenager-Zielgruppe zu verwischen. Im Vermarktungskontext der nebenstehenden Anzeigen, die auf ein eher biederes Weltbild schließen ließen, habe die grellbunte Ästhetik dieser NDW zwar als Kontrast, letztlich aber nicht als Opposition, sondern auch nur als andere Seite einundderselben Medaille gewirkt: |“Die oft als Bildgeschichte verkappte und auf den ersten Blick von den Foto-Lovestories nicht unterscheidbare Werbung zeigte in ihren Geschichten aus dem Alltag homöopathisch upgedatete Jugend, in Frisurschlenkern der Moderne nicht verschlossen, aber dennoch den gereiften Lebensernst der Tampon-, Berufsvermittlungsbehörden- und Bundeswehr-Zielgruppen transportierend.“| Die NDW war als solche medial von der Anti-These zur Synthese entschärft und damit im konventionellen Sinne vermarktbar geworden.

Die Schlagernähe der neuen NDW zeigt sich laut Schneider unter anderem auch im Popfilm „Gib Gas – Ich will Spaß“ des Regisseurs Wolfgang Büld („Brennende Langeweile“, „Women in Rock“, „Berlin Now“, „Japlan“, „Go Trabi Go“, „Manta Manta“ u. a.), der den Paukerfilm „Plem Plem – Die Schule brennt“ aus dem gleichen Jahr 1983 im Subversionsgehalt kaum überrage. „Jedenfalls ratifiziert ‚Gib Gas‘ den Verlust der subkulturellen Basis dadurch, dass außer dem Freund des Protagonisten, einem Punker, der immer Hunger haben muss, um als Running Gag erkennbar zu bleiben, nichts mehr davon – auch nicht negativ – zu sehen war“, und „Plem Plem“ ist dem Autor zufolge ebenfalls nurmehr eine Aktualisierung des altbekannten Schlagerfilms und relativierte „den Rest-Subversions-Gehalt des |EXTRABREIT|-Stücks (Anm. d. Red.: ‚Hurra Hurra, die Schule brennt‘), dem noch Züge einer Teenage-Riot-Hymne anhafteten, ins Feuerzangenbowleske.“ Auch zwei andere zeitgenössische Filme mit NDW-Bezug werden von Schneider in diesem Kontext kurz vorgestellt und bewertet: „Drei gegen Drei“ von Dominik Graf und „Der Fan“ von Eckhart Schmidt. Mag man dem Autor in seinen weiteren Darlegungen folgen, so zeigt sich jedoch, dass sich selbst das Schlagerhafte in der NDW noch aus dem Harmlosen ins Provokative kippen ließ, obschon sich dieser Ansatz letztlich als Strohfeuer erweisen sollte:

Mit „Schlager als Waffe“ schien die NDW kurzfristig noch einmal punkistische Relevanz zurückzugewinnen. Jedenfalls berichtet Frank Apunkt Schneider unter diesem Zwischentitel davon, wie das Schlagerhafte der neuen NDW von denen gepriesen oder zumindest toleriert werden konnte, denen es aus Prinzip ums Gegen-den-Mainstream-Sein ging. Als vom Bildungsbürgertum verachtetes, scheinbar ’sinnentleertes‘ Genre besaß der Schlager im Gegensatz zu den als ’sinnhafte‘ (oder zumindest ’sinnkritische‘) Kunst zunehmend vereinnahmten Punk-Strömungen noch kulturpolitisches Spreng-Potenzial. Schlagermutationen konnten folglich subversiv gedeutet werden. Die poptheoretischen Verrenkungen und feinsinnigen (subjektiven) Gegeneinanderabgrenzungen, die Gurus wie Diedrich Diederichsen in diesem Zusammenhang machten und die Schneider hier anführt, lesen sich allerdings aus der heutigen Distanz in ihrer verbissenen Ernsthaftigkeit fast schon wie Realsatire.

