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Martinez, A. Lee – Diner des Grauens

_Umtriebiger Nachwuchs …_

… hat das Licht der Bücherwelt erblickt in den Reihen zwerchfellkitzelnder Phantasten: A. Lee Martinez, ein 33-jähriger Bursche aus Texas, verbeugt sich vor der Komikergilde um Asprin, Pratchett, Rankin, Adams und Co. und hat mit „Diner des Grauens“ einen locker-flockigen Horrorspaß aus seiner Feder gewrungen. Ob er die Eminenzen von ihrem Gelächter-Thron stoßen wird, bleibt fraglich, der Unterhaltungswert dieses Debüts ist es nicht:

_Willkommen im |Gil´s all Fright Diner|!_

Zunächst: Man möge dem Klappentext der deutschen Ausgabe nicht allzu großen Wert beimessen, spricht er doch von Earl als dem „coolsten Vampir“ und von Duke als dem „fettesten Werwolf“ aller Zeiten. Nun, Earl wäre darüber sicherlich sehr geschmeichelt. Er würde sich durch die vampirischen Geheimratsecken fahren und sich freuen, dass er einmal nicht als weinerliche, hochneurotische Vampirnervensäge bezeichnet wurde. Duke allerdings würde dem Verfasser via eingeschlagenem Schädel klarmachen, dass sich eine riesenhafte, jähzornige Kampfmaschine mit unmenschlichen Kräften eben ungern als „fettester Werwolf“ bezeichnen lässt.

Besagtes Pärchen jedenfalls schaukelt mit einem rostigen Pickup durch die Wüsten von Amerika, um schließlich im |Gil´s all Fright Diner| abzusteigen. Wie das Schicksal so will, kommt eine Meute Zombies zur gleichen Zeit auf die gleiche Idee, und ein paar beschäftigungsreiche Augenblicke später bekommen die beiden von Bardame Loretta einen Job, gleich nachdem sie diverse Zombieüberreste vor die Tür gefegt hat.

Das Städtchen Rockwood hat nämlich schon seit längerem unter derartigen Heimsuchungen zu leiden, nicht erst, seit Gil, der ursprüngliche Besitzer des Diners, spurlos verschwunden ist. Also greifen Earl und Duke der beleibten Loretta unter die Arme und stellen fest, dass Rockwood ein wahrer Magnet für übernatürliche Unbilden zu sein scheint. Bald schon finden sie den Grund dafür heraus …

_Zwerchfell- und Nervenkitzel in einem._

Wie das immer so ist, mit „Sensationsromanen“ und mit Werken, denen man „den größten Spaß seit Douglas Adams“ attestiert; die heraufbeschworenen Erwartungen bleiben auf der Strecke. So auch beim „Diner des Grauens“. Aber auch wenn das kein „Sensationsroman“ ist, ist es doch ein wunderbar unterhaltsamer Zeitvertreib, bei dem man mal an den Nägeln kaut, sich mal den Bauch hält, und dann plötzlich erschrocken feststellt, dass man schon am Ende angelangt ist.

Es macht einfach Spaß, die beiden Protagonisten bei ihrem skurrilen Abenteuer zu begleiten: Earl ist ein weinerlicher, empfindlicher Feigling, der sich den ganzen Tag mit Duke in den Haaren liegt. Duke hingegen hat für alles, wenn er denn mal spricht, nur staubtrockene Kommentare übrig und legt ansonsten einen äußerst werwölfigen Aktionismus an den Tag. Kompliziert (und hoch amüsant) wird es, als sich Earl in eine Geisterdame verliebt (und diese Peinlichkeit unbedingt vor Duke verbergen möchte), und als Duke sich gegen die Annäherungen einer attraktiven Teenagerin wehren muss, obwohl ihm das Tier im Manne ganz Anderes schmackhaft macht. Als ob sie mit dem Geheimnis um den verschwundenen Gil und seinen Horror-Diner nicht schon genug um die Ohren hätten …

Die Story an sich gießt ganze Kellen an Spott über die Konventionen des Horror-Genres aus: Da beklagt Earl sich bitterlich, dass ihm den ganzen Tag pubertäre Mädels an die Wäsche wollten, weil das die Ausstrahlung von Vampiren nun mal so mit sich bringe, und er leidet unter riesigen Minderwertigkeitskomplexen, da die Medien unerfüllbare Erwartungen an untote Liebhaber stellen. Es gibt Protoplasma-pinkelnde Geisterhunde, einen sturen Magic-Eight-Ball, der sich nur mit Bonanza zu einer Antwort bestechen lässt, Ghouls, die sich Komplimente machen, während sie auf den tödlichen Sonnenaufgang warten, Beschwörungen in pubertärer Silben-Geheimsprache, und dergleichen mehr, das der Leser wohl besser selbst entdecken sollte.

_Wildwasserfahrt im Comicpark._

Die Figuren sind Comic-Figuren mit Leib und Seele. Keine ihrer Anwandlungen hat etwas Natürliches an sich, alles ist überspitzt und überdreht, aber Tiefe besitzen sie trotzdem. Earl und Duke beispielsweise; es gibt eine Geschichte, wie sie sich getroffen haben, warum sie zusammenhalten und wie sie mit ihrem Schicksal allgemein klarkommen. Aber auch die Nebenfiguren aus Rockwood haben, für ein Comic-Universum, glaubwürdige Motive.

Und diese Motive verknüpfen sich überhaupt erst zu der gesamten Story: Durch den Klappentext erwartet man eigentlich eine Ansammlung unsinniger Skurrilitäten, die mit einem losen Handlungsfaden aneinandergeknüpft wurden, aber das ist im „Diner des Grauens“ überhaupt nicht der Fall. Alles hat seinen Grund: Warum der alte Gil aus seinem Diner verschwunden ist, warum plötzlich Zombie-Kühe auftauchen, warum es ausgerechnet einen Vampir und einen Werwolf an diesen Ort verschlägt. All das steigert sich zu einem Showdown, der nicht nur in sich schlüssig ist, sondern auch spannend, und der an seinem Ende keine offenen Fragen hinterlässt.

