Dickens, Charles – Oliver Twist (Europa-Originale 39)

_Besetzung_

Erzähler – Hans Paetsch
Oliver Twist – Oliver Röhricht
Ein Waisenkind – Sieglind Bruhn
Mrs. Mann – Ingeborg Kalweit
Jack Dawkins – Ingo Eggers
Fagin – Horst Beck
Nancy – Sabine Titze
Mr. Brownslow – Werner Hinz
Mrs. Bedwin – Heike Kintzel
Sikes – Rudolf Fenner
Rosa Maylie – Reinhilt Schneider
Brittles – Ernst G. Schiffner
Giles – Marco Fehrs
Mrs. Maylie – Katharina Brauren
Dr. Losberne – Claus Wagener
Henry Maylie – Konrad Halver
Monks – Michael Poelchau

_Story_

Der arme Waisenjunge Oliver Twist wächst in einem Waisenhaus auf, wird dort jedoch nie richtig glücklich. Als ihm schließlich auch noch eine Ausbildung bei einem Leichenbestatter aufs Auge gedrückt wird, nimmt der junge Kerl Reißaus, läuft dabei aber direkt einer Verbrecherbande in die Arme. Der hinterhältige Ganove Fagin nimmt sich seiner an und integriert ihn in seine Bande von jugendlichen Kleinkriminellen.

Gegen seinen Willen arbeitet Twist schließlich für Fagin und wird somit ein Teil eines groß angelegten Hehlergeschäftes. Doch immerhin kann Oliver sich mit diesen Verbrechen das Überleben sichern und findet darüber hinaus seine erste echte Familie. Als er jedoch eines Tages bei einem Einbruch in eine Villa erwischt wird, gerät Oliver in die Enge. Ein Rechtsvorsteher fordert die Inhaftierung, wohingegen seine Fürsprecher ihn wegen seiner schweren Kindheit schützen wollen. Als dann auch noch Fagin sein Geld einfordert und plant, Twist umzubringen, scheinen die wenigen glücklichen Tage des Jungen endgültig gezählt.

_Persönlicher Eindruck_

Charles Dickens‘ tragische Geschichte um den kleinen Waisenjungen Oliver Twist gehört zweifelsohne zu den größten Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur. Die Geschichte diente nicht nur vielen Schriftstellern als Inspiration, sondern wurde auch gerne für Regiearbeiten in TV und Kino aufgegriffen und entsprechend adaptiert, zuletzt noch 2005 von Roman Polanski. Auch auf dem Hörspielmarkt gibt es diverse Fassungen der Erzählung, unter anderem auch ein Original von |Europa|, das bereits 1970 aufgenommen und 2002 neu veröffentlicht wurde. Im Rahmen der „Europa-Originale“ kommt die Geschichte nun ein weiteres Mal auf den Markt, sicherlich zum Unmut der Besitzer der ersten Neuauflage, insgesamt aber sicher auch zum Verdruss der Liebhaber dieses Stückes, welches hier nur sehr mäßig wiedergegeben wird.

Die größte Merkwürdigkeit besteht dabei in der Tatsache, dass der Hauptdarsteller und Titelgeber hier auffällig klein gehalten wird. Lediglich in den ersten Szenen tritt Oliver Röhricht alias Oliver Twist aktiv in Szene; anschließend taucht er nur noch in Berichten des Erzählers und Dialogen der anderen Darsteller wieder auf. Eine unverständliche Herangehensweise, zumal der Protagonist über die gesamte Dauer des Hörspiels präsent und in aller Munde ist, jedoch keinen Sprechpart mehr zugeteilt bekommt.

Dieser Umstand schlägt sich natürlich auch deutlich auf die generelle Entwicklung des Hörspiels nieder, welches bei der Aufbereitung der Emotionen zwar keine Mängel aufweist, jedoch inhaltlich mehr und mehr erzwungen wirkt. Dieser Eindruck entsteht letztendlich auch durch die Gleichberechtigung vieler Charaktere, was dazu führt, dass selbst die Entscheidungsträger einen ähnlichen Stellenwert einnehmen wie die Nebenfiguren. Die grundlegende Struktur des Originals wird dadurch nun nicht verändert, aber eine fokussierte Behandlung des Themas wäre definitiv zuträglicher gewesen.

Bezogen auf den allgemeinen Aufbau, ist „Oliver Twist“ allerdings dennoch ein recht ansprechendes Hörspiel mit schönem Spannungsaufbau und transparenter Handlung. Jedoch ließe sich aus derlei Voraussetzungen mit ein bisschen mehr Liebe zum Detail noch so einiges mehr herausschlagen, was von Regisseur Konrad Halver – eigentlich ein Meister seines Faches – nicht wirklich berücksichtigt wurde. Demzufolge bleibt die vorletzte Episode der vierten Staffel nur solides Mittelmaß im Kontext der „Europa-Originale“ – sicherlich ein nettes Hörspiel, aber in Sachen Produktion und Umsetzung keine gänzlich würdige Adaption des berühmten Originalwerkes von Charles Dickens.

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Daniel Abraham – Sommer der Zwietracht (Die magischen Städte 1)

Die magischen Städte:

Band 1: „Sommer der Zwietracht“

Das Reich ist vor langer Zeit untergegangen. Heute ist das Land ein Sammelsurium von mehreren mächtigen Großstädten, die jede von einem Khai regiert werden. Doch obwohl das Land zersplittert ist, leben die Menschen seit langem in Frieden. Denn so lange jede Stadt ihren Dichter hat, sind sie unangreifbar. Die Dichter beherrschen die Andaten, mächtige Wesen, die die Städte schützen.

Otah hat die Chance, einer dieser Dichter zu werden. In seiner derzeitigen Situation erscheint ihm diese Möglichkeit allerdings wie ein ferner Traum, den er sich nicht erlauben kann. Der Schulalltag ist schier unerträglich hart und Otah hauptsächlich damit beschäftigt, die Torturen zu überstehen. Bis sich ihm eines Tages der eigentliche Zweck der Schule erschließt. Otah rebelliert …

Im Grunde ist Otah ein recht durchschnittlicher Junge. Er ist zwar von vornehmer Herkunft, aber weder besonders mutig noch besonders klug. Außergewöhnlich ist lediglich die Tatsache, dass er sich dem System verweigert. Ihm fehlt jeglicher Wille zur Macht, ja nicht einmal Reichtum bedeutet ihm etwas. Sein freundliches Wesen macht es ihm leicht, Kontakte zu knüpfen, wirklich einen Platz im Leben zu finden, fällt ihm jedoch schwer.

Seine Geliebte Liat dagegen besitzt eine gehörige Portion Ehrgeiz, zu Otahs Leidwesen nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihn. Gleichzeitig aber fühlt sie sich ihren eigenen Anforderungen nicht gewachsen, und sie ist nicht besonders krisenfest. Liat kann nicht allein sein, sie braucht ständig jemanden zum Anlehnen.

Maati ist der Lehrling des Dichters von Saraykhet, ein gutherziger Junge, der zwar die Schule und die Ausbildung beim Dai, dem Obersten der Dichter, erfolgreich durchlaufen hat, dem allerdings noch die Praxis im Umgang mit Andaten fehlt. Abgesehen davon hat er auch noch keinerlei Lebenserfahrung. Als er in Saraykhet zum ersten Mal selbstständig echte Schwierigkeiten meistern muss, reagiert er hilflos und verunsichert.

Denn sein Lehrer Heshai, im Grunde gutmütig und freundlich, scheint leider nicht nur an Maatis Ausbildung völlig desinteressiert, er ist auch selbst hoffnungslos überfordert. Geschlagen mit einem unansehnlichen Äußeren, einer trübseligen, unverwundenen Vergangenheit und einem ausgeprägten Mangel an Selbstbewusstsein, hat er sich rettungslos dem Alkohol ergeben. Nicht einmal seinen Andaten kann er mehr ordentlich im Zaum halten. Falls er das überhaupt je gekonnt hat …

Samenlos, sein Andat, ist nämlich ein ausgesprochen widerspenstiges Exemplar, das nicht nur den für Andaten typischen Drang hat, aus der Kontrolle des Dichters auszubrechen, sondern außerdem einen ganz persönlichen Hass gegen seinen Meister hegt. Um die Sache komplett zu machen, ist Samenlos auch noch äußerst intelligent und durchtrieben, und so etwas wie Skrupel scheint er nicht zu kennen.

Die Charakterzeichnung hat mir wirklich gut gefallen. Keine der Figuren ist frei von Fehlern, und keine von ihnen lässt sich in ein Schema pressen. Es gibt keinen eindeutigen Helden oder Bösewicht, keinerlei Schwarzweiß-Effekt. Der Autor hat sich nicht auf einen Protagonisten konzentriert, sondern auf eine gute Handvoll. Dadurch ist die Ausarbeitung nicht ganz so detailliert ausgefallen, trotzdem wirken alle seine Hauptcharaktere plastisch und lebendig. Sehr gelungen.

Ebenso gelungen fand ich die Idee der Andaten. Obwohl sich gelegentlich der Ausruf „Ihr Götter!“ findet, spielen Götter im herkömmlichen Sinne bisher keine Rolle. Im Vordergrund stehen die Andaten, gottähnliche, mächtige Wesen, welche die Menschen sich dienstbar gemacht haben. Eigentlich ist selbst der Begriff „Wesen“ schon nicht ganz korrekt, denn Andaten sind keine Wesenheiten, sondern Ideen. Durch die Beschwörung der Dichter wird ihnen eine Gestalt aufgezwungen, die sie in die Lage versetzt, die Realität unmittelbar zu beeinflussen. Die Andaten allerdings empfinden den Körper, in den sie gezwängt sind, als Gefängnis, ihre Bindung an den Dichter als Versklavung.

Die Dichter sind sich dieser Tatsache durchaus bewusst. Ohne die Andaten auskommen will aber niemand. Denn die Andaten sichern ihnen nicht nur militärische, sondern auch wirtschaftliche Vorteile. Und wo besondere Vorteile sind, ist auch besonderer Neid zu finden. Dieser Neid und der Freiheitsdrang der Andaten bilden zusammen ein Pulverfass, das die Städte langfristig gesehen in ziemliche Schwierigkeiten bringen dürfte, zumal das Konkurrenzdenken auch innerhalb der Führungsebene extrem ausgeprägt ist. Kein Sohn eines Khai oder Utkhai kann seinen Vater beerben, solange er noch lebende Brüder hat!

Abgesehen von den Andaten finden sich in diesem Roman allerdings keine weiteren Fantasy-Elemente, was ich dann doch ein wenig schade fand. Die Welt als solche ist zwar nicht uninteressant, lebt aber hauptsächlich von geographischen und kulturellen Kontrasten, die größtenteils nur angedeutet sind. Das lässt den Hintergrund der Geschichte schon fast realistisch wirken. Dem Buch fehlt es an Magie.

Die Handlung steht zunächst hinter dem Entwurf von Welt und Charakteren ein wenig zurück, da der Autor die Bedrohung sehr latent angelegt hat. Alles entwickelt sich schrittweise, ohne Hast oder dramatische Paukenschläge. Der Rahmen, in dem sich die Intrige abspielt, wirkt geradezu alltäglich. Wie es sich für eine Intrige gehört, passiert alles heimlich, leise und sehr indirekt. Schließlich soll ja niemand wissen, worum es wirklich geht. So gelingt es dem Autor, das wahre Ausmaß der Ereignisse bis fast ganz zum Schluss aufzuheben.

Die Kehrseite der Medaille ist, dass sich die Spannung dadurch stark in Grenzen hält. Nicht einmal gegen Ende zieht der Spannungsbogen an, da der Autor die Ausweitung der Bedrohung offenbar ganz auf den nächsten Band verlegt hat. So ist „Sommer der Zwietracht“ ein Buch, das hauptsächlich von seinen gelungenen Charakteren und deren Beziehungen zueinander lebt. Für dieses Mal hat das – zusammen mit dem allmählichen Aufbau der Intrige – gereicht, um nicht langweilig zu werden. Vom nächsten Band erhoffe ich mir allerdings etwas mehr Flair, ein höheres Erzähltempo und einen strafferen Spannungsbogen.

Daniel Abraham lebt mit Frau und Tochter in New Mexico. Bevor er seinen ersten Roman „Sommer der Zwietracht“ verfasste, hat er eine Vielzahl von Kurzgeschichten in Magazinen und Anthologien veröffentlicht, sowie den Kurzroman „Shadow Twin“ in Zusammenarbeit mit Gardner Dozois und George R. R. Martin. Seine Kurzgeschichte „Flat Diane“ wurde für den Nebula Award nominiert. Die Fortsetzung des Zyklus Die magischen Städte, „Winter des Verrats“, soll im März nächsten Jahres erscheinen.

Paperback 444 Seiten
Originaltitel: A Shadow in Summer (The Long Price Quartett 1)
Übersetzung: Andreas Heckmann
ISBN-13: 978-3-442-24446-1

http://www.danielabraham.com/
www.randomhouse.de/blanvalet

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Gabella, Matthieu (Autor) / Jean, Anthony (Zeichner) – Einhorn, Das – Band 1: Der letzte Tempel des Asklepios

_Story_

1565, das Zeitalter der Renaissance: Während in ganz Europa die Religionskriege schwelen, steht die Medizin vor einem revolutionären Umbruch. Die Wissenschaft entdeckt völlig neue Facetten des menschlichen Körpers und steht vor der Aufklärung einiger brisanter Geheimnisse. Als jedoch in Paris gleich mehrere Mediziner tot aufgefunden werden, unterliegen die neuen Resultate einer Verschwörung monströsen Ausmaßes. Ambrosius Paré, königlicher Chirurg und Freidenker, verpflichtet sich der Ermittlungsarbeit und entdeckt ein viel weiter reichendes Phänomen.

Gemeinsam mit den Asklepiaden, einer sektenähnlichen Organisation, stellt er sich den unbekannten Gegnern und begibt sich auf die Spuren verschollener Persönlichkeiten. Dann jedoch wird ihm bewusst, dass auch er auf der Liste derjenigen steht, die zum Abschuss freigegeben sind. Aber just in dem Moment, als er die Gefahr richtig einzuschätzen lernt, nehmen die Dinge eine ungeahnte Wendung. Paré stößt auf Wesen, die nicht nur die Medizin, sondern die gesamte Welt in Frage stellen werden. Alles, woran er je geglaubt hat, scheint plötzlich nur noch ein Mythos zu sein …

_Persönlicher Eindruck_

Auch in diesem Monat beehrt uns der |Splitter|-Verlag wieder mit dem Auftakt einer neuen Serie und desgleichen mit einer phänomenalen Geschichte, die sich wie bislang kein zweiter Comic mit den nach wie vor beliebten Verschwörungstheorien auseinandersetzt, dieses Mal jedoch nicht auf den Klerus bezogen, sondern einzig (und zumindest bis jetzt) allein auf das Wesen des menschlichen Körpers. Matthieu Gabella führt seine Leser zurück ins 16. Jahrhundert und damit in ein Zeitalter, als die Pest noch eine Bedrohung war und die Medizin mitsamt ihrer Glaubensgrundsätze an ihre Grenzen stößt. Ganz Frankreich wird von der Bedrohung des schwarzen Todes überschattet, und lediglich einige Idealisten sehen sich imstande, die Forschung dahingehend zu betreiben, die Gefahr zu beseitigen. Doch Frei- und Querdenkern wird im Paris des Jahres 1565 kein Platz eingeräumt, wie auch Ambrosius Paré schmerzlich erfahren muss. Infolge einer ganzen Reihe aufeinanderfolgender Mysterien stößt er auf das wahre Geheimnis der Asklepiaden und erfährt schließlich von niemand Geringerem als Nostradamus (1503 – 1566) von der tatsächlichen Motivation dieser Organisation.

