Archiv der Kategorie: Zeitgeschichte & Gesellschaft

Márquez, Gabriel García – Leben, um davon zu erzählen

„Meine Mutter bat mich, sie zum Verkauf des Hauses zu begleiten“, so beginnt der erste Teil der auf drei Bände ausgelegten Autobiographie des kolumbianischen Nobelpreisträgers für Literatur, Gabriel García Márquez, und wirft den Leser sofort in das farbenfrohe Leben des mittlerweile über 80-Jährigen.

Dieser erste Satz des Buches versetzt Autor und Leser gleichermaßen in die Kindheit Márquez‘ zurück. 1928 wurde er in Aracataca (Kolumbien) geboren und wuchs abwechselnd bei den Eltern und Großeltern auf. Da die Familie ständig anwuchs (gegen Ende des Bandes sind wir bei elf Kindern angelangt), war Márquez‘ Kindheit von ständiger Armut geprägt und führte dazu, dass die Familie oft umziehen musste. Jenes Haus in Aracataca aber wird treuen Márquez-Lesern sofort bekannt vorkommen, hat er ihm und seinen Bewohnern doch schon in seinem berühmtesten Roman, „Hundert Jahre Einsamkeit“, ein Denkmal gesetzt. All die kruden und originellen Figuren in dieser Autobiographie wiederzufinden, ist ein reines Vergnügen und Beweis dafür, welch buntes Leben Márquez schon in frühester Kindheit genießen durfte.

Schon als Kind liest er begeistert, erzählt Geschichten und Anekdoten, verschlingt die „Geschichten aus Tausendundeiner Nacht“ und singt inbrünstig kolumbianische Schlager. Auch im Zeichnen scheint er recht begabt zu sein. Diese vielen Begabungen führen dazu, dass er trotz seiner Schüchternheit schon in der Schule von aufmerksamen Lehrern gefördert wird und es trotz seiner ärmlichen Verhältnisse aufs Lyceum schafft.

Dort trifft er auf liberale, junge Lehrer, die offen mit ihren Schülern diskutieren und ihre freie Meinung unterstützen. Er beginnt zu schreiben – kleinere Gedichte und Glossen für die Schülerzeitung – und etabliert sich als junger Bohème, indem er mit langen Haaren, wildem Bart und bunt geblümten Hemden herumläuft. Doch seine Wünsche, sich kreativ zu betätigen, laufen denen seiner Eltern zuwider. In ihrer prekären finanziellen Lage möchten sie, dass Gabito Jura studiert, um sich selbst ernähren und die Familie unterstützen zu können. So schreibt er sich an der juristischen Fakultät in Bogotá ein, ohne jedoch besondere Begeisterung für die Rechtswissenschaften aufbringen zu können.

Stattdessen lebt er ununterbrochen am Rande des Existenzminimums, schläft mal auf der Straße, mal im Café und im besten Fall in einem billigen Freudenhaus und interessiert sich für alles, nur nicht fürs Studium. Seine schriftstellerischen Ambitionen keimen auf, er schreibt kurze Prosa, ein Genre, das damals in Kolumbien kaum existierte (man „beschränkte“ sich auf Poesie) und trägt die Mappe mit Kurzgeschichten immer mit sich herum – sein einziger Besitz. Erste Geschichten von ihm werden veröffentlicht, und von da an ist seinen Freunden klar, dass er ein berühmter Schriftsteller werden wird. Nur bis diese Erkenntnis Márquez selbst erreicht, wird es noch eine Weile dauern.

Nach dem Aufstand vom 9. April 1948, als in Bogotá der Präsidentschaftskandidat Gaitán erschossen wird, verlässt Márquez erschrocken und traumatisiert die Stadt, um in Cartagena weiterzustudieren. Doch dort erlischt sein Interesse für Jura vollends, denn er beginnt bei verschiedenen Zeitungen zu arbeiten und schreibt nun nicht mehr nur Prosa, sondern auch Glossen und Kommentare. Diese Arbeit begeistert und vereinnahmt ihn zusehends, sodass er durch die Jura-Prüfung fällt. Seine Eltern hoffen immer noch auf einen Anwalt in der Familie, doch müssen sie sich allmählich mit den Tatsachen abfinden und einsehen, dass ihr Sohn das Studium nicht beenden wird.

Zurück in Bogotá, arbeitet er bei der großen Zeitung „El Espectador“ und widmet sich nun auch mehr und mehr der Reportage. Erstmals ist er fest angestellt und bekommt ein monatliches Gehalt, mit dem er sich nicht nur endlich eine eigene Wohnung nehmen kann, sondern das auch ausreicht, um seinen Eltern und der großen Kinderschar eine finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Schon seit einiger Zeit arbeitet er an verschiedenen Buchprojekten. Den ersten Roman „La Casa“ gibt er irgendwann entnervt auf, „Laubsturm“ wird zwar vollendet, jedoch zunächst vom Verlag abgelehnt. Der erste Band seiner Autobiographie endet damit, dass „Laubsturm“ doch noch veröffentlicht und Márquez als Korrespondent nach Genf geschickt wird.

Gabriel García Márquez ist ein geborener Erzähler – das beweist er einmal mehr mit seinen Memoiren. Seit 1999 arbeitet er fieberhaft an seiner Autobiographie – eine Krebserkrankung war der Auslöser, dieses Projekt endlich in Angriff zu nehmen. Besonders das erste Kapitel, in dem Haus und Einwohner aus „Hundert Jahre Einsamkeit“ noch einmal Revue passieren, ist dicht gestaltet und erfüllt für Márquez eine Schlüsselfunktion. Merkt man diesem Kapitel die starke schriftstellerische Bearbeitung des Autors an, so wirken die späteren Passagen des Buches naturbelassener und wie in einem Guss heruntergeschrieben. Die akkurate literarische Methode Márquez‘, seine Romane bis zum Exzess zu überarbeiten und zu perfektionieren, scheint nur im ersten Kapitel angewendet worden zu sein, was dazu führt, dass der Rest des Buches an einigen Stellen ungeordnet, durcheinander und roh wirkt.

„Leben, um davon zu erzählen“ ist ein prall gefülltes Buch, das vor Anekdoten, Personen und Geschichtchen nur so strotzt. Es erzählt nicht nur vom Leben eines großen Schriftstellers, sondern führt den europäischen Leser auch ein in kolumbianische Geschichte und die Literaturszene der Fünfzigerjahre. Die beiden Karten im Einband des Buches (der gebundenen Ausgabe) leisten dabei gute Dienste, um sich im kolumbianischen Hinterland zu orientieren, dennoch kann es dem unbedarften Leser passieren, dass er zwischen den vielen Namen und Personen kurzfristig den Überblick verliert.

Doch gerade deshalb ist „Leben, um davon zu erzählen“ eine Lektüre, die den Leser begeistern wird. Auch in seiner Autobiographie hat sich Márquez nicht vom magischen Realismus verabschiedet, dessen bekanntester Vertreter er ist. Seine Erzählungen wirken frisch und gegenwärtig, sodass man Márquez nur um sein offensichtlich sehr zuverlässiges und aufnahmefähiges Gedächtnis beneiden kann. „Leben, um davon zu erzählen“ macht nicht zuletzt Lust auf Lateinamerika, auf andere Autoren dieses Kulturkreises und darauf, auch andere Autoren durch ihre Autobiographien besser kennen zu lernen.

|Originaltitel: Vivir para contarla
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz
608 Seiten
ISBN-13: 978-3-596-16266-6
Hardcover-Ausgabe: Kiepenheuer & Witsch, Dezember 2002, ISBN-13 978-3-462-03028-0|
http://www.fischerverlage.de
http://www.kiwi-verlag.de

Soboczynski, Adam – schonende Abwehr verliebter Frauen, Die

_Elegante Einführung ins Welttheater_

Grünes Kunstleder, geprägte Schrift und ein Bordeaux gefärbter Schnitt – |Kiepenheuer| hat sich eine auffällige, aber nicht aufdringliche Aufmachung für Adam Soboczynskis neues Werk einfallen lassen, welche ganz den Menschentyp widerspiegelt, den der Autor recht zynisch aber durchaus witzig propagiert. Zunächst mutet das Buch als Ratgeber in Sachen Lebensführung an, wollen die 33 Geschichten doch zeigen, |“wie sich in einer Welt geschickt zu verhalten sei, in der Fallen lauern und in der Intrigen walten“|, und beispielhaft in die „Kunst der Verstellung“ einführen. Solchermaßen findet man bereits auf der hinteren Umschlagseite die Zehn Gebote der Verstellungskunst, mit deren Hilfe sich der Leser in der Fertigkeit, ein gewünschtes Bild von sich so darzustellen, dass man seine Ziele erreicht, vervollkommnen können soll.

In den Geschichten findet der Leser Typen wie den leicht zu durchschauenden Herr Walter, den hochnäsigen Hochschulprofessor, die Mutter, der es immer wieder gelingt, ihrem Sohn Schuldgefühle einzureden, unglücklich verliebte Menschen, Menschen, die sich die Liebenden eher von Hals halten möchten – sie tauchen im Laufe der Geschichten immer wieder auf und werden somit in einem vielfältigen Beziehungsgeflecht gezeigt, das sich dem Leser ganz wie im richtigen Leben nicht beim ersten Auftreten, sondern erst nach einem längeren Beobachtungszeitraum erschließt. Sie allen spielen laut Soboscynski „Welttheater“, um andere zu schonen, damit sie ihnen in Zukunft nicht schaden können, und/oder um sich der Konkurrenz gegenüber Vorteile zu verschaffen.

Dieses Bild der Welt und der in ihr handelnden Personen greift auf die Ideen des Barockzeitalters zurück. Der Autor verweist mehrmals auf die Theorien des Balthasar Gracián, dessen Leitfaden für die höfische Benehmenskultur „Handorakel und Kunst der Weltklugheit“ (1653) er auf die Gegenwart zu übertragen versucht. Beiden Autoren geht es darum, den Lesern zu zeigen, dass man seine Affekte beherrschen muss, um den richtigen Schein aufzubauen und zu wahren sowie stets das gewünschte Bild von sich zu zeigen. Dieses Ideal der gekonnten Verstellung wurde im Laufe der Jahrhunderte von der bürgerlichen Kultur mit ihrem Ideal der Innerlichkeit und der Aufrichtigkeit der Gefühle abgelöst. Soboczynski zeigt in anspruchsvoller, geschliffener, gelegentlich vielleicht etwas zu umständlicher Sprache, dass jedoch gerade in der heutigen Zeit, in der sich jeder Mensch in einer Vielfalt von Beziehungsgeflechten und Abhängigkeiten befindet, diese Verstellungskunst aktueller ist denn je. Menschen, die sie anwenden, steigen auf; wer sich dieser Verhaltensregeln nicht beugt, ist laut Soboczynski zum Scheitern verurteilt. Der Zyniker wird begeistert nicken, der Romantiker sich angewidert abwenden.

Tatsache ist jedoch, dass das Individuum in einem sozialen Netz agiert, in dem es beständig gezwungen ist, bestimmte Rollen auszufüllen. Auf der anderen Seite muss jeder Mensch seine Ziele im Leben und die Art und Weise, diese zu erreichen, noch immer für sich selbst definieren. Nicht jeder ist für jede Rolle geeignet, die letztendlich mit dem Selbstbild korrespondieren muss, damit man sie überzeugend ausfüllen kann. Somit bildet das Buch den Auslöser, sich des Rollenspiels in vielen Bereichen des Lebens bewusst zu werden, um erfolgreich mitspielen zu können – oder in Momenten, in denen es dem Individuum näher an seinem Selbst erscheint, aus solchen Rollenspielen auszusteigen. Auch der Volksmund weiß, dass man sich im Leben immer zweimal trifft, dass es aus dem Wald hinausschallt, wie man hineinruft etc. „Die schonende Abwehr verliebter Frauen“ erinnert an den Wahrheitsgehalt solcher Aussagen und daran, sich dessen zu besinnen, damit man so handeln kann, dass man sich keine Optionen verbaut. Die postmoderne Gesellschaft ist dabei jedoch so vielfältig und die Verhaltenscodes so unterschiedlich, dass es schwerfallen dürfte, allgemeingültige Regeln aufzustellen. Selbst der SMS-Code, der eine schonende Abwehr sein soll, muss als solcher vom Gegenüber verstanden werden. So manche verliebte Frau möchte vielleicht eher ein deutliches Wort an der richtigen Stelle hören als sich permanent des Codes vorgeblich schonender Phrasen erinnern zu müssen.

|204 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-378-01100-7|
http://www.aufbauverlag.de

Schweitzer, Gregor – Hautnah USA. Vom Wahnsinn einer Traumgesellschaft

_Auf der Suche nach dem amerikanischen Traum_

Amerika – unendliche Weiten, furchtlose Helden, unendlich viele Möglichkeiten, Gerechtigkeit und Freiheit für alle, die es mit ehrlicher harter Arbeit zu einem besseren Leben bringen wollen; so sieht das Bild eines Amerika aus, welches unzählige Western nicht nur bei Gregor Schweitzer in dessen Kindheit und Jugend geprägt haben. Auch ein Austauschjahr als Schüler, die Jahre bei der Bundeswehr und sein Studium können diesen kleinen Funken Hoffnung darauf, dass Amerika in den Tiefen seines Herzens noch immer den Geist der Pionierjahre in sich trägt, nicht zum Erlöschen bringen – und auch nicht den Wunsch, nach diesem ursprünglichen Amerika auf die Suche zu gehen, wie schon einige vor ihm.

Er ist 33 Jahre alt, als in die Staaten fliegt und sich Steinbeck gleich einen Camper besorgt, um mit seinem Hund „Goldbär“ Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts für 405 Tage „In Search of Amerika“ durch die USA zu reisen und den „Wahnsinn einer Traumgemeinschaft“ (so der Untertitel) am eigenen Leibe zu erfahren. Seine Odyssee ist geprägt von Schwierigkeiten mit seinem ständig in irgendeinem Bauteil versagenden Wohnmobil und den Bekanntschaften mit den unterschiedlichsten Menschen. Der schmierige Autoverkäufer, kundenunfreundliche Werkstattbesitzer, allen Fremden gegenüber feindlich und abwehrend eingestellte Privatgrundbesitzer stehen Menschen gegenüber, die wenig bis gar nichts besitzen und sich dennoch Menschenwürde, Neugier und ein freundliches Wesen bewahrt haben. Auf Seiten der Weißen wie der Schwarzen entdeckt er die gleichen historisch gewachsenen und immer noch nicht überwundenen Vorurteile, in deren nimmermüder Wiederholung und gegenseitigem Hass sich beide Seite so ähnlich sind, wie sie es in ihren kühnsten Träumen nicht vermuten würden.

Die Dimensionen des Landes erlebt Schweitzer so unbegreiflich wie die alten Maße (Acre/Section), welche eine Masse an Landbesitz eines Menschen ausdrücken, wie sie halb Deutschland ausfüllen würde. Und doch zeigt sich der amerikanische Nationalstolz letztendlich als aufgesetzte Fassade, wenn die Rancherin im Nationalpark die Bevölkerung Amerikas als in einer Illusion von Freiheit und Einheit lebend beschreibt: |“Bei uns werden immer nur die Guten getötet. (…) Und weil in Amerika jeder Angst hat, irgendwann einmal von einem Idioten abgeknallt zu werden, sind wir alle still. (…) Wir haben die Aufgabe, das Bild von einer unbegrenzten, sogenannten demokratischen Freiheit aufrechtzuerhalten, das uns stolz macht, hier leben zu dürfen. Deshalb will auch niemand weg, das heißt, es traut sich niemand wegzugehen, weil wir alle uns gegenseitig glauben machen, nur in Amerika gäbe es Freiheit und alle anderen Länder auf dieser Welt lebten in Unfreiheit.“| Solchermaßen stellen sich auch die Anfeindungen dar, welche Schweitzer als „herumvagabundierendem Tramp und Tagedieb“ oder als Weißem entgegenschlagen, immer resultierend aus der Angst vor dem „Anderen“; nur mit dem gefährlichen Hintergrund, dass in Amerika die Gesetze auf der Seite des Besitzenden sind und praktisch jeder Einwohner eine voll funktionsfähige Waffe besitzt, ohne die man sich scheinbar nicht sicher fühlt, mit ihr aber auch nicht wirklich.

Auf der anderen Seite begegnet dem reisenden Autor auch die zweite Seite der Medaille, welche diese Regel des Schutzes der Besitzenden außer Kraft setzt, wenn es sich um die Ureinwohner des Landes handelt, deren Rechte immer noch dem Willen des Staates der einstigen Eroberer gemäß gebeugt werden können. Das Unrecht, welches man ihnen angetan hat, wird am Beispiel des Gedenksteins am Ort des Massakers von Wounded Knee und der Tatsache geschildert, dass die Indianer sogar ihnen zugesprochenes Land räumen müssen, wenn ein Filmteam dort Aufnahmen machen will. Solche Widersprüche und Absurditäten des amerikanischen Alltags und die tiefen Einblicke in die unterschiedlichsten Lebensweisen und Charaktere dieses riesigen Landes machen das Buch zu einem Lesevergnügen – vor allem, wenn der Autor mit einer lockeren ungekünstelten Schreibe seinen persönlichen Ton findet.

Natürlich kann Schweitzers Suche nach Amerika kein allgemein gültiges Ergebnis bringen – zu groß ist das Land, zu verschieden sind die Menschen, die Meinungen sowie die Lebensentwürfe. Wie Steinbeck auf seiner dreimonatigen Reise durch Amerika, entwickelt Schweitzer ein facettenreiches Bild des Amerikas der 90er Jahre. Es dürfte spannend zu lesen sein, welche Erfahrungen man auf einer solchen Reise jetzt nach 9/11, verschärften Einreise- und Aufenthaltsbedingungen sowie paranoider Angst vor Terrorismus machen würde; sind doch die politischen und gesellschaftlichen Tendenzen bereits zu Schweitzers Reisezeiten deutlich ablesbar und werden vom Autor in einem der letzten Kapitel über das ihm immer wieder das Reiseleben erschwerende Neighbourhoodwatch-System – als System eines durch Abgrenzung, Rassenvorurteile sowie Fremdenfeindlichkeit geprägten Denunziantentums, welches eher Hass und Angst schürt als Sicherheit bringt – zusammengefasst. Solchermaßen werden die lebendigen Schilderungen der Menschen und Begegnungen auch bei Schweitzer immer wieder in kleine Reflexionen über die Landschaft, über Literatur, Politik und Geschichte eingebettet.