Pluspunkte gibt es außerdem für Tammy: Die Antagonistin ist eine hübsche Achtzehnjährige, ein typischer Vamp, die jeden Typen genau in die Richtung manipuliert, in die sie ihn haben möchte, obwohl der Verhexte genau weiß, dass er damit in das offene Messer rennt. Standard eigentlich, so sehr, dass man fast schon von archetypisch sprechen könnte, aber Martinez hat die Verführkünste seiner Gegenspielerin derart lebensecht und spürbar in Szene gesetzt, dass der Verfasser dieser Zeilen zugegebenermaßen recht kribblig geworden ist, das eine oder andere Mal …

_Schmackhaftes Desert nach schweren Gängen._

Nein, es bleiben kaum Wünsche offen nach dem Besuch von Gil’s Diner. Natürlich, um Hochliteratur handelt es sich dabei nicht, aber für einen luftigen Snack nach allzu schwerer Kost taugt es allemal. Zwar erreicht Martinez keinesfalls den Ideenreichtum eines Douglas Adams oder eines jungen Terry Pratchett, und auch ist „Diner des Grauens“ nicht so ausgeklügelt und augenzwinkernd wendungsreich wie die Dämonen-Abenteuer von Robert Asprin. Aber für einen Einstand in das Genre hat sich der junge Texaner hervorragend geschlagen.

Und, um den Brückenschlag zur einleitend erwähnten Umtriebigkeit zu vollführen: Martinez ruht sich auf diesen Lorbeeren keineswegs aus. Im August dieses Jahres wird sich „In the Company of Ogres“ zur Aufgabe machen, das Fantasy-Genre zu verhöhnen, „The Nameless Witch“ ist schon fertig verfasst und befindet sich in der Korrekturphase, während sich Agent und Verleger von Martinez schon über „Nessys Castle“ beugen, und über „Automatic Detective“, eine Verballhornung des Noir-Krimis mit „Robotern, Mutanten und anderem coolen Zeug“. Ob Martinez seinen Horizont erweitern wird? Oder ob er in Pratchett’sches Gag-Recycling verfallen wird? Ob er sein Pulver schon verschossen hat, oder ob er gerade mal anfängt, warm zu werden? Keine Ahnung. Seine Chance hat er sich jedenfalls mit dem „Diner des Grauens“ verdient!

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Silverberg, Robert (Hrsg) – Legenden – Das Geheimnis von Otherland

_Ein neuer Blick in den Silbernen Schrein._

1999 wurde „Der Silberne Schrein“ für uns geöffnet, und zwar von Robert Silverberg, der sich der lobenswerten Aufgabe verschrieben hat, dem interessierten Leser einen Einblick in die Welt der Fantasy-Giganten zu gewähren. Ursula Le Guin, George R. R. Martin, Stephen King, etc., sie alle haben kurze, eigenständige Erzählungen verfasst, die in ihren Universen spielen, die dem Leser ihre Figuren vorstellen, und die mit ihrer sprachlichen Geschicklichkeit begeistern. Jetzt, sieben Jahre später, präsentiert uns der |Piper|-Verlag die Fortsetzung, hat sie aber in zwei Teile aufgespalten. „Das Geheimnis von Otherland“ ist der zweite.

_Tad Williams – „Der glücklichste tote Junge der Welt“_ (Otherland)

Orlando Gardiner ist tot, sein Geist aber befindet sich noch in Otherland, wo er wichtige Kontrollaufgaben zu erledigen hat. Trotz seiner Macht in der virtuellen Welt schleicht sich die Depression an ihn heran, die Kontakte mit seinen Eltern sind peinlich und zermürbend, seine Freundin Lisa dagegen wird immer älter und entfremdet sich von ihm. Es bleibt ihm nichts übrig, als in den verschiedenen Subwelten von Otherland herumzuwandern und Zerstreuung zu suchen; wenn er sich zurückziehen möchte, tut er das in Bruchtal, wo er mit Elrond zu Abend isst. Mitten in seinem ganzen Frust taucht aber plötzlich eine junge Dame auf, die behauptet, von ihm schwanger zu sein. Irritiert macht er sich auf die Suche nach ihr, doch immer, wenn er sie fast erwischt, zerplatzt sie wie eine Seifenblase. Während er noch grübelt, stellt er fest, dass sich dieses Phänomen über ganz Otherland auszubreiten scheint …

Also alleine der Anfang ist es wert, diese Story zu lesen: Da sitzt Orlando Gardiner alias Tharagorn in einem virtuellen Bruchtal, als ein besonders haariger Hobbit hereinstürmt und ihn als Elbenknuddler verspottet, ehe er ihm dann die Termine unterbreitet, die heute noch zu erfüllen sind. Dieser Hobbit ist nämlich nichts anderes als Orlandos Terminplaner, eine rotzfreche KI, die nur köstliche Unverschämtheiten von sich gibt.

Aber auch sonst ist „Der glücklichste tote Junge der Welt“ eine tolle Leistung, die Figuren sind echt, die Konflikte mitreißend, und die Erklärung des Universums fügt sich fast meisterhaft in die Spannungsbögen ein. Auch wenn das Ende einen nicht von Hocker pfeift, die Stimmung ist toll, die Ideen sind spritzig und der Spaß, den Williams beim Schreiben hatte, sickert aus jeder Zeile. Unbedingt lesenswert!

_Terry Brooks – „Unbeugsam“_ (Shannara)

Jair Ohmsford hat seinerzeit das Ildatch zerstört, ein finsteres Buch voll schwarzer Magie, das beinahe die ganze Welt verschlungen hätte. Heute hat Jair eigentlich seinen Frieden gefunden, doch da taucht Kimber auf, eine hübsche Messerwerferin und alte Bekannte. Ihr Großvater, sagt sie, glaubt, dass eine Seite des Ildatch-Buches überlebt habe, und deswegen soll er ihr unbedingt zu folgen, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Natürlich wird Jair von dem alten Mann überzeugt, dass tatsächlich eine solche Seite überlebt hat, und so machen sich die Drei auf die Reise, um sie zu vernichten.

Etwas Neues gibt es für den Fantasy-Fan hier nicht zu bestaunen. Brooks schleppt den Leser mit einer Standard-Story durch sein Shannara-Universum, seine Figuren zögern und zaudern auf ihrer Reise zum unvermeidlichen Showdown und erklären in diesen recht zähflüssigen Passagen die Welt von Shannara. Neben ein paar netten Bildern hat „Unbeugsam“ kaum etwas zu bieten, das Ende zeichnet sich schon auf den ersten Seiten ab und das Universum hat einfach Staub angesetzt. Natürlich muss man dabei bedenken, dass der erste Shannara-Band schon 1977 erschienen ist, dementsprechend ist es durchaus in Ordnung, wenn Brooks hier „Standard“ schreibt, immerhin hat er den „Standard“ mitbegründet. Trotzdem. Für Shannara-Fans bestimmt interessant, für den Neueinsteiger oder modernen Fantasyleser eher Baldrian in Bücherform.