Jene grobe Rahmengeschichte erlaubt dem Autor die Verwendung eines recht breit gefächerten inhaltlichen Fundus, begonnen mit der improvisierten Einbeziehung der Zeitgeschichte über die Kreation von neuen Mythen und Legenden bis hin zur Integration der Glaubenskriege, die auch vor der Entwicklung in der Medizin keinen Halt machen. Protagonist Paré erfährt von der Existenz sechs zusammengehöriger Tapisserien und ihrer stummen Botschaft und entdeckt bei seiner Aufklärungs- und Ermittlungsarbeit immer mehr gravierende Täuschungen, die seine letzten Jahre als Forscher völlig über den Haufen werfen. Totgeglaubte melden sich zurück, die Asklepiaden gewinnen in ihrer wahren Existenz an neuer Bedeutung, und nicht zuletzt diese seltsamen Kreaturen, deren Fähigkeiten sein anatomisches Denken fast wertlos erscheinen lassen, zerstören selbst seine revolutionären Grundsätze, die ihn bis an den Hof gebracht haben.

Im Zuge dessen entwickelt sich Stück für Stück ein recht komplexes Handlungskonstrukt voller Intrigen und mystischer Begebenheiten, gipfelnd in ständigen Konfrontationen der ebenfalls geheimniskrämerischen Bünde, die sich hier mehr oder minder lose zusammengeschlossen haben, um für Ideale zu kämpfen, deren tatsächliches Leitbild wiederum nur vage zu erkennen ist. Daraus ergibt sich für den Leser ein recht schwieriger Einstieg, weil auf gleich allen Ebenen Ungereimtheiten entstehen, die in diesem Fall jedoch für den gesamten Verlauf förderlich sind, da sie den von der ersten Seite an kreierten Mythos aufrechterhalten, jegliche Überraschungseffekte gewährleisten und der Geschichte unheimlich viel Spielraum ermöglichen, so dass ein Höchstmaß an Spannung schon nach wenigen Skizzen selbstverständlich erscheint.

Bis zuletzt entsteht so ein geradezu fantastisches Epos voller fesselnder Eindrücke, rasendem Tempo und wagemutigen Inhalten. Dank Gabellas Partner Anthony Jean ist es zudem gelungen, die brillante Story auch mit den perfekten Rahmenbedingungen auszustatten. Dazu gehört neben beeindrucken Illustrationen auch die packende Erzählatmosphäre, die sich in wirklich allen Nuancen der Handlung widerspiegelt, sei es nun bei der Einführung der tragenden Persönlichkeiten oder aber in der Gestaltung des Settings. Letzten Endes kann man über dieses Erstwerk aus Gambellas neuer Serie daher auch nur staunen; „Der letzte Tempel des Asklepios“ ist ein zeitgenössisches Comic-Monument, in dem historische Schwerpunkte auf fabelhafte Art und Weise mit einem fiktiven Mythos verschmelzen. Selbst nach all dem, was der Verlag mittlerweile vertrieben bzw. publiziert hat, schleicht sich bei „Das Einhorn“ erneut der Eindruck ein, man habe |das| Comic-Event des Jahres unter seine Fittiche genommen. Wer nämlich mitreden möchte, |muss| hier zugreifen!

http://www.splitter-verlag.de

Hawking, Lucy & Stephen – geheime Schlüssel zum Universum, Der

Das Weltall, unendliche Weiten – kaum etwas fasziniert so sehr wie der Kosmos, doch kaum etwas ist schwieriger zu begreifen als die Physik, die sich dort abspielt. Im Weltall sind schwarze Löcher verborgen, wir sehen Sterne am Nachthimmel, die bereits lange ihr Leben ausgehaucht haben und doch trotzdem noch für uns leuchten, und wir entdecken immer noch neue Physik. Das Weltall birgt für die Menschen noch so viele Geheimnisse, dass es kaum wundert, dass sich selbst der Nicht-Physiker dafür interessiert, was jenseits unserer Erde zu finden ist und was sich außerhalb unserer Galaxie abspielt. Und auch Kinder fragen schon früh nach den Sternen am Himmel. Dass man ihnen einfache Antworten geben kann, das beweisen Lucy und Stephen Hawking in ihrem neuesten Gemeinschaftswerk.

_Schwein gehabt_

Auf der Suche nach seinem entlaufenen Schwein Freddy krabbelt der kleine George in den nachbarlichen Garten, auch wenn ihm seine Eltern dies strengstens verboten haben. Aber das ist nicht das Einzige, was sie ihm verbieten. George darf keinen Computer besitzen und die Familie kommt auch ohne Fernseher aus, denn all diese technischen Neuerungen sind der Anfang vom Ende unserer Erde – so glauben zumindest Georges Eltern. Dass er deswegen in der Schule gehänselt wird und seine Schulkameraden über die merkwürdigen Pausenbrote lachen, das ahnen Georges Eltern wahrscheinlich nicht. Doch an diesem einen Abend muss er sich ihnen einfach widersetzen, denn Freddy ist sein einziger richtiger Freund, und wenn es in Nachbars Garten nun wirklich gefährlich ist, dann muss er sein geliebtes Schwein eben retten.

Langsam geht er auf das Nachbarhaus zu, dessen Eingangstüre geöffnet steht. George schleicht sich ins fremde Haus und folgt den Spuren seines Schweins, das er in der Küche findet, wo es eine gefährlich aussehende dunkelrote Flüssigkeit trinkt. George glaubt sofort an eine Falle und vermutet Gift in der Schüssel, doch das Mädchen, das neben Freddy steht, lacht ihn nur aus, denn es war lediglich Johannisbeersaft. Das fremde Mädchen, das sich als Annie vorstellt, kommt George etwas komisch vor, doch noch hat er nicht ihren Vater Eric kennengelernt, der Physiker ist und den leistungsstärksten und erstaunlichsten Computer der ganzen Welt besitzt, nämlich Cosmos. Cosmos ist allerdings kein gewöhnlicher Rechner, denn Cosmos eröffnet den Mitgliedern einer geheimen Gemeinschaft die unendlichen Weiten des Weltalls. So lernt George an diesem Abend viel über den Kosmos.

Am nächsten Tag verplappert er sich aus Versehen in der Schule und verrät seinem verhassten Lehrer Dr. Reeper, dass sein Nachbar über einen gar wunderlichen Computer verfügt. Reeper wird gleich auffallend interessiert und führt offensichtlich etwas im Schilde. Noch weiß George allerdings nicht, dass Cosmos nicht nur Filme über das Weltall zeigen kann, sondern er kann seine Nutzer direkt dorthin versetzen. Bei seinem ersten Ausflug zu den fernen Planeten, die er per Komet bereist, merkt George allerdings schnell, dass diese Ausflüge sehr gefährlich sein können. Nur mit Mühe und Not kann er sich mit Annie zusammen wieder in das nachbarliche Wohnzimmer retten. Es gibt allerdings noch viel gefährlichere Abenteuer zu überstehen, bei denen Dr. Reeper seine schmutzigen Finger im Spiel hat …

_Logbuch des Kosmos_

Mit Unterstützung ihres Vaters, des berühmten Kosmologen Stephen Hawking, hat Lucy Hawking ein fantastisches Kinderbuch geschrieben, das, in kindgerechten Worten geschrieben und in eine wunderbare Geschichte verpackt, die Grundlagen der Astrophysik erläutert. Gemeinsam mit George lernt der Leser viel über unser Planetensystem, wir erfahren, welche Planeten zu unserem Sonnensystem gehören, dass Pluto zum Zwergplaneten degradiert wurde, damit aber nicht alleine dasteht, denn zum Sonnensystem zählen noch zwei weitere Zwergplaneten. Wir reisen zusammen mit George und Annie auf einem Kometen zu den beiden Riesenplaneten Jupiter und Saturn und erfahren ganz nebenbei die wichtigsten Informationen über die beiden Planeten und ihre Monde.

Immer wieder sind zwischendurch Infotafeln abgedruckt, welche die physikalischen Hintergründe derjenigen Dinge erklären, die George und Annie gerade erleben. Wenn sie beispielsweise auf einem Kometen an unseren Planeten vorbeirauschen, sind Informationen über die Planeten und das Sonnensystem abgedruckt. Aber auch Grundlagen wie das Licht und seine Geschwindigkeit, das Teilchenmodell, Aufbau der Materie und der Unterschied zwischen Masse und Gewicht werden so einfach und verständlich eingeführt, dass ich mir sicher bin, dass ein Schüler ab etwa 12 Jahren diesen Ausführungen folgen kann. Während das Buch zunächst mit recht einfachen Fakten beginnt, steigert sich das Niveau gen Ende, wenn auch schwarze Löcher, weiße Zwerge, Supernovae oder Neutronensterne thematisiert werden. Selbstverständlich sind viele Dinge vereinfacht dargestellt, aber trotzdem werden dabei keine physikalischen Fakten verdreht.

Ganz nebenbei thematisieren die beiden Hawkings auch die Frage nach Leben jenseits der Erde, sie erzählen von den Exoplaneten und von der Entdeckung von Gliese 581c, der eventuell über Wasser verfügt. Dank Georges umweltbewussten Eltern geht es auch um die Frage, ob man lieber nach einem Exoplaneten suchen soll, der ebenfalls bewohnbar ist, oder ob es nicht sinnvoller ist, die Erde zu schützen und bewohnbar zu halten. Auf diese Frage gibt es zwar keine eindeutige Antwort, aber auch George erfasst schnell, wo der Kern des Problems verborgen liegt.

_Prächtiges Universum_

Optisch ist das Buch ein Hochgenuss. Entfernt man den bunt bedruckten Schutzumschlag, so zeigt sich ein ebenfalls bedruckter Bucheinband, der das gleiche Motiv wie der Umschlag trägt. Die Schrift ist kindgerecht groß und mit angenehmem Zeilenabstand gedruckt. Die Infotafeln, die zwischendurch die wesentliche Physik erläutern, sind zwar in Schwarzweiß gehalten, dennoch sind sie optisch so nett gestaltet, dass der Leser sich sofort neugierig in das Studium der Infotafeln vertieft. Aber was wäre ein Buch über den Kosmos ohne die faszinierenden Bilder, die uns dank Raumsonden oder Teleskopen inzwischen zur Verfügung stehen? So sind auch hier an vier Stellen jeweils vier Blätter Hochglanzpapier eingefügt, die in bestechenden Farben die faszinierendsten Aufnahmen aus dem Weltall zeigen. Wir sehen die Planeten und ihre Monde, das Zentrum der Milchstraße, Kometen oder auch die Andromeda-Galaxie. Jedes Bild ist mit einer informativen Bildlegende versehen, sodass man immer genau weiß, was auf dem Bild zu sehen ist.

Aber nicht nur die Physik und die optische Gestaltung sind überaus gelungen. Die Rahmengeschichte, die Lucy Hawking erzählt, ist nicht minder spannend und ergreifend. Wir lernen den sympathischen George kennen, mit dem wir gleich mitfühlen, wenn er von seinen Mitschülern tyrannisiert wird. Als er dann in die faszinierende Welt seiner Nachbarn eintauchen und seine eigenen Eltern vergessen kann, ist er glücklich und bemerkt zum ersten Mal, dass er frappierende Wissenslücken hat, die ihm vorher nie bewusst gewesen sind. Doch kaum haben Annie und Eric ihn mit den ersten Informationen über das Universum gefüttert, ist Georges Ehrgeiz geweckt; er will mehr darüber wissen und meldet sich später sogar zu einem Wissenschaftswettbewerb an, bei dem er einen Vortrag über das Weltall halten will.

Doch da ist auch noch Dr. Reeper, der dem Leser (und nicht nur ihm) von Anfang an unsympathisch ist. Reeper führt etwas im Schilde, das ist sofort klar, doch welch perfiden Plan er wirklich schmiedet, das wird erst im Laufe der Geschichte deutlich. Dass er es auf Cosmos und Eric abgesehen hat, kann man sich denken, doch reicht es ihm nicht, Cosmos für sich zu gewinnen, nein, er will Eric vernichten und loswerden. Auch George ahnt nicht, welch schreckliche Pläne sein Lehrer hat, doch wenn Reeper Eric immer näher kommt, wittert man sogleich die Gefahr, die zu einem richtig gelungenen Spannungsbogen führt. Obwohl dies ja „nur“ ein Kinder- oder Jugendbuch ist, muss ich doch gestehen, dass die beiden Hawkings mich von der ersten Seite an mitgerissen haben und die Geschichte auch für den erwachsenen Leser so spannend wird, dass man das Buch erst dann aus der Hand legen kann, wenn man sich von George verabschieden muss, weil das Buch zu Ende ist.

_Zwei kleine Weltraumreisende erobern das Universum_

Auch die Figurenzeichnung ist lobend hervorzuheben, denn mit George und Annie präsentieren uns die Hawkings zwei neugierige Kinder, die dem Geheimnis des Universums auf die Spur kommen möchten. George hat alleine schon dank seines niedlichen Schweines Freddy von Anfang an einen Sympathiebonus, aber auch Annie mit ihrer blühenden Fantasie, die erst von sich behauptet, eine Waise zu sein und später dann aber meint, ihre Mutter würde als Tänzerin in Moskau arbeiten (was sie natürlich nicht tut), wächst einem schnell ans Herz. Wie es im Zuge der Emanzipation nicht weiter verwundert, ist hier Annie diejenige, die mehr über Physik weiß als George, dem sein Unwissen aber bald so peinlich wird, dass er alles daransetzt, so schnell und so viel wie möglich dazuzulernen. Beide Protagonisten sind hervorragende Identifikationsfiguren für den jugendlichen Leser, aber auch ich konnte mich wunderbar in die Geschichte hineinversetzen.

Selbst der sensible Supercomputer Cosmos wird einem regelrecht sympathisch, wenn er vor sich hinsingt oder dem ekelhaften Lehrer Reeper nicht verraten will, was denn nun der geheime Schlüssel ins Universum ist. Cosmos erhält so menschliche Züge, dass man am Ende auch um sein Leben fürchtet. Doch auch der Gegenpart ist wunderbar besetzt mit Dr. Reeper, der keinen freundlichen Charakterzug erhält, Georges verhasste Mitschüler zu seinen Gehilfen macht und ihnen aufträgt, Cosmos zu entwenden. Natürlich sind alle Figuren etwas überspitzt dargestellt, aber in Anbetracht des geringen Buchumfangs von nur 263 Seiten ist es absolut erstaunlich, wie gut wir die einzelnen Charaktere überhaupt kennenlernen.