Schneider aber macht eine interessante Anmerkung zur Funktion des Schlagers für den seinerzeit in Deutschland etablierten Kulturbetrieb: Sowohl Bildungsbürgertum als auch Rock(ismus) diente er als negative Abgrenzungsschablone; hierin konnte man sich – jenseits bestehender Gräben auf anderem Gebiet – noch einig sein, dass Schlager per se ‚verlogen‘ war beziehungsweise „das, worüber sich Klaus Lage mit |Rockpalast|-Moderator Albrecht Metzger abendfüllend aufregen konnte, wozu sie den Segen von Rudolf Augstein und Günter Grass hatten. Mit den publizistischen Mitteln von Kritik musste er immer wieder aufs Neue niedergemacht werden. Hierbei handelte es sich um einen Reflex, der – völlig entleert von der ursprünglichen Funktion – zum ritualisierten, bedeutungslosen kulturellen Wiederholungszwang wurde.“ Warum? „Erst in Abgrenzung zum ‚verlogenen‘ Schlager ließ sich sinnvoll Rockidentität herstellen. Er diente damit der Subkulturhygiene und war ein wichtiges Selbstvergewisserungsmoment. Seine stereotype Kritik hatte auch den Sinn, eigene Widersprüche zu verschleiern und damit die allseits gefürchteten Dissoziationskräfte der Selbstreflexion abzuwehren.“ Sich den Schlager als gegenkulturelles Zitat zunutze zu machen, bedeutete also nicht einfach dessen Umkehrung ins Gegenteil (im Sinne einer schlagerkritischen Ironisierung), sondern vielmehr das Ausschöpfen seines Potenzials als Provokationsmittel gegen den vermeintlich aufklärerischen, ritualisierten Kulturbetrieb des Establishments. Ob dies dann auch so verstanden wurde, ist eine andere Frage …

Weil derlei Konzepte nicht eindeutig angelegt waren, markieren sie laut Schneider „ein Dazwischen, das Platz ließ für alles Mögliche“. Dieses Dazwischen machte anscheinend nicht nur eine klare Abgrenzung unmöglich, sondern sorgte wohl zumindest ansatzweise auch für das tatsächliche Aufweichen der Grenzen zwischen Mainstream und Subkulturen. Jedenfalls sollen in den Archiven der |Ariola| noch unveröffentlichte Aufnahmen eines gemeinsamen Projekts von Gitte Haenning und Walter Thielsch liegen. Die Idee von Schlager als Waffe jedoch sei „an sich selbst zugrunde“ gegangen, so der Autor.

Geschäftliches beleuchtet Schneider ebenfalls schlaglichtartig. So zeigt sich, dass die NDW bei aller kommerziellen Prägung des Medien-Phänomens kommerziell nicht unbedingt so erfolgreich war, wie man hätte vermuten können. Dies lag zum einen am One-Hit-Wonder-Charakter vieler Acts, zum anderen aber auch daran, dass für deutschsprachige Musik der (internationale) Markt begrenzt blieb. Schon der vergleichsweise hohe weltweite (Achtungs-)Erfolg einiger Krautrockbands aus dem Untergrund hatte in den 1970er Jahren einen kurzlebigen Boom ausgelöst, bei dem die großen Plattenfirmen dem Autor zufolge verwirrt und kriterienlos einiges weggesignt hatten, was dann die erste Kleinkrise des deutschen Popmarktes produziert hätte. Ähnlich sei es auch mit der NDW gelaufen: „Die Industrie tat im Prinzip nichts anderes als die Szene selbst: ungehindert und zum Teil ungefiltert produzieren.“

Auch durch die Abwerbesummen teils hohe Investitionskosten hätten die Gewinnmarge reduziert, vor allem wenn ein Produkt sich dann nicht als steady seller bewährt habe. Hinzu kam später das Kleinstlabelsterben, welches durch Restpostenverkäufe die Preise an den Plattenbörsen stark gesenkt habe. Spätestens im Sommer 1983 sei dann sowohl im Mainstream wie auch im Untergrund ein Rückgang der Produktion und Präsenz der NDW zu spüren gewesen, und auch die Berichterstattung über die NDW habe Züge von Nachrufen angenommen.

Allerdings könne man bei genauerem Hinsehen ohnehin nicht von der Flut der NDW-Artikel sprechen; Schneider macht mehrere zeitlich verschobene Phasen aus: Hochzeit der Gruppengründungen und Fanzines; Single-Flut; LP-Flut; Kassettenflut; Hochzeit der Kassettenfanzines; danach – immer schneller – Städtesampler, Kleinstadtsampler, Samplerparodien, Labelsampler; das Ganze begleitet von einer Flut an Deutschrockgruppen, die auf der NDW mittels stilistischer Anverwandlungen mitsurfte. Und heute die Flut der Re-Releases.