_Anne McCaffrey – „Jenseits des Dazwischen“_ (Die Drachenreiter von Pern)

Thaniel wartet auf seinem Hof darauf, dass ihm ein Impfstoff gebracht wird, der ihn und seine Kinder vor einer Seuche bewahren soll, die Pern heimsucht. Endlich taucht die Weyherrin Moreta aus dem Dazwischen auf und bringt ihm die ersehnten Medikamente. Erstaunt stellt Thaniel fest, dass Moreta nicht auf „ihrem“ Drachen reitet, dabei ist es doch in ganz Pern bekannt, dass zwischen Drachen und Reiter ein immerwährendes Band herrscht; wenn der eine stirbt, sucht auch der andere den Tod. Thaniel wagt es nicht, die adlige Frau nach Gründen zu fragen, und so springt Moreta nach dem Abschied ins Dazwischen, jenem seltsamen Ort, der von den Drachenreitern durchschritten wird, um große Entfernungen in kurzer Zeit zurückzulegen. Nur diesmal bleiben Moreta und ihr Drachen im Dazwischen verschollen. Alle glauben schon, sie sei für immer verloren, doch da fangen Thaniels Pferde Nachts zu wiehern an, immer zur gleichen Zeit …

„Jenseits des Dazwischen“ ist ein gemächliches Stück Fantasy, das die komplexe Pernwelt erklärt, ohne in übermächtige Erzählpassagen umzukippen. Es ist nicht spannend, Konflikte gibt es kaum, und manches Ereignis wird überflüssigerweise aus mehreren Perspektiven erzählt, aber schlecht ist „Jenseits des Dazwischen“ trotzdem nicht. Es ist eine Geschichte wie ein Sonntagsspaziergang: nett, aber nicht umwerfend. Für den Pern-Kenner kann das natürlich wieder ganz anders aussehen! Mir hat aber „Die Läuferin von Pern“ im „Silbernen Schrein“ besser gefallen.

_Neal Gaiman – „Der Herr des Tals“_ (American Gods)

Die Menschen, die nach Amerika auswanderten, haben ihre Götter mitgebracht. Mr. Wednesday ist Odin, der den neuen Göttern Geld und Medien den Krieg angesagt hat, sein Helfer ist Shadow, um den es in dieser Novelle geht. Shadow sitzt in einer Kneipe in Schottland und wird plötzlich angesprochen, ob er nicht einen Leibwächterjob übernehmen möchte. Obwohl ihn die Bardame Jennie eindringlich davor warnt, nimmt er den Job an. Türsteher soll er sein, an einem abgelegenen Haus in den Bergen. Die Gäste reisen an, alle aus oberen Kreisen, und Shadow schwant allmählich, dass sein Job nicht so einfach ist, wie er sich das erhofft …

Ähnlich wie bei Tad Williams kommt der Leser hier in den Genuss einer Universenbeschreibung, die hervorragend in den Spannungsaufbau eingebunden ist. Hier gibt es keine langatmigen Erklärungspassagen, alles spielt sich während der Handlung ab und hält uns bis zur letzten Seite bei der Stange. „American Gods“ wirft ein seltsam entrücktes Licht auf unsere Welt: Es gibt Götter und Fabelwesen, sie wandeln unter uns in Menschengestalt und würden neben einem gewissen Hang zum Exzentrischen niemandem auffallen. Ständig spielt sich Mysteriöses ab, zwischen den Zeilen der Gesellschaft sozusagen, in den Mantel normaler Aktivitäten gehüllt, zum Beispiel Dinnerpartys in abgelegenen Häusern. Gaiman ist ein moderner Autor, wie er im Buche steht; er zeigt alles, labert kaum, und die Charakterzüge seiner Figuren reichen bis in die spritzigen Dialoge hinein. „Der Herr des Tales“ ist nicht wirklich spannend, aber hochinteressant und ein gelungener Appetizer! „American Gods“ sollte man im Auge behalten!

_Raymond E. Feist – „Der Bote“_ (Midkemia)

„Der Bote“ ist die Geschichte des jungen Melders Terrance, der vor dem großen Wintereinbruch seinen ersten wichtigen Botenauftrag zu erledigen hat. Dabei verläuft nicht alles so, wie er sich erhofft hat; Krankheit erschwert seinen Auftrag ebenso wie diverse Wendungen, die der Krieg von ihm verlangt.

Ähnlich wie „Unbeugsam“ ist „Der Bote“ eine sehr einfache Geschichte; anders als Brooks schafft es Feist aber wirklich spannend zu erzählen. Die Unbilden, die ein Melder zu ertragen hat, erlebt der Leser am eigenen Leib; man friert mit Terrance, fürchtet sich mit ihm und leidet mit ihm, wenn er trotz Fieber und Müdigkeit hinaus in den Schnee muss, wo der Feind schon auf ihn wartet. Feist erzählt bunt und detailreich, man kann sehen, riechen, fühlen und schmecken, dabei erfährt man allerhand über den Krieg mit Midkemia, und spannend ist es auch noch. Zwar hat „Der Bote“ seine Längen, ist aber durchweg unterhaltsam; ob Feist damit aber das Interesse für den kompletten Zyklus zu wecken vermag, bleibt jedem selbst überlassen.

_Elisabeth Haydon – „An der Schwelle“_ (Rhapsody)

Das Universum von Haydons Rhapsody-Saga ist so komplex, dass das zweiseitige Vorwort nicht genügt, um es zu bändigen. So oft man es auch liest, die Details erschlagen einen geradezu. Aber für „An der Schwelle“ braucht man all das gar nicht zu wissen: Es ist die Geschichte einer Gruppe Soldaten, die auf der Insel Serendair zurückgeblieben ist, obwohl deren Ende unmittelbar bevorsteht. Vor vielen Jahren ist ein Stern ins Meer gestürzt, vor der Insel, und löste eine Katastrophe aus. Eine Prophezeiung besagt, dass das „schlafende Kind“ aber in Kürze wieder erwachen würde, und die Anzeichen dafür häufen sich.

So warten die Soldaten also darauf, dass sie der erwachende Stern verschlingt. Dann allerdings taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, der die Hoffnung weckt, dass die Prophezeiung zu verhindern sei …

Das Positive zuerst: Haydon hat eine Menge Ideen. Negativ: Sie schafft es nicht, diese Ideen in ihre Handlung einzubauen. In „An der Schwelle“ haben wir also eine Ansammlung klassischer Fantasy-Figuren, die klassische Fantasy-Dinge tun (den Wind beschwören, durch die Gegend reiten, geheimnisvolle Fremde begleiten). Und während diese Figuren so im Klischee schwelgen, erzählen sie dem Leser in todlangweiligen Laberpassagen von der wunderbaren Tiefe ihres Universums, von den verschiedenen Kulturen, die es gibt, von Kriegen, usw. usf. Tut mir leid, aber auch die halbherzigen Wendungen genügen kaum, um mich aus dem lesetechnischen Dämmerschlaf zu reißen, eher im Gegenteil.