_Lob auf ganzer Linie_

Insgesamt ist „Der geheime Schlüssel zum Universum“ für mich ein ganz großer Wurf und schon jetzt ein Geschenktipp für Weihnachten, denn Lucy und Stephen Hawking schaffen es in kindgerechter und verständlicher Weise, dem Leser die Grundzüge des Universums zu erklären, und das auf so unterhaltsame und spannende Weise, dass man kaum merkt, dass man nebenbei auch etwas lernt. Die Rahmengeschichte überzeugt so sehr, dass sie selbst den erwachsenen Leser fesseln kann und auch die Charaktere überzeugen auf ganzer Linie. Einzig der Preis von knapp 17 € schmerzt ein wenig in Anbetracht der Tatsache, dass man das Buch in knapp drei Stunden bereits durchgelesen hat, doch auch davon sollte man sich nicht abschrecken lassen, denn dieses Buch ist etwas für die ganze Familie. Unbedingte Empfehlung!

http://www.cbj-verlag.de

|Ergänzend dazu:|
[„Die kürzeste Geschichte der Zeit“ 3119

Litwinenko, Alexander / Felshtinsky, Yuri – Eiszeit im Kreml. Das Komplott der russischen Geheimdienste

Warum musste der ehemalige Agent und Offizier des FSB Alexander Litwinenko sterben? Wer hatte Interesse daran, den jungen Mann mit der radioaktiven Substanz Polonium zu liquidieren?

Nach dem Zerfall des Sowjetreiches und nach Gorbatschows Perestroika wurden viele kleine Staaten der ehemaligen Großmacht in eine Arena der politischen und wirtschaftlichen Konflikte gestoßen. Hochmotiviert beschlossen viele dieser Vielvölkerstaaten, einen eigenen Staat gründen zu wollen, um unabhängig zu sein von der Willkür des Moskauer Regimes. Aber eine Organisation der Eigenstaatlichkeit führte in dieser Region immer zu flächenausbreitenden Konflikten und Provokationen.

1990 rief der Volkskongress der Tschetschenen die unabhängige Republik aus und verabschiedete eine Resolution über ihre staatliche Souveränität. Wirtschaftlich betrachtet, ist Tschetschenien durchaus in der Lage, unabhängig vom Kreml zu existieren, und da der Agrarstaat zudem noch über beachtliche Erdölvorräte verfügt, konnte sich der freie Gedanke des Volkskongresses schnell in den Köpfen der Politiker entfalten.

Doch es hatten sich schon zu viele Völker des alten Sowjetreiches gegen den Kreml aufgebäumt; trotz aller Reformen und Revolutionen, der offiziellen Akzeptanz von Menschenrechten und der scheinbaren Billigung der freien Presse ist der Kreml nicht gewillt, ehemals angeschlossenen Ländern ihre Freiheit zu gewähren. Wo käme man schließlich hin, wenn das ehemals mächtige und größte Land der Erde in viele kleine und unbedeutende Stücke zerbräche?

Transparenz und Offenheit der Staatsführung sind scheinbar Grenzen gesetzt. Die neue demokratische Basis eines Boris Jelzin verfehlte ihr Ziel. Große Teile der Wirtschaft wurden zu schnell privatisiert, was zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft und hoher Inflation führte, was wiederum eine politische Destabilisierung zur Folge hatte. Bis zum Amtsantritt von Wladimir Putin gab es viele innerpolitische Konflikte, aber hat sich seitdem wirklich alles zum Guten entwickelt?

Der Kreml war jedenfalls nicht gewillt, Tschetschenen in die Unabhängigkeit ziehen zu lassen. Ein Konflikt, der in einen Krieg münden würde, war in den Augen vieler Analysten und politischen Beobachter unausweichlich. Am 11. Dezember 1994 erteilte der russische Präsident Boris Jelzin den Befehlt zur militärischen Intervention. Als Grund für das Eingreifen russischer Truppen wurde der Schutz der nicht tschetschenischen Bevölkerung genannt, die seit der erklärten Unabhängigkeit der alltäglichen Rechtlosigkeit und Kriminalität schutzlos ausgeliefert ist.

1997 endete ein Krieg, der etwa 80.000 Menschen das Leben kostete, mit einem Friedensvertrag zwischen Tschetschenien und Russland. Ein brüchiger und sensibler Frieden, der immer wieder von beiden Seiten durch Anschläge und Vergeltungsmaßnahmen überschattet wurde. Selbst die Warlords unter den Tschetschenen waren sich uneinig um Gebiete, Vorräte und Interessen.

Auch nach dem ersten Krieg gab es Personen und Gruppen mit ganz eigenen Motivationen, den Krieg gegen die tschetschenischen Rebellen weiterzuführen. Um dies zu erreichen, sind die Grenzen zwischen Legalität und Verbrechen fließend, ja sogar in einer Koexistenz gefördert worden.

„Eiszeit im Kreml“ von Alexander Litwinenko versucht diese Thesen zu manifestieren. Laut der Theorie des Geheimdienstmitarbeiters haben die inländischen Geheimdienste Terroranschläge auf russischem Territorium und auch anderweitig verübt, um diese den radikalen separatistischen Terrorgruppen der Tschetschenen in die Schuhe zu schieben. Aufgrund dieser Anschläge könnte man als Vergeltungsaktion einen zweiten Krieg entfachen, um zu Ende zu bringen, was im ersten offenen Konflikt scheinbar nicht abgeschlossen werden konnte.

_Inhalte_

Mit dem Zusammenbruch der Wirtschaft in Russland und der neuen Armut sowie dem zugleich einseitig wachsenden Reichtum hatte das organisierte Verbrechen eine wahre Hochkonjunktur zu verzeichnen, losgelöst von staatlichen Institutionen, die kontrolliert und auf höchster politischer Ebene manipuliert haben. Die Geheimdienste – allein in der Hauptstadt Moskau gibt es wohl an die dreißig – haben sehr schnell gelernt, ihre Macht zu stärken und auszubauen.

Für den Westen war und ist Russland zurzeit einfach nicht transparent und nachvollziehbar genug. Glaubt man dem derzeitigen Präsidenten, gibt es nicht viele innerpolitische Probleme. Schenkt man aber den Kritikern Putins Glauben, so ist das Land durchsetzt von Korruption und Kriminalität, auch von staatlicher Seite aus. Reporter, Staatsanwälte, Richter und Politiker werden bedroht, eingeschüchtert und nicht wenige Male trauern ihre Familien um sie, oftmals verschwinden diese Kritiker auch, ohne Spuren zu hinterlassen.

Schwerverbrecher, die von Abteilungen der Geheimdienste gefasst werden, stellt man vor die Wahl, entweder für den „Staat“ scheinbar legale Aktionen zu leiten oder aber für die nächsten Jahre oder für immer in einem Arbeitslager inhaftiert zu werden. Vielen fällt die Wahl nicht schwer, und schon finden beide Seiten Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Kriminelle Kanäle werden genutzt, um unliebsame Personen zu liquidieren, Waffen und Drogen zu schmuggeln oder aber verdeckte Kriegsverbrechen in Tschetschenien zu begehen.

Wer aber kontrollierte diese dem Anschein nach willkürlich handelnden Geheimdiensten? Wer zog die Fäden hinter dem politischen Vorhang und verantwortete diese Vorgänge? Aus den verschiedenen Medien und Berichten wissen wir, dass es in Russland eine Reihe von Bombenanschlägen sowie weitere terroristische Aktionen gab. Von offizieller staatlicher Seite aus wurden immer wieder separatistische Gruppierungen der Tschetschenen beschuldigt. Doch verfügten solche Gruppen über eine derartig professionelle Logistik, um Waffen, Sprengstoff und auch die Terroristen selbst nach Russland zu bringen? Selbst die finanziellen Mittel stehen hier zur Debatte. Und vor allem: Ist es bei so vielen aktiven Geheimdiensten glaubhaft, dass kein Informant von diesen exakt geplanten Anschlägen gewusst haben soll?

Am 4. September 1999 explodierte in Buinakask eine Autobombe vor einem Wohnhaus. Es gab offiziell 64 Tote. Bis zum 22. September 1999 gab es eine regelrechte Serie von Terroranschlägen in Russland, selbst die Hauptstadt Moskau blieb von diesen Anschlägen nicht verschont. Die offiziellen Statements des Kremls verurteilten immer wieder tschetschenische Rebellen für die Anschläge.

In Rjasan ereignete sich dann am 22. September 1999 etwas sehr Fragwürdiges. Einem aufmerksamen Bewohner eines Wohnhauses fiel ein Mann auf, der schwere Zuckersäcke aus seinem Auto in den Keller schleppte. Er rief die zuständige Miliz, die das Gebäude evakuieren ließ; eine erste Analyse der Säcke erbrachte das Ergebnis, dass es sich hierbei um Sprengstoff handelte. Alle Straßen wurden abgesperrt und überwacht, allerdings ohne Ergebnis. Ein Mitarbeiter der Telefongesellschaft hört ein Gespräch mit, in dem der Anrufer jemanden aufforderte, vorsichtig zu sein, denn die Straßen in Rjasan seien gesperrt und überwacht. Die Telefonnummer gehörte zu einem FSB-Büro, also dem Geheimdienst in Rjasan. 48 Stunden später erklärte der FSB offiziell, dass es bei diesem Vorfall um einen Test, ein Training gegangen sein soll. Offiziell sei die sichergestellte Substanz kein Sprengstoff gewesen. Der Untersuchungsausschuss widersprach sich letztlich in seinen Aussagen und es gab kein abschließendes Ergebnis.

Selbst als die Duma zwei Anträge auf eine parlamentarische Untersuchung stellte, wurden diese von Kreml abgewiesen. Trotzdem ließen die Mitglieder des Volksrates nicht in ihrem Interesse nach und bildeten einen Ausschuss, um die Bombenanschläge zu untersuchen. Zwei von vier führenden Mitgliedern wurden ermordet – sie hatten die These vertreten, der FSB stecke hinter diesen Anschlägen.

_Kritik_

Alexander Litwinenko unterstützt mit seinen Aussagen viele Thesen westlicher und auch nationaler Journalisten. Nicht wenige Kritiker, wie auch Litwinenko selbst, wurden wegen solcher Spekulationen verfolgt und umgebracht; Theorien, die zwar nicht zweifelsfrei beweisbar sind, aber doch unzählige und kritische Fragen aufwerfen, die den russischen Machtapparat in keinem guten Licht dastehen lassen

Die sehr bekannte russische Journalistin Anna Politkowskaja, die am 7.Oktober 2006 von einem Auftragskiller mit zwei Schüssen in den Kopf getötet wurde, wurde in einem ihrer letzten Interviews gefragt, warum sie sich solcher einer Gefahr aussetze. Ruhig und überlegt beantwortete die Journalisten die ihr gestellte Frage: „Weil ich es muß.“

Was trieb den Ex-Agenten und Familienvater dazu an, eine solche kritische Meinung gegenüber dem Kreml, insbesondere gegenüber Putin zu vertreten? Warum hat man – unabhängig davon, welche Fraktion die Ausführung zu verantworten hat – Litwinenko auf solch eine spektakuläre Art umbringen lassen?

Eines ist klar geworden, wenn man recherchiert und hinterfragt: Der Geheimdienst FSB steckt tief in kriminelle Machenschaften, die weit in die Politik und Wirtschaft hineinreichen. Sehen wir dies mit rationeller Distanz, so bleibt einzig und alleine die Möglichkeit stehen, dass der Geheimdienst gleich mehrere Interessen vertritt:

– den nächsten Tschetschenien-Krieg auszulösen,
– die Kriminalität staatlich zu organisieren und kontrollieren,
– Kritiker des Machtapparates zu überwachen, einzuschüchtern und ggf. zu liquidieren.
– Kontrolle der Medien auf russischer Seite auszuüben.

Doch was hat Wladimir Putin für eine Rolle in diesem gefährlichen Spiel inne? Er selbst war ein hoher Offizier des KGB und später des FSB. Viele Strukturen und Positionen innerhalb der Geheimdienste hat er selbst geschaffen, und durch seine Präsidentschaft ist er faktisch eine diktatorische Herrschaftsform eingegangen.

„Eiszeit im Kreml“ ist explosiver Stoff in Buchform, der für die russische Regierung mehr als nur unbequem ist. In Russland natürlich verboten, gelangt dieses Buch nur über schwarze Kanäle direkt in das Land, doch nicht nur durch die Lektüre dieses Buches werden zweifelnde Stimmen in der Bevölkerung laut. Doch ist es still geworden, ein angstvolles Schweigen breitet sich aus, denn so viele mysteriöse Todes- und Unfälle kann es gar nicht geben.

Wer regiert Russland? Alexander Litwinenko sagte aus, dass allein Putin die politischen Weichen stellt, und mitsamt seinen Kontakten in Geheimdienstkreisen entwickelte Putin sich in den letzten Jahren zu einem ‚harten‘, abgeklärten und kalten Politiker.

Nach der Lektüre des Buches muss man großen Respekt für alle Kritiker vom Schlage eines Litwinenko empfinden. Er wusste ganz genau, dass es für ihn nach seiner Flucht kein ruhiges Leben mehr geben würde, sondern nur noch die Flucht nach vorne, die Konfrontation mit dem Regime, das offenkundig jegliche Reformen wie Menschenrechte und Pressefreiheit mit Füßen tritt. Es muss solche Menschen geben, die wissen, in welche Gefahr sie sich begeben, sich aber nicht einschüchtern lassen, die aufbegehren und Diskussionen suchen, die hinterfragen und Zweifel schüren. Ich zolle Alexander Litwinenko und der ebenfalls ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja hohen und aufrichtig gemeinten Respekt, in der Hoffnung, dass die westlichen Länder vorsichtiger und skeptischer gegenüber der russischen Regierung werden, dass unabhängige und internationale Gremien die Todesfälle aufklären und Zeichen setzen.

Ich kann das Buch ähnlich wie [„Tod eines Dissidenten“ 3925 jedem empfehlen, der einen skeptischen Blick hinter die politische Bühne des Terrorismus und der Nachrichtendienste werfen möchte. Ich bin mir sicher, dass sich vieles aufklären wird und wir später vielleicht auch sagen können: Siehst du, er hatte Recht und ist dafür gestorben, aber nicht umsonst, denn er hat vielen die Augen und Ohren geöffnet.

_Die Autoren_

Alexander W. Litwinenko, 1962 in Woronesch geboren, war ab 1988 in der Spionageabwehr des KGB tätig und an Einsätzen in verschiedenen Konfliktherden der Sowjetunion und später Russlands beteiligt. In der KGB-Nachfolgeorganisation FSB wurde die Bekämpfung von Terrorismus und organisiertem Verbrechen zu seinem Spezialgebiet. 1998 trat er erstmals als Kritiker des russischen Machtapparats an die Öffentlichkeit. Nach mehreren Verhaftungen und Strafverfahren floh er 2000 nach London, wo ihm politisches Asyl gewährt wurde und er schließlich im Oktober 2006 die britische Staatsbürgerschaft erhielt. Bis zu seiner Ermordung im November 2006 arbeitete er in England als Journalist und Autor.

Yuri G. Felshtinsky (Juri G. Felschtinski) wurde 1956 in Moskau geboren. Er begann 1974 ein Geschichtsstudium in seiner Geburtsstadt. Nach seiner Emigration in die USA setzte er sein Studium 1978 an der Brandeis University fort. An der Rutgers University erhielt er den Doktorgrad im Fach Geschichte. 1993 verteidigte er eine weitere Doktorarbeit am Historischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften. In der Folgezeit trat Felshtinsky als Herausgeber und Buchautor in Erscheinung.

Udo Rennert, Jahrgang 1938, übersetzt vorwiegend aus dem Englischen Bücher zur europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Zu den von ihm übersetzten Autoren zählen Robert Conquest, Richard Pipes, Harold James, Francis Fukuyama, Eric Hobsbawm, Raul Hilberg, Richard Evans, Richard Overy und David Blackbourn.