Als der Katzenjammer jener Fluten verebbt war, blieb quasi als Strandgut das Erbe der NDW zurück: Deutsche Sprache in der Popmusik war verhältnismäßig normal geworden und auch im Mainstream angekommen. Schneider unterscheidet explizit zwei Post-NDW-Szenen: Zum einen prägt der Autor dafür den Begriff „Neuer deutscher Pop-Mainstream und GAL-Pop“ (Anm. d. Red.: GAL = Grüne/Alternative Liste), wozu er Acts wie |HERBERT GRÖNEMEYER|, |GEIER STURZFLUG|, |INA DETER BAND|, das Projekt |BAND FÜR AFRIKA| und – davon etwas abgesetzt – wohl auch die „Hamburger Schule“ zählt. Gemeinsam sei diesen, dass sie moderne Stilelemente und teils auch modernen Umgang mit der deutschen Sprache mit einer Rückkehr zur konventionellen, Message-artigen Sinnhaftigkeit und einem Stück Liedermachertradition verbunden hätten. Die meisten Protagonisten der Hamburger Schule mit Bands wie |BLUMFELD|, |DIE STERNE|, |TOCOTRONIC|, |DIE GOLDENEN ZITRONEN| oder |HUAH!| hätten dabei allerdings eine gewisse Distanz zum ‚Deutschen‘ und vor allem ‚Deutschtümelnden‘ gewahrt, indem sie sich eines strategisch entfremdeten, abstrakten, brüchigen, jargonhaften und intellektualisierten Textdeutsch bedient hätten.

Zum anderen spricht Schneider von „Neo-Underground-NDW“, worunter er Gruppen wie |DAUERFISCH|, |HOLZ OLIBER| oder |MARTIN & ICH| versteht. Diese zeichneten sich durch merkwürdig-absurde Texte und einen NDW-Referenzrahmen aus, der an die frühe dadaistische New Wave erinnere, und fände in der typischen Nischenöffentlichkeit eines informierten Publikums von jeweils bis zu 500 Leuten statt. Im Vergleich mit der ehemaligen NDW-Avantgarde sei diese Szene jedoch noch stärker „in und auf sich selbst kontextualisiert“ und dringe nicht in tiefere, unvorbereitete Publikumsschichten vor.

Im letzten Kapitel „Trau keinem über 68“ räumt Frank Apunkt Schneider mit einigen Popgeschichtsmythen auf und wagt einen Blick hinter das längst zum Ritual erstarrte ’68er-Bashing in Mainstream und Subkultur. Zwischen diesen beiden Bereichen, genauer gesagt: zwischen der (heutigen) ‚Neuen Mitte‘ und dem (ursprünglichen) Punk & New Wave, wird hier genauer differenziert. Denn, so Schneider: |“Vieles, was ich auf den vorangegangenen Seiten geschrieben habe, funktioniert vermutlich auch als Wasser auf die Mühlen derjenigen, die meinen, im Feuilleton immer noch ihre Anti-68er-Prägung spazieren führen zu müssen, egal ob als Punk-Sozialisierte, Pseudopunk-Sozialisierte (der |MARILLION|-sozialisierte Florian Illies) oder Alt- bzw. Post-68er. Letztere haben längst gelernt, ihre nicht nostalgisierbaren schlechten Gewissensreste und alles, was nicht in den Rahmen der eigenen Humankapitalbildung (‚Erfahrungen mit der Führung von Menschen konnte ich 1973 im Scheitern von hierarchielosen Wohnraumsituationen sammeln …‘) passen will, öffentlich immer noch einmal zu exekutieren.

Der dabei durchgesetzte feixende und behagliche Tonfall hat gewissermaßen liturgische Funktion: den Glauben zu zelebrieren, dass die Welt, wie sie ist, eben doch die bestmögliche sei. Im Unterschied dazu warf Punk den Ex-68ern ihr Scheitern noch vor und zerrte sie aus ihrer Eingerichtetheit ins Bestehende vor ein Tribunal. Dazu brauchte es Polemik und eine dezidierte Antihaltung. Anders als die bürgerliche Schlussstrich-Routine war diese Verabschiedung aber eine Fortführung. Punk spielte an diesem Punkt die Dialektik von Kritik und Kontinuität aus – einer Kontinuität des Bruchs, der Überwindung und des Angriff auf ein Establishment, zu dem längst die Alt-68er befriedet worden waren, zumindest in den Weltausschnitten, wo Punk etwas Neues wollte.