_Seitenstechen auf der zweiten Etappe._

Zunächst: Die Landkarten der jeweiligen Welten fehlen auch hier schmerzlichst. Wie sieht denn nun Midkemia aus oder Shannara? Ich hoffe schwer auf eine Bereinigung dieses Makels, wenn ein dritter „Legenden“-Band herauskommen sollte …

Zu „Legenden – Das Geheimnis von Otherland“ sei gesagt, dass die „Hit-Dichte“ geringer ist als in „Lord John – Der magische Pakt“. Neal Gaiman und Tad Williams haben Tolles vollbracht, aber Anne McCaffrey und Raymond Feist müssen sich den Stempel „unterhaltsamer Durchschnitt“ gefallen lassen, während auf Elisabeth Haydon und Terry Brooks gar das „Langweilig!“-Brandzeichen wartet.

Aber Trotzdem. „Legenden“ ist ein tolles Projekt und in seiner Gänze unterstützenswert, einen Kauf wird weder der Einsteiger noch der Kenner bereuen.

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Silverberg, Robert (Hrsg.) – Legenden – Lord John, der magische Pakt

_Ein neuer Blick in den Silbernen Schrein._

1999 wurde „Der Silberne Schrein“ für uns geöffnet, und zwar von Robert Silverberg, der sich der lobenswerten Aufgabe verschrieben hat, dem interessierten Leser einen Einblick in die Welt der Fantasy-Giganten zu gewähren. Ursula Le Guin, George R. R. Martin, Stephen King, etc., sie alle haben kurze, eigenständige Erzählungen verfasst, die in ihren Universen spielen, die dem Leser ihre Figuren vorstellen, und die mit ihrer sprachlichen Geschicklichkeit begeistern. Jetzt, sieben Jahre später, präsentiert uns der |Piper|-Verlag die Fortsetzung, hat sie aber in zwei Teile aufgespalten. „Lord John, der magische Pakt“ ist der erste.

_Diana Gabaldon – „Lord John und der magische Pakt“_ (Highland-Saga)

1754. Lord John Grey ist Verbindungsoffizier des ersten Hannoveraner Infanterieregiments und als solcher hat er sich um den reibungslosen Ablauf der Dinge zwischen den preußischen Truppen und denen der Engländer zu kümmern. Wäre das nicht schon schwierig genug, weil ein Angriff der Franzosen bevorzustehen scheint, werden preußische und englische Soldaten plötzlich Opfer seltsamer Tode. Schnell breitet sich der Aberglaube aus. Bestimmte Verletzungen und der Zustand der Leichen deuten darauf hin, dass ein Sukkubus sein Unwesen treibt, um sich des Nachts den Samen der Männer zu stehlen. Die Soldaten werden darauf immer schwächer und unkonzentrierter, da es niemand mehr wagt, nachts einzuschlafen, und plötzlich taucht im Königshaus eine Hexe auf und will den Prinzen entführen …

Lord John Grey ist ein „Spin-off“ der eigentlichen Highland-Saga, tritt er dort doch eigentlich als mehr oder minder wichtige Nebenfigur auf. Diana Gabaldon hat dem homosexuellen Adligen aber bereits zwei eigenständige Romane geschenkt, von denen momentan leider nur [„Das Meer der Lügen“ 87 erhältlich ist. Lord John ist jedenfalls ein sympathischer Ermittler, und es ist ein Genuss, mit ihm durch das 18. Jahrhundert zu streifen, um das Geheimnis dieses magischen Paktes zu entlarven. Gabaldon hat ein Händchen für originelle Bilder und für überraschende Wendungen, die im „magischen Pakt“ außerdem noch auf ein wohlkomponiertes Finale zusteuern. Es braucht zwar eine konzentrierte Aufmerksamkeit, um all die Haken der Story mitverfolgen zu können, aber das zahlt sich mehr als aus! Für mich ist Diana Gabaldon jedenfalls zu einem weiteren Namen auf meinem Einkaufszettel geworden.

_George R. R. Martin – „Das verschworene Schwert“_ (Das Lied von Eis und Feuer)

Einige Zeit ist vergangen seit den Ereignissen in „Der Heckenritter“, in dem Ser Duncan der Hohe ein Gottesurteil gefochten hatte und seitdem den jungen Knappen Ei an seine Seite weiß.

Mittlerweile hat Dunk sein Schwert Eustace Osgrey verschworen, einem kleinen Lord, dessen Geschlecht ausstirbt, der gerade mal drei Dörfer zu seinem Herrschaftsgebiet zählt und der von seinen Untergebenen nicht ernst genommen wird. Vor allem nicht von Bennis, dem Braunen Ritter, der es vorzieht, „wie ein gammliger Käse zu stinken“, als den Aufwand eines Bades zu ertragen.

Es ist Sommer in den sieben Königslanden, und eine Dürreperiode obendrein, und so kommt es, dass die Bauern der „Roten Witwe“ einen Damm errichten und Lord Osgreys Land damit das Wasser abgraben. Osgrey schickt Dunk und den Braunen Ritter, um nach dem Rechten zu sehen, Blut wird vergossen, und Kampf scheint unvermeidbar, aber dann versucht sich Dunk als diplomatischer Mittler bei der gefürchteten „Roten Witwe“ …

George R.R. Martin ist der Inbegriff moderner Fantasy, derjenige, der das Genre in Gefilden auslotet, die fern von Kitsch und Klischee sind, und er ist ein Meister seiner Disziplin. „Das Lied von Eis und Feuer“ ist ein hochkomplexer Zyklus voller Verwicklungen und politischer Intrigen, ist dabei aber gleichzeitig so flüssig und mitreißend zu lesen, dass der Tag plötzlich viel zu kurz erscheint. Die Erzählungen um Dunk, den Heckenritter, und Ei, seinen Knappen, spielen etwa hundert Jahre vor den Ereignissen im „Lied von Eis und Feuer“ und sind damit ideal für den Einstieg geeignet: Dem „Neuling“ werden keine entscheidenden Wendungen aus dem Hauptwerk verraten, und der „alte Hase“ kann sich an den vielen kleinen Anspielungen erfreuen, die auf Geschehendes hindeuten.