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Allende, Isabel – Inés meines Herzens

Letztes Jahr erst war Isabel Allende mit ihrem Buch [„Mein erfundenes Land“ 2979 in Deutschland auf Lesereise. Und schon ein Jahr später, zu ihrem 65. Geburtstag, ist sie wieder unterwegs: Dieses Mal hat sie den historischen Roman „Inés meines Herzens“ im Gepäck.

Ganze fünfhundert Jahre in die Vergangenheit entführt Allende den Leser in ihrem neuesten Roman, um ihm Inés Suárez vorzustellen, die historisch verbürgte Mitbegründerin Chiles. Als Autobiographie getarnt, schildert Allende Inés‘ Leben – ihre Lieben, Leidenschaften und Abenteuer – und läuft damit einmal wieder zu literarischer Hochform auf: „Inés meines Herzens“ ist mit Leichtigkeit Allendes bester Roman seit langem.

Inés wird 1507 in Plasencia in der Extremadura geboren. Sie ist Analphabetin, kann aber gut nähen, kochen und heilen. Sie heiratet Juan de Malaga, einen Spieler und Weiberheld, der jedoch im Bett ein echter Verführer ist und Inés in die Künste der körperlichen Liebe einweiht – eine Unterweisung, von der sie ihr ganzes Leben lang zehren soll. Die beiden haben, außer ihrer Kompatibilität im Bett, kaum etwas gemein, und so ist Inés kaum geknickt, als sich Juan ohne ein Wort des Abschieds in die „Neuen Indien“ = Südamerika) einschifft. Wie so viele andere vor ihm, hofft auch Juan darauf, in der Neuen Welt schnell das ganz große Geld zu machen. El Dorado lockt …

Die lebenslustige Inés sieht sich in einer Zwickmühle. Zwar ohne Mann, aber doch keine Witwe, kann sie nicht wieder heiraten. Als sie erkennt, dass sie in Spanien nur noch Nähen und Kochen erwarten, setzt sie alles daran, ihrem Mann nach Amerika zu folgen. Im Gegensatz zu Juan locken sie weder Geld noch Gold. Stattdessen ist es die zweite Chance, die sie reizt – die Möglichkeit eines Neuanfangs weit weg von ihrer Heimat.

Schon bald nach der Überfahrt stellt sich heraus, dass Juan das Zeitliche gesegnet hat. Inés findet, etwas Besseres hätte ihr kaum widerfahren können, schließlich ist sie als Witwe nun wieder frei. Sie lässt sich zunächst in Cuzco (Peru) nieder und verdingt sich als Näherin und Köchin. Als ihr eines Nachts ein aufdringlicher Schürzenjäger nachstellt, wird sie von Pedro Valdivia gerettet. Der schlägt den Lüstling kurzerhand in die Flucht und sinkt sodann mit Inés in die Federn.

Inés wird die Geliebte des Kommandeurs und gibt zunächst die Liebeslektionen ihres verstorbenen Mannes an Pedro weiter. Dieser hat zwar eine Frau in Spanien, doch hält sich in den Neuen Indien jeder Spanier eine ganze Armada von Mätressen, und so stößt sich niemand an dem Paar. Selbst als Pedro eine Expedition nach Chile auf die Beine stellt, ist Inés mit dabei. Sie findet für die wandernde Schar Wasser in der Wüste (per Wünschelrute), sie kämpft an vorderster Front gegen die Indios und sie ist Valdivias Vertraute. Und doch hält das Schicksal noch einen dritten Mann für Inés bereit …

Wieder einmal hat sich Isabel Allende des Schicksals einer starken Frau angenommen. Eine wie Inés gibt es in jedem Allende-Roman: Sie ist stark, unabhängig, mutig, abenteuerlustig, leidenschaftlich, loyal und auch etwas skurril und verschroben. Überlebensgroß, so stellt sie Allende dar. Manche Kritiker werfen ihr genau dies vor: aus einer historischen Figur des 16. Jahrhunderts eine moderne Heldin gemacht zu haben. Sicher, diese Taktik wirft einige Probleme auf. Inés ist zu feministisch, teilweise zu kritisch gegenüber der Eroberung des Kontinents, als dass der Leser tatsächlich glauben mag, hier wirklich authentische Empfindungen eines Zeitzeugen zu lesen. Inés ist mitfühlend, ja gar verständnisvoll gegenüber den Mapuche, den Eingeborenen Chiles, die es zu vertreiben gilt. Umso seltsamer mutet dann an, wenn sie (wie historisch belegt ist) beim Angriff der Mapuche auf das neugegründete Santiago sieben Geiseln eigenhändig die Köpfe abschlägt, um sie den Angreifern als Abschreckung vor die Füße zu werfen. Solche Episoden vertragen sich nicht mit der sonst so empfindsamen Inés. Allende ist sich der Diskrepanz bewusst und muss sich mit einem Kniff behelfen: In der Retrospektive kann sich Inés ihre Tat selbst nicht mehr erklären, und so macht es nichts, wenn der Leser sie auch nicht nachempfinden kann.

Trotzdem, Inés als moderner Charakter, als Sympathieträger für den Leser bricht dem Roman keineswegs das Genick. Ganz im Gegenteil, Inés ist das Zentrum, um das sich die Handlung dreht. Wäre dieser Charakter kein Sympathieträger, böte er keine Identifikationsfläche für den Leser, würde der ganze Roman daran kranken. Und so ist es nicht verwunderlich, dass sich Allende entscheidet, ihre Hauptfigur so faszinierend wie möglich zu gestalten. Das Buch profitiert davon.

„Inés meines Herzens“ ist auch als historischer Roman überzeugend. In einem Genre, das viel zu oft mit 1000-Seiten-Büchern daherkommt, die sich leicht auf die Hälfte zusammenkürzen ließen, liefert sie einen Schmöker mit kaum 400 Seiten ab, der sich so schlank präsentiert, dass sich nirgends etwas Überflüssiges finden lässt. Das führt natürlich auch dazu, dass die Lektüre immer spannend und unterhaltsam bleibt. Darüber hinaus erscheint Allende auf den Seiten des Romans so erzählfreudig wie lange nicht mehr, und so ist es eine wahre Freude, ihr in die Extremadura, auf den Atlantikkreuzer, nach Peru, in die Wildnis zu folgen.

Apropos Wildnis: Schon immer legte Isabel Allende besonderen Wert auf Sinnlichkeit. Wenn sie die Liebe beschreibt, dann sind das Passagen, die das Wiederlesen und das Lautlesen lohnen. In „Inés meines Herzens“ kommt nun eine neue Form der Sinnlichkeit dazu: die Sinnlichkeit der unberührten Natur. Wenn Allende Inés von Peru und Chile erzählen lässt, von der Wildnis, die erst noch gebändigt werden will, dem Artenreichtum von Flora und Fauna, dann wähnt man sich fast mit ihr an diesem vergangenen Ort. Alles ist lauter, chaotischer, farbenprächtiger und beeindruckender, als wir es von unserer heutigen Natur kennen. Und so schwingt immer auch ein wenig Bedauern mit, dass es immer weniger Möglichkeiten gibt, unberührte Natur derartig zu erleben.

„Inés meines Herzens“ ist ein Roman, der zum genüsslichen Schmökern einlädt. Sicher, man könnte darüber diskutieren, ob die Eroberung der neuen Welt (und die damit einhergehende Entrechtung der Eingeborenen) nicht kritischer behandelt werden müsse. Man könnte darüber diskutieren, wo die historische Inés aufhört und die Allende-Inés anfängt. Doch mal ehrlich, will man das, wenn man stattdessen auch einen fesselnden Roman genießen kann?

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Kobayashi, Yasuko (Autorin) / Sumita, Kazasa (Zeichnerin) – Witchblade 1

_Story_

Die junge Highschool-Schülerin Ibaraki Takeru gerät Nacht für Nacht wieder mit denselben fürchterlichen Visionen aneinander. In einem anliegenden Lagerhaus stößt sie während ihres Alptraums auf Bilder und Erscheinungen von Dämonen und grausamen Wesen. Als sie eines Tages ins Haus ihrer Großmutter zurückkehrt, erfährt Takeru die ganze Wahrheit hinter diesen Nachtmahren.

Tatsächlich hält Seishu in der Lagerhalle ein mythisches Geheimnis verborgen, eine Waffe, deren Missbrauch verheerende Ausmaße annehmen kann. Während ihrer ersten Konfrontation wird Takeru bereits von der Witchblade übermannt und sieht einem Schicksal als Dämonin entgegen. Lediglich ihr Schulfreund Minamoto Kou steht ihr in diesen schweren Zeiten zur Seite. Doch ausgerechnet er ist der Nachfahre einer Familie von Dämonenjägern und dazu gezwungen, die Traditionen seines Ursprungs pflichtbewusst aufrechtzuerhalten.

_Persönlicher Eindruck_

Comic-Liebhabern wird der Titel „Witchblade“ längst ein Begriff sein, wurde doch die gleichnamige US-Serie mit wachsendem Erfolg auch hierzulande schon seit Jahren als Hochglanz-Werk über den |Infinity|-Verlag herausgegeben. Allerdings sollte man sich von den dadurch geschürten Erwartungen nicht blenden lassen, denn inhaltlich liegt die nun aufgelegte Manga-Reihe bei weitem nicht so nahe am etablierten Originalstamm wie zunächst vielleicht sogar erhofft. Zwar ist Yasuko Kobayashi erotischen Elementen ebenso wenig abgeneigt wie der zügellosen Darstellung von Gewalt und blutigen Kämpfen, jedoch behält die Autorin sich das Recht vor, vollkommen typische Nuancen der asiatischen Comic-Kultur in die Handlung einfließen zu lassen, und erzielt dabei eine recht große Distanz zur Vorlage. Trotz entscheidender Parallelen – und das sollte als wohl wesentlicher Standpunkt festgehalten werden – funktioniert die nun via |Panini| herausgebrachte neue Serie also völlig unabhängig.

In der Debüt-Ausgabe hat Kobayashi jedoch noch einige Schwierigkeiten bei der Kreation eines flüssigen Plots. Vor allem die Übergänge von zwischenmenschlichen, vermehrt emotionalen Abschnitten zu den kampfbetonten Auseinandersetzungen mit den Dämonen sind nur mäßig gelungen, während die Schöpfung einprägsamer Charaktere ebenfalls einigen Problemen unterliegt. Es mag zwar legitim sein, einen Mythos um die Protagonistin zu erschaffen, allerdings wäre gerade in den wechselseitigen letzten Episoden ein bisschen mehr Transparenz dringend vonnöten, um wenigstens die elementarsten Hintergründe zu durchschauen.

Indes ist „Witchblade“ definitiv kein komplexer, im weitesten Sinne anspruchsvoller Manga. Die Geschichte schreitet bereits im ersten Teil stringent voran und verschwendet auch keine Zeit mit übermäßig langen Einführungen. Dies erschwert aber andererseits auch den Einstieg, denn bereits mit dem Beginn des ersten Kapitels wird man direkt allen wichtigen Personen anvertraut, erhält jedoch kaum die Gelegenheit dazu, sich individuell ein genaueres Bild zu verschaffen. Gerade im Bezug auf Takeru erschiene dies jedoch sinnvoll, da diese bereits früh einer massiven Anzahl von Actionszenarien ausgeliefert wird, der Leser unterdessen aber kaum etwas zur Person erfährt. Es ist sicher möglich, dass der diesbezügliche Nachholbedarf noch in den nächsten Ausgaben gedeckt wird, doch zum jetzigen Zeitpunkt ist die Bestückung von entscheidenden Background-Informationen zu Charakteren und Handlung noch ein wenig dürftig.

Action-Liebhaber sollten sich dementgegen recht zügig in der ersten Folge zurechtfinden. Zeichnerin Kazasa Sumita nutzt jede Vorlage der Autorin, um den Mythos namens „Witchblade“ effektreich in Szene zu setzen, sei es nun in der ständigen Konfrontation mit den dämonischen Gegnern oder doch in der Wahl ihrer offensiven Grundgesinnung. Dies in Kombination betrachtet, macht Band eins der Manga-Reihe alles in allem sicherlich zu einem kurzweiligen Vergnügen, dem aber bis dato der erforderliche Anspruch fehlt. Mal sehen, wie sich die ebenfalls gerade herausgegebene Anime-Serie im direkten Vergleich schlägt – in der Hoffnung, dass ein Stück des verlorenen Bodens wieder gutgemacht werden kann. Auch wenn der Gesamteindruck weitestgehend zufriedenstellend ist, so konnten die berechtigt hohen Erwartungen an den Manga nicht ganz erfüllt werden.

http://www.paninicomics.de

Rosenboom, Hilke – Teeprinzessin, Die

|Reisen ist besonders schön, wenn man nicht weiß, wohin es geht. Aber am allerschönsten ist es, wenn man nicht mehr weiß, woher man kommt.| Lao Tse

Mit diesen Worten beginnt Hilke Rosenbooms zweiter Jugendroman „Die Teeprinzessin“, und welche Worte könnten die Traumwelt, die Rosenboom uns eröffnet, besser beschreiben als die obigen? Wir werden in das 19. Jahrhundert versetzt und reisen gemeinsam mit der Protagonistin von Deutschland über Indien und China in die USA und schließlich wieder zurück nach Deutschland. Einmal rund um die Welt geht es, ständig weht uns ein leichter Duft kostbaren Darjeelingtees um die Nase und immer jagen wir der großen Liebe hinterher. Fast hört es sich an wie ein Märchen, und genau das ist es auch.

_Es war einmal ein hübsches Mädchen …_

Elisabeth Henningson, von allen nur Betty genannt, ist vierzehneinhalb Jahre alt, als wir sie kennenlernen. Ihr Vater ist Silberschmied in Emden, doch das Geschäft läuft schlecht, weil sich niemand mehr die schimmernden Kostbarkeiten leisten kann. Trotzdem wird Betty auch an dem Morgen eines ganz besonderen Tages um fünf Uhr in der Früh durch das Klappern der Silberhämmer geweckt. Eigentlich hasst Betty diese frühe Ruhestörung, doch an diesem Morgen hat sie sich mit ihrem Jugendfreund Anton verabredet, um vor Sonnenaufgang Fotografien von ihr zu machen. Als sie bei Anton im Teehandelshaus ankommt, ist dieser jedoch so aufgeregt und abgelenkt, dass die Fotos in weite Ferne gerückt sind. Antons Vater empfängt einen geheimnisvollen Gast, der ihm von Tee aus Darjeeling erzählt. Davon hat Antons Vater noch nie gehört, hat er sich doch auf feinen Chinatee spezialisiert. Bettys und Antons Neugierde ist jedenfalls so stark, dass sie sich auf den Lagerboden schleichen, um dem Gespräch zwischen Antons Vater und dem mysteriösen Fremden zu lauschen. In einem unbedachten Moment rutscht Betty allerdings vom Boden und fällt dem Fremden – John Francis Jocelyn – direkt in die Arme.

Dies ist wohl der Moment, der sowohl Antons wie auch Bettys Leben vollkommen verändern wird, denn Betty hat vor ihrem Sturz ihre Haarspange verloren, die Anton hektisch zu suchen beginnt. Um besser sehen zu können, zündet er eine Kerze an, vergisst jedoch, diese wieder zu löschen. Später am Tag brennt das ganze Teehandelshaus nieder und Anton wird zur Strafe zu einer Ausbildung nach Hamburg geschickt. Betty hat derweil Hausarrest und ahnt noch gar nicht, dass ihr Freund bereits die Stadt verlassen hat. Aber auch Betty muss Emden bald verlassen, denn der Wandergeselle ihres Vaters beginnt ihr nachzustellen, und da ihr Vater unheilbar krank ist, sieht er keine andere Möglichkeit, als sie zu einer Familie nach Hamburg zu schicken, damit Betty dort als Haustochter lebt.