Auffällig und gewollt ist dabei der Schreibstil, welchen Schweitzer an den der Beat Generation angelehnt hat. Er verweist selbst auf Kerouacs Roman „On the Road“, dem ebenso das Motiv einer Reise durch die Staaten zugrunde liegt. |“Wie einen Cowboy, der das Pferd gegen ein Auto getauscht habe“|, beschreibt Kerouac seinen Freund und Fahrer seines Autos Neal Cassady. Solch ein Cowboy will auch Schweitzer sein. Mehr als deutlich wird das im ersten Kapitel, dessen eigentlicher Prosatext durchzogen ist von Westerntiteln. Was auf den ersten Seiten noch amüsant wirkt, wird jedoch schnell anstrengend; überhaupt ist der an spontaner Prosa orientierte Schreibstil nicht immer einfach zu lesen, denn der Autor springt dabei von einer Erzählweise in die nächste. Manches wird nur fragmentarisch angerissen; anderes dem Leser bewusst cool aus der Perspektive eines Dritten in Satzfetzen um die Ohren gehauen, Gereimtes mischt sich mit Verkehrsschildersprache. Andeutungen stehen flüssigen Schilderungen gegenüber. Dann wieder tauchen Kapitel im szenischen Schreiben auf. Man findet neben einer bewusst gewählt gehaltenen Sprechkultur beispielsweise der Zeugen Jehovas auch gelegentlich den unverfälschten Ton der amerikanischen Gosse. Besonders originell und gelungen ist vom Aufbau her das Kapitel „Intermezzo“, in dem ein Mittagessen einer Familie am Rande der Gesellschaft und ein Essen in einem noblen Restaurant bzw. die Eintrittspreise von |Disneyland| vermischt werden und sich dennoch kontrastierend gegenüberstehen. Der Subjektivität der Prosa wirkt die Vielzahl der geschilderten Begegnungen entgegen, welche ebenso vielfältig wie die verwendeten literarischen Formen sind, mit denen der Autor in „Hautnah USA“ arbeitet, und die in der Summe ein recht objektives und komplexes Bild der amerikanischen Gesellschaft ergeben. Dabei schildert Schweitzer die Menschen überwiegend beobachtend und nicht wertend, dafür mit Sympathie und Humor.

Neben dem Inhalt muss bei diesem Buch aus dem |Conbook Medien|-Verlag auch auf die liebevolle Aufmachung hingewiesen werden. Neben dem braunen Kunstledereinband findet man ein Lesebändchen und vielfältige Illustrationen von Susanne Schweitzer wie die Reiseroute auf der ersten Umschlagseite, Fotos und Zeichnungen. Damit sind die 350 Seiten jeden ihrer knapp 15 Euro wert. Dass das Interesse an Amerika, den Amerikanern und dem Leben in Amerika in Deutschland immer noch groß ist und der Funken Hoffnung auf die Grenzenlosigkeit und Freiheit Amerikas in den Träumen vieler Deutsche herumspukt, beweisen neben der vorliegenden Neuerscheinung auch das große Interesse an Sabrina Fox‘ Buch „Mrs. Fox will wieder heim“ (2008) und die zahlreichen Urlaubskataloge, welche Individualreisen mit dem Auto über mehrere Wochen anbieten. „Hautnah USA“ sollte bei allen Idealisten als amüsante, ambitionierte, spannende und teilweise erschreckende Vorlektüre auf dem Pflichtprogramm stehen.

|348 Seiten, gebunden, Kunstledereinband mit Lesebändchen
mit Illustrationen und Fotos
ISBN-13: 978-3-934918-30-6|
http://hautnah-usa.conbook.de
http://verlag.conbook.de

Wohlgethan, Achim / Schulze, Dirk – Endstation Kabul

Seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 befinden sich die Vereinigten Staaten von Amerika im Krieg. Nach sieben Jahren und über 5.000 toten Soldaten auf Seiten der amerikanischen Koalition sowie unzähligen zivilen Opfern unter den Afghanen und Irakern ist ein Ende des Krieges gegen den Terror nicht wirklich abzusehen.

Auch die Bundesrepublik Deutschland beteiligt sich offiziell an diesem Krieg. Allerdings nimmt sie laut unserer Regierung nicht an aktiven Kampfhandlungen teil. Einzig das KSK (Kommando Spezialkräfte), eine Elite-Einheit, die für Aufklärungseinsätze ausgebildet ist, könnte sich an Kämpfen beteiligen. Eine konkrete Stellungnahme unserer Regierung zu diesen Einsätzen dringt allerdings bislang nicht an die Öffentlichkeit, auch die Beteiligung des BND (Bundesnachrichtendienstes) an Geheimdienstaktionen und eine Zusammenarbeit mit der CIA bleiben unklar und liefert zusätzlichen Gesprächsstoff für waghalsige Vermutungen und Verschwörungstheorien. Immer wieder fordern die anderen an diesem Krieg beteiligte Nationen, dass die Streitkräfte der Bundesrepublik Deutschland sich ihrer Verantwortung in Europa und der Welt bewusst sein und sich demnach auch aktiver an Kampfaktionen beteiligen sollten.

Über das tägliche Leben der Deutschen Soldaten in ihren Stützpunkten ist nicht viel dokumentiert worden. Die engsten Angehörigen der Männer und Frauen, die in Afghanistan stationiert sind, wissen sicherlich mehr als wir, die ihre Berichte und Erlebnisse nur den Medien entnehmen müssen. Und auch diese haben spätestens seit dem bedenklichen Informationsfluss zum Terrorakt 9/11 und dem angeblichen Atomprogramm des Irak längst verstanden, dass Kriegsberichterstattung sich offiziell den Interessen des Staates unterzuordnen hat.

Den Soldaten in der Fremde sind ist es mit Eid und Vertrag verboten worden, über Einzelheiten und Details zu berichten – als Teil militärischer Geheimhaltung durchaus nachvollziehbar. Die Probleme der Bundeswehr, aber auch ihre Stärken sind bekannt; die Kampfausrüstung und Bewaffnung liegt hinter den Möglichkeiten der amerikanischen Waffenbrüder, das durch Ausbildung und Training vermittelte Wissen ist überdies wohl nicht zeitgemäß, doch der Bundeswehr kann man hierbei keinen Vorwurf machen, denn sie blickt nicht wirklich auf Erfahrungen zurück. Nur die medizinische Ausrüstung und die Logistik gehören der Oberklasse an.

Jetzt tauchen allmählich sogenannte Erfahrungsberichte auf, geschrieben von ehemaligen Soldaten, die ihre Erlebnisse offenbar der Allgemeinheit zugänglich machen wollen, um darüber aufzuklären, welchen Risiken und Gefahren sich der einfache Soldat bei diesen Einsätzen täglich stellen muss.

_Inhalte_

Achim Wohlgethan ist ausgebildeter Hubschrauberpilot und war als Stabsunteroffizier Soldat auf Zeit. In seinem ersten Afghanistan-Einsatz gehörte er zu einer Fallschirmspringereinheit mit dem Namen „Division Spezielle Operationen“.

Vorab sei bereits angemerkt, dass sein Buch eher einer gut erdachten Räubergeschichte gleicht und mit der Realität nicht viel zu tun haben scheint. Ich kenne selbst Offiziere und Unteroffiziere, die einige Zeit in Afghanistan gedient haben und derartige Berichte nicht bestätigen können. Sicherlich hat Achim Wohlgethan sechs Monate seinen Dienst in Afghanistan getan und ebenso sicher gab es dabei auch unerfreuliche Vorfälle, Missstände und Anschläge durch die Taliban oder andere aufständische Volksgruppen, vielleicht hat er wirklich etwas von dem hier beschriebenen so erlebt, aber es dürfte schwierig werden, diese Fakten ohne Zeugenbestätigungen zu verifizieren.

Achim Wohlgethan war zur fraglichen Dienstzeit Mitte dreißig und vom Rang her Stabsunteroffizier, also im unteren Dienstgradbereich angesiedelt. In seinem Buch beschreibt er, dass er eine Ausbildung zum Hubschrauberpiloten genossen hat (die allerdings vor der Bundeswehrzeit zivil erfolgte), überdies eine Fachausbildung für Scharfschützen und eine Kampfausbildung absolvierte – das erscheint mir bereits fraglich genug. Als Stabsunteroffizier stellt er das unterste Glied der Befehlskette und zudem wenig qualifiziert für eine solche Spezialausbildung. Auch zeitlich gesehen wirft diese Karriere Fragen auf.

„Endstation Kabul“ enthält trotz der rot umrahmten Aufschrift „TOP SECRET“ keine Geheimnisse, keine wohlgehüteten Aktionen der Bundeswehr gelangen hier an die Öffentlichkeit. Stattdessen begegnet uns bereits auf den ersten Seiten ein Super-Soldat mit heroischen Idealen und wir betrachten die Geschehnisse aus einer emotional stark eingefärbten Sicht. Schon bei der Ankunft in Afghanistan trifft er einen alten Freund, der ihn für einen besseren Posten innerhalb des Camps einsetzt, wodurch er in der inneren Rangordnung höher aufsteigt. Im Laufe der nächsten Wochen und Monate ist Herr Wohlgethan umsichtig und mitfühlend, er schafft es sogar, ein fast erblindetes Kind nach Deutschland zu schicken, um es dort behandeln zu lassen! Zudem unternimmt er Spezialeinsätze und wird zu einer Vertrauensperson für Soldaten nationaler und internationaler Herkunft. Und immer weiß er sich in jeder kritischen Situation zu helfen. Natürlich begegnet er auch Geheimdienstagenten und erhält Einblick in verschiedene Operationen, die einem einfachen Soldaten scheinbar leicht zugänglich waren.

Auch über das tägliche Leben im Camp wird berichtet; vielen Soldaten fällt der räumliche Abstand zur Familie und Freunden natürlich schwer, und es gibt immer Offiziere, deren Verhalten fragwürdig erscheint. Doch auch hierbei weiß Herr Wohlgethan stets Rat und hat die Situation zusammen mit seinem Freund problemlos unter Kontrolle, egal wie dramatisch sie auch immer gewesen sein soll.

_Kritik und Fazit_

„Endstation Kabul“ ist ein Epos der Selbstbeweihräucherung, eine Kette von Halbwahrheiten und offenen Fragen, die einen schon auf den ersten Seiten klarmachen, dass es haltlos übertrieben ist, was den Lesern hier vor Augen geführt wird. Manche Situationen hat es sicherlich so gegeben, auch dass es Raketenangriffe gegeben hat, bezweifelt niemand, wohl aber, dass ein Unteroffizier zum Geheimnisträger wird und im Einsatz derart überdurchschnittliche Leistungen zeigt.

Das Buch enthält keine Enthüllungsdramen oder Ereignisse, die es zu verstecken gilt. Die internationalen Verbände unter Führung der Amerikaner sind durchorganisiert und die jeweiligen Rollen sind jeder Nation ihren Fähigkeiten entsprechend zugeteilt. Dass das Elitekommando KSK mehr Einblick in die derzeitigen Kämpfe und Situationen hat, an denen nicht nur das Militär, sondern auch die verschiedenen Geheimdienste involviert sind, steht außer Frage, aber einem Zeitsoldaten unteren Dienstgrades sind solche Informationen nicht zugänglich. Die Häufung von gefährlichen Situationen und aufreibenden Einsätzen erinnert zudem eher an Hollywood-Kriegsdramen als an die reale Situation der Bundeswehrhandlungen in den Krisengebieten.

Verfasst ist das Buch in einem recht eingebildeten Stil; die Hauptrolle spielt stets der Protagonist Wohlgethan, und nicht die Bundeswehr als Verband, der schützt, aufbaut und humane Hilfestellung leisten soll. Beim genauen Lesen ergeben sich Widersprüche und man muss nicht bei der Bundeswehr gewesen sein, um festzustellen, dass die Fantasie des Stabsunteroffizier Wohlgethan hier eine tragende Rollen spielt. Probleme und Sorgen, Nöte und Ängste der Soldaten gehen nahezu unter. Auch das Schicksal der einheimischen Bevölkerung wird zwar rührend angerissen, aber nicht zu Ende gedacht und erzählt. Was zählt, sind die ‚Heldentaten‘ eines Einzelnen, der sich hier gerne profiliert und auf Kosten anderer eine Geschichte erzählt, die indes nicht glaubhaft auf den Leser wirkt.

Vermisst habe ich die wirklichen Helden in diesem Konflikt. Was leisten die Ärzte der Bundeswehr in den Krisengebieten? Das wäre mal einen Bericht wert gewesen. Stattdessen werden die täglichen Probleme der Bundeswehr propagiert, die nun wirklich keine Geheimnisse sind und es auch niemals waren. Stattdessen sollte sich Herr Wohlgethan daran erinnern, dass er einen Eid geleistet hat und laut Gesetz zum Schweigen verpflichtet ist, auch dann, wenn er kein Angehöriger der deutschen Streitkräfte mehr ist. Ein solch idealistischer Charakter, als den er sich selbst so gern darstellt, sollte derlei eigentlich ernst nehmen.

„Endstation Kabul“ lässt sich nicht empfehlen. So viele Widersprüche und eine satte Packung purer Profilneurose bilden keine Dokumentation und geben auch nichts an den Leser weiter, was in irgendeiner Art und Weise für diesen neu oder interessant sein könnte.

_Die Autoren:_

Achim Wohlgethan ist ausgebildeter Hubschrauberpilot und kam 1995 als Zeitsoldat zu einem Fallschirmjägerbataillon nach Oldenburg. Nach seinem ersten Afghanistan-Einsatz wurde er Angehöriger eines Fallschirmjäger-Spezialzuges der Division Spezielle Operationen der Bundeswehr. Nach seinem Dienstzeitende arbeitete er weltweit als selbständiger Sicherheitsberater und lebt heute als Autor in Wolfsburg.

Dirk Schulze (Koautor) trat 1992 als Wehrpflichtiger in die Bundeswehr ein und verpflichtet sich auf 14 Jahre. Er schlug die Offizierslaufbahn ein und nahm an mehreren Auslandseinsätzen der Bundeswehr teil. Er war auch Angehöriger der ISAF-Vorauskräfte in Afghanistan und zuletzt als Hauptmann und Presseoffizier tätig. Nach seinem Austritt aus der Bundeswehr arbeitete er als Rechercheur und lebt heute als Autor in Hamburg.

|ISBN-13: 978-3430200431
304 Seiten|
http://www.endstation-kabul.de/
http://www.ullsteinbuchverlage.de/econ/

Hensel, Jana / Raether, Elisabeth – Neue deutsche Mädchen

2002 trat Jana Hensels Erinnerungsbuch [„Zonenkinder“ 4989 seinen Siegeszug durch das deutsche Feuilleton und – vor allem – die Bestellerlisten an. Die Idee, die dem Buch vorangestellt war, hatte durchaus Potenzial: Hensel, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung so lange in der BRD wie in der DDR gelebt hatte (als die Mauer fiel, war sie gerade dreizehn), war angetreten, exemplarisch aufzuzeigen, wie es ist, ein Wendekind zu sein. Nur kann man so einen biographischen Knick offensichtlich nicht exemplarisch aufzeigen, und „Zonenkinder“ scheiterte an genau diesem Anspruch. Das kollektive „Wir“, das Hensel während des gesamten Buches beschwor, war nervtötend, anmaßend und schlussendlich falsch.

Mittlerweile ist Jana Hensel irgendwie angekommen im neuen größeren Deutschland und hat sich auch von dem allgemeingültigen Wir verabschiedet. Zusammen mit ihrer Freundin Elisabeth Raether hat sie sich nun noch einmal zusammengetan, um aktuellen Befindlichkeiten nachzuspüren. Wieder ist die zugrunde liegende Idee originell: Hensel mit ihrer DDR-Biographie und Raether als BRD-Kind wollen herausfinden, was es heißt, heute eine Frau zu sein. Alice Schwarzer, deren Name traditionell immer fällt, wenn es um Feminismus in Deutschland geht, spielt dabei eigentlich nur als Aufhänger eine Rolle. Hensel lässt sich zwar zu ein wenig Schwarzer-Kritik hinreißen, aber mit Leidenschaft scheint sie nicht am Werke. Es scheint vielmehr, als fühlten sich die Autorinnen verpflichtet, die große Mutter des Feminismus in Deutschland wenigstens auf einer Seite namentlich zu erwähnen, um dann nahtlos dazu überzugehen, was sie als wichtig empfinden: Liebe oder deren Abwesenheit, Sex, Geld, Arbeit und die Unverbindlichkeit des Berliner Großstadtlebens.

In einzelnen Essays widmen sich Hensel und Raether also verschiedenen Aspekten des Frauseins. Das liest sich durchaus interessant und flüssig. Geradezu anekdotisch erzählen die beiden von (in der Regel missglückten) Affären, von dem Versuch, in der taffen „Männerwelt“ zu bestehen, von der seltsamen Entwurzelung im zusammenwachsenden Berlin. Die Nabelschau hat einen gewissen Tagebuchcharakter: Das Geschehene wird durchaus kritisch betrachtet und analysiert, und doch bleiben die Erzählungen des Scheiterns rein privat. Die Autorinnen sagen „überhaupt nichts aus, was über die jeweiligen Geschichten hinausginge“, meint beispielsweise der Rezensent der |F.A.Z.| und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Hensel und Raether haben ein persönliches Buch geschrieben, ein Buch, in dem sich Frauen ihres Jahrgangs wiederfinden oder auch nicht. Doch über ihre Selbstanalyse hinaus wollen die neuen deutschen Mädchen keine Auskunft darüber geben, wie die Sache mit dem Feminismus denn nun weitergehen sollte. Wenn die Ideen Schwarzers so überkommen sind, womit sollten wir sie ersetzen?

Abgesehen von den persönlichen Betrachtungen, finden sich in dem Buch auch zwei Essays zur Mütterngeneration, die sich durchaus interessant lesen. Da geht es auf der einen Seite um Elisabeth Raethers Mutter, die zunächst eine vollkommen durchschnittliche Mittelschichtenkarriere in der BRD macht: Heirat, Kinder, Hausfrau. Doch dann entscheidet sie, dass das nicht alles gewesen sein kann. Sie lässt sich scheiden, beginnt wieder zu arbeiten, wird ihre eigene Herrin. Für Raether ist diese Mütterbiographie ein Zeichen dafür, dass der Feminismus damals begann, die Mittelschicht zu erobern.

Auch Hensel ist ein Scheidungskind, und auch ihre Mutter steht geradezu beispielhaft für den Lebenslauf vieler Frauen in der noch jungen DDR. Sie arbeitet Vollzeit. Sie zieht aus dem Ledigenwohnheim aus, um zu heiraten. Die kleine Jana wird geboren. Durchaus genau schildert Hensel diese Jahre und analysiert die Unterschiede zur heutigen Zeit. Sie stellt das damalige Denken im „Kollektiv“ dem heutigen Götzen des „Individualismus“ gegenüber. Ihre Mutter, sagt sie, war noch eingebunden in ein großes Ganzes, war ein Rädchen in einer riesigen Maschine. Jana Hensel nennt das „Perspektivlosigkeit“, ist aber gleichzeitig ehrlich genug, einen gewissen Neid zuzugeben. Denn es kann auch sinnstiftend und beruhigend sein, sich als Teil einer Gruppe fühlen zu können. Heute will man das natürlich nicht mehr. Jeder ist sich selbst der nächste. Das Denken kreist nur um das eigene Individuum. Die Frage darf gestattet sein, ob man das, was auch zur Zersplitterung der Gesellschaft beiträgt, nun Fortschritt nennen soll.

Die beiden Mütter-Kapitel bieten den meisten Mehrwert in einem Buch, das ansonsten eher zufällig wirkt. Vielleicht war das auch den Autorinnen klar und sie haben die beiden Essays deshalb in der Mitte des schmalen Bandes platziert. In der Elterngeneration bietet sich die Möglichkeit, eine Rückschau zu halten – eine Sache, die die Analyse ungemein erleichtert. Im Rest des Buches finden sich dagegen kaum Erkenntnisse, die irgendeine Art von Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnten.