„Das verschworene Schwert“ macht da keine Ausnahme, kommt allerdings erst gemächlich in die Gänge. Viel politischer Hintergrund muss erst vermittelt werden, damit der Leser den Konflikt zwischen Lord Osgrey und der „Roten Witwe“ versteht, und teilweise wird man dabei fast erschlagen von Fakten und Namen. Die Mühe lohnt sich aber, dafür hat Martin erneut Figuren erschaffen, die atmen, mit denen man zittert, die man bedauert oder einfach nur hasst, es gibt unerwartete Wendungen, und der Spannungsbogen spannt sich bis zum Schluss. Wenn man erst einmal drin ist, kann man einfach nicht mehr aufhören. „Das verschworene Schwert“ ist trotz gelegentlicher Längen ein Martin, wie er im Buche steht, und wiederum bleibt mir nichts anderes übrig, als den Hut vor der Feder dieses Mannes zu ziehen. Ganz großes Kino!

_Orson Scott Card – „Die Yazoo-Queen“_ (Die Legende von Alvin dem Schmied)

Alvin, der Schmied, ist mal wieder unterwegs, in diesem alternativen Amerika, das keine Unabhängigkeitskriege erlebt hat und das vor Magie und seltsamen Talenten nur so sprüht. Dabei hat er natürlich seinen jungen Gefährten Arthur Stuart, einen Schwarzen, der sich darin übt, ein ebensolcher „Schöpfer“ zu werden wie sein Herr, dem das aber nicht so leicht von der Hand geht, weil er eben nicht der siebte Sohn eines siebten Sohnes ist.

Jedenfalls besteigen Alvin und Stuart die Yazoo-Queen, um herauszufinden, ob es sich dabei um ein verkapptes Sklavenschiff handelt oder nicht. Dort wird Alvin von einem William Barret Travis angesprochen, der ihn zu einer Expedition anwerben will, auf der man sich der Ausrottung der „verderbten Mexika-Stämme“ widmet, und er wird von einem mysteriösen messerschwingenden Fremden auf seine Tasche angesprochen, in der er den magischen Pflug mit sich führt. Arthur Stuart indes, den es schrecklich anödet, sich wie ein „Boy“ verhalten zu müssen, bemüht sich um die Befreiung gefangener Sklaven.

Vorab: Für einen Orson Scott Card ist das eine erstaunlich schwache Story. Sicher, die Abrechnung mit dem Sklaventum trifft ins Schwarze, die schrägen Auftritte großer Persönlichkeiten aus der amerikanischen Geschichte sind unterhaltsam und Cards Dialoge sind so spritzig wie eh und je, aber einen wirklichen Spannungsbogen gibt es nicht. Zudem fehlt der „Yazoo-Queen“ der tolle trockene Humor, durch den sich „Der Grinsende Mann“ in der Vorgängeranthologie ausgezeichnet hat. Trotzdem ist „Die Yazoo-Queen“ ein unterhaltsamer Blick in die Welt von Alvin dem Schmied.

Vielleicht kann man diese Story erst dann richtig genießen, wenn man den kompletten Alvin-Zyklus gelesen hat, und das ist für den deutschsprachigen Leser ohnehin unmöglich. Die ersten vier Bände tauchen höchstens noch in Antiquariaten auf, und die beiden letzten Bände „Heartfire“ (1998) und „The Crystal City“ (2003) wurden bisher noch nicht ins Deutsche übersetzt. Also bitte, lieber |Piper|-Verlag, übernehmen Sie!

_Robin Hobb – „Heimkehr“_ (Die Zauberschiffe)

Robin Hobb gilt seit ihrem Zyklus über den Assassinen Fitz Chivalry Weitseher als eine Fantasy-Virtuosin im Fahrwasser von George R. R. Martin. Ihr Zyklus „Die Zauberschiffe“ spielt in derselben Welt wie der Assassinen-Zyklus, jedoch weit südlich von den Herzogtümern: Auf den Pirateninseln und dem sagenhaften Regenwildfluss. Der Kurzroman „Heimkehr“ spielt vor dem ersten Band der Zauberschiffe-Saga.

Jathan Carrocks hat sich entehrt und wird deswegen vom Satrapen Esclepius enteignet und ins Exil geschickt. Er hat die zweifelhafte Ehre, eine Kolonie in den Ländern am Regenwildfluss aufzubauen, und darf sich dort eine neue Existenz verschaffen. Das alles geschieht sehr zum Missfallen seiner Gattin Carillion Waljin Carrock. Diese fühlt sich nicht ihrem Stand gemäß behandelt, sondert sich gegen die anderen „Gemeinen“ ab und hat schwer mit ihren Kindern zu kämpfen, da ihr Dienstmädchen sich gegen sie auflehnt. Besonders schwer ist das deswegen, weil sie ein Ungeborenes in sich trägt. Jedenfalls zieht sich die Fahrt mit den Schiffen schier endlos hin, und als endlich der verheißungsvolle Regenwildfluss angelaufen wird, wähnt sich Lady Carillion am Ende ihrer Strapazen. Aber die fangen gerade erst an; ätzendes Wasser, und lockende Stimmen sind noch die harmlosen Gefahren, die in dem sumpfigen Regenwald auf sie lauern …

In Zeiten moderner Fantasy ist man es eher gewohnt, mit einer Art „schriftstellerischen Kameraführung“ an die Ereignisse herangeführt zu werden. „Zeigen, nicht Erzählen!“ ist das Mantra, das jeder lernwillige Jungautor vor sich herzubeten hat, wenn er auf einen Verlag hoffen möchte. Robin Hobb ist aber keine Jungautorin mehr, und dementsprechend pfeifft sie auf derartige Konventionen und entstaubt den guten alten Tagebuch-Stil. Und anders hätte ich „Heimkehr“ nicht erzählt bekommen mögen!

Man begleitet Lady Carillion von Anfang an, beobachtet sie, wie sich die hochnäsige Adlige an das neue Leben herantastet, und sieht ihr dabei mitten in den Kopf. Auch wenn es sich anfangs etwas zäh entwickelt, „Heimkehr“ ist eine unglaublich intensive Story, Angst und Verzweiflung sind ständige Begleiter der Kolonialisten und man spürt selbst, wie einem die Endlosigkeit des Urwaldes aufs Gemüt drückt. Und dann sind da ja noch diese seltsam sirenenhaften Gesänge und rätselhaften Träume. Unbedingt lesenswert!

_Robert Silverberg – „Das Buch der Veränderung“_ (Majipoor)

Majipoor ist ein Planet, zehnmal so groß wie die Erde und von wundervoller Idylle. Seine Geschichte ist erfüllt von Kriegen mit den metamorphen Ureinwohnern, aber auch von Zeiten des Friedens. „Das Buch der Veränderung“ spielt etwa zehntausend Jahre nach der Besiedelung von Majipoor durch den Menschen, aber gleichzeitig viertausend Jahre vor den Ereignissen, die im ersten Majipoor-Roman beleuchtet wurden.