Schweren Herzens begibt Betty sich also nach Hamburg, ahnt aber noch nicht, dass sie dort nicht als Haustochter leben wird, sondern als einfaches Hausmädchen schwere Arbeit zu verrichten hat. Betty ist verzweifelt, sie vermisst ihren Vater und Anton, fühlt sich im Stich gelassen und träumt immer noch von dem geheimnisvollen Fremden, der Tee in Darjeeling anbaut. Einige Zeit dauert es noch, einige Hindernisse sind zu überwinden, schwierige Situationen zu überstehen, bevor Betty die Gelegenheit hat, als Junge verkleidet gen Osten zu reisen, um dort mit Tee zu handeln. Eigentlich ist China ihr Ziel, doch als ihre wahre Identität unterwegs enthüllt wird, setzt der Kapitän sie kurzerhand in Kalkutta ab. Nachdem der erste Schreck überwunden ist, begibt sich Betty nach Darjeeling und auf die Suche nach John Francis Jocelyn.

_Bunte Bilder und Wohlgerüche_

Hilke Rosenboom entführt uns in eine faszinierende Welt. Zu Beginn befinden wir uns noch in deutschen Landen und lernen die Protagonisten in Emden kennen, doch später werden wir uns gemeinsam mit Betty auf eine weite und abenteuerliche Reise begeben. Zunächst nimmt sich Rosenboom viel Zeit, um ihre Geschichte und ihre Charaktere zu entwickeln. In schillernden Farben beschreibt sie Bettys Leben in der Silberschmiede und ihre Vorliebe für Tee. Dieser ist allerdings so kostbar geworden, dass sie daheim keinen mehr trinken darf. Umso besser gefallen ihr die Besuche bei Anton im Teehandelshaus, wo sie zumindest die Wohlgerüche des teuren chinesischen Tees erschnuppern darf. Anton hat dafür allerdings nicht viel übrig, er würde viel lieber Fotograf werden, doch dafür hat sein Vater nur leider gar kein Verständnis.

Betty ist erst vierzehn Jahre jung, doch träumt sie bereits von der großen, weiten Welt. Als sie John Francis Jocelyn von Darjeeling sprechen hört und den ungewohnten Duft des neuartigen Tees in die Nase bekommt, träumt sie sich bereits nach Darjeeling, das für sie zum Inbegriff des Teeparadieses wird. Bevor sie diesen Träumen allerdings nachgeben kann, bricht zunächst ihre kleine, heile Welt zusammen. Anton wird fortgeschickt und sie hat Hausarrest, weil sie ebenfalls schuld am Brand im Handelshaus gewesen ist.

_Eine kleine Prinzessin_

Im Mittelpunkt der gesamten Erzählung steht Betty Henningson, die viele Abenteuer zu überstehen hat. Besonders groß ist ihre Not, als sie bei der Hamburger Familie in einem ungemütlichen Kellerverschlag hausen und schwere Hausarbeit erledigen muss. Erst später erfährt sie, dass es eine Verwechselung gegeben hat und sie bei der falschen Familie gelandet ist, doch zu diesem Zeitpunkt hat sie bereits ihre Fühler ausgestreckt nach einer Familie in Hamburg, die mit Tee handelt. Mit viel Liebe zum Detail entwickelt Hilke Rosenboom ihre Hauptfigur. Obwohl ihr Roman aus Sicht eines neutralen Beobachters geschrieben ist, verlassen wir Betty in keiner Szene, wir fühlen mit ihr, wir kennen ihre Gedanken, Wünsche und Träume und wissen von Anfang an, dass ihr Herz am Tee und schließlich auch an John Francis Jocelyn hängt, der für sie den köstlichen Darjeeling verkörpert. Später sind es schließlich Antons Liebe zur Fotografie und zu einem gewissen Fotografen, die es Betty ermöglichen, ihren Teeträumen hinterherzureisen.

Im Laufe der Geschichte wird Betty nicht nur zwei Jahre älter, sondern auch viel erwachsener und reifer. Sie muss alleine in der Fremde zurechtkommen und später den Tod ihres Vaters verkraften, doch Betty lässt sich nicht unterkriegen. So wird sie zur perfekten Identifikationsfigur, da sie die Träume wahr werden lässt, die so manches Mädchen hegen mag.

Verglichen mit Betty wird allen anderen Figuren sehr wenig Platz eingeräumt. Selbst Anton, der zunächst ihre große Liebe zu sein scheint, wird schnell zu einer Nebenfigur degradiert, die zudem immer mehr Schwächen zeigt und dadurch einige Minuspunkte zu verbuchen hat. Auch John Francis Jocelyn bleibt leider ziemlich im Dunkeln. Später trifft Betty ihn zwar wieder und wir lernen ihn als eine Art indischen Teebaron kennen, doch sein Charakter entfaltet sich nicht voll. Schade, aber einzig Betty gewinnt so richtig an Profil.

_In achtzig Tagen um die Welt_

Die Schauplätze dagegen sind gut gewählt. Auch wenn Emden zunächst etwas bieder scheinen mag, so verlassen wir die kleine Stadt im Norden doch bald und begeben uns zumindest erst einmal nach Hamburg. Später führt uns die Reise dann einmal rund um den Globus. Im Gepäck hat Betty eine kostbare Lieferung an Darjeelingtee, den sie eigentlich gerne nach Hamburg transportieren möchte, doch auf ihrer Reise hat sie mindestens so viele missliche Abenteuer zu überstehen wie Phileas Fogg in Jules Vernes [Erfolgsroman. 944 Unterwegs geht alles schief, was nur schiefgehen kann, was zugegebenermaßen die Geduld des Lesers mitunter etwas überstrapaziert. Betty macht Bekanntschaft mit chinesischen Gefängnissen, mit der Teemafia und einigen üblen Gesellen. Wie aber schon bei Jules Verne, so fügt sich hier am Ende alles zusammen. Das mutet schon ein wenig unrealistisch an, auf der anderen Seite schildert Hilke Rosenboom ein traumhaftes Märchen, das sich an den jugendlichen Leser richtet, sodass man ihr diese Realitätsferne verzeihen mag.

Um noch einmal auf das Zitat zurückzukommen: Als Betty sich auf das Schiff gen Osten begibt, meint sie zwar zu wissen, wohin ihre Reise sie bringen mag, allerdings kommt dann alles anders, als sie denkt. Als sie dann erst einmal in Darjeeling angekommen ist, weiß sie sofort, dass dies ihre Heimat ist; dort findet sie genau das, was sie sich immer erträumt hat und sie befindet sich im schönsten Teeparadies, das sie sich je ausgemalt hat. Dieses „Nachhause-Finden“ schildert Hilke Rosenboom sehr überzeugend.

_Stilblüten_

Hilke Rosenbooms Sprache ist ausgesprochen blumig und ausschmückend und passt damit perfekt zu der geschilderten Geschichte, denn auch diese ist märchenhaft. Kaum ein winziges Detail entgeht Rosenbooms Aufmerksamkeit, und sie schafft es fast, uns beim Lesen den Teeduft in die Nase zu zaubern, doch in ihrem Überschwang der Gefühle passieren ihr nebenbei auch einige Patzer, die bei genauer Lektüre auffallen. So lernen wir eine Dame kennen, die ‚in Gewänder gewandet‘ ist oder entdecken Sätze, in denen sich (offensichtlich ungewollte) Wortdoppelungen finden. Wenn es einem auffällt, stört es den Lesefluss doch ein wenig, aber wenn man so richtig in der Tiefe des Buches versinkt, mag man auch oftmals über diese Kleinigkeiten hinweglesen.

_Unter dem Strich_

Insgesamt gefiel mir „Die Teeprinzessin“ ausgesprochen gut, auch wenn das Buch sich offenkundig eher an jugendliche Leser richtet, da die Geschichte doch ein wenig eindimensional gestrickt ist. Schon von Anfang an ist klar, dass es ein Happy-End für Betty geben wird; so ist es dann schließlich auch keine große Überraschung, als sich auf ihrer abenteuerlichen Reise doch alles zum Guten wendet. Auch die Charakterzeichnung, die sich einzig auf Betty beschränkt, trübt ein wenig den Gesamteindruck, dennoch macht es Spaß, in die faszinierende Welt, die Rosenboom uns schildert, einzutauchen. Besonders gut haben mir die exotischen Schauplätze gefallen, in die Betty und John Francis Jocelyn sich hervorragend einfügen.

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Murray Engleheart/Arnaud Durieux – AC/DC: Maximum Rock’n‘ Roll

Mehr als 40 Jahre Geschichte einer dem Zeitgeist den Stinkefinger zeigenden Rockband werden auf mehr als 600 opulent gestalteten Seiten aufgeblättert. Den Schwerpunkt bilden die aufregenden Anfänge, wobei neben grundsätzlichen Fakten unwichtige Kleinigkeiten aufgegriffen werden, die den Lesern ‚beweisen‘ sollen, dass AC/DC unkonventionelle Teufelskerle sind. „Maximum Rock ’n‘ Roll“ ist stattdessen das erschreckend beliebige Porträt einer aufregenden Band, deren Werdegang ebenso ehrfürchtig wie unkritisch nacherzählt und mit langweiligen Fotos illustriert wird.
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Susan Gates – Dusk. Jagd in der Dämmerung

Curtis ist ein ziemlicher Versager. Er ist Alkoholiker, lebt von seiner Familie getrennt und droht demnächst wegen schlampiger Arbeitsweise seinen x-ten Job zu verlieren. Da sowieso schon alles egal zu sein scheint, verschafft der nachlässige Laborassistent sich aus purem Trotz Zugang zu einem Raum, der ihm eigentlich streng verboten ist. Aber ehe ihn jemand dort erwischen kann, führt seine eigene Unachtsamkeit zu einem Großbrand …

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Bruno Preisendörfer – Die Vergeltung

Der Volksmund ist sich sicher: „Gut Ding will Weile haben.“ Die Sache mit der Weile trifft auch auf Michael Keller zu, einen der Protagonisten von „Die Vergeltung“, aber ob das, worauf er wartet, gut ist, liegt wohl im Auge des Betrachters.

Die Geschichte beginnt damit, dass Michael Keller am Frankfurter Hauptbahnhof in ein Taxi steigt und eine Fahrt zur Düsseldorfer Messe verlangt. Das ist nicht gerade eine kurze Strecke, aber Sebastian Neubert, der Taxifahrer, ist froh über das Geld. Er ahnt nicht, was unter dem Jackett seines Fahrgastes verborgen ist und was in dessen Kopf vorgeht. Denn die beiden kennen sich, Sebastian ahnt nur nichts davon. Vor neunzehn Jahren wurde Michaels Freundin Vanessa umgebracht, als sie einen Einbrecher in ihrer Wohnung überraschte. Dieser Einbrecher war Sebastian Neubert, der ursprünglich zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war, wegen guter Führung aber vorzeitig entlassen wurde und nun versucht, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen. Er hat geheiratet, zwei Stiefkinder, liest gerne. Nichts erinnert mehr an den kriminellen Sechundzwanzigjährigen, bei dessen Anblick im Gerichtssaal sich Michael geschworen hat, eines Tages Vergeltung für den Mord an seiner Frau zu üben.

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Marcus Hammerschmitt – Der Fürst der Skorpione

Ein paar Jahrzehnte in der Zukunft. Afrika ist die Kornkammer Europas. Genoptimierte Getreidestämme existieren in der Sahara, ertragreicher als die bisherigen Sorten. Diesen Einbruch in die Natur verfolgen afrikanische Nomadenstämme mit Missgunst und attackieren das europäische Vordringen mit rebellischer Gewalt.

Die |Euroforce| wird zum Schutz der Felder und Einrichtungen eingesetzt. Sie ist im Besitz moderner Waffentechnik, darunter gigantische Käfer, die über Neuroports von ebenfalls verkabelten Soldaten gesteuert werden. Die Rebellen haben ihnen wenig entgegenzusetzen, einzig ihre künstlichen Skorpione vermögen die Käfer zu töten. Und mit ihnen sterben auch die Soldaten.

Björn ist einer von ihnen. Bei ihm waren sowohl die Zeit als auch das gefundene Material ausreichend, um ihm ein zweites Leben zu schenken, als so genannter |Zombie|, wie sie von der Normalbevölkerung genannt werden. Eine Neuroportblockade sorgt bei ihnen für widernatürlich langsame Reflexe bei normaler Gehirnleistung, wodurch sie sich eingesperrt und hilflos fühlen. Die dem Zombie Björn anvertraute jugendliche |BLA| entdeckt, wie Zombies bei Fehlfunktion oder Nutzlosigkeit erledigt werden, und entflieht mit Björn aus Europa, natürlich nach Afrika. Und natürlich gelangen sie in die Fänge der Rebellen, wo Björns blockierter Port deaktiviert und damit seine normale Leistungsfähigkeit zurückgewonnen wird.

Björn widmet sich mit Ingrimm der Sache der Rebellen, um sich an der |Euroforce| zu rächen.

Dieser Roman erschien in gebundener Form im |Patmos|-Verlagshaus und stellt sich in ansehnlicher Aufmachung dar: Der stählerne Skorpion, der aus einem dunklen Hintergrund, aus der Verborgenheit heraustritt und über einen rissigen Wüstenboden sein Ziel verfolgt, thematisiert gelungen den Guerillakrieg der Rebellen gegen die übermächtige, technisch überlegene |Euroforce|. Dass dabei dieser Skorpion für den Roman selbst nur eine untergeordnete Rolle spielt, bleibt auch bei der Titelwahl unberücksichtigt. Hammerschmitt hat zwar die Beziehung von Zombie Björn zu diesen Skorpionen herausgearbeitet, indem er Björns ersten Tod mit ihnen verknüpft und ihnen später eine erneute Begegnung spendiert, doch gibt er dem neuen Rebellen Björn mitnichten die Rolle des Fürsten, des Gebieters über die Skorpione oder übertragen über die Rebellen, die ihren Skorpionen gleich hinterhältige Attacken gegen die EF vornehmen. Björn wirkt vielmehr als von allen Seiten missbrauchter Charakter, dem schließlich sein eigener Wahn – der Wunsch nach Rache – die Augen vor den Dingen verschließt, die seiner Umgebung wichtig sind und die als zwischenmenschliche Festigung seines erschütterten Daseins gelten könnten – die Gefühle und Bedürfnisse seiner Kameradin, die ihm überhaupt erst die Befreiung aus dem Überwachungsnetz der EF ermöglichte, sowie sein Wert und sein Ansehen unter den Rebellen, durch die er schließlich als die Waffe, die er für die EF war, gegen sie eingesetzt wird.