Das heißt jedoch nicht, dass die Autorinnen sich jeglicher Wertung enthielten. Ganz im Gegenteil! Raether bevorzugt die Innenansicht. Auf geradezu intime Weise nimmt sie den Leser an die Hand und erkundet mit ihm ihre eigene Seelenlandschaft. Geht eine Affäre in die Brüche, so spürt sie den Gründen nach, und der Leser begleitet sie Stück für Stück, wenn ihr Muster in ihrem Verhalten bewusst werden. Jana Hensel ist da anders. Die Gründe für ihr Scheitern (in einer Beziehung, am Arbeitsplatz) sucht sie nicht in erster Linie in sich selbst, sondern in anderen. Und natürlich wird sie fündig. Mal sind es die bösen tradierten Männerstrukturen in einer Berliner Redaktion, dann die reaktionären Familienvorstellungen anderer Leute. Immer jedoch überanalysiert Hensel ihre Deutungsmuster und überreizt sie dadurch.

Was bleibt von „Neue deutsche Mädchen“? Nicht viel, leider. Hensel und Raether haben ein wirklich lesenswertes, ja sogar kurzweiliges Buch über ihr eigenes Leben geschrieben, das sich kaum auf eine ganze Generation verallgemeinern lässt. Sie verweigern sich jeglicher Theorie und konfrontieren den Leser mit ihren persönlichen Geschichten, um ihn dann mit der eventuellen „Deutung“ allein zu lassen. Wie Jana Hensel im Essay „Über eine ostdeutsche Herkunft“ festgestellt hat, geht es nur um das Individuum. Auch „Neue Deutsche Mädchen“ kreist nur um diesen Götzen, und so stellt sich beim Leser leider Leere ein, wo er wohl Erkenntnis erwartet hatte.

http://www.rowohlt.de

Mann, Michael – dunkle Seite der Demokratie, Die. Eine Theorie der ethnischen Säuberung

Jeder kann ohne besondere Gründe zum Völkermörder oder dessen Helfer werden, wenn er im falschen Staat zur falschen Zeit lebt. Mit diesem eigentlich erschreckenden Satz lässt sich eine der Grundthesen beschreiben, die Michael Mann vertritt. In seinem Buch „Die dunkle Seite der Demokratie. Eine Theorie der ethnischen Säuberung“ versucht der amerikanische Soziologe die Gemeinsamkeiten aller Genozide der jüngeren Zeit ab dem 19. Jahrhundert zu analysieren – und nimmt seinen Leser dabei mit auf eine detaillierte Reise durch menschliche Abgründe der Mordgier, von Hitlers Nationalsozialisten über Stalins kommunistische Schergen bis hin zu den fürchterlichen Schlachterszenen, die sich vor mehr als zehn Jahren in Ruanda abspielten.

Die zentrale These des mehr als 800 Seiten starken Werkes lautet dabei: Noch nicht stabile Staaten auf dem Weg zur Demokratisierung oder mit einem anfangs demokratischen Anspruch sind am stärksten gefährdet, in den Strudel eines Völkermords abzugleiten – wenn ihre Probleme zunehmend auf ethnische Gegensätze reduziert werden, das Volk sozusagen als Bluts- oder Klassengemeinschaft angesehen wird, in dessen Land andere bisher lebende Gruppen keinen Platz mehr haben sollen. Gesellen sich zu solch einem Konflikt noch andere Faktoren – beispielsweise eine bedrohte Minderheit, die Hilfe von außen bekommt oder selber Anspruch auf Autonomie erhebt -, ist schnell der Punkt erreicht, an dem erst kleinere Unruhen später zum vom Staat gedeckten systematischen Vertreibungen führen – und schließlich zu hunderten, tausenden, manchmal Millionen Morden.

Was so erst einmal abstrakt klingt, beschreibt Michael Mann detailliert. Zu Ereignissen wie dem Völkermord an den Armeniern werden akkurat die geschichtlichen Abläufe geschildert, aber auch einzelne der handelnden Personen dahingehend beschrieben, wie sie sich in die monströsen Verbrechen verstrickten. Und genau da belegt der Politologe seine These: Es waren gerade auf „Sachbearbeiter“- und „Fachbereichsleiter“-Ebene eben ganz normale Menschen, die andere ganz normale Menschen töteten oder mit einem Federstrich erschießen ließen. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang das Kapitel über den Völkermord der Nationalsozialisten, wo einmal mehr detailliert gezeigt wird, wie viele Menschen sich in die Verbrechen des Dritten Reiches hatten einbinden lassen, sei es aus Karrieregründen, aus Angst vor Repressalien bei Verweigerung oder wirklich empfundenen Hass gegen Juden und Slawen. Und selbst hier, so Mann, träfe seine These von der „dunklen“ Seite der Demokratie zu: Adolf Hitler, der, mit Mehrheit gewählt, für sein Volk spricht, das ihm zujubelt; ein Führer, der den virtuellen (Volks-)Feind des Juden aufbaut – und erst dessen Vertreibung forciert, später in der Kriegskrise schließlich aber seine Vernichtung.

Es sind vieler solcher interessanten Gedanken, die sich quer durch das Buch ziehen, mit dessen grässlichen wie nüchtern geschilderten Geschichten von Massenvergewaltigungen im Jugoslawienkrieg oder mit Leichenwasser gedüngten „Feldern des Todes“ in Kambodscha. Solche und andere Menschheitsverbrechen werden allerdings nicht gleichgesetzt, sondern singulär betrachtet, nur ihre gemeinsamen Strukturmerkmale sind für Michael Mann wichtig: Ein wichtiger Hinweis für solche Leute, gerade aus dem rechtsextremen Spektrum, die das einzigartige Verbrechen des deutschen Volks an den Juden mit den Schweinereien anderer Nationen aufzuwiegen versuchen.

Somit ist Michael Mann mit seiner Arbeit ein Standardwerk für die moderne Friedens- und Konfliktforschung geglückt. Es ist gleichwohl ein Buch, das Angst macht: Denn kaum zuvor hat jemand so überzeugend die notwendige Demokratisierung in der Welt in einen Zusammenhang gestellt mit immer perfekteren Völkermorden – einem Phänomen, welches es in diesem Ausmaß erst in der Neuzeit gibt. Die Schlüsse von Michael Mann sind dementsprechend pessimistisch: Gerade für die südliche Halbkugel sieht er in den nächsten Jahren noch viele Szenarien, die wieder zu einem Völkermord eskalieren können … Darauf muss die Weltgemeinschaft eine Antwort finden – eine Hoffnung, die wohl nicht nur der Soziologieprofessor hegt.

|Originaltitel: The Dark Side of Democracy: Explaining Ethnic Cleansing
Originalverlag: Cambridge University Press 2005
Aus dem Englischen von Werner Roller
861 Seiten
ISBN13: 978-3-936096-75-0|
http://www.his-online.de

DeLong, Candice / Petrini, Elisa – Agentin, Die. Eine Frau im Dienst des FBI

Fast fünf Jahrzehnte hatte er das von ihm mitgegründete „Federal Bureau of Investigations“ geleitet, es in seinen letzten paranoiden Jahren als politisches Instrument missbraucht, seine Mitbürger und Mitarbeiter bzw. Untergebenen terrorisiert: J. Edgar Hoover (1895-1972), Segen und Fluch des FBI, dessen Schatten noch Jahre nach seinem Tod auf dieser Behörde lastete.

Eine Folge: Noch in den 1980er Jahren, als das öffentliche Aussprechen des Wortes „Gleichberechtigung“ nicht mehr den Exorzisten auf den Plan rief, arbeiteten so gut wie keine Frauen für das FBI. Dabei gab und gibt es auch unter den weiblichen US-Bürgern viele, denen es in die Wege gelegt wurde, die Feinde von Recht, Ordnung & Demokratie möglichst lange hinter Schloss und Riegel zu bringen!

Candice DeLong gehört zu den Hütehunden, die uns Herde schafsgleich durchs Leben ziehender Zeitgenossen vor den kriminellen Wölfen dieser Welt schützen möchten. Die ehemalige Krankenschwester und alleinerziehende Mutter rückt unverdrossen in die FBI-Bastion ein. Als tapferer kleiner Soldat übersteht sie klaglos maskulinen Drill und die harte theoretische Schulung. Den plumpen Chauvinismus sowie die rauen „Scherze“ ihrer Ausbilder, Mitschüler und späteren Kollegen gibt’s gratis dazu.

Aber in God’s Own Country ist das Glück mit der Tüchtigen. Gestählt durch alle Prüfungen, vor Ehrgeiz brennend, schwer bewaffnet und ihr Markenzeichen, den schicken Hut, tief in die Stirn gezogen, zieht Agentin DeLong in den Krieg gegen das Böse. Sie führt ihn mit dem für ihre Landsleute üblichen Elan erbittert und in jeder Sekunde des Tages und der Nacht. Ja, Strolche lauern überall, und sieht man sie nicht, kann man sich immer noch der verdienstvollen Aufgabe widmen, vorsorglich jene auszutilgen, die welche werden könnten – und das sind, so das ernste FBI-Wort, im Grunde alle Menschen dieser Welt, die sich nonkonform verhalten; was das im Detail bedeutet, verrät Ihnen gern die nächste Bureau-Dienststelle.

DeLong schlägt nach mehreren Lehr- und Wanderjahren die Laufbahn einer FBI-Profilerin ein. Als solche spezialisiert sie sich auf Täter, die es auf Frauen und Kinder abgesehen haben – eine schwierige, auch psychisch belastende Aufgabe, die DeLong mit einigen unerfreulichen Zeitgenossen der jüngeren Kriminalgeschichte zusammenführt.

Insider-Berichte über Geschichte und Alltag des FBI sind zumindest auf dem deutschen Buchmarkt nicht gerade häufig. Gleichzeitig ist das Bureau in den Medien, noch mehr jedoch in Literatur und Film so präsent wie seit seiner Gründung. Hier wie dort tritt es jedoch im Guten wie im Bösen eher als nationaler Mythos auf. Deshalb ist es interessant, einen Blick auf den realen FBI-Alltag werfen zu können.

Dort wird zwar auf meist hohem Niveau, aber eben auch nur mit Wasser gekocht. Dies zu belegen, ist zumindest ein Verdienst, den Ex-Agentin und Autorin Candice DeLong für sich verbuchen kann. Es bleibt ihr einziger, denn ansonsten präsentiert sich ihr Werk als chronologisch locker geordnetes, aber inhaltlich wirres Sammelsurium persönlicher Erinnerungen, kriminalistischer Fallgeschichten und FBI-Anekdoten à la „Wie mir mal im Supermarkt die Dienstwaffe aus der Tasche fiel“. Krimi und Seifenoper: Im Fernsehen nennt man das eine „überlappende Erzählstruktur“; die meisten modernen Polizei-Serien folgen diesem Muster. Das ist in der Fiktion sehr unterhaltsam, als Rückblick auf die Realität aber irritierend.

Erträglicher (doch nicht besser) wird es nur, wenn DeLong sich auf ihre Tätigkeit als Profilerin konzentriert. Darauf versteht sie sich, sie kann diesen Job ihren Lesern vermitteln, die diese Passagen mit Interesse verfolgen. Nun wird außerdem deutlicher, dass die schmalztriefigen, einer schlechten TV-Show entliehenen Szenen des DeLongschen Privatlebens unterstreichen sollen, dass a) auch gestrenge FBI-Agenten nur Menschen sind und b) sich die Erlebnisse einer Profilerin nach Feierabend nicht einfach abschütteln lassen.

Weiterhin unverändert bleibt freilich der kindliche Tonfall dieser Biografie. Niemand verlangt von einer fähigen FBI-Agentin, auch eine gute Autorin zu sein. Aber wen hat man DeLong dann eigentlich zur Seite gestellt? Co-Autorin Elisa Petrini dürfte eine dieser literarischen Söldnernaturen sein, die auch hierzulande Gestalten wie Bohlen & Co. die Illusion vermieten, „Schriftsteller“ zu sein. Dieser Vergleich kommt hier nicht von ungefähr, denn er beschreibt etwa das Niveau, auf dem sich „Die Agentin“ bewegt.

Die saloppe Übertragung ins Deutsche konserviert diesen Eindruck oder verstärkt ihn womöglich, obwohl es möglich ist, dass die Übersetzerin die schlimmsten Plattheiten der Vorlage glättet und ansonsten einfach ihren Job zu Ende bringen wollte. (Allerdings kommt der Leser manchmal ins Grübeln. Was soll denn nur dieser Satz auf S. 96 – „Der Teufel ist manchmal ein Eichhörnchen“ – bedeuten?)

DeLongs offensichtliche Naivität, ihr Tunnelblick wirkt befremdlich. Eine Frau, die in einem großen Land im Laufe eines langen Berufslebens zahlreiche schauerliche Fälle bearbeitet hat, sollte darüber eigentlich zu einer etwas differenzierten Sicht der Welt und vor allem ihrer Bewohner gelangt sein. Aber für „Candy“ DeLong gab und gibt es nur Schwarz und Weiß, kein Grau. Nach ihrer Meinung, die – das ist das Erschreckende – durch ihre Ausbildung geprägt wurde, sind kriminelle Neigungen quasi angeboren und auch nicht wirklich ‚heilbar‘. Deshalb sollte man Verbrecher am besten gut wegsperren und sie von den braven Mitbürgern fernhalten. Aufgrund von DeLongs Erfahrungen als Mitglied einer Sonderkommission gegen Kindesmissbrauch mag diese Haltung verständlich erscheinen, aber das erhebt sie keinesfalls zur allein gültigen Maxime.

So hat sie es wie gesagt beim FBI gelernt. Obwohl auch für DeLong nicht alles Gold ist, das dort glänzt, fühlt sie sich dem Kodex dieser Institution (und dem unglücklichen, weil mit kapitelbreit ausgewalzter Affenliebe peinlich bloßgestellten Herzblatt-Sohn Seth) zutiefst verpflichtet. Nicht einmal die wirklich Bösen (= Dummen, Fiesen oder Chauvinistischen) unter „den Jungs“ stellt sie bloß. Pathetisch widmet sie ihr Werk „den 33 tapferen Männern und Frauen des FBI, die [zwischen 1925 und 1996] bei der Ausübung ihrer Pflicht durch direkte Angriffe des Gegners getötet wurden“, und listet sie über drei volle Seiten auf.

Zu echter Distanz ist DeLong unfähig, Objektivität gibt es nicht. Die Ironie, die daraus entsteht, ein Buch wie „Die Agentin“ mit dem Goethe-Zitat „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen“ einzuleiten, ist unfreiwillig. Jedenfalls scheint sie DeLong nie bewusst geworden zu sein. Und wer sich nicht nach FBI-Norm bemühen mag oder kann, hat offenbar Pech gehabt und die Folgen zu tragen: |“Ich fand es sehr erfrischend, was [DeLongs kleiner Sohn] den Leuten über meine Aktivitäten an der Academy zu erzählen pflegte: ‚Sie lernt, wie man Leute umbringt, aber nur die bösen.'“| (S. 67)

Fazit: Vom Thema interessant und als Einblick in die Arbeit der gern mythisch verklärten, tatsächlich recht alltäglichen FBI-Organisation möglicherweise aufschlussreich; aber nicht nur als Biografie langweilig, weil gespickt mit moralisierenden Binsenweisheiten und vor allem hausbacken geschrieben und/oder übersetzt – eher ein Ärgernis als ein Erlebnis.

Mary, Michael – Werte im Schafspelz

Ob es auch Bücher mit versteckter Kamera gibt? Verlage, die Schulreferate von Vierzehnjährigen mit noch nicht ausgereifter Bildung und Lebenserfahrung als zeitkritische Werke herausgeben und sich dann heimlich amüsieren, wenn sich die Leser hilflos winden? Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls bei der Lektüre von „Werte im Schafspelz“ von Michael Mary. Der Verfasser will den Begriff der „Werte“ untersuchen, auf die sich die Menschen im privaten Leben wie in der Politik häufig berufen. Leider kommt er über Selbstverständlichkeiten und anschließend über eine völlig haltlose und ressentimentgeladene Meinungskanonade nicht hinaus. Man wird den Eindruck nicht los, dass der Verfasser früher einmal ganz fest an die eiserne Wirkmächtigkeit von Werten glaubte, dann bitter enttäuscht wurde und nun ein galliges „Enthüllungs“-Buch schreiben musste.

Immerhin macht sich Mary zunächst die Mühe, die wichtigsten Begriffe zu definieren sowie das Wesen und die Funktion von Werten anzudeuten. Werte sind keine unwandelbaren, eindeutigen Handlungsanweisungen. Sie sind kulturell geprägt, wandeln sich mit neuen historischen Situationen und gelten häufig nur in bestimmten Lebensbereichen wie Beruf oder Familie. Weil Werte allgemeine und theoretische Idealvorstellungen sind, können sie sogar widersprüchlich sein. Es sind noch die besten Abschnitte des Buches, wenn Mary – gerade mit Blick auf das wohlfeile Wahlkampfgetöse von Politikern – festhält, dass etwa „Gerechtigkeit“ ein sehr schwammiger und interpretationsbedürftiger Begriff ist, mit dem man je nach Vorstellung sogar zu gegensätzlichen Schlüssen kommen kann (Jedem das Seine oder jedem das Gleiche?) und dass „Freiheit“ und „Gleichheit“ letztendlich unvereinbar sind. Dass man Werte allein nicht als Handlungsgrundlage nehmen kann, ist keine neue Erkenntnis, auch wenn der Autor dies wie eine überraschende Entdeckung präsentiert. Genau deshalb bleiben Werte ja auch ungeschriebene Ideale und Orientierungsmarken und werden nie eins-zu-eins in Gesetzesform gegossen. Dass eine puristische Werteverwirklichung sogar gefährlich werden kann, wusste vor über 2000 Jahren schon der römische Staatsdenker Cicero, der erkannte, dass höchstes Recht auch in höchstes Unrecht umschlagen kann („summum ius, summa inuria“). Aber darüber findet sich in „Werte im Schafspelz“ genauso wenig ein Wort wie zu Max Webers klassischer Gegenüberstellung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Die mangelnde Recherche – außer den Soziologen Niklas Luhmann und Dirk Baecker tauchen keine maßgeblichen Quellen auf – rächt sich spätestens nach den Grundlagenkapiteln. Dass Werte mitunter gelogen, geheuchelt, manipulierend eingesetzt und sogar gebrochen werden, ist bekannt. Für Mary sind Werte damit völlig wertlos und gar nicht mehr anders als im Missbrauch denkbar. Ab da wird der Text zunehmend unredlich. Mit selektiver Wahrnehmung, Unterstellungen, Klischees bastelt er sich die Welt so, dass sie zu seiner Meinung passt. Die Erkenntnis der Verhaltensforschung wird zwar erwähnt, dass man „zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf andere angewiesen sei“ (S. 127). Genau damit ergibt sich im Spannungsverhältnis aus Interessen und Werten eine Verhaltensgrundlage in der Vertragstreue, so dass man weder gegen sich selbst handelt noch sein Gegenüber übervorteilt. Aber zu diesem Gebiet findet sich im ganzen Text kein weiteres Wort. Auch werden mehrere wichtige Aussagen, die Professor Baecker im Interview macht, das dem Buch als Anhang angefügt ist, von Mary nicht aufgegriffen.