Jenseits der Gegnerschaftsmythen und ihrer Inszenierung waren die Themen und Fragestellungen oft genug die gleichen und beide Pop-Revolten in vielfacher Weise miteinander verwoben. […] ’68 und ’76 waren Poprevolten. Beide stellten weltweite Umwälzungen dar, einen politischen und lebensästhetischen Aufruhr, nicht nur der Jugend. Sie waren nicht so sehr die nationalistischen Generationsphänomene, als die sie neoliberale Rhetorik und kapitalistische Erfolgsmythologie vereinnahmt hat, sondern international vernetzte Unruheherde. Sie waren kontinuierlicher Ausdruck einer weltweiten Erosionsbewegung am Bestehenden.“|

In diesem Sinne habe die Hippie-Schelte der Punks nicht diejenigen treffen wollen, die 1968 ein anderes Leben propagiert hatten, sondern das, was aus ihnen geworden war: Weltflüchtige oder Resignierte. Zugespitzt gipfelt das in Schneiders Aussage: „Die Hippiekritik des Punk war strategische Kritik.“ Der Punk-Hippie-Konflikt sei eine „innerlinke Angelegenheit“ gewesen, der von Punk-Seite aus zudem noch aus dem kulturellen Abseits gegen eine Position mit Stammplatz im Feuilleton geführt worden sei. Punk-Strategie als Strategie lässt sich freilich auch von denen instrumentalisieren, die ansonsten mit Punk überhaupt nichts am Hut haben. Doch nicht immer stimme die selbstdarstellerische Underdog-Stilisierung der Protagonisten mit ihrer tatsächlichen gesellschaftlichen Situation überein:

|“Heute ist dieser Kampf schon deswegen ein Anachronismus, weil es seinen Gegenstand (Anm. d. Red.: den Linksliberalismus, der inzwischen zum heute dominanten Rechtsliberalismus ‚mutiert‘ sei) nicht mehr gibt. Der Krieg des Mainstreams gegen eine angeblich linke Meinungshegemonie hat den Relevanzgehalt historischer Schlachtendarstellungen. Die publizistischen Sondereinsätze gegen eine nirgends definierte ‚Political Correctness‘ (zumal in Deutschland ohne historisch gewachsene ‚p.c.‘-Bewegung) sind ein Kampf gegen einen Pappkameraden, gegen ein inhaltsloses Klischee, dem kein realer Gegenstand entspricht, abgesehen von einer publizistisch bedeutungslosen Hand voll links-akademischer Kleinstzirkel und einigen versprengten Restautonomen. Die neue Pop-Mitte markiert eine Konsenshaltung, die sich subversiv wähnt und aus Punk-Unkorrektheitstechniken ein bisschen Radical Chic einzuheimsen meint, die sie aus eigenen Kräften nicht hinbekommt.“|

Punk dagegen sei als Jugendkultur eine bewusste „pubertäre Trotzreaktion“ gegen Werte gewesen, die sich aus eigener Anschauung als in der modernen Welt nicht mehr haltbar erwiesen hätten, vom heuchlerischen Establishment und einigen weltflüchtigen Träumern aber weiter aufrechterhalten wurden. Darum sei zum Beispiel der Natur- und Natürlichkeitskult der Hippies von den Punks abgelehnt worden. Diese „als ‚Menschennatur‘ aufoktroyierten kulturellen Identitätsmuster“ hätten die Punks verächtlich abgestreift und sich stattdessen in einer die Auswegslosigkeit der Entfremdung trotzig bejahenden „Kuschelkälte“ des Zynismus mehr oder weniger behaglich eingerichtet. Provokative Parolen wie „Zurück zum Beton“ kann man also sowohl als Strategie der Verweigerung (eben jener als von der Realität überholt angesehenen Werte und Normen) wie auch als Coping-Strategie (Protest gegen die, die diese als unverrückbar empfundenen Realitäten geschaffen hatten) deuten.