BLA dagegen ist nur Mittel zum Zweck. Ihr kommt die Rolle des Auges zu, das die Geschehnisse wahrnimmt und aus einem relativ unabhängigen Blickwinkel betrachtet für den Leser darstellt. Sie befreit Björn, bringt ihn nach Afrika und folgt ihm zu den Rebellen, wo sie miterleben muss, wie er sich von ihr entfremdet und fanatisch nur noch die Ziele verfolgt, die ihm die Führer der Rebellion diktieren. Sie ist das Überbleibsel aus Björns Welt, das sich nicht mit den Rebellen identifizieren kann, für die es aber auch kein Zurück gibt. Ihre Person selbst hat keinen Einfluss auf die Geschehnisse nach Björns Befreiung, und auch der Weg nach Afrika erfolgt eher zufällig als unter ihrem Einfluss. Sie gibt dem Roman eigentlich nichts außer einem gekränkten Blick auf den Wahn in Björns Veränderung sowie eine obligatorische Liebesgeschichte, um ihrem Dasein einen Sinn aufzupfropfen.

Hammerschmitt ergeht sich in untypischen Perspektivenwechseln, meist zwischen Björn und BLA, manchmal so fließend, dass man erst anhand der erhaschten Gedanken merkt, in wem man sich befindet. Damit eröffnet sich Hammerschmitt die Möglichkeit, den Leser als gedankenlesenden Adler über der Geschichte fliegen zu lassen und je nach Bedarf in den Kopf eines Protagonisten einzutauchen, ohne sich auf eine Perspektive festzulegen. Damit vereinfacht er sich die Erzählung einerseits, verwirrt andererseits sein Publikum an manchen Stellen. Der geringe Umfang des Romans macht diesen Kunstgriff allerdings nötig, um auf wenig Platz die wichtigen Erkenntnisse versammeln zu können.

Unterhaltsam geschrieben ist der Roman allemal, wenn ihm auch der entscheidende Funke fehlt, der ihn zu dem Kracher machen könnte, den ein Kommentar von Andreas Eschbach auf dem Buchrücken erwarten lässt.

http://www.patmos.de

Daschkowa, Polina – Keiner wird weinen

Polina Daschkowa gehört zu den russischen Autorinnen, um die man nicht herumkommt, wenn man Krimis mag. Neun Bücher wurden mittlerweile in deutscher Sprache veröffentlicht, viele von der Kritik hoch gelobt. Die Russin ist vor allem dafür bekannt, ein realistisches, oft brutales Bild des heutigen Russlands zu zeichnen. Sie beschönigt nichts und fühlt dem einst kommunistischen Land immer wieder auf den Zahn.

„Keiner wird weinen“ erzählt von Kriminellen, Semikriminellen und ganz normalen Menschen, die aufgrund der Rachegelüste Einzelner zusammenfinden. Diese Einzelnen sind Kolja und Wolodja. Kolja ist in einem Kinderheim aufgewachsen, in dem hauptsächlich geistig zurückgebliebene Kinder untergebracht waren. Mit seinem Intellekt verschaffte er sich dort bald eine gewisse Stellung, und als der Dieb Sachar später zu seinem Ziehvater wird, steht Koljas krimineller Karriere nichts mehr im Weg. Innerhalb kürzester Zeit schwingt er sich zum Anführer einer brutalen Einbrecherbande auf und ist auch nach deren Zerschlagung nicht greifbar.

Wolodja will das tun, wozu die Miliz nicht fähig ist: Er will Kolja, der mittlerweile Skwosnjak genannt wird, finden und erledigen. Immerhin hat der brutale Einbrecher, der nie Zeugen hinterlässt, seine Familie ausgelöscht. Das hat Wolodja geprägt, der nun, zum Einzelgänger geworden, das Böse in der Welt rächen will. Sobald er sieht, wie jemand einem anderen Menschen etwas antut, bringt er den Täter um. Skwosnjak ahnt nichts von seinem Feind, doch der unausgefochtene Kampf zwischen den beiden zieht viele unschuldige Menschen in einen Strudel der Gewalt, darunter die junge Vera. Sie wohnt zusammen mit ihrer Mutter in Moskau und lässt sich bereitwillig vom untreuen Stas für Arbeit und Liebesdienste ausnutzen. Sie ist ein freundlicher Mensch und ahnt nichts Böses, als unerwartet ein junger, gutaussehender Mann ihr den Hof macht. Als Stas dies mitbekommt, hat er das Gefühl, den jungen Mann schon einmal gesehen zu haben, und zwar bei nichts Gutem …

Würde man weiter ausholen, schlösse sich der Kreis wieder. Polina Daschkowas Roman macht es dem Leser lange schwer, einen roten Faden zu erkennen. Viele Handlungsstränge und Personen werden eingeführt, einige in der Gegenwart, einige in der Vergangenheit. Die Verknüpfung erfolgt stückweise und wird auch manchmal nicht ganz klar. Wer kennt sich jetzt woher von früher und wer hat einen Hass aufeinander? Wo lässt sich diese Person einordnen und was hat jener Mann damit zu tun? Polina Daschkowa macht es dem Leser nicht immer ganz leicht. Am besten ist es, die Autorin einfach erstmal erzählen zu lassen, denn gegen Ende kommt Licht ins Dunkel. Die einzelnen Stränge verbinden sich zu einem langen, sorgfältig geflochtenen Zopf, und es bleibt dem Leser nichts anderes übrig als Daschkowas Virtuosität zu bewundern. Diese Art, scheinbar völlig zusammenhangslos neue Personen einzuführen und sie schließlich zu Hauptakteuren zu machen, ist wirklich großartig.

Gerade daraus bezieht das Buch seine Spannung. Der Leser weiß nicht, wohin die Geschichte führt, aber er ahnt, dass es einen gemeinsamen Nenner geben muss. Langsam ergeben sich dann erste Bezugspunkte, erst allmählich, dann immer rascher kommt das Buch in Fahrt. Die Personen sind folglich der Dreh- und Angelpunkt in „Keiner wird weinen“. Alles hängt entweder mit ihnen oder ihrer Vergangenheit zusammen, und da empfiehlt es sich, mit der Qualität der Charaktere nicht zu geizen. Hierin muss man sich bei der russischen Autorin allerdings keine Sorgen machen. Die Personen werden zumeist mitsamt Lebenslauf eingeführt und sehr lebendig und originell dargestellt – zum größten Teil jedenfalls. Manchmal begeht die Autorin auch, zum Beispiel bei Stas, Vera oder Stas‘ Ehefrau, den Fehler, auf einfache Klischees zurückzugreifen. Ein Mann, der Frauen nur wegen ihres Aussehens heiratet, eine Frau, die ihren Mann wegen seines Status heiratet, und allen voran Vera. Sie erinnert stark an andere Frauencharaktere der russischen Kriminalliteratur. Sie ist mollig, mehr oder weniger erfolgreich im Job, familienbezogen und glaubt nicht daran, jemals einen Mann abzubekommen. Sie ist witzig, schlagfertig und greift gerne durch, kann ihre eigenen Gefühle aber kaum artikulieren. Diesen weiblichen Prototypen findet man in so vielen Büchern von russischen Autorinnen, dass sie schon fast solch ein Merkmal für diese Literatur sind wie der Typ Wallander für skandinavische Krimis. Vera kann dennoch durch ihre sympathische Art punkten. Sie wirkt nicht überzeichnet, sondern sehr authentisch, auch wenn es ähnliche Figuren in anderen Büchern gibt.

Ihre spannende, verwinkelte Geschichte bettet die Autorin in einen sehr belletristischen Rahmen. Sie erzählt nicht ausschweifend, lässt aber auch keine Details weg. Sie möchte einen guten Überblick über das Geschehen und die Menschen geben und verwendet dazu ein umfassendes Vokabular, das sie originell einzusetzen weiß. Sie schreibt anschaulich und unterhaltsam, passend zu ihren durchdachten Charakteren. Manchmal lässt sie an der einen oder anderen Stelle ein wenig humorvolle Kritik durchschimmern, aber sie verlässt die Wege des Romans nicht, um eine eigene Meinung loszuwerden.

In der Summe ist Polina Daschkowa mit „Keiner wird weinen“ ein Kriminalroman gelungen, dessen Betonung auf „Roman“ liegt. Es wird weniger ein Kriminalfall erzählt, der von einem Ermittler gelöst werden soll, als vielmehr eine weitverzweigte Geschichte mit vielen Verwicklungen. Diese Verwicklungen, die eine Menge tote und lebendige Menschen einschließen, wirken stellenweise etwas wirr, werden in der spannenden, vieldimensionalen Auflösung aber einleuchtend verbunden. Die starke erzählerische Komponente macht das Buch definitiv lesenswert, denn dadurch erfährt der Leser, der über das heutige Russland nicht allzu viel weiß, vermutlich mehr als in einem klassischen Krimi.

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Cory Doctorow – Backup. SF-Roman

Mord und Absturz in Disney World

Vor seiner Ermordung hätte sich der Komponist und Designer Julius nicht träumen lassen, wie wichtig ein zeitnahes Backup der eigenen Erinnerungen ist. Aber da dies schon sein vierter Tod ist, hat er allmählich eine Vorstellung davon, wie wichtig eine Sicherungskopie ist. Daher ist er wenige Tage später schon wieder in einem neuen Klonkörper einsatzbereit. Seine Freunde Dan und Lily helfen ihm, den Verantwortlichen ausfindig zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen.
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Isaac Asimov – Die phantastische Reise

asimov phantastische reise cover kleinUm einen ins Koma gefallenen Wissenschaftler zu retten, wird ein Ärzteteam auf Mikrobengröße verkleinert und macht sich im Mini-U-Boot durch die Adern auf den gefährlichen Weg ins Gehirn … – Das Buch zum Kinoklassiker erzählt die spannende Handlung nicht einfach nach, sondern ergänzt sie durch Hintergrundinformationen, liefert ausführliche Charakterisierungen der Figuren und unternimmt sogar den (rührend gescheiterten) Versuch, die krude Story wenigstens ansatzweise plausibel wirken zu lassen: keine simple Beigabe zum Film, sondern ein eigenständiger, sehr lesbarer Science-Fiction-Roman.
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Hustvedt, Siri – unsichtbare Frau, Die

Die Amerikanerin mit dem norwegischen Namen Siri Hustvedt hat sich mittlerweile einen großen Fankreis erschrieben. Das Buch, mit dem 1992 alles anfing, ist „Die unsichtbare Frau“, das sich mit dem Leben einer Studentin im New York der Achtziger Jahre beschäftigt.

Iris Vegan, die Ich-Erzählerin, möchte an der Columbia-University promovieren, doch sie ist stets knapp bei Kasse. Sie lebt noch nicht lange in New York, aber da sie immer auf der Suche nach einem Job ist, erfährt sie sehr bald, was für sonderbare Menschen in dieser Stadt leben. Ein Professor, der sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin einstellt, möchte zum Beispiel, dass sie Gegenstände, die einer Toten gehörten, für ihn auf Tonband beschreibt. Iris geht Liebschaften ein, die sie an den Rand ihres Verstandes bringen, und ehe sie sich versieht, ist sie ebenfalls eine sonderbare Gestalt geworden. Mit einem Herrenanzug bekleidet, zieht sie durch die New Yorker Bars und nennt sich Klaus – nach einer Person aus einem Manuskript, das sie übersetzt hat.

Eine wirklich zusammenhängende Handlung hat das Buch nicht. Vielmehr besteht es aus vier Teilen, die mehr oder weniger unabhängig voneinander vier Zeiträume in Iris‘ Leben erzählen. Diese umfassen bestimmte Ereignisse und Personen, die manchmal an anderer Stelle erneut auftauchen. Zum Beispiel der Kunstkritiker Paris, eine undurchsichtige Person, aus der Iris nicht besonders schlau wird. Mag er sie nun oder mag er sie nicht? Muss sie Angst haben, dass er sie jeden Moment hereinlegt? Allerdings sollte man sich nicht vom Klappentext täuschen lassen. Der behauptet, in dem Buch würde sich „eine Reihe von erotischen Abenteuern“ finden. Tatsächlich gibt es aber kaum Sex in dem Buch, und wenn, dann wird er so beiläufig dargestellt, dass die Bezeichnung ‚Abenteuer‘ doch ein bisschen wagemutig ist.

Siri Hustvedt bewies bereits in ihrem Debüt, dass sie ein unglaublich gutes Händchen für authentische Figuren hat. Der schnörkellose Roman konzentriert sich stark auf die einzelnen Charaktere und beleuchtet sie stets von allen Seiten. Hustvedt schafft es, die Figuren im Buch bis ins kleinste Detail zu beschreiben, denn sie ist eine sehr gute Beobachterin. Jede Person wird mit Ecken und Kanten, Geschichten und Lastern ausgestattet, und für die zwischenmenschlichen Beziehungen gilt das Gleiche. Auch sie sind wunderbar ausgearbeitet, und auch wenn es keine lineare Handlung gibt, sind es diese Beziehungen, die den Leser das Buch nicht mehr aus der Hand legen lassen.

Iris steht als Protagonistin und Ich-Erzählerin natürlich im Vordergrund. Am Anfang wirkt sie wirklich wie eine unsichtbare Frau. Sie verschwendet nur wenig Worte auf ihre eigene Persönlichkeit. Der Leser muss sich Iris Vegan selbst erlesen, aber das gelingt anhand der schönen Beschreibungen von Hustvedt und der oft reflektierenden Rückblicke – Iris schreibt quasi ihre Erinnerungen an diese Zeit nieder – sehr gut. Iris verbirgt nichts. Sie gibt alles ganz offen zu, auch wenn es sie nicht in einem guten Licht dastehen lässt oder sie es sich selbst nicht erklären kann. Dadurch wird sie dem Leser sehr vertraut. Wenn er das Buch zuschlägt, wird er glauben, Iris schon seit vielen Jahren zu kennen.

Getragen wird der anschaulich aufbereitete Inhalt von einem sehr ästhetischen Schreibstil. Hustvedt schreibt zeitlos und ohne unnötigen Ballast. Sie drückt sich gewählt aus, verstrickt sich aber nicht in Schachtelsätzen oder Fremdwörtern. Vielmehr ist „Die unsichtbare Frau“ eine glasklare Angelegenheit. Die Worte wirken wie ein Gerüst, welches das gesamte Buch stützen soll, und das gelingt geradezu tadellos. Hustvedts Debütroman lässt keine Fragen offen. Er ist eine in sich abgeschlossene Lektüre, bei der alles einfach alles stimmt.

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Babendererde, Antje – verborgene Seite des Mondes, Die

_Einst bevölkerten_ sie den amerikanischen Kontinent, bevor die Europäer kamen: die Indianer. Es gibt sie auch heute noch, aber von Wild-West-Romantik ist wenig zu spüren. Die wenigsten leben noch in Tipis und in Einklang mit der Natur. Meistens sind sie kaum von den europäischen Amerikanern zu unterscheiden, unter denen sie nicht nur damals, sondern auch noch heute zu leiden haben.

Die Jugendbuchautorin Antje Babendererde zeigt in ihrem Buch „Die verborgene Seite des Mondes“, wie die Indianer heute leben. Im Mittelpunkt steht Julia, die zur Hälfte Deutsche und zur Hälfte Indianerin ist. Als ihr Vater John stirbt, bricht eine Welt für sie zusammen, denn im Gegenteil zu ihrer Mutter war ihr Vater stets für sie da und hat sie an seinen indianischen Wurzeln teilhaben lassen. Daraus hat sie sich ein idealistisches Bild aufgebaut, doch als sie nach seinem Tod endlich ihre Familie in Amerika kennenlernt, wird dieses schnell zerstört. Ihre bereits alten Großeltern erhalten eine verfallene Ranch in der Wüste von Nevada aufrecht, obwohl die Repressalien der amerikanischen Regierung dies fast unmöglich machen. Ada, Julias Großmutter, ist eine bekannte Freiheitskämpferin, doch privat ist sie eine ruppige Person, die Julias Mutter Hanna die Schuld daran gibt, dass John die Ranch im Stich gelassen und ihr nach Deutschland gefolgt ist. Deswegen trifft Julia auch erst mit fünfzehn Jahren zum ersten Mal ihre Großeltern.