Prinz Aithin Furvain ist der fünfte Sohn eines Coronals, des „Vize-Herrschers“ von Majipoor, und als dieser hat er keine größeren Aufgaben zu übernehmen als ein angenehmes Leben zu führen. Er hat sich seinem Schicksal gefügt, frönt seiner Leidenschaft, leichte Gedichte zu verfassen, hat mit allerlei Frauen das Bett geteilt und hält auch sonst Ehrgeiz für eine schrecklich überbewertete Sache. Immer öfter jedoch drücken ihm die Errungenschaften seines Vaters auf die Seele und er hat das Bedürfnis, dieser sich ausbreitenden Seelenleere den Kampf anzusagen. So bricht er also auf, um die Schönheit Majipoors in aller Einsamkeit zu erkunden, und wird prompt gefangen genommen von Kasibinon, einem Banditenfürsten, der von Furvain nichts Geringeres erwartet als eine große dichterische Schöpfung …

Er liest sich Anfangs recht unterhaltsam, der Wandel des Taugenichtes Furvain, der auf seinen Reisen plötzlich mit Gefahren und Verantwortung konfrontiert wird. Öde wird es erst, als Furvain seine dichterische Größe entdeckt. Der Konflikt mit seinem Geiselnehmer schwindet plötzlich zu einem Randdasein, während die Entstehung von Furvains Großwerk zu ständigen Rückblenden missbraucht wird, die den Leser darüber hinaus mit einer Unmenge staubtrockener Infos über das Majipoor-Universum erschlagen. Schade! Wenn Silverberg damit beabsichtigte, einen Überblick über Majipoor zu vermitteln, hat er sich eine denkbar ungünstige Methode ausgesucht! Wenigstens der Anfang ist eine bildreiche Wanderung durch die Idylle des Planeten, mit den Augen glaubwürdiger Figuren betrachtet. Wenn der Schluss diesen guten Eindruck nicht so schändlich in den Staub getreten hätte, wäre „Das Buch der Veränderung“ nicht nur „nett“ gewesen, sondern richtig gut.

_Spannendes Projekt, spannend fortgesetzt._

„Legenden II“ ist in seiner Gänze eine würdige Fortsetzung zu „Der siebte Schrein“ und lohnt der Anschaffung, nicht nur, um dieses tolle Projekt zu unterstützen! Aber einen kräftigen Punktabzug gibt’s trotzdem:: Wo sind die Karten? Die sieben Königslande von Martin, die Pirateninseln von Hobb, und natürlich das alternative Amerika von Orson Scott Card … Es ist schon schwer genug, einen Eindruck von einem fremden Fantasy-Universum zu bekommen, wenn man mittels eines Kurzromans hineinschnuppert, aber ohne die Karten fühlt man sich wie ein Blinder in einem fremden Land. Wenn es also eine Fortsetzung von „Legenden“ geben sollte (Martin bastelt ja schon an einer dritten Dunk-Novelle), bitte, gebt uns Fantasy-Lesern die Landkarten, die wir so gerne mit dem Finger bereisen!

Aber auch so ist „Legenden – Lord John, der magische Pakt“ unbedingt kaufenswert, für Einsteiger und „Profis“ gleichermaßen.

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Fergus Fleming – Neunzig Grad Nord. Der Traum vom Pol

Die vielen Versuche, den Nordpol zu erreichen, werden vom Verfasser zu einer „Entdeckungsgeschichte“ gebündelt, ein ehrgeiziges aber geglücktes Unterfangen, das unter Wahrung der historischen Tatsachen die absurden Aspekte eines an sich sinnlosen Wettlaufs betont. Als Sachbuch ebenso informativ wie spannend und witzig, wobei der Autor freilich manchmal literarisch etwas nachhilft, um für die gewünschten Humoreffekte zu sorgen.  Fergus Fleming – Neunzig Grad Nord. Der Traum vom Pol weiterlesen

Meißner, Tobias O. – letzten Worte des Wolfs, Die (Im Zeichen des Mammuts 2)

_Totenschädel und Kreuzknochen …_

… für all jene, die den ersten Band [„Die dunkle Quelle“ 1938 noch nicht kennen, sich aber trotzdem diese Rezension einverleiben wollen. Ich bin ein (so weit es geht) beinharter Verfechter von „spoilerfreien“ Rezensionen, aber hier werden zwangsläufig Details angesprochen, die sich im ersten Band erst entwickeln mussten. Um trotzdem Interessierte nicht unverrichteter Dinge von dieser Seite zu scheuchen, sei wiederholt, dass „Im Zeichen des Mammuts“ ein origineller Fantasy-Zyklus ist, dessen kompletter Plot während einer siebenjährigen Rollenspiel-Kampagne entwickelt wurde. Keine ermüdende Endlosreihe also, sondern ein kompaktes Fantasy-Spektakel mit definitiv geplantem Ende.

_Können Mammuts schwimmen?_

Diese Frage muss sich die Truppe um Rodraeg Delbane und das Schmetterlingsmädchen Naenn bald stellen, denn eine neuer Auftrag ist in ihr Hauptquartier geflattert, losgeschickt vom geheimnisvollen „Kreis“ und dem rasch sich verjüngenden Kindgreis Riban Leribin. Ausgeruht vom Desaster in den Schwarzwachsminen und unter den ersten Ausläufern von Langeweile leidend, kommt den Streitern vom „Mammut“ die neue Aufgabe gerade recht: In der Hafenstadt Wandry soll eine Herde Buckelwale angespült werden und verenden, wenn das Mammut nichts dagegen unternimmt. Das Schmetterlingsmädchen vermutet „Fängermagie“, eine seit Generationen verbotene Form der Zauberei, die unbedingt verhindert werden muss.

Gar nicht so einfach das Ganze, denn mit Migal, der sich der Truppe „Erdbeben“ angeschlossen hat, fehlt ihnen ein Mann, Rodraeg hustet sich wegen seiner schlimmer werdenden Schwarzwachsvergiftung die Seele aus dem Leib, und als ob das nicht schon genug Motivationsbremsen wären, bekommt Rodraeg von dem Schmetterlingsmädchen noch eine richtig üble Enthüllung an den Kopf geknallt.