Demnach wäre es ein gründliches Missverständnis, solche Parolen als freies Bekenntnis zu tiefsten, ureigensten Wünschen zu deuten. Sie sind – folgt man Schneider – vielmehr ein Ausdruck der Verzweiflung am eigenen apokalyptischen Weltbild des ernsthaft so empfundenen „no future“. Anders als vor der vom Autor eingangs eingeführten Folie der massiven nuklearen Bedrohung mit ihren durchaus als realistisch wahrgenommenen Endzeitszenarios ist eine solche Haltung auch gar nicht zu verstehen. Dieser ’80er-Jahre-Zynismus‘ diente weitaus weniger der Gewissensberuhigung als vielmehr und in erster Linie der emotionalen Panzerung gegen die tägliche existenzielle Bedrohung. |“Die Entfreumdungs- und Untergangs-Angstlust führte zudem den Zynismus als ein Gefühl zweiter Ordnung ein: nicht mehr Euphorie, Liebe, Trauer, Angst, Hass, sondern gewissermaßen das alles multipliziert mit dem Wissen, dass Gefühle einstudierbare soziale Handlungen sind, also auch vereinnahmbar. Zynismus meinte strategische Gefühlskomplexität, die sich einfachen Empfindungen verwehrte.“|

Dem gegenüber stellt der Autor einen mittlerweile daraus fort-entwickelten Zynismus, der „heute als neoliberale Staatsraison verehrt und mittels einer Zynismus-Industrie kulturell durchgesetzt“ sei: |“Heute können sich Berufs-Tabubrechende, selbst ernannte Gutmenschen-JägerInnen und passionierte Schlechtmenschen sowie andere Peergroupies am ’80er-Jahre-Zynismus‘ abarbeiten, ohne dazu auch nur den Hauch eines wirklichen Wagnisses eingehen zu müssen. Ihre Pseudo-Provokationen ohne wirkliches Objekt sind systemstabilisierend und die neue Subjekttechnik für eine deregulierte Zukunft. Sie lösen jedenfalls nichts mehr auf, und ihr ‚Zurück zum Beton‘ meint nur noch den Beton der Bauspekulation.“|

Auch das Thema „Deutsche Identität“ wird angesprochen. So habe die NDW die deutsche Sprache im Pop selbstverständlich gemacht, allerdings mit unterschiedlichen (Sinn-Hinter-)Gründen. Teils sei es um eine direktere, genauere Kommunikation gegangen, teils um bewusste Abgrenzung gegenüber dem Angloamerikanischen, und teils auch um eine dezidiert nationale Identitätsstiftung. Ersteres hält der Autor für vertretbar; doch bereits die Abwehr des Angloameriakanischen sieht Schneider ambivalent: Ihre Motive verortet er im kulturellen Grenzland zwischen politisch-situativ abgrenzungsstrategischer und essentialistisch-nationalistischer Kulturpolitik, wobei die Differenzierung zwischen beidem nicht immer leicht fiele. Letzterem erteilt er eine Absage und zitiert Diederichsen: |“Wer ohne primäre Not Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist. Da, wo Identitäten ohne primäre Not angehäuft werden, hat jemand etwas vor. Und zwar nichts Gutes.“|

Gegenüber solcher Identitätsproduktion sieht Frank Apunkt Schneider in der Wiederaneignung des Deutschen in der NDW jedoch „in den besten Fällen“ eine mehrfache Entfremdung, ein Fremdwerden in der eigenen Sprache. Gleichzeitig habe die NDW – neben dieser paradoxen, gebrochenen, entfremdeten „‚deutschen Pop-Identität‘ […] des Nicht-Identitären, die freier Fall war, lustvoller Sturz ins Blut- und Bodenlose und performatives Ringen mit Identität um des Ringens willen“ – jedoch auch einen „Nistplatz für Identitätsgewinnler aller Art, die sich Identität als Stärke wünschen. Identisch zu sein wie Krupp-Stahl“ hervorgebracht. Dieses Spektrum reiche, so Schneider, von |PUR|, die (statt „Pop, wo es traditionell um Widersprüche, Defizite und Deterritorialisierungen“ gehe) „‚deutsche‘ Musik als starke Selbstidentität, als ‚Rock'“ spielten, über den in die „rechtsliberale Grünen-WählerInnen-Mitte“ einzuordnenden |HEINZ-RUDOLF KUNZE| bis hin zum „postrechten Einzelkampf-Machorock der [BÖHSEN] ONKELZ.“ Ebenso diffus sei das Spektrum jener, die eine deutschtümelnde Sprach-Quote im Sendebereich forderten; gemeinsam sei ihnen allenfalls die „Mitwirkung von kaltem Kaffee“, der „außerhalb von dessen unkalkulierbarer Trash-Ebene“ nichts mit Pop zu tun habe. Hier zeigt sich der Autor streitbar: |“Im Prinzip sind das die Leute, die bei Deiner Geburtstagsparty die Polizei anrufen, genauso wie sie es bei Hitparaden-Überfremdung tun. […] Ein Gutes hat die ‚deutsche Pop-Identität‘ allerdings: Sie stiftet eine klare und eindeutige Trennlinie für die nächste Zukunft. Zwischen denen, die sich entschließen, daran zu glauben, und denen, die das nicht tun.“|