Bald zeigt sich, wie sehr Michael Mary vom Thema seines Buches intellektuell überfordert ist. Dass ach so aufgeklärte Kirchenkritiker dogmatische Begriffe wie Unfehlbarkeit oder unbefleckte Empfängnis regelmäßig falsch verstehen und ihre Kritik dann letztlich gegen die eigenen Bildungslücken richten, ist man ja schon gewohnt. Der Autor bildet hier keine Ausnahme, aber sogar dieses Niveau unterbietet er noch spielend. Man schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, wenn man zu den amerikanischen Gefangenenlagern in Abu Ghuraib und Guantanamo einen Satz liest wie: Für die Gefangenen „gilt das Gebot der Nächstenliebe offenbar nicht, was logisch ist, weil es sich nicht um Menschen (…) handelt, sondern um ‚Kombattanten‘, also gewissermaßen um Nichtmenschen“ (S. 97). Hier fehlt jemandem auch nur der Hauch einer Kenntnis vom internationalen Kriegs- und Völkerrecht, und den grundlegenden Begriff des Kombattanten hat er so falsch verstanden, wie es nur geht. Aber das hindert ihn nicht daran, uns in pausbäckiger Unbekümmertheit die Welt zu erklären. Fast schon erheitert liest man, wenn sich der Autor auch nicht der Bemerkung entblödet (S. 151), dass der Papst Präsident Bush nicht von den Sakramenten ausgeschlossen hat. (Vielleicht weil Bush wie die meisten US-Amerikaner Protestant ist? Ach ja: Der Papst ist übrigens katholisch.) In dieser Qualität geht es seitenweise weiter. Ob Kindermangel oder Evolutionstheorie/Kreationismus, zu etlichen vielschichtigen und komplexen Themen äußert sich Mary auf einem Niveau irgendwo zwischen „Bildzeitung“ und Internetforum. Als Leser findet man sich irgendwann in der unappetitlichen Rolle des Voyeurs wieder, der zuschaut, wie sich jemand – ähnlich der tragikomischen Fernsehfigur „Dittsche“ – an Fragen überhebt, die weit über seinen Horizont gehen, und unaufhaltsam immer lächerlicher macht.

Viel schlimmer als diese Bildungslücken ist die Tatsache, dass Mary seine Anfangserkenntnisse nicht zu Ende denkt und die Fragwürdigkeit von Werten scheinbar nur noch zum Anlass nimmt, uns einfach ohne Fundament seine Meinung aufzudrängen. Das sei nur an einem Beispiel verdeutlicht: Seit Jahren wird in regelmäßigen Abständen das gegliederte deutsche Schulsystem wegen angeblich mangelnder „Chancengleichheit“ attackiert. Der Autor hat überhaupt nicht bemerkt, dass diese Angriffe aus den immer gleichen Funktionärs- und Lobbyistenkreisen kommen und ihre Formulierungen sich verdächtig gleichen, sondern er plappert diesen Vorwurf ohne jede Begründung einfach nach. Als Werteaufklärer hätte er seine Erkenntnisse auf genau diesen Fall anwenden und darlegen müssen, wie gewisse Kreise unter dem Wortgeklingel von „Ungleichheit“ und „Benachteiligung“ eigene ideologische und Machtinteressen verfolgen. Er hätte seine Leser aufrufen müssen, sofort misstrauisch zu werden, wenn uns immer häufiger unter der Parole „Chancengleichheit“ ein neuer Obrigkeitsstaat und Nivellierung auf unterstem Niveau verkauft werden sollen – und das nicht nur auf dem Gebiet Schule. Eine Chance ist eine immer wieder neue Herausforderung, die der Einzelne bestehen kann oder auch nicht. Eine gleiche Abiturientenquote in allen Bevölkerungskreisen als Naturzustand zu unterstellen, macht den Begriff „Chancengleichheit“ sinnlos.

Auf welcher Grundlage beklagt überhaupt jemand, der eben noch Werte destruieren wollte, vermeintliche Missstände? Man kann sich nur noch auf den Standpunkt stellen: Das ist halt meine Meinung, und die brauche ich nicht zu begründen. Aber letztlich beruhen Marys Tiraden dann doch wieder auf – seinen eigenen – Werten.

Für sehr weltfremde und blauäugige Menschen mag „Werte im Schafspelz“ in der ersten Hälfte einige neue Erkenntnisse bieten. Der Rest ist unzumutbar. Schade ums Papier.

Home


http://www.luebbe.de

Gößling, Andreas – Freimaurer, Die. Weltverschwörer oder Menschenfreunde?

Andreas Gößling stellt sich eine altbekannte Frage: „Die Freimaurer, Menschfreunde oder Weltverschwörer?“ Den gleichlautenden Titel seines 2007 erschienenen Buches über die Freimaurerei könnte man für müßig halten. Zu oft haben uns Autoren unterschiedlicher Couleur mit ihren x-fachen Abhandlungen über Freimaurerei gelangweilt. Gößling scheint auf den ersten Blick mit seinem plakativen Titel genau hier anzuknüpfen, er beackert ein vorbelastetes Feld. Doch seine Ausführungen stechen aus der Masse einschlägiger Literatur zum Thema heraus – inhaltlich und stilistisch. Gößling arbeitet akribisch, historisch genau und bedient sich einer gleichsam verständlichen und anspruchsvollen Sprache. Die flüssige Prosa verhindert, dass man sein Buch mit dem polarisierenden Titel gelangweilt zur Seite legt.

Gößling macht kein zusätzliches Geheimnis um freimaurerische Termini, er erläutert sie – und das ist hervorhebenswert – in ihrer modernen und ursprünglichen Bedeutung. Die Ambivalenz zwischen den freimaurerischen Wurzeln, etwa den antiken Mysterienkulten, und der seit der Aufklärung um- und neugedeuteten Symbole der Freimaurerei gehört zu Gößlings Schwerpunkten. Bezeichnend hierfür sind seine Thesen:

(1) Die moderne, „symbolische“ Freimaurerei basiert auf einer „humanistischen Umdeutung“ archaischer Symbole. Das „Mysterium“ der Freimaurer ist der Prozess kultureller Überführung von synkretistisch-okkulten Lehren in die Moderne.

(2) Die aktuelle Freimaurerei besteht aus Überbleibseln archaischer Männerbünde, die z. B. auf den Mithras-Kult oder die Mysterien der Isis zurückgehen. Magie und Mystik spielten in diesen archaischen Bünden stets eine große Rolle. Der Kerngedanke der bis in die Moderne gelangten Weiterentwicklungen dieser Bünde ist, trotz der aufklärerischen Einflüsse, von magisch-mystischen Denkfiguren geprägt. Die Betonung der Freimaurerei auf ethisch-humanistische Werte ist kein Widerspruch zu magischen Weltbildern. Nur vordergründig schließen Aufklärung und Humanismus den Bezug auf Emotionales, Numinoses und Okkultes aus. Vielleicht zeigt sogar die Versöhnung von Magie und Ratio am Beispiel der Freimaurerei, dass es den magischen Theorien unserer Vorfahren im Kern auch um ethische Fragen ging (die Alchemie bezeugt diese These); oder sie zeigt, dass das Weltbild der Aufklärung auch die okkulten Aspekte von Welt und Selbst zu integrieren vermag.

(3) Gößling bezeichnet nicht ganz frei von Ironie den Freimaurerorden als „Geheimbund ohne Geheimnis“. Das maurerische Geheimnis ist laut Mythologie bekanntermaßen verlorengegangen. Aber im Kollektiv der Brüder kann es erneuert werden; das soziale Gefüge bringt es – angepasst an Zeit und Kontext – beständig neu hervor. Somit ist es kein normatives Geheimnis, ja eigentlich auch keine „teilbare Erkenntnis“, denn es „lebt“ erst in jedem Einzelnen.

Wohl aber besitzt es einen archetypischen, exemplarischen Kern: die Tatsache, dass es in der Geschichte als „Geheimnis“ bezeichnet wurde. Und Kennenlernen kann es logischerweise nur, wer am Kollektiv der Freimaurer partizipiert. Das „verlorene Meisterwort“ – das subjektive Geheimnis – dient als Hülse facettenreichster Deutung; das macht auch Gößling deutlich, wenn er die wesentlichen Unterschiede zwischen Johannismaurerei, schottischer Hochgradmaurerei, französischer Co-Maurerei und anderen zum Teil nationalen Formen des Ordens anführt.

Gößling referiert spannungsreich das überlieferte Wissen der Freimaurer; er nimmt den Leser mit auf 16 Reisen durch die Mythologie und Geschichte des Ordens. Dabei scheint er sich am Einweihungsweg der Brüder selbst zu orientieren. Vom Lehrlingsgrad über den des Gesellen bis hin zum Meistergrad führt er in die ambivalente Symbolik und Ritualistik der Freimaurerei ein. Der Autor tut dies kritisch und scheut sich nicht, auch exakte Anleitungen wie zum Beispiel Vereidigungstexte aus den Initiationsritualen zu zitieren.

Gößling ist an zeitgemäßer Deutung der Freimaurergeschichte interessiert. Er streift mit seinen Thesen aktuelle Fragestellungen der internationalen Esoterikforschung. So zeigte beispielsweise auch Kocku von Stuckrad, dass okkulte und esoterische Weltbilder seit dem Mittelalter das soziale Phänomen, das wir „Moderne“ nennen, mit hervorgebracht haben.

Gößlings „Die Freimaurer. Weltverschwörer oder Menschenfreunde?“ ist ein spannend geschriebenes Buch, das mehr als einen flüchtigen Einblick in die Geschichte der Freimaurerei bieten kann. Das Buch bleibt nicht bei der Geschichte stehen, sondern thematisiert letztlich auch die Probleme und Grenzen eines auf archaischen Wurzeln ruhenden sozialen Gefüges in einer individualistischen und rationalistischen Zeit.

http://www.andreas-goessling.de
http://www.droemer-knaur.de

_Andreas Gößling auf |Buchwurm.info|:_
[„Faust der Magier“ 3904

Michele Giuttari – Das Monster von Florenz. Anatomie einer Ermittlung

Der leitende Untersuchungsbeamte rekapituliert die 30 Jahre währenden Ermittlungen im Fall des „Monsters von Florenz“, das 16 Menschen ermordete, und schildert die zahlreichen Fehler und Manipulationen, die eine Bestrafung des oder der Schuldigen behinderten … – Überaus (und manchmal allzu) detailliert zeichnet der Verfasser die von ihm geleiteten Ermittlungen nach. „Das Monster von Florenz“ ist nicht nur Giuttaris Bericht, sondern auch sein Versuch, bittere berufliche und persönliche Erfahrungen aufzuarbeiten.
Michele Giuttari – Das Monster von Florenz. Anatomie einer Ermittlung weiterlesen

Apple, Sam – Schlepping durch die Alpen

Ein österreichischer Wanderhirte, der, unterwegs auf saftigen Almwiesen und österreichischen Landstraßen, jiddische Volkslieder trällert – das klingt nicht gerade nach dem Stoff, aus dem Autorenträume geschnitzt werden (von Leserträumen mal ganz zu schweigen). Doch was auf den ersten Blick eher abschreckend anmutet, macht schon beim Blick auf den kuriosen Buchtitel „Schlepping durch die Alpen“ samt Pfeife schmauchendem Schaf auf dem Titelbild zumindest ein bisschen neugierig. Vielleicht sind österreichisches Wanderhirtentum und jiddisches Volksliedgut ja doch nicht so öde, wie man meinen mag …

Was der New Yorker Autor Sam Apple dann vor dem Leser ausbreitet, ist nicht nur gar nicht öde, sondern geradezu unterhaltsam – und das sage ich nicht nur weil ich ein heimliches Faible für Schafe hege. Sam Apple hat mit „Schlepping durch die Alpen“ ein Reisebuch der etwas anderen Art abgeliefert.

Alles beginnt mit einer folgenreichen Begegnung in New York, wo Sam Apple den österreichischen Wanderhirten Hans Breuer trifft. Hans Breuer ist nicht nur aufgrund der Tatsache, dass er der letzte Wanderhirte Österreichs ist, eine Art lebendes Kuriosum. Es ist vor allem seine Liebe zu jiddischen Volksliedern, die ihn auszeichnet. Das fasziniert den Juden Sam Apple, und so beschließt er, Hans in Österreich zu besuchen, ihn auf seinen Reisen zu begleiten und über ihn zu schreiben.

Er will nicht nur Hans näher kennenlernen, es geht ihm auch um einen anderen Aspekt Österreichs. Sam reist zwei Jahre nach dem furiosen Wahlerfolg der FPÖ nach Wien und will herausfinden, wie es um den Antisemitismus in Österreich bestellt ist. Ist Österreich immer noch voller Nazis? Oder ist das vielleicht nur ein dummes Vorurteil? Mit journalistischem Eifer macht Sam Apple sich auf seine ganz eigene Art auf die Suche nach Antworten.

Und so macht Sam sich, ausgestattet mit Diktaphon, 50 Paar Tageslinsen und schicken Designerboots auf in ein alpines Abenteuer. Dass er für die Tücken des alpinen Wanderhirtentums nicht wirklich gut gerüstet ist, muss er schon bald einsehen. Doch all das betrachtet der Autor mit einem sympathischen Augenzwinkern. Er bekennt sich dazu, ein Hypochonder zu sein und offenbart dem Leser auf liebenswürdige Art seine Neurosen. Das steuert eine wunderbar leichtfüßige, selbstironische und sehr unterhaltsame Note zur Geschichte bei, und so sorgt Sam Apple allein schon durch seine liebenswürdig schonungslose Ehrlichkeit gegenüber seiner eigene Person für einen nicht zu leugnenden Unterhaltungswert.

Sam Apples Reisebericht ist ein sehr persönlicher, denn letztendlich erfährt er nicht nur etwas über jiddische Volkslieder und österreichische Geschichte, sondern lernt am Ende auch eine ganze Menge über sich selbst. Und so wird aus einem eigentlich journalistischen Reisebericht schon fast so etwas wie ein Entwicklungsroman. Die Qualitäten von „Schlepping durch die Alpen“ liegen eben auch teilweise in der etwas romanhaften Erzählweise des Buches. Das mag zum einen an dem sympathischen, selbstironischen Erzählstil von Sam Apple liegen, zum anderen liegt es auch daran, dass die Lebensgeschichte von Hans Breuer anmutet, als wäre sie einem Roman entsprungen.

Hans Breuer ist Halbjude, dessen Eltern sich dem Kommunismus verbunden fühlen. Linkes Gedankengut hat er schon in die Wiege gelegt bekommen, und entsprechend farbenprächtig und radikal sehen seine Jugendjahre in den 60ern aus. Hans hat jahrelang in einer Kommune gelebt, bevor er sein Außenseitertum als Wanderhirte manifestierte. Immer wieder streut Sam Apple Episoden aus Hans‘ Leben in die Erzählung ein, und obwohl Hans auch am Ende immer noch eine eigenartige und schwer greifbare Figur bleibt, wird doch vieles klarer.

Doch Hans Breuer und sein Leben als Wanderhirte sind eben nur der eine Teil des Buches. Im anderen Teil schildert Sam Apple seine Begegnungen mit den verschiedensten Menschen in Österreich. Er trifft viele Juden und befragt sie nach ihrem Leben in Österreich. Er sucht im Alltag und auf der Straße nach Anzeichen für Antisemitismus. Er trifft unter anderem ein jüdisches Mitglied der FPÖ und einen nackten Museumswärter, aber er trifft auch jede Menge ganz normaler Österreicher. Und so skizziert Sam Apple nach und nach ein Bild vom heutigen Österreich und seinem Verhältnis zur eigenen Geschichte. Er schlägt viele kritische und nachdenklich stimmende Töne an, findet dafür aber auch immer wieder einen Ausgleich, indem er amüsante Episoden schildert.

Apple beweist ein Talent als feinfühliger Beobachter und gibt den Figuren, die im Zentrum seiner Betrachtungen stehen, Raum, um auf den Leser zu wirken. Dabei vergisst er keinesfalls die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Person und den eigenen Ansichten, und das ist etwas, das ihn durchaus sympathisch macht. Wenn ein Jude sich mit gegenwärtigem Antisemitismus insbesondere im deutschsprachigen Raum auseinandersetzt, dann schwingt für gewöhnlich meist der erhobene Zeigefinger mit. Auch Sam Apple kann natürlich aus seiner Haut als Jude nicht heraus, und das soll er ja auch gar nicht, aber auch für ihn wird die Reise durch Österreich eine Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen.

Und so ist „Schlepping durch die Alpen“ wunderbar ausgewogene Kost. Einerseits österreichische Geschichtsbewältigung, andererseits eine Geschichte über einen liebenswürdigen, komischen Kauz, der mit 625 Schafen im Schlepptau durch die Alpen tingelt, und ganz nebenbei eben auch ein wunderbar ehrliches und selbstironisches Reisetagebuch.

Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass es sowohl über jiddische Volkslieder als auch über das Wanderhirtentum in Österreich niemals ein unterhaltsameres Buch gegeben hat als dieses. Sam Apple hat mit „Schlepping durch die Alpen“ einen herrlich lesenswerten Reisebericht vorgelegt, an dem nicht nur Schafsliebhaber ihre Freude haben dürften: humorvoll und selbstironisch, aber auch kritisch und nachdenklich stimmend.

http://www.atrium-verlag.com/

Scholl-Latour, Peter – Zwischen den Fronten

Man sollte auf keinen Fall das Vorwort übergehen. Im nur halbseitigen Vorwort von Peter Scholl-Latours neuem Buch „Zwischen den Fronten“ steht als zentraler Satz das Zitat Leopold von Rankes: „Der Historiker muss alt werden, da man große Veränderungen nur verstehen kann, wenn man persönlich welche erlebt hat.“ Gemäß diesem Motto hat der 83-jährige Scholl-Latour dieses Mal keinen Reisebericht, sondern einen Essay geschrieben, und er will dabei die Gegenwart aufschließen wie ein Historiker die Vergangenheit. Die gelegentlichen lateinischen Zitate mag man als Wink verstehen, dass der Autor dabei vielleicht einige spätrömische Zeithistoriker als Vorbild im Sinn hatte. Seine teils schonungs- und illusionslosen Urteile etwa, die quer zum unbekümmerten Zeitgeist stehen, erinnern gelegentlich an Sallust.

„Zwischen den Fronten“ besteht aus vier Aufsätzen über die USA, den Orient, China und – für den weltweit Reisenden bemerkenswert – Europa. Auch wenn Scholl-Latour 2007 wieder ausgiebig gereist ist und dabei gewonnene Erkenntnisse in den Text einfließen lässt, ist das Buch insgesamt eine auf die lange Sicht angelegte Betrachtung unserer heutigen Welt. Viele Erlebnisse von früheren Reisen in den letzten Jahrzehnten und Verweise auf die entfernte Geschichte finden sich ebenso wie kleine Beobachtungen und Gespräche aus diesem Jahr, die symptomatisch große Entwicklungen verdeutlichen sollen. Dabei legt der Autor wirkmächtige Einflussgrößen hinter den bewussten Absichten der Politik bloß: typische historische Abläufe, wirtschaftliche Gesetzmäßigkeiten, geopolitische Konstanten und nicht zuletzt die überlieferte Kultur und Religion.

Besonders die Religion: Die erstaunliche Unterstützung des jüdischen Staates durch die in Europa mindestens als aufdringlich geltenden amerikanischen Christen des Bible Belt beruht auf der Erwartung, dass die Anwesenheit der Juden auf biblischem Boden eine Voraussetzung für die Wiederkehr des Messias sei. Der Orientkenner Scholl-Latour führt die Feindschaft zwischen den Juden und den arabischen – also ebenfalls semitischen – Moslems auf die biblische Rivalität der Abrahamssöhne Isaak und Ismael zurück. Der Hass zwischen Sunniten und Schiiten geht auf verschiedene religiöse Autoritäten zurück, die bereits in der frühesten islamischen Geschichte kurz nach dem Tod Mohammeds in blutigen Fehden lagen. Eine ferne, teils mythische Vergangenheit ist also eine mächtige Größe der Gegenwart. Die Erlahmung der Religion in der alten Welt mag, so Scholl-Latour, ein Grund für die geistige und politische Schwäche Europas sein.