Auf der Ranch herrschen eine Menge Spannungen. Mit der Zeit merkt Julia, dass ihr Vater ihr lange nicht alles erzählt hat, was mit seiner Vergangenheit zu tun hat. In ihre Trauer mischen sich Wut und Unverständnis. Sie fühlt sich nicht sonderlich wohl auf der Ranch, doch als sie den stillen Simon kennenlernt, ändert sich das. Simon, ein Einzelgänger, der sich wegen seines Sprachfehlers schämt, gibt sich anfangs eher abweisend, doch es gelingt Julia, ihm näherzukommen. Sehr nahe, um ganz ehrlich zu sein. So nahe, dass es die beiden in ungeahnte Gefahr bringt …

_Von Jugendbüchern_ ist man eine Menge gewohnt. Viele dieser ‚Werke‘ sind kitschiger Herzschmerz vor einer kaugummirosafarbenen Kulisse. Nicht so der vorliegende Roman von Antje Babendererde. Die Autorin widmet sich einem ernsten Thema: der Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner durch die amerikanische Regierung. Allerdings wird sie dabei nicht zu politisch. Sie lässt immer wieder interessante Informationen einfließen, beschreibt im Allgemeinen aber mehr den Alltag von zähen Kämpfern wie Julias Großeltern. Sie malt ein farbiges, sehr detailreiches Bild vom Ranchleben und übergeht dabei nichts. Sie erzählt von indianischen Kindern, die behindert zur Welt kommen, weil sie in einem atomverseuchten Gebiet geboren werden. Sie erzählt von Drogensucht und Alkoholismus, der Hoffnungslosigkeit, den schlimmen Zuständen, jungen Müttern, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder behandeln sollen – und sie erzählt eine wunderschöne Liebesgeschichte zwischen zwei Teenagern, die beide ihr Päckchen zu tragen haben.

Julia ist ein nettes, manchmal etwas naives Mädchen. Sie hat in ihrem bisherigen Leben nur wenig Leid gesehen und der Tod ihres Vaters bedeutet einen starken Einschnitt für sie. Die Reise nach Amerika öffnet ihr die Augen und lässt sie wachsen. Babendererde hat Julia nicht besonders originell gestaltet, aber das sollte man ihr verzeihen, denn dafür ist das Mädchen sehr sympathisch und unglaublich lebendig. Sie ist das nette Mädchen von nebenan, das die Autorin als nachdenklich und überhaupt nicht oberflächlich darstellt. Ihre Ausarbeitung ist bewundernswert gelungen.

Gleiches gilt für den siebzehnjährigen Simon, der sich mit Julia die Erzählperspektive des Buchs teilt. Im Gegensatz zu ihr ist er in Armut und unter sehr harten Umständen aufgewachsen. An ihm zeigt sich, wie sich eine solche Vergangenheit auf das Verhalten und auch auf die Psyche niederschlägt. Simon denkt selten an sich selbst und ist menschenscheu. Seine Stotterei isoliert ihn noch mehr von anderen Menschen und die Tiere sind seine einzigen Freunde – bis Julia kommt. Sie hilft dem Jungen mit ihrer unbekümmerten Art, und Babendererde stellt sehr anschaulich und mit viel Gefühl dar, wie er sich verändert. Die Stille und die Trauer, die in ihm stecken, werden unglaublich stark dargestellt, sind stellenweise sogar poetisch angehaucht.

Die Autorin zeigt mit ihrer tragischen Geschichte auch die dunklen Seiten des Lebens auf. Sie begeht allerdings nicht den Fehler, sich auf die Liebesbeziehung der beiden Protagonisten zu verlassen, sondern baut zudem einige kurze Handlungsstränge ein. Diese sorgen für ein gewisses Maß an Spannung, sind aber nicht überladen, sondern sehr sorgfältig dosiert. Sie bringen Bewegung in die Geschichte und runden das Buch ab, das in einer klaren, gut lesbaren Sprache verfasst ist. Babendererde verzichtet auf rhetorischen Schnickschnack und bleibt oft sehr nüchtern, beobachtend. Sie geht allerdings auch stark auf die Gefühle und Gedanken der Protagonisten ein und verwendet an diesen Stellen häufig eine etwas poetischere Sprache. Gerade Simon denkt immer wieder in Metaphern, was sehr gut zu seiner nachdenklichen Persönlichkeit passt.

_In der Summe_ ist Antje Babendererde ein unglaublich atmosphärisches und schön erzähltes Buch gelungen. Sie verklärt das heutige, harte Leben der Indianer nicht, lässt aber Platz für Gefühle. Neben der romantischen Seite des Buches beschreibt sie aber auch den Freiheitskampf von Ada und ihrem Volk, ohne darüber zu urteilen. Somit ist „Die verborgene Seite des Mondes“ mehr als ein kitschiger Mädchenroman. Dafür ist die Geschichte zu seriös, zu tiefgehend und vor allem zu interessant. Es kommt schließlich nicht jedes junge Mädchen in den Genuss, wie Julia nach Amerika zu fliegen und auf einer echten Ranch zu leben.

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Dolittle, Dolly (Hg.) – Noch mehr Gespenster

18 Kurzgeschichten zeugen von der Präsenz der Gespenstergeschichte in der ganzen Welt, wobei der außereuropäische Raum nur punktuell und exemplarisch Berücksichtigung findet; trotzdem bietet diese primär dem 19. Jahrhundert verhaftete Sammlung eine gute Übersicht, die dem am Genre interessierten Gruselfreund eine spannende Lesereise durch die Spuknächte diverser Kontinente und Länder beschert.

_Inhalt_

|Statt eines Vorworts:|
_Heinrich Heine (1797-1856): Doktor Ascher und die Vernunft_ (1826), S. 11-15 – Ein verstorbener Gelehrter erläutert um Mitternacht dem entsetzten Freund, wieso es keine Gespenster geben kann …

_Washington Irving (1783-1859): Der Student und die fremde Dame_ („The Adventure of the German Student“, 1824), S. 16-24 – Im Paris der Revolutionszeit verliert ein junger Mann sein Herz an eine schöne Frau, die freilich schon eines anderen Körperteils verlustig ging …

_Alexander Puschkin (1799-1837): Der Sargmacher_ („Grobovshchik“, 1830), S. 25-37 – Im Suff lädt der Sargmacher seine ‚Kunden‘ ein, die ihm gern um Mitternacht ihre Aufwartung machen …

_Heinrich von Kleist (1777-1811): Das Bettelweib von Locarno_ (1810), S. 38-42: Ein hartherziger Adelsmann wird vom Gespenst einer misshandelten Frau ins Verderben gestürzt …

_Ignaz Franz Castelli (1781-1862)*: Tobias Guarnerius_ (1839), S. 43-68 – Perfekt klingt eine Geige erst, wenn ihr eine menschliche Seele eingepflanzt wird, was den genialen Instrumentenbauer jedoch schon bald reut …

_Edgar Allan Poe (1809-1849): Die Tatsachen im Falle Waldemar_ („The Facts in the Case of M. Valdemar“, 1845), S. 69-82 – Spektakulär verläuft ein wissenschaftliches Experiment, in dessen Verlauf ein Sterbender in Trance versetzt wird …

_Nikolai Gogol (1809-1852): Der verhexte Platz_ („Zakoldovannoe mesto“, 1832), S. 83-96 – Ein russischer Bauer will dem Teufel einen Schatz abringen, was sich als höchst schwierige Herausforderung erweist …

_Pu Sung Ling (1640-1715): Das Wandbild_ (?, 17. Jh.), S. 97-100 – Ein verliebter Mann findet die Frau seines Lebens ausgerechnet als Motiv auf einem verzauberten Wandbild, was wie zu erwarten ernste Schwierigkeiten heraufbeschwört …

_Yakumo Koizumi (d. i. Lafcadio Hearn, 1850-1904): Die Päonienlaterne_ („The Peony Lantern“, 1899), S. 101-128 – Als sich der Geliebte dem Gespenst seiner verstorbenen Braut nicht freiwillig im Jenseits anschließen will, zieht diese andere, unangenehm klingende Saiten auf …

_Gottfried Keller (1819-1890): Die Geisterseher_ (1881), S. 129-163 – Eine ratlose Jungfrau zwischen zwei heftig werbenden Galanen überlässt einem Gespenst die Entscheidung, wen sie heiraten wird …

_Iwan Turgenjew (1818-1883): Gespenster_ (?, 1864), S. 164-202 – Eine kurze, aber heftige und sehr gesundheitsschädliche Liebe entbrennt zwischen einem reichen Gutsbesitzer und einer schönen Gespensterfrau …

_Ambrose Bierce (1842-1913/14): Eine Sommernacht_ („One Summer Night“, 1906), S. 203-205 – Was macht ein Grabräuber, der nachts auf dem Friedhof einen irrtümlich lebendig begrabenen Zeitgenossen entdeckt …?

_O. Henry (d. i. William Sydney Porter, 1862-1910): Das möblierte Zimmer_ („The Furnished Room“, 1906), S. 206-216 – Es übt aus überzeugenden Gründen einen selbstmörderischen Einfluss auf seinen Mieter aus, was ihm die geldgierige Hausherrin freilich verschwiegen hat …

_Guy de Maupassant (1850-1893): Der Horla_ („Le Horla“, 1887), S. 217-261 – Eine unsichtbare Kreatur nistet sich erst im Haus und dann im Geist eines Mannes ein, der den Kampf um seine Freiheit mit drastischen Mitteln aufnimmt …

_Amadou Hampate Ba (1900/01-1991): Der Peulh und der Bozo_ (?, 1949), S. 262-273 – Ein schlauer Dieb raubt in der Maske eines Gespenstes die tumben Bewohner eines Dorfes aus und narrt anschließend noch einen etwas klügeren Verfolger …

_Anton Tschechow (1860-1904): Der schwarze Mönch_ („Chernyi monakh“, 1894), S. 274-325 – Ein Philosoph schöpft intellektuell und persönlich Kraft aus der Begegnung mit einem Gespenst, das sich als Ausgeburt seiner Fantasie zu erkennen gibt …

_Tania Blixen [d. i. Karen Dinesen, 1885-1962): Die Geschichte eines Schiffsjungen_ („The Sailor Boy’s Tale“, 1942), S. 326-343 – Als er auf hoher See einen Falken rettet, ahnt der Schiffsjunge nicht, dass ihm dies einst das Leben retten wird …

_Walter de la Mare (1873-1956): Die Prinzessin_ („The Princess“, 1955), S. 344-362 – Ein Knabe verliebt sich in eine Frau, die er tot wähnt, bis er einer uralten Vettel begegnet, die ihm eine unvergessene Lektion über das Leben erteilt …

Nachweis – S. 363/64

* Diese Kurzgeschichte wird hier fälschlich Honoré de Balzac zugeschrieben.

_Einige Anmerkungen zu dieser Sammlung_

Nachdem Mary Hottinger in den ersten beiden Teilen der „Gespenster“-Trilogie die Geisterwelt der britischen Inseln Revue passieren ließ, wirft Dolly Dolittle, die ihr als Herausgeberin folgte (Hottinger starb 1978), diverse Schlaglichter auf das überirdische Treiben der übrigen Welt.

Selbstverständlich blieb die Freude an der guten, d. h. gruseligen Gespenstergeschichte nicht auf den angelsächsischen Sprachraum beschränkt. Wo Menschen leben, waren und sind Geister niemals fern. Hat man sich zunächst vor ihnen gefürchtet, lässt man sich später von ihnen unterhalten. „Noch mehr Gespenster“ verdeutlicht, dass es dabei je nach Ländern und Leuten Unterschiede gibt. Während die Motive, die den Menschen sich fürchten lassen, sich erwartungsgemäß ähneln, kann die Form (für deutsche Leser) oft erstaunlich fremd wirken. Das kann zum einen an der zeitlichen Differenz liegen. Pu Sung Ling schrieb „Das Wandbild“ im Japan des späten 17. oder 18. Jahrhunderts, d. h. in einer nicht nur kulturell überaus fremdartigen Welt. Schon die Art der Darstellung ist ganz anders als in der Gespenstergeschichte, die wir kennen und für die offensiv inszenierte Spannung ein integrales Element ist. (Yakumo Koizumis‘ „Päonienlaterne“ ist dagegen die zwar geschickt realisierte und gut übersetzte, aber eben doch pseudo-historische ‚Imitation‘ eines englischen Schriftstellers.)

Fremd wirkt auch Amadou Hampate Bas Geschichte vom Peulh und dem Bozo, obwohl sie zu den jüngeren Erzählungen dieser Sammlung zählt und im 20. Jahrhundert entstand. Aber es irritiert, wie vertraut Menschen und Geister hier miteinander umgehen. Auch im modernen Afrika ist die Zeit noch präsent, als Diesseits und Jenseits wie selbstverständlich nebeneinander existierten und ihre Bewohner Kontakt pflegten. (Leider spart Doolittle die südamerikanische Phantastik völlig aus, die in dieser Hinsicht interessante Variationen bzw. Ergänzungen liefern könnte.)

In Europa hat die eng mit dem Fortschritt der Naturwissenschaften verwobene geistig-kulturelle „Aufklärung“ dem deutlich früher ein Ende gesetzt. Heinrich von Kleist und Ignaz Franz Castelli bedienen ein Publikum, das nicht mehr an ‚echte‘ Gespenster glaubt. Jene, die in dieser Frage unentschlossen sind, verspottet Heinrich Heine herrlich boshaft und voller Witz in „Doktor Ascher und die Vernunft“. Ende des 19. Jahrhunderts ist die Gespenstergeschichte zum literarischen Genre und ‚reif‘ genug geworden, sich parodieren oder mit anderen Genres mischen zu lassen. Gottfried Keller schickt seine beiden „Geisterseher“ durch eine durchaus spannend und gruselig geschilderte Spuknacht, deren Ereignisse anschließend als sehr irdisch aufgeklärt werden. Tania Blixen greift auf den Sagenschatz ihrer skandinavischen Heimat zurück und erzählt eher lyrisch als erschreckend. Jenseits des Atlantiks findet Edgar Allan Poe eine Möglichkeit, die altehrwürdige Gespenstergeschichte mit der aufgeklärten Moderne zu kombinieren.

Nikolai Gogol bettet in „Der verhexte Platz“ eine turbulente und urkomische Geistergeschichte meisterlich in den reichen Kosmos russischer Volkssagen ein, in denen Religion und Aberglaube eine die Gespenstergeschichte inspirierende Verbindung eingehen. Alexander Puschkin legt mit „Der Sargmacher“ eine wunderschöne Gruselfarce vor, die das Genre niemals lächerlich macht.

Beeindruckend modern und in ihrer beängstigenden Wirkung trotz ihres Alters ungeschmälert sind Geschichten wie O. Henrys „Das möblierte Zimmer“ oder Iwan Turgenjews „Gespenster“. Das Grauen wird hier nicht mehr ‚erklärt‘, die Figuren, die hier von Phantomen heimgesucht werden, haben sich keines Vergehens oder Verbrechens schuldig gemacht, das eine solche Strafe verdiente. Das Übernatürliche besitzt ein Eigenleben – und es ist unberechenbar, was es noch exotischer und natürlich erschreckender wirken lässt.