_Bewertung:_

Für alle, die sich Punk als zeitgeschichtlich-popkulturellem Phänomen annähern wollen, bietet die Darstellung „Als die Welt noch unterging“ einen guten (subjektiven, aber auch theoretischen) Einstieg ins Thema; wer sich insbesondere mit der Neuen Deutschen Welle beschäftigen will, wird um das Werk ohnehin kaum herumkommen. Denn hier wird erstmals eine (wenn auch nicht erschöpfende, so doch zumindest breit aufgestellte) Szene-Geographie in Ergänzung zum interviewlastigen Teipel-Standardwerk „Verschwende Deine Jugend“ vorgelegt.

Über diese Chronistenleistung hinaus ist es Frank Apunkt Schneider aber vor allem hoch anzurechnen, dass es ihm nicht an einer glatt gebügelten subkulturellen Allerweltserklärung gelegen war, sondern dass er die Szene(n) mitsamt ihren Brüchen, Widersprüchen, Kontroversen, Dialektiken und Grauzonen präsentiert, dass er Komplexes nicht bis zur Nichterkennbarkeit des (scheinbar) Identischen und einfach Schubladisierbaren eindampft, sondern im Gegenteil Mut zum Stehenlassen von Fragen auch um der Gefahr des Schwammigbelassens bewiesen hat.

„Als die Welt noch unterging“ ist insofern ein Buch, das den Leser zum eigenen Fragen, Hinterfragen, Weiterforschen und vielleicht sogar zum Widerspruch einlädt. Die bisweilen in wissenschaftlichen Termini kompliziert theoretisierende Sprache des Werks wird immer wieder durch Vergleiche, Zitate, umgangssprachlichen Jargon und dezidierte Meinungsäußerungen aufgelockert, sodass sich das Buch auf mehreren Ebenen lesen lässt. Schneider bietet mithin gleichermaßen unterhaltsamen wie auch anspruchsvollen Journalismus, der in erster Linie die popkulturell und poptheoretisch breiter interessierte Leserschaft, mit seinen Städteszeneportraits sowie den ausführlichen Diskografien im Anhang vermutlich aber auch eingefleischte Kassettenszene-Nerds und begeisterte Punk/NDW-Tonträgersammler anspricht.

|385 Seiten, kartoniert
mit zahlreichen Abbildungen
ISBN-13: 978-3-931555-88-7|
http://www.ventil-verlag.de

Petra Reski – Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern

Im August letzten Jahres wurden vor der Duisburger Pizzeria Da Bruna sechs Italiener kaltblütig getötet. Es war mehr als ein bloßes Massaker, sondern ein kaltblütig ausgeführter Auftragsmord. Die Opfer stammten alle aus dem kleinen Dorf San Luca in Kalabrien, einem der Hauptsitze der Ndrangheta.

Aus Filmen meinen wir die Mafia sehr wohl zu kennen. Seit den „Pate“-Filmen von Francis Ford Coppola und der Fernsehserie „Allein gegen die Mafia“ glauben viele Bürger, über ein wenn auch heroisiertes Bild der ehrenwerten Gesellschaft zu verfügen. Man meint, die Mafia gehe uns nichts an, sei zwar ein immer aktuelles Thema in Italien und habe im restlichen Europa oder gar in Deutschland keine oder kaum Auswirkungen.

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