Die meisten deutschen Auslandsjournalisten wirken nur als Beobachter, nicht als Analysten. Für das Thema China heißt das, die rasante technische und wirtschaftliche Entwicklung wird berichtet, aber nicht zu erklären versucht. Peter Scholl-Latour bietet dagegen eine Deutung, die die heutige chinesische Mentalität als ein Produkt aus sozialistischem Gemeinschaftssinn, kapitalistischem Initiativgeist und einer Rückbesinnung auf konfuzianische Ordnungs- und Staatsbegriffe betrachtet. Die vor allem vom Westen betriebene Globalisierung und die damit einhergehende Verknappung, also Verteuerung der Güter richtet sich durch ein China aus diesem Geist als Waffe gegen sich selbst. Die autoritäre Führung Pekings sichert sich mit ihrer bescheidenen und „emsigen“ Bevölkerung afrikanische Bodenschätze, indem sie in rohstoffreichen Gebieten Afrikas eine effiziente Aufbauarbeit leistet, die die nordamerikanischen und europäischen Volkswirtschaften so günstig gar nicht mehr erbringen könnten. Wie eine Ouvertüre zu diesem Thema erwähnt der Autor schon im ersten Kapitel die chinesischen Gemeinden in Amerika mit ihrem schnell wachsenden Wohlstand.

Amerika sieht Scholl-Latour ohnehin sehr schwarz. Er erwähnt nicht nur die bekannten außenpolitischen und geheimdienstlichen Schlappen der letzten Jahre. Wenn es um Präsident Bush geht, zeigt sich der sonst so nüchterne Autor schon etwas polemisch. Bemerkenswert ist, dass er im Amerika-Kapitel auf drei selbst erlebte, schwere militärische Niederlagen zurückblickt, nämlich die der deutschen Wehrmacht 1945 sowie der französischen Kolonialtruppen in Indochina und Algerien. Auch die hier aufkommende Untergangsstimmung mag den Leser an spätantike Vorbilder denken lassen.

Im Kapitel über Europa legt Scholl-Latour, bekanntermaßen ein Bewunderer Charles de Gaulles, einen Schwerpunkt auf Frankreich. Einige Hoffnung scheint er dabei auf die außenpolitischen Konzepte (Mittelmeer-Union) des neuen Präsidenten Sarkozy zu setzen. Dessen Darstellung ist etwas blass, Scholl-Latour räumt ein, ihn nicht persönlich zu kennen. Es bleibt abzuwarten, ob Sarkozy, der die Wahl u. a. durch seine entschiedene Ablehnung der von den USA forcierten türkischen EU-Mitgliedschaft gewann, zu seinem Wort stehen wird. Die deutsche Politik, die sich nur noch in Wahlkampfkrämerei erschöpft, wird durch wenige, aber treffende Beispiele in ihrer Substanzlosigkeit vorgeführt. „Eine deutsche Außenpolitik, die diesen Namen verdient, gibt es ebenso wenig wie ein deutsches strategisches Konzept.“ (S. 284) Das deutsche Wunschdenken von einem Orient nach westlichem Vorbild wird allein durch die entgegengesetzte geschichtliche Entwicklung widerlegt. Sowohl die Türkei als auch der Iran waren in der Vergangenheit westlich orientierter und in religiöser Hinsicht toleranter als heute. Selbst im Irak des Diktators Saddam Hussein waren Christen vor religiöser Verfolgung sicher, während sie heute trotz amerikanischer Besatzung am helllichten Tag ermordet werden.

Im erwähnten Vorwort weist der immer noch aktive Peter Scholl-Latour es weit von sich, schon eine Autobiographie geschrieben zu haben. Aber dennoch ist der Großessay „Zwischen den Fronten“ so etwas wie ein Vermächtnis. Der weitgereiste Autor, der mehrere Jahrzehnte Zeitgeschichte hautnah miterlebt hat, gibt aus seinen Erfahrungen einen Überblick über die weltpolitische Lage. Neben dem Hauptthema machen zudem die ereignis- und geistesgeschichtlichen Exkurse und die Anekdoten am Rande die Lektüre lohnend.

http://www.propylaeen-verlag.de

Greiner, Bernd – Krieg ohne Fronten

Der Vietnamkrieg ist bis heute ein für die Vereinigten Staaten von Amerika nicht behobenes Trauma. Denn eigentlich waren sich die drei ihn führenden Regierungen unter Kennedy, Johnson, Nixon immer ganz sicher: Wir werden siegen. Wie und warum durch diese Sicherheit und durch eine völlige Fehleinschätzung der tatsächlichen Lage ein Gemetzel entstand, das bis heute die vietnamesische Gesellschaft und auch die USA belastet, erklärt der Hamburger Historiker Bernd Greiner in seinem jüngst erschienenen Sachbuch „Krieg ohne Grenzen. Die USA in Vietnam“. Er legt dabei eine Analyse jenes Konfliktes vor, in dem die Supermacht USA das mit ihr verbündete Süd-Vietnam unter allen Umständen gegen den kommunistischen Norden des Landes verteidigen wollte. Und verlor – mitten im Kalten Krieg mit der Sowjetunion eine Blamage ersten Grades, die noch dazu verheerend viele Menschenleben forderte, unzählige Krüppel hinterließ und durch den Einsatz von mit Dioxin versetztem Napalm immer noch viele vietnamesische Kinder behindert auf die Welt kommen lässt.

In seinem Werk nun listet Greiner die Kriegsverbrechen auf, die Soldaten der US Army während der Kriegszeit zwischen 1965 und 1975 verübten. Er beruft sich dabei auf lange unter Verschluss gehaltene Papiere der US-Regierung, ihrer Armee und ihrer Geheimdienste. Und kommt zu dem Schluss: Durch den Einsatz von zum Beispiel „body counts“, also leicht zu fälschenden Statistiken über die Zahl getöteter Vietkong, wurden die Soldaten der USA immer stärker unter Druck gesetzt, greifbare Erfolge zu präsentieren. Allerdings glich der Krieg vor Ort eher einer Suche, wie der Autor zeigt: Die kommunistischen Vietkong agierten als Guerilla und suchten nur in den seltensten Fällen eine offene Feldschlacht. So mussten die US-Soldaten gegen einen quasi unsichtbaren Feind kämpfen, geübt in der Handhabung von Minen und Hinterhalten. Dazu kamen das tropische Wetter, der undurchdringliche und düster anmutende Dschungel Vietnams, die vor allem ländlich geprägte Bevölkerung mit ihren fremden Sitten … Was aus dieser steten Unsicherheit entstand, lässt sich bei Greiner nachlesen, exemplarisch etwa beim berüchtigten Massaker von My Lai. Dabei griffen US-Truppen im März 1968 mehrere Dörfer an und töteten im Blutrausch rund 500 Zivilisten. Als der Massenmord Monate später öffentlich wurde, weil eine große amerikanische Zeitung berichtete, war das Entsetzen groß …

Der Fall My Lai ist typisch für Greiners Vorgehen. Er beschreibt die Verbrechen, bleibt dabei aber nicht nur Erzähler, der beteiligte Soldaten zu Wort kommen lässt. Vielmehr versucht der Autor auch, die Geschichte vor und nach den Massakern aufzuhellen, das Aufheizen der Männer durch ihre Generale, die unklare Befehlslage, später die versuchte Vertuschung und das lasche Handeln der Justiz. Greiner erläutert all diese Zusammenhänge detailreich, mit einer klaren Sprache und vielen unterschiedlichen Quellen. Gerade wegen dieses Faktenreichtums ist das Buch spannend bis zur letzten Seite, bietet es doch einen Einblick in die Seelenlage einer durch den Vietnamkrieg zutiefst verunsicherten Supermacht, deren „Heimatfront“ von einer immer stärker agierenden Antikriegsbewegung erschüttert wurde – und die deswegen ihre Soldaten immer mehr zu Erfolgen drängte, was wiederum die hemmungslose Gewalt weiter eskalieren ließ. In diesem Sinne ist „Krieg ohne Grenzen. Die USA in Vietnam“ brennend aktuell, steuern doch die USA im Irak auf eine ganz ähnliche Situation zu. Denn auch dort haben es die amerikanischen Streitkräfte mit einem scheinbar unsichtbaren Feind namens Terrorismus zu tun, der immer wieder Nadelstiche versetzt. So sterben US-Soldaten – und ihre lebenden Kameraden rächen sich. Die Bilder aus dem Folter-Gefängnis Abu-Ghraib sind nur ein Beleg dafür. Und so bahnt sich für die USA wieder ein Trauma an …

http://www.his-online.de

Litwinenko, Alexander / Felshtinsky, Yuri – Eiszeit im Kreml. Das Komplott der russischen Geheimdienste

Warum musste der ehemalige Agent und Offizier des FSB Alexander Litwinenko sterben? Wer hatte Interesse daran, den jungen Mann mit der radioaktiven Substanz Polonium zu liquidieren?

Nach dem Zerfall des Sowjetreiches und nach Gorbatschows Perestroika wurden viele kleine Staaten der ehemaligen Großmacht in eine Arena der politischen und wirtschaftlichen Konflikte gestoßen. Hochmotiviert beschlossen viele dieser Vielvölkerstaaten, einen eigenen Staat gründen zu wollen, um unabhängig zu sein von der Willkür des Moskauer Regimes. Aber eine Organisation der Eigenstaatlichkeit führte in dieser Region immer zu flächenausbreitenden Konflikten und Provokationen.

1990 rief der Volkskongress der Tschetschenen die unabhängige Republik aus und verabschiedete eine Resolution über ihre staatliche Souveränität. Wirtschaftlich betrachtet, ist Tschetschenien durchaus in der Lage, unabhängig vom Kreml zu existieren, und da der Agrarstaat zudem noch über beachtliche Erdölvorräte verfügt, konnte sich der freie Gedanke des Volkskongresses schnell in den Köpfen der Politiker entfalten.

Doch es hatten sich schon zu viele Völker des alten Sowjetreiches gegen den Kreml aufgebäumt; trotz aller Reformen und Revolutionen, der offiziellen Akzeptanz von Menschenrechten und der scheinbaren Billigung der freien Presse ist der Kreml nicht gewillt, ehemals angeschlossenen Ländern ihre Freiheit zu gewähren. Wo käme man schließlich hin, wenn das ehemals mächtige und größte Land der Erde in viele kleine und unbedeutende Stücke zerbräche?

Transparenz und Offenheit der Staatsführung sind scheinbar Grenzen gesetzt. Die neue demokratische Basis eines Boris Jelzin verfehlte ihr Ziel. Große Teile der Wirtschaft wurden zu schnell privatisiert, was zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft und hoher Inflation führte, was wiederum eine politische Destabilisierung zur Folge hatte. Bis zum Amtsantritt von Wladimir Putin gab es viele innerpolitische Konflikte, aber hat sich seitdem wirklich alles zum Guten entwickelt?

Der Kreml war jedenfalls nicht gewillt, Tschetschenen in die Unabhängigkeit ziehen zu lassen. Ein Konflikt, der in einen Krieg münden würde, war in den Augen vieler Analysten und politischen Beobachter unausweichlich. Am 11. Dezember 1994 erteilte der russische Präsident Boris Jelzin den Befehlt zur militärischen Intervention. Als Grund für das Eingreifen russischer Truppen wurde der Schutz der nicht tschetschenischen Bevölkerung genannt, die seit der erklärten Unabhängigkeit der alltäglichen Rechtlosigkeit und Kriminalität schutzlos ausgeliefert ist.

1997 endete ein Krieg, der etwa 80.000 Menschen das Leben kostete, mit einem Friedensvertrag zwischen Tschetschenien und Russland. Ein brüchiger und sensibler Frieden, der immer wieder von beiden Seiten durch Anschläge und Vergeltungsmaßnahmen überschattet wurde. Selbst die Warlords unter den Tschetschenen waren sich uneinig um Gebiete, Vorräte und Interessen.

Auch nach dem ersten Krieg gab es Personen und Gruppen mit ganz eigenen Motivationen, den Krieg gegen die tschetschenischen Rebellen weiterzuführen. Um dies zu erreichen, sind die Grenzen zwischen Legalität und Verbrechen fließend, ja sogar in einer Koexistenz gefördert worden.

„Eiszeit im Kreml“ von Alexander Litwinenko versucht diese Thesen zu manifestieren. Laut der Theorie des Geheimdienstmitarbeiters haben die inländischen Geheimdienste Terroranschläge auf russischem Territorium und auch anderweitig verübt, um diese den radikalen separatistischen Terrorgruppen der Tschetschenen in die Schuhe zu schieben. Aufgrund dieser Anschläge könnte man als Vergeltungsaktion einen zweiten Krieg entfachen, um zu Ende zu bringen, was im ersten offenen Konflikt scheinbar nicht abgeschlossen werden konnte.

_Inhalte_

Mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Russland und der neuen Armut sowie dem zugleich einseitig wachsenden Reichtum hatte das organisierte Verbrechen eine wahre Hochkonjunktur zu verzeichnen, losgelöst von staatlichen Institutionen, die kontrolliert und auf höchster politischer Ebene manipuliert haben. Die Geheimdienste – allein in der Hauptstadt Moskau gibt es wohl an die dreißig – haben sehr schnell gelernt, ihre Macht zu stärken und auszubauen.

Für den Westen war und ist Russland zurzeit einfach nicht transparent und nachvollziehbar genug. Glaubt man dem derzeitigen Präsidenten, gibt es nicht viele innerpolitische Probleme. Schenkt man aber den Kritikern Putins Glauben, so ist das Land durchsetzt von Korruption und Kriminalität, auch von staatlicher Seite aus. Reporter, Staatsanwälte, Richter und Politiker werden bedroht, eingeschüchtert und nicht wenige Male trauern ihre Familien um sie, oftmals verschwinden diese Kritiker auch, ohne Spuren zu hinterlassen.

Schwerverbrecher, die von Abteilungen der Geheimdienste gefasst werden, stellt man vor die Wahl, entweder für den „Staat“ scheinbar legale Aktionen zu leiten oder aber für die nächsten Jahre oder für immer in einem Arbeitslager inhaftiert zu werden. Vielen fällt die Wahl nicht schwer, und schon finden beide Seiten Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Kriminelle Kanäle werden genutzt, um unliebsame Personen zu liquidieren, Waffen und Drogen zu schmuggeln oder aber verdeckte Kriegsverbrechen in Tschetschenien zu begehen.

Wer aber kontrollierte diese dem Anschein nach willkürlich handelnden Geheimdiensten? Wer zog die Fäden hinter dem politischen Vorhang und verantwortete diese Vorgänge? Aus den verschiedenen Medien und Berichten wissen wir, dass es in Russland eine Reihe von Bombenanschlägen sowie weitere terroristische Aktionen gab. Von offizieller staatlicher Seite aus wurden immer wieder separatistische Gruppierungen der Tschetschenen beschuldigt. Doch verfügten solche Gruppen über eine derartig professionelle Logistik, um Waffen, Sprengstoff und auch die Terroristen selbst nach Russland zu bringen? Selbst die finanziellen Mittel stehen hier zur Debatte. Und vor allem: Ist es bei so vielen aktiven Geheimdiensten glaubhaft, dass kein Informant von diesen exakt geplanten Anschlägen gewusst haben soll?

Am 4. September 1999 explodierte in Buinakask eine Autobombe vor einem Wohnhaus. Es gab offiziell 64 Tote. Bis zum 22. September 1999 gab es eine regelrechte Serie von Terroranschlägen in Russland, selbst die Hauptstadt Moskau blieb von diesen Anschlägen nicht verschont. Die offiziellen Statements des Kremls verurteilten immer wieder tschetschenische Rebellen für die Anschläge.

In Rjasan ereignete sich dann am 22. September 1999 etwas sehr Fragwürdiges. Einem aufmerksamen Bewohner eines Wohnhauses fiel ein Mann auf, der schwere Zuckersäcke aus seinem Auto in den Keller schleppte. Er rief die zuständige Miliz, die das Gebäude evakuieren ließ; eine erste Analyse der Säcke erbrachte das Ergebnis, dass es sich hierbei um Sprengstoff handelte. Alle Straßen wurden abgesperrt und überwacht, allerdings ohne Ergebnis. Ein Mitarbeiter der Telefongesellschaft hört ein Gespräch mit, in dem der Anrufer jemanden aufforderte, vorsichtig zu sein, denn die Straßen in Rjasan seien gesperrt und überwacht. Die Telefonnummer gehörte zu einem FSB-Büro, also dem Geheimdienst in Rjasan. 48 Stunden später erklärte der FSB offiziell, dass es bei diesem Vorfall um einen Test, ein Training gegangen sein soll. Offiziell sei die sichergestellte Substanz kein Sprengstoff gewesen. Der Untersuchungsausschuss widersprach sich letztlich in seinen Aussagen und es gab kein abschließendes Ergebnis.

Selbst als die Duma zwei Anträge auf eine parlamentarische Untersuchung stellte, wurden diese von Kreml abgewiesen. Trotzdem ließen die Mitglieder des Volksrates nicht in ihrem Interesse nach und bildeten einen Ausschuss, um die Bombenanschläge zu untersuchen. Zwei von vier führenden Mitgliedern wurden ermordet – sie hatten die These vertreten, der FSB stecke hinter diesen Anschlägen.

_Kritik_

Alexander Litwinenko unterstützt mit seinen Aussagen viele Thesen westlicher und auch nationaler Journalisten. Nicht wenige Kritiker, wie auch Litwinenko selbst, wurden wegen solcher Spekulationen verfolgt und umgebracht; Theorien, die zwar nicht zweifelsfrei beweisbar sind, aber doch unzählige und kritische Fragen aufwerfen, die den russischen Machtapparat in keinem guten Licht dastehen lassen

Die sehr bekannte russische Journalistin Anna Politkowskaja, die am 7.Oktober 2006 von einem Auftragskiller mit zwei Schüssen in den Kopf getötet wurde, wurde in einem ihrer letzten Interviews gefragt, warum sie sich solcher einer Gefahr aussetze. Ruhig und überlegt beantwortete die Journalisten die ihr gestellte Frage: „Weil ich es muß.“

Was trieb den Ex-Agenten und Familienvater dazu an, eine solche kritische Meinung gegenüber dem Kreml, insbesondere gegenüber Putin zu vertreten? Warum hat man – unabhängig davon, welche Fraktion die Ausführung zu verantworten hat – Litwinenko auf solch eine spektakuläre Art umbringen lassen?

Eines ist klar geworden, wenn man recherchiert und hinterfragt: Der Geheimdienst FSB steckt tief in kriminelle Machenschaften, die weit in die Politik und Wirtschaft hineinreichen. Sehen wir dies mit rationeller Distanz, so bleibt einzig und alleine die Möglichkeit stehen, dass der Geheimdienst gleich mehrere Interessen vertritt:

– den nächsten Tschetschenien-Krieg auszulösen,
– die Kriminalität staatlich zu organisieren und kontrollieren,
– Kritiker des Machtapparates zu überwachen, einzuschüchtern und ggf. zu liquidieren.
– Kontrolle der Medien auf russischer Seite auszuüben.