[„Der Horla“ 584 von Guy de Maupassant belegt eine weitere Entwicklungsstufe der Gespenstergeschichte. Das Grauen kommt nicht mehr aus einem imaginären, jenseitigen Totenreich, sondern wurzelt in der Psyche des Menschen selbst. Der namenlose Protagonist erlebt eine der schlimmsten Erfahrungen überhaupt: Sein eigenes Hirn lässt ihn im Stich, liefert ihm Eindrücke, die mit der Realität nicht übereinstimmen. Der Horla mag ein Geist sein, doch ebenso schlüssig ist seine Deutung als Ausfluss einer Geisteskrankheit. Die nachhaltige Wirkung dieser Geschichte wird verstärkt durch das Wissen, dass de Maupassant sehr genau wusste, worüber er schrieb. Er erlebte und beschrieb, wie er buchstäblich den Verstand verlor. Sechs Jahre später starb er im Wahnsinn; sein persönlicher Horla hatte ihn erwischt!

Weniger grimmig schlägt Anton Tschechow in dieselbe Kerbe. Auch seine Figur ‚erschafft‘ ein Gespenst, das ihm jedoch nicht schadet, sondern ihn zu künstlerischer Kreativität ermuntert und ihm Zufriedenheit schenkt. Erst als der so ‚Besessene‘ den Beschwörungen seiner Mitmenschen folgt, seinen „Schwarzen Mönch“ verleugnet und ein in jeder Hinsicht ’normaler‘ aber langweiliger Zeitgenosse wird, beginnt sein Niedergang.

Ambrose Bierce geht wie üblich einen Schritt weiter. In seiner Story gibt es nie einen Zweifel an der Abwesenheit übernatürlicher Wesenheiten. Nur Menschen treten auf, und sie schaffen es ohne jede geistige Nabelschau, sondern allein durch ihr Handeln, die Leser frösteln zu lassen. Ähnlich ergeht es den beiden Figuren in Walter de la Mares Story. Das ‚Gespenst‘ ist lebendig und doch ein Phantom, das die verlorene Jugend verkörpert.

Abschließend ein offenes Wort an die Leser dieser Zeilen, das auch als Warnung verstanden werden darf: „Noch mehr Gespenster“ ist inhaltlich wie formal ‚anders‘ als „Gespenster“ und „Mehr Gespenster“. Der Horror kommt hier auf Katzenpfoten, und oft bleibt er sogar gänzlich aus. Rächende, hässliche, drastisch herumspukende Nachtmahre der vordergründigen Art trifft man höchstens in den Storys von Irving, Poe und vielleicht Henry. Ansonsten ist Spuk für die Verfasser etwas Allegorisches, das für sehr menschliche Wesenszüge und Konflikte steht. Das ist oft harte Kost, die den Freunden des Heul-und-Rumpel-Horrors à la Koontz oder Lumley zu beißen geben dürfte.

Freilich sind manche der vorgestellten Geschichten objektiv langatmig, weil nicht zeitlos, sondern einfach nur altmodisch, abschweifend oder aus heutiger Sicht schlecht getimt. Das Risiko muss man eingehen, verlässt man allzu ausgetretene Pfade, um – hier in der Phantastik – neue Wege zu beschreiten. Nicht jede dort gemachte Entdeckung ist sensationell, doch interessant und anregend ist so eine Tour allemal!

_Die „Gespenster“-Trilogie des |Diogenes|-Verlags:_

(1956) „Gespenster: Die besten Gespenstergeschichten aus England“ (hg. von Mary Hottinger)
(1978) [„Mehr Gespenster: Gespenstergeschichten aus England, Schottland und Irland“ 3833 (hg. von Mary Hottinger)
(1981) „Noch mehr Gespenster: Die besten Gespenstergeschichten aus aller Welt“ (hg. von Dolly Dolittle)

http://www.diogenes.de/

Irtenkauf, Dominik – Worträtsel. Aufgabe in Mensch und Wort

Dominik Irtenkauf versteht es, den verheißungsvollen Untertitel, den sein zweites Buch trägt, mit Leben zu füllen. Seine Literatur ist aus zweierlei Gründen eine Alchemie: Zum einen transformiert sie Sprache, sodass sich die Worte beginnen zu krümmen und zu strecken und schließlich einen farbenfrohen Zoo lebendiger Literaturen ergeben, zum anderen geht es Irtenkauf um eine Erforschung der verborgenen Prägungen seiner Texte. Er kann selbst nicht mit Gewissheit sagen, ob er das, was nun verfasst vor ihm liegt, selbst vollständig entschlüsseln kann. Seine literarische Erforschung des Rätselhaften bleibt unabgeschlossen. Das ist ihm ein wichtiger Zug.

„Worträtsel. Aufgabe in Mensch und Wort“ ist ein unaufgeregtes Buch. Es wirkt nüchtern; es ist keinesfalls bockbeinig, wie Irtenkaufs Vorgänger [„Der Teufel in der Tasche“. 2657 Die vielen Rätsel zwischen den Zeilen kommen völlig ohne subversiven Stachel aus, sie sind eher subtil, aber nicht trocken. Das offene Bekenntnis spricht Irtenkauf auf Novalis. Denn sein rätselhafter Weg führt nach Innen. „Meine ehrliche Absicht liegt in der Bewusstmachung der verschrobenen Wege im eigenen Kopf“, wie es im Nachwort heißt.

Irtenkauf spielt mit verträumter Anmut, keine Frage, doch begegnet sie dem Leser keineswegs in Form romantischer Trunkenheit. Die Erzählungen führen uns in wohlüberlegte Denkfiguren ein: in Erkenntnis- und Entwicklungswege und, wen wundert’s, in Rätsel, deren spürbare Verschlossenheit gerade den Reiz der erzählten Geschichten ausmachen.

Dominik Irtenkauf präsentiert mit „Worträtsel. Aufgabe in Mensch und Wort“ eine Sammlung unterschiedlicher Erzählungen: frühe Werke, aktuelle Werke, alles dabei. Wir erleben eine Expedition, fahren mit dem Taxi durch die nächtliche Stadt, besuchen den Zirkus und unternehmen Reisen in archaische Zeiten. Die Vielfalt ist Programm, das betrifft Form und Inhalt. Irtenkaufs Geschichten zeigen nicht zuletzt, dass der Literat von heute keine Schreibstubenkultur betreibt, sondern sich – wie Irtenkauf betont – mutig unserer komplexen Welt entgegenwirft, die Konfrontation nicht scheut und auch mit nüchternen Worten den Oberflächenbewohnern zu zeigen imstande ist, dass Dreidimensionalität im 21. Jahrhundert nicht aus der Mode gekommen ist.

_Aus dem Inhalt_

Byzantinischer Schlaf
Abziehbild eines Ausgangs
Kubbeln
Nur ein Flügel hat gestreift
Jenseitstraum
Rasender Schwund
Rabenwetter
Verunglückung
Nachwort: Rätsel in Wort und Mensch

http://www.mischwesen-av.de/

Irvine, Ian – magische Relikt, Das (Die drei Welten 2)

Band 1: [„Der Spiegel der Erinnerung“ 3928

Llian und Karan sind den Whelm vorerst entwischt. Aber sie sind mitten in den Bergen, ihr Proviant ist verbraucht, und Llian leidet an der Höhenkrankheit. Karan entschließt sich, Shazmak aufzusuchen, die Feste der Aachim, in der sie sechs Jahre lang gelebt hat. Obwohl sie die Aachim als Freunde betrachtet, hat sie kein gutes Gefühl dabei, denn ihr ist klar, dass Tensor, der Oberste der Aachim, den Spiegel für sich beanspruchen wird. Als Karan und Llian Shazmak erreichen, ist Tensor nicht da. Doch er weiß bereits von dem Spiegel und setzt den Bibliothekar Emmant auf Karan und Llian an. Schon bald schweben die beiden in höchster Gefahr …

Maigraith kämpft derweil gegen die Folter an. Sie ist kurz davor zu zerbrechen; schon ist ihr eine Andeutung über Karan entschlüpft, die ihre Freundin in größte Gefahr bringen wird. Da erscheint eine Illusion von Faelamor und befreit sie aus Fiz Gorgo. Wir Maigraith erwartet hat, ist Faelamor über ihr Versagen höchst verstimmt. Maigraith plagen die üblichen Schuldgefühle, zum ersten Mal jedoch regt sich auch Trotz in ihr. Faelamor spürt diesen Trotz, nimmt ihn allerdings nicht allzu ernst. Ein Fehler …

_Charaktere_

Wurde im ersten Band neben den Hauptfiguren Karan und Llian vor allem Yggur etwas deutlicher dargestellt, so sind diesmal Faelamor und Tensor an der Reihe.

Tensor ist Oberster eines einst stolzen und mächtigen Volkes. Mächtig sind die Aachim heute trotz gewisser magischer Fähigkeiten nicht mehr, aber ihr Stolz ist ungebrochen. Tensor erhebt nicht allein deshalb Anspruch auf den Spiegel von Aachan, weil die Aachim ihn einst geschaffen haben, sondern vor allem, weil er glaubt, mit dessen Hilfe die Charon besiegen zu können, die vor langer Zeit den endlosen, blutigen Krieg des Kataklysmus für sich entschieden. Tensor will Rache und die Rückkehr seines Volkes zu seiner alten Macht. Dafür nimmt er sogar in Kauf, dass sein Verhalten seine Ehre beschmutzt, obwohl die Ehre einem Aachim sonst über alles geht.

Faelamor ist die Oberste der Faellem. Mehrmals wird betont, dies bedeute, dass Faelamor nicht nur die Oberste sei, sondern sie sei die Faellem. Was das allerdings genau bedeutet, wurde bisher nicht erklärt. Faelamors einziges Ziel ist, die Faellem wieder in ihre eigene Welt Tallallame zurückzuführen, aus der sie einst kamen, um das Gleichgewicht zwischen den Welten zu bewahren. Die Faellem haben sich in Santhenar nie wirklich zu Hause gefühlt, und inzwischen ist das Heimweh so übermächtig geworden, dass Faelamor jedes Mittel recht ist, ihr Ziel zu erreichen.

Karan wird derweil immer schwächer. Wurde sie im ersten Band hauptsächlich körperlich bedroht, wächst nun die Bedrohung ihres Geistes. Sie fürchtet sich vor Emmant, der geradezu von ihr besessen ist, und kann den Verlust ihrer Freundschaft mit den Aachim nur schwer verwinden. Am meisten setzen ihr jedoch schwere Alpträume zu, die mit den Whelm zusammenhängen. Das Einzige, was sie davon abhält, dem Wahnsinn zu verfallen, ist Llians Gegenwart.

Llian ist immer noch ungeschickt, sowohl mit den Händen als auch im Umgang mit anderen Leuten. Immerhin sorgt seine wachsende Zuneigung zu Karan dafür, dass er allmählich anfängt, auch einmal die Initiative zu ergreifen. Seine Ideen sind meist ziemlich verrückt, und manchmal auch nicht wirklich gut durchdacht. Deshalb halten ihn alle für ziemlich töricht, was ihm gelegentlich zum Vorteil gereicht.

Letztlich gilt für die Charakterzeichnung des zweiten Bandes dasselbe wie für den ersten: Karan und Llian sind wirklich gut getroffen, vor allem Karans wachsende, geistige Angegriffenheit. Tensors und Faelamors Entwurf ist ebenfalls interessant, die Darstellung allerdings ist eher oberflächlich geblieben. Zwar kann man ihre Beweggründe nachvollziehen, sie sind aber nicht intensiv genug geraten, um sie auch nachfühlen zu können. Anders als Yggur oder Idlis bleiben diese beiden fern und kalt.

_Handlung_

Mit ein Grund dafür ist, dass das Hauptgewicht der Erzählung auch hier wieder auf der Handlung liegt. Und wieder besteht diese fast ausschließlich aus Flucht. Zu den ursprünglichen Verfolgern haben sich neue hinzugesellt, das macht es ein wenig komplexer, vor allem die Szenen, die in Narne spielen. Abwechslungsreicher wird das Geschehen dadurch allerdings nicht.

Der Auftritt Faelamors und Tensors hat den Blickwinkel auf die Welt ein wenig mehr ausgeweitet, das meiste besteht jedoch aus Andeutungen, die eine Menge neuer Fragen aufwerfen. Antworten erhält der Leser keine, auch nicht auf diejenigen Fragen, die sich bereits im ersten Band stellten. Die Ausarbeitung ist bisher äußerst grob. Man erfährt kaum etwas über die Aachim – über ihre Magie, ihre Kultur oder dergleichen -, und über die Faellem noch weniger. Der historische Hintergrund zeigt sich lediglich in Llians Geschichten etwas ausführlicher, diese Geschichten sind aber äußerst rar.

Dadurch entsteht der Eindruck, als diene Karans und Llians Flucht nur dazu, Stück für Stück die Spielfiguren auf einem Schachbrett aufzustellen. Tatsächlich ist eine allmähliche Erweiterung der verschiedenen gegnerischen Parteien das Einzige, was am Ende des Buches übrig bleibt.

_Schade_, ich hatte mir mehr von der Fortsetzung erwartet. Nach achthundert Seiten weiß der Leser noch immer nicht, was dieser Spiegel, auf den alle so scharf sind, eigentlich genau vermag; vom eigentlichen Gegner weiß er lediglich den Namen, aber nicht, wer oder was dieser Gegner genau ist; er weiß, dass Karan, die Aachim und Faellem besondere Fähigkeiten besitzen, aber nicht, welche. Alles ist diffus und schwammig und lässt sich nicht richtig fassen, irgendwie weiß man selbst jetzt noch nicht, worum es hier eigentlich geht!

Zwar bietet der zweite Band einige gute neue Ansätze – so zum Beispiel Maigraiths verändertes Verhalten, Karans Alpträume und Faelamors Skrupellosigkeit -, da sie aber so schwach ausgearbeitet sind, bleiben auch sie vorerst nur eine Randerscheinung.

Vielleicht hätte mich das nicht einmal gestört, wenn diese Ansätze in eine neue Entwicklung der Ereignisse eingebettet gewesen wären. Stattdessen hat der Autor seinen Lesern weitere vierhundert Seiten Flucht angetan, welche nicht mehr in der Lage war, Spannung aufzubauen, sondern spätestens in Sith einen gewissen Überdruß verursachte. Bei einem so detailschwachen Hintergrund und solchen eher blassen Figuren muss die Handlung schon etwas mehr hergeben als eine verworrene Verfolgungsjagd. Und was nutzt der Aufbau einer Vielzahl gegnerischer Parteien, wenn keine von ihnen Biss hat?

Hier muss sich noch einiges tun, wenn der Zyklus den Leser bei der Stange halten soll.

_Ian Irvine_ ist Doktor für Meeresbiologie und hat einen Großteil des südpazifischen Raums bereist. Die Idee zu seinem Drei-Welten-Zyklus entstand bereits während des Studiums. Die damals entstandenen Karten und Skizzen dienten später als Basis für die Ausarbeitung, die inzwischen zwei Tetralogien umfasst und noch weiter ausgebaut werden soll. Abgesehen davon hat Ian Irvine den Öko-Thriller „Human Rites“ geschrieben sowie den Zyklus |Runcible Jones|. Der nächste Band des Drei-Welten-Zyklus „Der Turm von Katazza“ erscheint im November 2007.

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