Wenigstens ein neuer Mitstreiter wird schnell gefunden. Eljazokad ist ein umgänglicher, bescheidener Lichtmagier, der ähnlich mystische Träume hat wie Rodraeg und glücklicherweise in einer Hafenstadt aufgewachsen ist, was ihn zu einem idealen Kompagnon für ihr Vorhaben macht. Außerdem hat das Mammut vom Kreis eine Kutsche nebst Kutscher gestellt bekommen und könnte sich eigentlich entspannt auf die Reise machen. Dumm nur, dass sich Rodraeg von einem unheimlichen Fremden überreden lässt, ihn als Fahrgast mitzunehmen …

Tja, und dann taucht man wieder mitten ein in eine Geschichte voller Rätsel und Aufgaben, begegnet einem unheimlichen Geisterschiff, das einen Mitstreiter des Mammuts versklaven möchte, erlebt die erste Fantasy-Rock-Kapelle mit menschlicher P.A., schlendert zwischen den Rotleuchten des käuflichen Gewerbes umher, trifft Magier, Piraten, Säufer und Kinderbanden und sieht sich Auge in Auge mit einer Truppe unheimlicher Gesellen, deren Herkunft sich niemand erklären kann …

_Abenteuerlust und Fernweh._

Das befällt einen unweigerlich, wenn man die ersten Zeilen gelesen hat. Zwar war „Die dunkle Quelle“ schon mitreißend und spannend, kam aber, nach dem rasanten Prolog, erst allmählich in die Gänge, da Meißner ja erst seine Truppe zusammenwachsen lassen musste. In „Die letzten Worte des Wolfs“ ist das ganz anders: Man ist schon mittendrin, kennt jeden und fühlt sich beinahe wie zu Hause im Hauptquartier des Mammuts. Man freut sich über Bestars Speerwundengenesung, sorgt sich um Rodraeg wegen seines brutalen Hustens und brennt unglaublich auf die Abenteuer, die am Ende der zwölftägigen Kutschfahrt auf die Gruppe warten werden.

Damit kommt dann schon der nächste Pluspunkt. Das Abenteuer gestaltet sich vollkommen anders als im Vorgängerbuch: Lag der Schwerpunkt des ersten Bandes noch auf Konflikten zwischen den Figuren und auf wilden Actionszenen, so liegt er in diesem Band auf den Rätseln, die dem Mammut in der Stadt Wandry gestellt werden. „Rätsel“ ist dabei ein entscheidendes Wort: Die werden nämlich immer zahlreicher und tauchen Dinge, die man im ersten Band einfach als gegeben hingenommen hat, in völlig neues Licht. Wie sagte noch das Mädchen aus Eljazokads Traum so passend: „Ein Irrgarten, verdunkelt durch ein Rätsel, entfernt durch einen Abgrund, und dennoch greifbar nah.“

„Die dunkle Quelle“ war tatsächlich nur ein Auftakt, und im zweiten Band eröffnen sich viel mehr Zusammenhänge, aber auch viele neue Fragen, die einen darüber staunen lassen, in welche Tiefe die Details wirklich hinabreichen.

Abgesehen davon, dass die Handlung wesentlich praller ist als im Vorgänger, gibt es diesmal auch mehr Gerüche und optische Eindrücke zu bestaunen. Meißners Erzählstil ist „sinnlicher“ geworden, und das füllt eine Story gerade dann mit den nötigen Facetten, wenn sie in einer stinkenden Hafenstadt spielt! Besonders hervorzuheben ist Rodraegs Husten. Man kann mit dem armen Kerl tatsächlich mitfühlen, ständig glaubt man diesen kitzelnden Hustenreiz selbst in sich zu spüren und fürchtet mit ihm, wenn er mal wieder in einem verstaubten Archiv recherchieren muss …

_Ein Mammut ohne Konditionsprobleme._

Es bleibt beim positiven Resümee, das schon „Die dunkle Quelle“ für sich verbuchen konnte: keine überflüssigen Informationen, rasante Dialoge, eine Fantasywelt, in der sich Düsternis und Feenstaub angenehm die Waage halten, und Figuren, die glaubwürdig und konsequent gezeichnet wurden. Auch wenn „Das Paradies der Schwerter“ von der Presse (zu Recht) hochgelobt wird, kann die Atmosphäre, die Meißner dort erschaffen hat, nicht mit der Magie mithalten, die uns in der Welt des Mammuts verzaubert.

Ich werde die Fährte des Mammuts jedenfalls begierig weiterverfolgen, so viel steht schon mal fest, und es sieht nicht so aus, als ob Meißner auf halbem Weg die Ideen-Puste ausgehen könnte. Wer den ersten Band mochte, wird auch diesen mögen. Schade nur, dass das Buch schon zu Ende ist, wenn man erst richtig Lust auf mehr bekommen hat; die 340 Seiten verdampfen einem geradezu unter den Fingern. Aber wenn wir Glück haben, ist die Wartezeit auf den nächsten Band ja ebenso angenehm kurz wie jene zwischen Band 1 und 2. Wiederum ein herzliches „Respekt!“, Herr Meißner!

http://www.piper.de

Meißner, Tobias O. – Paradies der Schwerter, Das

_Das Paradies der originellen Ideen._

Tobias O. Meißner steht für ehrgeizige literarische Projekte, deren Erschaffung nichts mit üblichen Herangehensweisen zu tun haben: [„Im Zeichen des Mammuts“ 1938 zum Beispiel, Meißners aktuelles Projekt, verarbeitet die Ergebnisse einer siebenjährigen Rollenspielkampagne.

„Das Paradies der Schwerter“ steht dem nicht nach. Es gibt keinen allmächtigen Autor, der die Story auf ein geplantes und geglättetes Finale zusteuert, stattdessen erschuf Meißner ein Ensemble aus sechzehn Kämpfern, versah sie mit Zahlenwerten, die ihre Stärken und Fähigkeiten repräsentierten, schickte sie in ein Turnier um Leben und Tod, loste die Kampfpaarung selbst aus und würfelte schließlich den Gewinner heraus …

_Rollenspiel-Reality._

Damit wäre über die Story an sich alles gesagt, aber wer nun eine tumbe Schlachtenorgie erwartet, liegt vollkommen falsch. Die erste Hälfte des Buches beschreibt sie erst einmal alle: Die zukünftigen Teilnehmer, die Favoriten, die Veranstalter, von jedem werden die Motive aufgedeckt, manche edel, manche naiv und manche schändlich. Ein Wilderer muss das Turnier bestreiten, als grausame Alternative zu seiner Todesstrafe, weil er ein ganzes Herzogtum aufgemischt hat, ein sadistischer Patrizier nimmt an den Kämpfen teil, ein gedungener Mörder, ein Menschenfresser, zwei naive Brüder, ein noch naiverer Mönch, ein schweigsamer Waffenloser, ein frustrierter Jahrmarktsboxer, ein Gladiator, ein verhüllter Edelmann mit blutroter Klinge, ein mürrischer Kopfgeldjäger, ein Messerkämpfer, ein Barbar mit einem Pflug (!!!), ein trunksüchtiger Söldner, und Publikumsliebling Cyril Brécard DeVlame, der mit zuckendem Degen schon zwei solcher Leben-Tod-Turniere gewonnen hat.