Doch was hat Wladimir Putin für eine Rolle in diesem gefährlichen Spiel inne? Er selbst war ein hoher Offizier des KGB und später des FSB. Viele Strukturen und Positionen innerhalb der Geheimdienste hat er selbst geschaffen, und durch seine Präsidentschaft ist er faktisch eine diktatorische Herrschaftsform eingegangen.

„Eiszeit im Kreml“ ist explosiver Stoff in Buchform, der für die russische Regierung mehr als nur unbequem ist. In Russland natürlich verboten, gelangt dieses Buch nur über schwarze Kanäle direkt in das Land, doch nicht nur durch die Lektüre dieses Buches werden zweifelnde Stimmen in der Bevölkerung laut. Doch ist es still geworden, ein angstvolles Schweigen breitet sich aus, denn so viele mysteriöse Todes- und Unfälle kann es gar nicht geben.

Wer regiert Russland? Alexander Litwinenko sagte aus, dass allein Putin die politischen Weichen stellt, und mitsamt seinen Kontakten in Geheimdienstkreisen entwickelte Putin sich in den letzten Jahren zu einem ‚harten‘, abgeklärten und kalten Politiker.

Nach der Lektüre des Buches muss man großen Respekt für alle Kritiker vom Schlage eines Litwinenko empfinden. Er wusste ganz genau, dass es für ihn nach seiner Flucht kein ruhiges Leben mehr geben würde, sondern nur noch die Flucht nach vorne, die Konfrontation mit dem Regime, das offenkundig jegliche Reformen wie Menschenrechte und Pressefreiheit mit Füßen tritt. Es muss solche Menschen geben, die wissen, in welche Gefahr sie sich begeben, sich aber nicht einschüchtern lassen, die aufbegehren und Diskussionen suchen, die hinterfragen und Zweifel schüren. Ich zolle Alexander Litwinenko und der ebenfalls ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja hohen und aufrichtig gemeinten Respekt, in der Hoffnung, dass die westlichen Länder vorsichtiger und skeptischer gegenüber der russischen Regierung werden, dass unabhängige und internationale Gremien die Todesfälle aufklären und Zeichen setzen.

Ich kann das Buch ähnlich wie [„Tod eines Dissidenten“ 3925 jedem empfehlen, der einen skeptischen Blick hinter die politische Bühne des Terrorismus und der Nachrichtendienste werfen möchte. Ich bin mir sicher, dass sich vieles aufklären wird und wir später vielleicht auch sagen können: Siehst du, er hatte Recht und ist dafür gestorben, aber nicht umsonst, denn er hat vielen die Augen und Ohren geöffnet.

_Die Autoren_

Alexander W. Litwinenko, 1962 in Woronesch geboren, war ab 1988 in der Spionageabwehr des KGB tätig und an Einsätzen in verschiedenen Konfliktherden der Sowjetunion und später Russlands beteiligt. In der KGB-Nachfolgeorganisation FSB wurde die Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen zu seinem Spezialgebiet. 1998 trat er erstmals als Kritiker des russischen Machtapparats an die Öffentlichkeit. Nach mehreren Verhaftungen und Strafverfahren floh er 2000 nach London, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde und er schließlich im Oktober 2006 die britische Staatsbürgerschaft erhielt. Bis zu seiner Ermordung im November 2006 arbeitete er in England als Journalist und Autor.

Yuri G. Felshtinsky (Juri G. Felschtinski) wurde 1956 in Moskau geboren. Er begann 1974 ein Geschichtsstudium in seiner Geburtsstadt. Nach seiner Emigration in die USA setzte er sein Studium 1978 an der Brandeis University fort. An der Rutgers University erhielt er den Doktorgrad im Fach Geschichte. 1993 verteidigte er eine weitere Doktorarbeit am Historischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften. In der Folgezeit trat Felshtinsky als Herausgeber und Buchautor in Erscheinung.

Udo Rennert, Jahrgang 1938, übersetzt vorwiegend aus dem Englischen Bücher zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Robert Conquest, Richard Pipes, Harold James, Francis Fukuyama, Eric Hobsbawm, Raul Hilberg, Richard Evans, Richard Overy und David Blackbourn.

http://www.hoffmann-und-campe.de

Poitier, Sidney – Mein Vermächtnis. Eine Art Autobiografie

Wenn Menschen in die Jahre kommen, geschieht es recht häufig, dass es ihnen Schwierigkeiten bereitet, sich abends daran zu erinnern, was sie morgens gegessen haben. Offenbar als eine Art Ausgleich aktiviert Mutter Natur gleichzeitig das Langzeitgedächtnis. Plötzlich erinnert sich der oder die so Bedachte glasklar an Zeiten, die fünfzig und mehr Jahre zurückliegen und längst vergessen schienen. Mit den Erfahrungen und den daraus gezogenen Lehren geht ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis einher, und beides zusammen addiert sich zur oft und gern beschworenen „Weisheit des Alters“, deren Schicksal es bekanntlich ist, dass sie jene, die es angeht, in der Regel nicht hören wollen, worauf seltsamerweise das Ende der Welt trotzdem ausbleibt.

Ist man aber alt und berühmt (oder wenigstens berühmt gewesen), hat man bessere Karten, denn in diesem Fall schreibt man seine Autobiografie (oder lässt sie schreiben), kann die oben angesprochenen Weisheiten einer breiten Öffentlichkeit nahebringen und damit sogar noch Geld verdienen! In den USA funktioniert das jedenfalls in der Regel prächtig, wenn es der Autor versteht, das dargestellte Leben gemäß den dramaturgischen Regeln Hollywoods unterhaltsam zu inszenieren, unschöne Aspekte stets mit einem Zückerchen zu servieren, dem HERRN dezent demütig für die erwiesenen Dienste zu danken (Halleluja!) und ansonsten die Mär vom Amerikanischen Traum fortzuspinnen.

Wer wäre unter den beschriebenen Umständen ein besserer Kandidat für die oberen Ränge der spät berufenen Prediger als Sidney Poitier, der schwarze Prinz von Hollywood? Er verkörpert inzwischen mehr als ein halbes Jahrhundert Filmgeschichte. Gleichzeitig ist er ein wichtiger Zeitzeuge, der in der ersten Reihe stand, als Geschichte geschrieben wurde; die Geschichte der Rassendiskriminierung und ihrer allmählichen bzw. scheinbaren Überwindung nämlich.

Sie steht für Poitier, den Schriftsteller, dieses Mal im Vordergrund, während er seine Hollywood-Jahre bereits früher in Wort und Bild Revue passieren ließ. Doch während Poitier, der Schauspieler und Regisseur, allgemein gepriesen (und 2002 mit einem Ehren-Oscar bedacht) wurde, sah sich Poitier, der Mensch, stets im Kreuzfeuer der Kritik. Als „Onkel Tom“ der Filmindustrie wurde er gescholten, der sich vereinnahmen und in Rollen pressen lasse, die eine Annäherung der Rassen demonstrierten, wie sie die Weißen gern hätten, die auf diese Weise gleich noch ihr schlechtes Gewissen beschwichtigten. Diese Argumente sind durchaus nicht von der Hand zu weisen, wenn man sich z. B. „Lilien auf dem Felde“ betrachtet, jenen Film, für den Poitier 1964 mit dem „Oscar“ als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet wurde. Hier spielt er keinen Menschen aus Fleisch und Blut, sondern einen Engel auf Erden, den man einfach lieben muss, auch wenn er zufällig schwarz ist …

Nicht ganz von ungefähr lautet daher der Titel eines provokanten Artikels, der Anfang der 70er Jahre in der renommierten „New York Times“ erschien, „Warum die Weißen Sidney Poitier so sehr lieben“. Dieser ist verständlicherweise recht unglücklich über das Bild, das Medien und Bürgerrechtsbewegungen von ihm zeichneten und zeichnen. „Mein Vermächtnis“ ist deshalb auch der Versuch, den Schleier des Gutmenschen zu zerreißen, um dahinter den wahren Sidney Poitier zum Vorschein zu bringen. Das ist eine diffizile Aufgabe, die wohl auch einem erfahrenen Autoren nicht gerade leicht gefallen wäre. Poitier reüssiert und scheitert gleichzeitig.

Am besten gelingt ihm die Autobiografie dort, wo er sich als Historiker in eigener Sache versucht. Die schwarze Welt der dreißiger bis späten sechziger Jahre brachte eben nicht zwangsläufig nur Martin Luther Kings oder Malcolm Xes hervor, wie dies die mit der Gnade der späteren Geburt gesegneten Bürgerrechtler zu fordern scheinen. Sidney Poitier schildert seine Kindheit und Jugendjahre als Versuch, der Armut zu entrinnen, ohne aber als Kind und Jugendlicher permanent unglücklich gewesen zu sein. Dasselbe gilt für die Diskriminierung, die er recht spät, aber durchaus heftig zu spüren bekam, ohne dass daraus der Wille erwuchs, den weißen Betonköpfen die Gleichberechtigung der Rassen buchstäblich einzuprügeln. Stattdessen trat Poitier den Marsch durch die Institutionen an, wenn man es so ausdrücken möchte, wurde nicht nur Rädchen, sondern Schwungrad der Filmindustrie und aus dieser Position als Aktivist tätig. Dass er gleichzeitig berühmt, beliebt und reich wurde und ihm das sichtlich gefiel, hat ihn in den Augen puristischer Gerechtigkeitskrieger, die es gleichzeitig ärgerte, dass sich der prominente Künstler nicht willig vor jeden politischen Karren spannen ließ, unglaubwürdig wirken lassen.

Schlimmer noch: Poitier ist brennend ehrgeizig und eitel, was er in „Mein Vermächtnis“ offen zugibt. Wieso denn auch nicht, denn hätte er es anderenfalls weiter gebracht als bis zum Betreiber jener Frittenschmiede, die er vor fünf Jahrzehnten in New York kurzzeitig führte? Doch der Prophet gilt nichts im eigenen Land, wenn er in Samt und Seide vor die Leute tritt, und so ist Poitier als angeblicher Vorzeige-Neger (Achtung, pc hunters: Ironie!) in die Filmgeschichte eingegangen, obwohl er Rollen, die sich so deuten ließen, schon seit dreißig Jahren nicht mehr spielt.

Während diese Ambivalenz von Schein und Wirklichkeit sehr deutlich wird, leidet „Mein Vermächtnis“ auf der anderen Seite unter Poitiers Hang zum Predigen. Früher war das Leben zwar nicht einfacher, aber eben doch besser, weil man des Abends mit der Familie zusammen saß und im flackernden Lichte einer Kerze alte Volkslieder sang, statt fernzusehen oder sich den flüchtigen Zerstreuungen hinzugeben, die heute hoffnungsvolle junge Menschen in verwirrte Internet-Zombies verwandeln. Wieso Poitier dann allerdings als noch nicht 16-Jähriger dieses Paradies ausgerechnet gen Sündenbabel New York verließ (wo es ihm ausgezeichnet gefiel), kann er nicht wirklich schlüssig erklären; müsste er auch gar nicht, wenn er nicht als alter Mann plötzlich den Drang verspürte, sich wehmütig-wehleidig der kostbaren Lehren zu erinnern, die ihm das einfache Leben der frühen Jahre bescherte, und seine Leser darauf einzuschwören. Solche spirituellen Wiedergeburten mögen in den USA hoch im Kurs stehen; hierzulande wirken sie naiv bis peinlich, ohne dass man sich ob dieses Urteils vorwerfen lassen müsste, ein zynisch-verderbter Europäer zu sein.

Glücklicherweise halten solche fernsehpredigerischen Anwandlungen nie sehr lange an. Stattdessen erzählt Poitier Episoden und Anekdoten aus seinem Leben, und weil er weiß Gott einiges erlebt hat in einem Dreivierteljahrhundert, lässt man sich gern von ihm in die Vergangenheit entführen. Als Schriftsteller achtet Poitier klug die Grenzen seines Talents; sein Stil ist einfach, aber klar, was doppelte Anerkennung fordert angesichts der Tatsache, dass der Autor nur über eine rudimentäre Schulbildung verfügt und sich sein Wissen und die Fähigkeit, es anzuwenden, erst in relativ späten Jahren und autodidaktisch aneignen musste.

So lässt sich Poitiers „Vermächtnis“ fast durchweg gut lesen, wozu auch die Übersetzung ihren Teil beiträgt. Vom pompösen Titel sollte man sich nicht irreführen oder abschrecken lassen, sondern ohne übersteigerte Erwartungen oder gar Vorbehalte an die Lektüre gehen.

Hartung, Manuel J. – Uni-Roman, Der

Die Universitätslandschaft hat sich in den letzten Jahren stark gewandelt. Die Einführung der Studienbeiträge von 500 Euro pro Semester in einigen Bundesländern und die Umstellung der alten Studiengänge auf Bachelor und Master-Fächer sind nur die sichtbarsten Veränderungen. Die digitale Archivierung kompletter Buchbestände, Kosteneinsparungen durch effizientere Energienutzung und das mit Protesten verbundene Zusammenlegen oder gar Streichen ganzer Fakultäten sind weitere Themen, welche die Professoren, die Angestellten und nicht zuletzt auch die Studenten beschäftigen. Doch was macht die heutige Studienzeit neben diesen Umwälzungen wirklich aus? Welche Erinnerungen, wenn der Student von heute in zwanzig Jahren an die schönste Zeit seines Lebens zurückdenkt, schießen ihm tatsächlich durch den Kopf? Wohl eher wilde Studentenpartys, die chaotischen Mitbewohner und überfüllte Hörsäle, in denen auch auf dem Boden kein Platz mehr zum Sitzen bleibt.

„Der Uni-Roman“ nennt sich das Buch, das Antworten auf diese und viele weitere Fragen geben will. Schon nach den ersten Seiten wird klar: Hier handelt es sich nicht um eine pseudo-wissenschaftliche Untersuchung, die außer hohlen Phrasen nur aufgeblähte Luft hinterlässt. Vielmehr wird das Uni-Leben so sarkastisch und bitterböse, aber zugleich treffend und witzig abgebildet, dass sich jeder Leser, der zumindest für einige Semester in einer Universität eingeschrieben war, sofort zwischen den Zeilen wiederfindet.

_Zum Autor_

„Der Uni-Roman“ ist Manuel J. Hartungs Debütroman, doch keineswegs sein erster Ausflug in die schreibende Zunft, denn er begann nach seinem Abitur eine beeindruckende Karriere. Nach der Ausbildung an der Henri-Nannen-Journalistenschule wurde er jüngster Redakteur der |ZEIT|. Mit Jahrgang 1981 bei einer solch renommierten Zeitung zu arbeiten, zeugt von Talent. Kein Wunder, dass er während seines drauffolgenden Studiums (Geschichte, Psychologie und Jura) weiter journalistisch tätig war und Kolumnen über sein Studentenleben schrieb. „Der Uni-Roman“ entstand anhand der eigenen Erfahrungen an der Universität Bonn, während eines Auslandssemesters in Amerika.

_Inhalt_

Obwohl als Abbild des Studentenlebens konzipiert, durchzieht den Roman ein roter Faden, der die einzelnen Abschnitte zusammenhält. Markus ist Politikstudent, Erstsemestler an der Uni Bonn und, wie jeder Frischling, völlig ahnungs- und orientierungslos. Doch seine Mitbewohner können oder wollen ihn nicht durch den Uni-Dschungel begleiten. Maja, die Streberin der Wohngemeinschaft, ist auf Exkursion und leider für mehrere Tage ausgeflogen. Paul, der sportliche Typ, entrinnt den Problemen lieber und dreht seine Runden am Rhein, um sich fit zu halten. Und Rudi, Markus dritter Mitbewohner, studiert zwar wie er Politik, hat jedoch eine Party hinter sich und das Bedürfnis nach Sex und Schlaf. Durchaus in dieser Reihenfolge, denn eine Bekanntschaft des Abends hat er mit auf sein Zimmer genommen.

Markus bleibt also nichts anderes übrig, als sich alleine durchzukämpfen. Glücklicherweise nicht allzu lange, denn die Uni wimmelt nur so von Studenten, denen es nicht besser geht. Schließlich ist die Orientierungslosigkeit nicht nur ein Phänomen der Erstsemestler, auch wenn diese im höheren Semester eher als Planlosigkeit aufzufassen ist.

Sein erster Tag führt Markus in das Institut für Politik und politische Philosophie, um sich in das Seminar des Privatdozententen Dr. Wolfgang Krepp M. A. (Emmmm-Aahaah) einzuschreiben. Obwohl er gut zwei Stunden vor Anmeldungsbeginn beim Geschäftszimmer eintrifft, hat sich bereits eine wartende Studentenkolonne in den stickigen Gängen eingefunden. Als Nummer 37 muss er sich auf die bereits inoffiziell herumgehende Liste setzen, doch die Höchstteilnehmerzahl ist auf 30 begrenzt. Krepp erscheint zwei Stunden später pünktlich, setzt in seiner Güte die Teilnehmerzahl auf 35 und vertröstet die übrigen Studenten auf sein anderes Seminar oder auf nächstes Semester.

Markus beschließt, es für das andere Proseminar zu Internationalen Beziehungen noch einmal zu probieren, dann aber fünf Stunden vorher, auch wenn er dafür gegen vier Uhr in der Nacht aufstehen und in der Kälte vor dem zu dieser Zeit noch geschlossenen Institut ausharren muss. Zum Glück nicht allein, denn Anna, eine Kommilitonin aus dem dritten Semester, die er bei Krepps erster Anmeldestunde kennengelernt hat, will es ihm gleichtun. Und er lernt in den ersten Tagen nicht nur Anna, sondern eine Vielzahl weiterer Studenten kennen, die die gesamte Bandbreite der universitären Klischees bedienen. Da sind Scheitel, der mit seinem gelackten Äußeren wie der Oberguru einer Burschenschaft daherkommt, Chekka aus dem 21. Semester, der lässig und locker, aber gleichwohl völlig verplant und desillusioniert anmutet, und Hannes, der als 17-Jähriger sein Abi mit eins Komma null gemacht hat und sich nun für den Verein Latein sprechender Menschen stark macht. Aufgestylte Juristinnen, die sich auf Freundesfang nach einem frisch gekürten Doktoranten begeben, um nicht doch noch zu Ende studieren zu müssen, und kuttentragende Metaller, die ihre Liebe zu |Manowar| auch auf dem Campus kundtun, runden das illustre Bild ab.

Doch das Uni-Leben bringt nicht nur Spaß, sondern auch Probleme. Denn als sich Markus immer mehr zu seiner Kommilitonin Anna hingezogen fühlt, mit der er einen Großteil seiner Freizeit verbringt, und erfahren muss, dass sie bereits eine Fernbeziehung zu einem Freiburger führt, sucht er seinen Trost bei der fakultätsbekannten Jasmin, die mit jedem Jungen schon was hatte. Dumm nur, dass Anna ihn beim Knutschen mit Jasmin auf einer Party erwischt und Markus danach aus dem Weg geht.

_Bewertung_

Manuel J. Hartung gelingt es, spitzzüngig und treffend die deutsche Universitätslandschaft zu beschreiben. Aus Sicht des Durchschnittsstudenten Markus erlebt der Leser das Chaos eines Erstsemestlers und sein Aufeinandertreffen mit universitären Sitten und Bräuchen mit, die, ironisch dargestellt und stellenweise ins Absurde gezogen, immer wieder zu einem Schmunzeln anregen. Nicht vorrangig durch die Gags, an denen es im Roman wahrlich nicht mangelt, sondern durch die zynische Art, wie Hartung das Uni-Leben in Worte fasst. Jeder Student wird sich in den Situationen wiederfinden und an langweilige Vorlesungen, schlecht vorbereitete Professoren und heruntergeleierte Referate erinnern. Aber nicht nur die Institution Uni und ihre Professoren bekommen ihr Fett weg. Hartung lässt es sich nicht nehmen, selbstkritisch seine Studentenzeit zu reflektieren und die Eigenarten dieses wissbegierigen Grüppchens zu analysieren. Er thematisiert die fehlende Entscheidungsfähigkeit der Studenten, die ihr Studium nur als Chance sehen, die Wahl für ihre berufliche Zukunft um fünf Jahre nach hinten zu schieben, und stellt sich die Frage, wieso sie den Stoff ihrer Professoren unkritisch in sich aufsaugen, keine Widerworte geben und stillschweigend hinnehmen, dass sie für die Anmeldungen in Seminare bis zu fünfstündige Wartezeiten in Kauf nehmen.

Doch Hartung hütet sich, den moralischen Zeigefinger zu heben, sondern präsentiert seinen Roman als unterhaltsame Lektüre, aus der jeder so viel ziehen kann, wie er möchte. Unpassend erscheint nur die Liebesgeschichte, die ab der zweiten Hälfte des Romans die Handlung bestimmt und das universitäre Leben, auch wenn sie sich vor deren Kulisse präsentiert, in den Hintergrund drängt. Dennoch, „Der Uni-Roman“ ist ein großartiges Abbild der deutschen Uni-Landschaft geworden, das seinem polemischen Titel keineswegs gerecht wird und jedem empfohlen werden kann, der sein Studium einmal aus einer anderen Sicht betrachten oder noch einmal an die Institution Uni zurückkehren möchte.

http://www.piper-verlag.de/

Litwinenko, Marina / Goldfarb, Alexander – Tod eines Dissidenten. Warum Alexander Litwinenko sterben musste

Seit den Terroranschlägen am 11. September 2001 in den USA hat sich unsere damalig scheinbar mehr oder weniger friedliche Welt dramatisch und drastisch verändert. Der Terrorismus zeigte ein für uns bis dato völlig unbekanntes Gesicht und bewies, dass jede Nation angreifbar und verletzbar ist.

Die Geheimdienste in aller Welt bekamen von ihren Regierungen mehr Freiheiten zugesagt und sind aufgefordert, den Terror mit aller Macht zu unterwandern und zu zerstören. Nicht nur seit der CIA-Affäre um geheime Gefängnisse, Folterungen und Tötungen hat man das Gefühl, der Kalte Krieg trete wieder ans Tageslicht. Terrormeldungen gehen wöchentlich um die Welt; Anschläge auf zivile Einrichtungen in London und Madrid erschreckten uns ebenso wie die geführten Kriege im Irak und Afghanistan und ihre Folgeerscheinungen.

Im Zeitalter der hochtechnisierten Kommunikationsmöglichkeiten haben es die Geheimdienste schwerer und zugleich oftmals durch deren Manipulation leichter. Die Medien sind überall und berichten uns aus allen Perspektiven und kommunikativen Filtern über die (Un-)Wahrheiten der Regierungen, die Maßnahmen von Politik und Militär.

Doch auch die Meinungs- und Pressefreiheit wird selbst in demokratischen Staaten gesetzlich eingeschränkt und staatlich stärker kontrolliert.
Journalisten und ehemalige Geheimdienstmitarbeiter stehen, sofern sie nicht der inneren Ordnung und Meinung des Staates konform reagieren und berichten, persönlichen und existenziellen Gefahren gegenüber. Es wird eingeschüchtert, bedroht, intrigiert und in wenigen bekannt gewordenen Fällen ist die letzte Alternative die gezielte Tötung des Kritikers.

Die (Geheim-)Dienste der Staaten greifen nicht immer zu legalen Mitteln in ihrem Feldzug gegen den Terror, aber wer kontrolliert sie in der letzten politischen Instanz? Wer gibt für gezielte Entführungen, Folterungen und Mordaufträge den Befehl? Wer übernimmt die Verantwortung in einem sogenannten Rechtsstaat, der die Grundrechte der Menschen vertreten soll? Wer umgeht und wie umgeht man die Gesetze, um die Bevölkerung, die Zivilisation zu beschützen, auch wenn man in Gefahr gerät, sich auf illegalem Terrain bewegen zu müssen?

Der Terror, so ist uns klargeworden, hat ganz verschiedene Gesichter und nicht nur die Freiheitskämpfer, die einer bestimmten Ideologie folgen und für andere nur als Terroristen gelten, handeln kriminell und menschenrechtsverachtend. In den letzten Jahren gab es gerade in Russland unter der Regentschaft des Präsidenten Wladimir Putin merkwürdige Situationen. Zum einen wurden die Tschetschenen als Terroristen verurteilt und ein zweiter Krieg begann, zum anderen hatten die westlichen Staaten das deutliche Gefühl, dass Russland sich entgegen der gewünschten und versprochenen Reformen zweifelhaft verhielt.

Zuerst klang die Meldung im vergangenen November völlig absurd. Auf einen russischen, ehemaligen Geheimdienstmitarbeiter sollte ein Giftanschlag in einer Londoner Sushi-Bar verübt worden sein. Alexander (genannt Sascha) Litwinenko verstarb an den Folgen dieser Vergiftung am 23. November des Jahres 2006 auf schreckliche Art und Weise. Das Gift war eine Miniatur-Atombombe – Polonium-210 – radioaktiv, unsichtbar, geschmacklos, farblos, aber vielleicht der tödlichste und grausamste uns bekannte Stoff.

Seine Witwe Marina Litwinenko und sein Freund Alex Goldfarb stellen in dem Buch „Tod eines Dissidenten“ die Person Alexander „Sascha“ Litwinenkos vor, der unerschütterlich seinem Glauben, seiner Moral und seinem Gewissen entschlossen folgte.

_Die Story_

Alexander (Sascha) Litwinenkos eigentliche Familie war die russische Armee. Erzogen wurde Sascha bei seinem Großvater. Der leibliche Vater diente bis zu seiner Entlassung selbst bei dem russischen Militär. Als dieser entlassen wurde, war Sascha 17 Jahre alt und konnte sich mit den neuen Verhältnissen innerhalb der Familie nicht abfinden. Sascha fühlte sich immer wie ein Außenseiter und trat mit 18 Jahren selbst in den Armeedienst ein.

Der Militärdienst gefiel Sascha Litwinenko, denn hier gab es feste Regeln und er war von jeher ein ausgezeichneter Teamplayer. Innerhalb der Militärzeit wurde der junge Mann von dem berüchtigten Geheimdienst KGB rekrutiert. Von nun an war die „kontora“, die Firma, seine Gegenwart und Zukunft. Von der dunklen Vergangenheit des KGB, vom Gulag und den Abermillionen Opfern erfuhr er erst viel später in den Neunzigerjahren, als erste Berichte darüber in den nationalen und internationalen Medien auftauchten. Aus dem KGB wurde dann die spätere Nachfolgeorganisation FSB.

Anfangs arbeitete Sascha für die Wirtschaftssicherheit und schließlich für das Antiterrorzentrum. Sein Hauptaufgabengebiet wurde die Bekämpfung des organisierten Verbrechens und die Aufgabenbereiche gegen Attentate, Entführungen und Korruption bei der Polizei.

Sascha arbeitete in der operativen Aufklärung. Er legte geheime Akten über Mafiosi an und überwachte deren Privatleben. Er tauchte in ihr Netzwerk ein, mitsamt den Kontakten zu politischen Institutionen und Geschäften. Für die offiziellen Ermittler waren Saschas Kenntnisse unersetzlich. Er arbeitete still und effektiv hinter den Kulissen, rekrutierte Agenten und organisierte deren Einsätze.

Sascha ging förmlich auf in seiner gefährlichen Arbeit und hatte eine hohe moralische Grundvorstellung und Überzeugung von seiner Tätigkeit als Agent.

1993 lernte er durch Freunde seine später Ehefrau Marina Litwinenko kennen, während seine erste Ehe im Begriff war zu scheitern. Marina Litwinenko wurde nicht nur seine Ehefrau, sondern auch der Mittelpunkt seines Lebens. Schon im gleichen Jahr wurde Marina schwanger und gebar ihren einzigen Sohn Tolik. Sascha trennte seine oftmals gefährliche Tätigkeit streng von seinem Privatleben und teilte seine Erlebnisse nicht oft mit seiner Frau. Sie gab ihm die nötige Kraft, Außerordentliches zu leisten und aus der Beziehung Kraft zu schöpfen.

Im ersten Tschetschenienkrieg (1994-1996) wurden die Agenten des FSB zu Kampfeinsätzen befohlen; auch Sascha war an mehreren Kampfeinsätzen beteiligt. Später wurde Sascha kritischer in seiner Tätigkeit als verdeckter Ermittler und Agent des Geheimdienstes. Auf der innerpolitischen Bühne versuchte man immer wieder, den Geheimdienst für ganz individuelle Ideen und Geschäfte zu nutzen, und das geschah oftmals illegal und überhaupt nicht mit den Gesetzen im Einklang.

Im Jahr 1998 fand eine legendäre Pressekonferenz in Moskau statt, in der Alexander Litwinenko zusammen mit Michail Trepaschkin und zwei maskierten Agenten die Führung des Geheimdienstes FSB für die Anstiftung zum gezielten Mord am damaligen Sekretär des Staatsicherheitsrats, Boris Beresowski, verantwortlich machte – ein bisher noch nie dagewesenes Ereignis und in den Augen der geheimdienstlichen Behörde eine verräterische Tat.

Ein Jahr später wurde Sascha das erste Mal verhaftet und wenig später in dem Verfahren freigesprochen, doch noch im Gerichtssaal wurden ihm ein zweites Mal verschiedene Sachverhalte vorgeworfen, was zu seiner zweiten Verhaftung führte, aus der er im Jahre 2000 entlassen wurde. Den Worten Alexander Litwinenkos nach wurden die Anschuldigen konstruiert und bei der Haftentlassung wurde ihm die Auflage erteilt, die Russische Föderation nicht zu verlassen. Er fühlte sich und seine Familie jedoch unmittelbar durch den FSB bedroht, und so blieb ihm nur die einzige Möglichkeit, im gleichen Jahr illegal nach London auszureisen.

Mit seiner Frau und seinen Sohn erreichte Alexander Litwinenko am 1. November 2000 die Hauptstadt von England und beantragte sofort politisches Asyl, das ihm und seiner Familie schließlich auch im Mai 2001 offiziell gewährt wurde. In England befasste sich Litwinenko weiterhin mit der innerpolitischen Situation, dem Krieg in Tschetschenien und der Rolle des staatlichen russischen Geheimdienstes. Er schrieb verschiedene Bücher über diese Thematik und finanzierte sein Leben durch die enge Freundschaft mit Boris Beresowski, der ebenfalls nach Großbritannien ausgewandert war.

Zusammen mit einem amerikanischen Historiker russischer Herkunft verfasste Litwinenko das Buch „Blowing up Russia: Terror from within“ („Der FSB sprengt Russland in die Luft“). Hierin übten die Autoren scharfe Kritik an der russischen Regierung und dem Geheimdienst.

Laut der Theorie und den Vermutungen Litwinenkos behauptete dieser, dass die Sprengstoffanschläge von 1999 auf Wohnhäuser in Moskau nicht auf terroristische Akte von tschetschenischen Rebellen zurückzuführen seien, sondern direkt auf das Konto des Geheimdienstes gingen, der gezielt diese Anschläge ausführte, um einen zweiten Tschetschenienkrieg entfesseln zu können. Der Befehl für diese Attentate solle direkt von Präsident Putin gekommen sein ,der ebenfalls als Leutnant beim KGB diente. Es gab in Russland noch eine ganze Reihe von Menschen, die die gleiche These aufgestellt haben und mit Litwinenko einer Meinung waren.

Mysteriöserweise kamen viele Mitglieder dieses Gremiums ums Leben. Eine weitere These ist, dass die Geiselnahme im Moskauer Theater ebenso eine Aktion des Geheimdienstes FSB gewesen sein solle und die Terroristen zwar wirklich tschetschenischer Abstammung waren, aber bei der Erstürmung des Theaters, obwohl schon kampfunfähig, durch Einheiten der FSB exekutiert wurden. Aus welchem Grund?

Im Oktober 2006 wurde die auch international bekannte Journalistin Anna Politkowskaja kaltblütig durch Killer in Russland erschossen. Bekannt wurde sie durch ihre Kritik an der russischen Regierung und ihrer Kriegsführung in Tschetschenien. Litwinenko sollte Kontakt mit ihr gehabt und Unterlagen bekommen haben, die den russischen Geheimdienst arg diskreditieren.

Am 1. November ließ sich Litwinenko mit Vergiftungserscheinungen in ein Londoner Krankenhaus einweisen. Sein Zustand verschlechterte sich rasend, und schließlich verstarb er an den Folgen dieser Vergiftung. Wenige Stunden vor seinem Tod erklärte Litwinenko in einem Interview mit der |Times|, dass er vom Kreml zum Schweigen gebracht wurde, und gab Putin die Schuld an seinem Tod.

_Kritik_

Ich habe den Fall und das Schicksal Alexander Litwinenkos im letzten wie auch in diesem Jahr intensiv in den verschiedenen Medien verfolgt. Die russische Politik ist für uns Europäer sicherlich nicht transparent genug; zum einen werden in den Medien die innenpolitischen Probleme dieses großen Landes nur angerissen und nicht wirklich gut genug erklärt, um sich ein Urteil darüber bilden zu können, zum anderen gab und gibt es sicherlich Themen, die zum Zeitpunkt für uns interessanter sind und waren.

Die Meinungs- und Pressefreiheit ist in Russland mehr als nur stark eingeschränkt. Es ist kein Geheimnis, dass Kritiker der Regierung getötet worden sind oder merkwürdigen Unfällen zum Opfer fielen. Es gab eine ganze Reihe von Opfern, die zuvor offen Kritik am Regime geübt hatten: Journalisten, Geschäftsleute, Abgeordnete und sogar Veteranen des Tschetschenienkrieges – und immer führte die Spur zum russischen Geheimdienst FSB.

Das Buch „Tod eines Dissidenten“ wird sicherlich niemals auf den russischen Literaturlisten erscheinen und nur über Umwege das Land erreichen. Litwinenkos Frau Marina und sein Freund Alex Goldfarb führen den waffenlosen Kampf gegen das Regime in Russland mit friedlichen Mitteln für Sascha weiter.

Die Geschichte des Ex-Agenten, der aufgrund seiner moralischen Vorstellungen ins Exil gehen musste und zu einem der schärfsten Putin-Kritiker wurde, war ungemein spannend und interessant zu lesen. Leben und Schicksal des jungen Mannes werden detailreich geschildert, und nicht nur das. Vielmehr wird die innen- und außenpolitische Lage Russlands analysiert, denn ohne diese Rückblicke könnten wir den mit Saschas Werdegang verbundenen Verschwörungstheorien nicht folgen. Russlands Strategie in den beiden Kriegen in Tschetschenien ist ebenso ein wichtiges Thema wie die Korruption und die illegalen Aktionen des Geheimdienstes FSB, auch die Machtergreifung und die Entwicklung Putins spielen eine sehr große und nicht zu unterschätzende Rolle.

In „Tod eines Dissidenten“ kommt uns Alexander Litwinenko nicht wie ein Phantast vor oder jemand, der aus seiner Publicity Kapital schlagen wollte. Seine Theorien konnte er zwar abschließend nicht beweisen, aber sie werfen doch interessante Fragen auf. Allein die Attentate auf die Moskauer Wohnhäuser erfordern eine Logistik, eine Organisation, die für tschetschenische Terroristen einfach zu durchdacht und überlegt ist. Außerdem widersprach sich der Geheimdienst in seinen offiziellen Statements zu sehr, um noch glaubhaft zu wirken. Zeugen verschwinden entweder spurlos oder fallen Unfällen zum Opfer, Journalisten werden eingeschüchtert und Agenten zu verschiedenen Aktionen erpresst.

Natürlich stellt dieses Buch nur eine einseitige Berichtserstattung dar, und ich glaube auch nicht, dass Litwinenko in seiner Tätigkeit als Agent der FSB nur auf Seiten des Gesetzes stand, doch wirken seine Theorien im Ganzen glaubhaft und stimmig, zumal es auffallend ruhig um die offiziellen Ermittlung der im Buch erklärten Theorien geworden ist. Auch nur ein Zufall?

Nach der Lektüre von „Tod eines Dissidenten“ stellen sich Fragen, auf die sich schwerlich Antworten finden lassen. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn es gibt keine handfesten Beweise für die Thesen, die der Ex-Agent aufgestellt hat, nur Indizien und viel zu viele Tote in seinem unmittelbaren Umfeld – es bleiben nur Theorien übrig, aber die sind schon Grund genug, um hinter den Spiegel schauen zu wollen.

Wer hatte Interesse am Tod des Ex-Geheimdienstlers? War es ein Racheakt von Kriminellen oder steckte doch der Geheimdienst hinter seinem Tod? Was wusste Litwinenko über den Tod der bekannten Journalistin und wo sind ihre und seine Dokumente geblieben bzw. die Erklärungen von Zeugen, die beweisen sollten, dass der Geheimdienst hinter den Anschlägen auf die Moskauer Wohnhäuser steckt und noch Drahtzieher und Vollstrecker bei verschiedenen Morden gewesen sein soll?

Sehr gefallen hat mir im Übrigen der Aufbau bzw. die Gliederung des Buches, angefangen bei der Ausbildung und dem Aufstieg der Person Litwinenkos, bis hin zu seinen Gewissensbissen und der Entscheidung, offen Kritik gegenüber Putin und seiner Regierung zu üben. Weder ist das Buch langweilig, noch verrennen sich die beiden Autoren in Widersprüche.

Wie bei allen Verschwörungstheorien bleibt die eigentliche Wahrheit jedoch im Dunkeln und eine Frage des Betrachtungswinkels. Doch auch hier kann es nur die Zeit zeigen und vielleicht der Mut einzelner Menschen, um letztlich und schließlich die Wahrheit zu finden, wie immer diese auch aussehen mag.

_Fazit_

Für Freunde von Verschwörungstheorien in Geheimdienstkreisen ist das Buch „Tod eines Dissidenten“ sehr zu empfehlen. Nicht überzeichnet oder unlogisch, nicht spektakulär oder widersprüchlich, sondern ernüchternd und Fragen aufwerfend. Das Buch bzw. die Aussagen darin kritisieren die russische Regierung und nicht das Volk im Gesamten, es ist kein Spiegelbild der Denk- und Lebensweise einer ganzen Bevölkerung, und das war für die Botschaft des Buches existenziell wichtig.

Wer das Schicksal von Alexander Litwinenko in der Presse verfolgt hat, wird das Buch schwerlich aus der Hand legen und in seinen Alltag zurückkehren können. Der aufmerksame Leser wird sich mit der Thematik auseinandersetzen und manches vielleicht noch kritischer sehen und hinterfragen, was Alexander Litwinenko sicherlich erfreut hätte.

_Die Autoren_

Marina Litwinenko begegnete ihrem späteren Ehemann erstmals 1993 an ihrem 31. Geburtstag. 2000 wurde der Familie politisches Asyl in Großbritannien gewährt und 2006 die britische Staatsbürgerschaft zuerkannt. Marina Litwinenko und ihr zwölfjähriger Sohn leben in London.

Alex Goldfarb, regimekritischer Naturwissenschaftler, verließ Russland in den siebziger Jahren. Er arbeitete an der Columbia University, beendete seine wissenschaftliche Laufbahn jedoch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und leitete zusammen mit George Soros humanitäre Initiativen in Russland. Er lernte Alexander Litwinenko in den neunziger Jahren kennen, und sie wurden enge Freunde, als Goldfarb den Ex-Spion und seine Familie 2000 auf der dramatischen Flucht nach England begleitete. Später arbeitete er mit Litwinenko an dessen Memoiren und politischen Artikeln. Goldfarb ist verantwortlicher Leiter der von Boris Beresowski gegründeten International Foundation for Civil Liberties, einer Dachorganisation für Menschenrechtsaktivisten.

http://www.hoffmann-und-campe.de

Müller-Kraenner, Sascha – Energiesicherheit. Die neue Vermessung der Welt

Fast kein Tag vergeht, an dem man nicht in den Nachrichten von steigenden Benzinpreisen, dem Energiehunger des aufstrebenden China und dem Kleinkrieg der amerikanischen Besatzungsmacht in Afghanistan und Irak hört. Der Energiebedarf der etablierten Industrienationen und schnell wachsender Schwellenländer wie China und Indien bei knappen oder zumindest schwerer zugänglichen Vorkommen an Kohle, Öl und Gas haben dazu geführt, dass eine dauerhafte und sichere Energieversorgung keine Detailfrage der Wirtschaftspolitik, sondern mittlerweile ein Kernthema für die Chefsache Außen- und Sicherheitspolitik ist.

Sascha Müller-Kraenner hat in seinem Buch „Energiesicherheit. Die neue Vermessung der Welt“ die gegenwärtige weltweite Energiesituation dargestellt und sich Gedanken über Auswege gemacht. Dabei ist ihm zwar ein nicht immer ausgewogenes, aber erfreulich nüchternes, sachliches und weitgehend faktengesättigtes Ergebnis gelungen. Das beginnt damit, dass er seinen Titelbegriff „Energiesicherheit“ nicht den Assoziationen des Lesers überlässt, sondern in einem kurzen Eingangskapitel klar definiert. Für Müller-Kraenner bezeichnet er nicht nur eine langfristige, verlässliche Energieversorgung, sondern auch die Berücksichtigung der Sicherheitspolitik und des Umweltschutzes in der Energiepolitik.

Besonders lesenswert sind die Kapitel über Russland sowie China und andere asiatische Staaten von Indien bis Japan. Mit einer hierzulande seltenen Klarheit stellt er die geopolitische Lage, d. h. Bodenschatzverteilung, Topographie, Grenzverläufe sowie die teils vereinbaren, teils divergierenden nationalen Interessen dar. Die Vorstellung der bekannten und vermuteten Öl- und Gasvorkommen im mittleren Asien von Iran über Kasachstan bis Sibirien macht die gegenwärtige politische Lage verständlicher. Dass Deutschland als importabhängiges Land hier mit viel diplomatischem Geschick seine Interessen vertreten muss und nicht als reiner Tor der Weltbeglückung zu dienen hat, macht Müller-Kraenner deutlicher als mancher Politiker. Auch die Situation der USA wird betrachtet, allerdings nicht der gleichen kritischen und ausführlichen Analyse unterzogen wie die übrigen erwähnten Staaten. Genauso auffällig ist, dass bei der Diskussion der offiziellen und inoffiziellen Atommächte (S. 186ff) Israel ausgeklammert wird. Da wundert es auch nicht, dass die US-kritischen südamerikanischen Regierungen von Chavez bis Morales sehr undifferenziert kritisiert werden, während der Milliardenspekulant George Soros, der Gerüchten zufolge schon fast einen privaten Geheimdienst unterhalten soll, als uneigennützige Friedenstaube gepriesen wird. Dass das Kapitel über die EU etwas richtungslos bleibt, mag daran liegen, dass regelungswütige Eurokraten, die gleichzeitig Tabakanbau und Nichtraucherkampagnen unterstützen, sich von harten Interessenkonflikten lieber fernhalten.

Müller-Kraenner liefert auch einige Lösungsansätze. Wenn er dem von Energieimporten abhängigen Industriestaat Deutschland die Diversifizierung bei Energieträgern und Exporteuren, Energieeinsparung und eine höhere Ausnutzung der Primärenergie vorschlägt, ist so weit zuzustimmen. Dass er die beiden letzten Punkte nur kurz anreißt, geht in Ordnung, da er ja kein Technikbuch geschrieben hat. An anderen Punkten merkt man, dass der Autor, der einige Jahre für die den „Grünen“ nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung gearbeitet hat, nicht über seinen Schatten springen kann. Die These, nach der CO2 das Klima beeinflusst, ist für ihn eine nicht hinterfragbare Wahrheit, auch wenn auffällig viele Wissenschaftler in letzter Zeit mit Formulierungen wie „wahrscheinliche Ursache“ oder „Mitverursacher“ zurückrudern. Ebenso ist für ihn die Ablehnung der Atomenergie über jeden Zweifel erhaben. Dass Uran ebenso wie Öl und Gas importiert werden muss, ist in der Tat ein schwerwiegendes Argument. Wenn aber alle Welt außer Deutschland wieder verstärkt auf Atomkraft setzt, hätte man zumindest die Frage erörtern müssen, ob womöglich nicht alle anderen Unrecht haben, sondern wir. Beim Thema der sogenannten „erneuerbaren“ oder alternativen Energien vermisst man erwartungsgemäß das Zauberwort „Wirkungsgrad“ (Für Nicht-Physiker: Der Wirkungsgrad eines Kraftwerks ist das Verhältnis der nutzbaren, von ihm zur Verfügung gestellten Sekundärenergie zu der von ihm benötigten Primärenergie.) Andererseits enthält das Buch interessante Abschnitte über Wasserstoff und Biomasse als künftig nutzbare Energieträger. Alternative Energien müssen für die langfristige Planung sicher ein Thema für Forschung und Entwicklung sein; jetzt und in absehbarer Zukunft jedoch, das muss man ganz klar sehen, sind sie kein Ersatz für Atomkraft und fossile Energieträger.

Die politischen Lösungsansätze des Autors kann man nur als blauäugig bezeichnen. Hier setzt Müller-Kraenner als Kind der deutschen Konsensokratie auf internationale Abkommen, bei denen gegenseitige Abhängigkeiten geschaffen werden und Staaten mitunter gegen eigene Interessen handeln. Die Frage ist, welches Land, das das nicht nötig hat, sich auf so etwas überhaupt einließe. Die USA, die Ölexporteure besetzen, Russland, das sich frühere Sowjetrepubliken mit Bodenschätzen durch Zuckerbrot und Peitsche wieder gefügig zu machen versucht, und China, das mit verschiedensten Regimen von Asien über Afrika bis Lateinamerika (!) langfristige Lieferanten bindet, machen jedenfalls auf ihre Art Nägel mit Köpfen. Das alles ist in seinem eigenen Buch nachzulesen.

Das Gesamturteil über das Buch fällt unentschieden aus. Wer sich über den Ist-Zustand der Energielage informieren will, dem kann man „Energiesicherheit. Die neue Vermessung der Welt“ unbedingt empfehlen. Wer Anregungen zum Soll-Zustand sucht, schaut sich besser anderweitig um.

http://www.kunstmann.de

Junger, Sebastian – Tod in Belmont

Inhalt:

Belmont ist ein Vorort der Großstadt Boston im US-Staat Massachusetts. Die gut situierten Bürger leben friedlich zusammen; die Verbrechensrate ist so niedrig, dass es hier noch nie einen Mord gegeben hat. Das ändert sich am 11. Mai 1963, als der Verwalter Israel Goldberg Gattin Bessie im ehelichen Schlafzimmer findet: mit einem der eigenen Strümpfe stranguliert, vergewaltigt, zur Schau gestellt. Schock geht über in Angst und Zorn, denn es sieht so aus, als habe der berüchtigte Serienmörder, den die Medien den „Boston Strangler“ nennen, sein ‚Revier‘ erweitert. Binnen kurzer Zeit hat dieser Würger acht Frauen auf die beschriebene Weise umgebracht, ohne dass es der Polizei trotz intensiver Suche gelungen wäre, ihm auf die Spur zu kommen.

Dieses Mal könnte sich das ändern: Am Tatort sahen Zeugen einen männlichen Schwarzen, der in diesem rein ‚weißen‘ Viertel auffiel und argwöhnisch beobachtet wurde. Roy Smith ist sein Name, und er hat für Bessie Goldberg am Tag ihres Todes diverse Handlangerdienste erledigt. Niemand außer ihm kann nach Auffassung der Beamten nach dem Mord und vor dem Erscheinen des Ehemanns das Haus betreten haben. Ergo ist Smith, der hartnäckig leugnet, der Hauptverdächtige – und womöglich der Würger von Boston! Letzteres kann ihm nicht nachgewiesen werden, doch man verurteilt Smith als Mörder von Bessie Goldberg; das Gefängnis hat er lebendig nicht mehr verlassen.

Junger, Sebastian – Tod in Belmont weiterlesen

König, Johann-Günther – Lobbyisten, Die. Wer regiert uns wirklich?

Da gibt es eine SPD, die jahrelang die paritätische Beitragszahlung bei den Sozialversicherungen wie eine Monstranz vor sich herträgt, bis unter einem Kanzler Schröder Arbeitnehmern und Rentnern ein Sonderbeitrag aufgebrummt wird. Dann sind da die Unionsparteien, die lauthals für das Wettbewerbsprinzip bei den Krankenkassen trompeten, bis unter einer Kanzlerin Merkel der zentral eingezogene Einheitsbeitragssatz beschlossen wird. Allerhöchste Zeit also, sich einmal gründlich mit dem Phänomen Lobbyismus auseinanderzusetzen. Wer sich informieren will, sollte ein gutes Buch zum Thema lesen – keineswegs aber Johann-Günther Königs „Die Lobbyisten. Wer regiert uns wirklich?“

_Die Kerndefizite des Buches_

König versucht, in seinem Buch über den Lobbyismus eine „umfassende Analyse“, so der Klappentext, zu leisten und das Thema am Beispiel der Geschichte Deutschlands und der USA in den letzten 200 Jahren zu verdeutlichen. Leider bleibt es beim Versuch. Das Buch leidet unter vier grundsätzlichen Mängeln:

1. Der Begriff „Lobbyismus“ wird vom Autor selbst nicht definiert und unzureichend in einen Zusammenhang mit Interessenvertretung im Allgemeinen und in der Demokratie gebracht. So redet er von Lobbyismus, wenn Manager Abgeordnetenmandate innehaben, ohne zu merken, dass dies den abgeschriebenen Definitionen widerspricht.

2. Konkrete Fälle von Lobbyismus, also von äußerem, unmittelbarem Einfluss der Interessenvertreter auf politische Entscheidungen, muss man in dem Buch mit der Lupe suchen. Wenn einige Firmen einen Branchenverband gründen oder ein Politiker mit einem Unternehmer auch nur spricht, schreit König gleich „Skandal“, und auf belastbare Fakten wartet man meist vergebens.

3. In dem Buch, das zum großen Teil aus Sekundärliteratur zusammengepinnt ist, gibt es besonders in den ersten grundlegenden Kapiteln keinen gedanklichen roten Faden. König kommt z. B. kurz auf Arbeitsgrundsätze oder Berufsbilder von Lobbyisten zu sprechen, huscht dann gleich zum nächsten Punkt und greift das Thema einige Seiten später noch mal oberflächlich auf. Dass er etwa in den geschichtlichen Kapiteln, die den Großteil des Buches ausmachen, seitenweise eher eine kleine Wirtschaftsgeschichte schreibt als konkret am Thema Lobbyismus zu bleiben, ist scheinbar weder ihm noch seinem Verlag aufgefallen.

4. König sieht das Grundproblem im Kapitalismus, dem „heimlichen Herrscher“ (S. 16). Nun gut, er nennt wenigstens ehrlich sein Feindbild, darauf kann sich der kritische Leser dann einstellen. Dass er dabei den Gewerkschaftslobbyismus nicht ganz unter den Tisch fallen lässt, muss man ihm zugute halten. Das Problem dabei ist, dass er einerseits jede Interessensartikulation von Wirtschaftsseite gleich für einen illegitimen Angriff auf die Staatsorgane hält und andererseits Lobbyismus fast nur als Problem der Wirtschafts- und Arbeitswelt sieht.

Der Begriff Lobbyismus kommt nicht zufällig von Lobby, der Vorhalle von Parlamenten. Es ist ein Phänomen der Demokratie. In der Demokratie, dem Namen nach der „Volksherrschaft“, hat jeder Bürger – also auch der Unternehmer, der Gewerkschafter, der Vereinsfunktionär – das Recht, gemäß seinen Interessen zu wählen, Öffentlichkeitsarbeit zu treiben und bei politischen Entscheidungsträgern vorzusprechen. Wo die Grenze zwischen legitimer Interessenvertretung und illegitimem Lobbyismus verläuft, wird hier nicht systematisch erörtert. Erst im letzten Kapitel wird dieser Aspekt kurz angerissen. Das Buch hätte schon ein wenig gewonnen, wenn man dieses Schlusskapitel an den Anfang gesetzt hätte.

Dass Regierung und Parlament Bürger und Organisationen anhören, bevor sie Gesetze für sie machen, ist ja nicht das Schlechteste an der Demokratie. Und dass man in Bereichen, die ein großes Detailwissen erfordern, Experten zu Rate zieht, ist auch nicht grundsätzlich falsch. Mittlerweile kommt es aber vor, dass Externe sogar Gesetzesvorlagen formulieren. König nennt hier einige Fälle, aber eine systematische Analyse der Beziehung Politik / Berater oder auch nur eine Erörterung des mehrdeutigen Begriffs „Berater“ bleibt aus.

_Zur Geschichte_

Die fundamentalen Defizite des Buches schlagen sich dann auch im historischen Abriss nieder.

Zum Beispiel: Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. Weder konnten die damals noch marxistisch orientierten Gewerkschaften die Privatwirtschaft aushebeln, noch konnten die Arbeitgeber Bismarcks Sozialversicherung verhindern. Und wie König selber schreibt, unternahm die Bankenlobby nicht einmal den Versuch, Gesetze zur Regulierung und Besteuerung des Aktienhandels abzuwenden (S. 134). Überhaupt kann er keinen einzigen Paragraphen benennen, der durch Lobbyeinfluss verabschiedet oder nicht verabschiedet wurde. Die einzige Schlussfolgerung kann nur sein: Natürlich gab es Lobbyarbeit, aber das Deutsche Reich vor (und weitgehend auch nach) dem Ersten Weltkrieg war resistent gegen Lobbyismus. Wenn der Autor dann immer noch von der Allmacht der Lobbyisten schwadroniert, ist das entweder Meinungsmache oder aber er war mit der Auswertung des eigenen Datenmaterials überfordert.

Dass einige Angehörige des Großkapitals (übrigens auch des ausländischen) Hitlers Aufstieg unterstützten, steht mittlerweile in jedem Schulbuch. Aber bald nach seiner Machtübernahme wurden die Lobbyverbände verboten oder in halbstaatlichen Gremien gleichgeschaltet. Typischer Fall von denkste! Dass die braunen Mörder nicht auch noch wie die roten Mörder die Betriebe verstaatlichten, ist für König scheinbar schon ein unerhörter Fall von Lobbyismus.

Nachkriegsgeschichte: Nun gibt es die wirtschaftspolitische Auffassung, dass Unternehmen, die Gewinne machen, Steuern zahlen, den technischen Fortschritt vorantreiben und Arbeitsplätze zur Verfügung stellen, im Interesse der ganzen Volkswirtschaft sind. Selbstverständlich muss man diese Meinung nicht teilen, aber man sollte sie zur Kenntnis nehmen und nicht bei jedem firmenfreundlichen Gesetz „Lobbyismus“ schreien, wenn man nicht mal den Hauch eines Beweises hat. Die einzigen konkreten Fälle von Lobbyeinfluss auf Gesetze in der jungen BRD, bei denen dann auch endlich mal Ross und Reiter genannt werden, liest man in der langen Abschrift von Theodor Eschenburg (S. 213ff).

Seit dem schmählichen Ende der Kommission Santer dürfte jeder wissen, dass der Moloch Brüssel ein Magnet für Lobbyisten ist. Hier liest man z. B., dass das „Entwicklungs-, Wettbewerbs- und Beschäftigungsprogramm“ der Kommission Delors von 1993 einem Strategiepapier der Industrielobby entsprach (S. 247). So ist denn das Kapitel über die EU noch das beste, wenn auch im Verhältnis etwas knapp.

_Was nicht im Buch steht_

Wie erwähnt, wird Lobbyismus von König fast nur im Zusammenhang mit der Wirtschaft besprochen. Umweltorganisationen erwähnt er zwar als Lobbyisten, geht auf das Thema aber nicht weiter ein. Kann sich noch jemand erinnern, wie man uns vor etwa zehn Jahren weismachen wollte, dass das Ozonloch von der Industrie verursacht wäre, bis sich die Wahrheit, dass es schon seit Jahrtausenden existiert, nicht mehr unterdrücken ließ? Wer z. B. wissen möchte, wie Greenpeace unter Missachtung von Anstand und Ehrlichkeit die „Brent Spar“-Kampagne anzettelte, dem sei Udo Ulfkottes Buch „Wie Journalisten lügen“ empfohlen. (Es hat zwar nicht eigentlich Lobbyismus zum Thema, gibt dazu aber mehr her als Königs Machwerk.). Und Umweltorganisationen sind beileibe nicht die einzigen „zivilgesellschaftlichen“ Gruppen, die regelmäßig Hysteriekampagnen fahren, sich selbst als Retter präsentieren und so ihren Funktionären ein schönes Einkommen aus Staatsknete und Spenden verschaffen.

Weiterhin wäre es verdienstvoll gewesen zu untersuchen, inwieweit die Parteien heute noch politische Bürgervereine sind oder vielleicht doch eher Lobbygruppen zur Karriereförderung von Berufspolitikern. Oder inwieweit gewisse Staaten mit Nichtregierungsorganisationen eine Lobby neben der Diplomatie unterhalten, mit der sie die Politik anderer Staaten beeinflussen.

_Fazit_

„Die Lobbyisten. Wer regiert uns wirklich?“ bringt keine neuen Erkenntnisse und geht in weiten Teilen am Thema vorbei, so dass es beinahe schon geeignet ist, den Lobbyismus zu verharmlosen. Das, was König effektiv zum Thema zu sagen hat, hätte man auch auf zehn Prozent des Papiers unterbringen können. Dass sich der Autor auch nicht die Mühe gemacht hat, in einem Wirtschaftslexikon den Unterschied zwischen „Konzern“ und „Unternehmen“ nachzuschlagen oder wiederholt von Faschismus plappert, wenn er Nationalsozialismus meint, macht denn auch nichts mehr. Offenkundig hat sich auch niemand das Manuskript gründlich durchgelesen, wie die vielen Druckfehler anzeigen. Nach dem Motto „Zeichensetzung ist Glückssache“ wurden Kommata anscheinend mit dem Salzstreuer gesetzt.

http://www.patmos.de