In spannenden kleinen Nebengeschichten entwickelt Meißner seine Kämpfer, und sofort beginnt man sich zu überlegen, ob derjenige auch eine Chance hat, das Turnier zu gewinnen, ob er es verdient hat, das Turnier zu gewinnen. Im zweiten Drittel des Buches marschieren sie dann endlich ein in die hölzerne Arena, und man kann es selbst kaum aushalten vor Spannung: Welcher Kämpfer ist wie gut? Wer wird gegen wen gelost werden? Die beiden Brüder doch nicht etwa gegeneinander!? Immerhin lost der Autor das aus; wenn es geschieht, wollte es das Schicksal …

Immer wieder lässt Meißner dann auch den Blick durch die Zuschauerränge schweifen, auf die Nebenfiguren, die ihre ganz eigenen Erwartungen an die Kämpfe haben, die sich den Tod Bestimmter wünschen, oder den Sieg Anderer, weil ihre materielle Existenz davon abhängt. Auch hier lässt der Autor den Leser alleine: Es gibt keinen Protagonisten, niemanden, der „die richtige Sicht der Dinge“ vertritt, sondern eine Ansammlung von Individuen und Standpunkten, die man entweder teilen oder verabscheuen kann oder irgendetwas dazwischen.

Und als ob die Spannung noch nicht knisternd genug wäre vor dem ersten Kampf, geben noch zwei Buchmacher ihre professionelle Meinung ab und lenken die Aufmerksamkeit auf Details, die dem Leser ohne Turniererfahrung nie aufgefallen wären: Kämpfer XY mag ja geschickt mit dieser Waffe sein, aber gegen die Rüstung von Kämpfer AB wird er seine Probleme haben …

_Aleae jactae sunt._

Die Würfel sind gefallen. In der zweiten Hälfte des Buches wird gelost und gekämpft, punktum. Mehr zu verraten, wäre vorsätzlicher Spannungsmord. Nur so viel sei dem Leser anvertraut: Meißners Würfel nehmen auf gar nichts Rücksicht … und es ist ein seltsames Gefühl, wenn man das Buch wieder zuschlägt, ein Gefühl, das lange hängen bleibt und immer wiederkehrt, wenn einem der Einband ins Auge springt.

_Fantasy fern vom Kindchenschema._

„Das Paradies der Schwerter“ ist ein kompromissloses, düsteres und nachhaltiges Buch, das man jedem Freund moderner Fantasy ans Herz legen kann. Meißner ist kein Schwafler, seine Szenen enthalten keinen unnötigen Info-Ballast und starten immer mitten in der Handlung. Zeit zum Verschnaufen gibt es nie, selbst die „Erklärungspassagen“ beschränken sich nicht auf schlichtes „Erzählen“, sondern sind immer in Handlungsabläufe oder Dialoge eingebettet.

Trotzdem mag ich mich nicht ganz den Lobgesängen der Presse hingeben, denn für einen „absoluten Triumph“ genügt es dann doch nicht. Die knappe Sprache sorgt für Rasanz, hat dafür aber auch wenig Platz für Bilder, Gerüche und lebendige Eindrücke. Dazu kommt, dass Meißner manchmal einen Hang zu recht unschönen Schachtelsätzen hat.

Aber das war’s dann auch schon mit der Kritik. „Das Paradies der Schwerter“ ragt nämlich kilometerweit aus der Masse zuckriger Zauberstab-Fantasy heraus, nicht nur durch die Art, wie es entstanden ist: Es gibt keine heroische Verklärung, das Turnier ist eine schmutzige, voyeuristische Angelegenheit, von Ehre weit und breit keine Spur. Der Leser selbst macht diese Entwicklung mit, von anfänglicher, naiver Begeisterung hinab zu angeekelter Ernüchterung.

|Jetzt fingen die Wächter an zu kichern. „Gerechtigkeit?“ gluckste einer von ihnen. „Und die suchst du ausgerechnet hier, du armes Schwein?“|

„Das Paradies der Schwerter“ ist eine straffe, abgeschlossene Story, die durch würfelbedingte Wendungen auch den erfahrensten Leser zum Mitfiebern nötigt. Wer auf der Suche nach Helden und großen Epen ist, braucht dieses Buch gar nicht erst anzufassen, dem Dark-Fantasy-Leser jedoch dürfte dieses dunkle Gebräu hervorragend munden: bitter wie das Leben, mit einem blutigen Nachgeschmack von Staub und Dreck. Nun denn. Wohl bekomm’s!

|Siehe dazu auch das [Interview]http://www.buchwurm.info/artikel/anzeigen.php?id=35 mit dem Autor über „Das Paradies der Schwerter“ vom Juli 2004.|

Christa Bernuth – Innere Sicherheit

Literarisch betrachtet ist die Auseinandersetzung mit dem System der DDR noch recht wenig abgegrastes Territorium. Besonders in der Unterhaltungsliteratur muss dieses Thema eher selten als Romanszenario herhalten. Umso schöner und interessanter, mit „Innere Sicherheit“ von Christa Bernuth einmal einen Krimiplot vor dem Hintergrund des DDR-Regimes serviert zu bekommen, verspricht doch allein schon dieser Umstand Abwechslung vom sonst oft so üblichen Einheitsbrei des Krimigenres.

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Thomas Finn – Der Funke des Chronos

Handlung

1842 in Hamburg: Polizeiaktuar Kettenburg arbeitet daran, eine grauenerregende Mordserie zu lösen, die schon sieben Menschen das Leben gekostet hat. Das Perverse daran ist, dass den Opfern voher bei lebendigem Leibe der Schädel aufgesägt wurde. Die letzte Leiche wurde auf einem Leiterwagen gefunden. Der Mörder scheint wohl bei der Beseitigung der Leiche gestört worden zu sein …

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Paul Chambers – Die Archaeopteryx-Saga. Das Rätsel des Urvogels

Kleiner Vogel – große Wirkung

In 15 Kapiteln informiert Verfasser Paul Chambers populärwissenschaftlich über die Stammesgeschichte der Vögel. Als ‚Aufhänger‘ dient ihm dabei der Archaeopterix, der als erster „Urzeitvogel“ 1861 im bayrischen Solnhofen als Versteinerung gefunden (Kap. 1: „Der Glücksfund des Doktors“) und zum ‚Leitfossil‘ für die Rekonstruktion des Vogel-Stammbaums wurde. Der Archaeopterix stellte für die Zeitgenossen vor ein Rätsel, da er die Merkmale eines Reptils und eines Vogels vereint.

Er tauchte in einem Augenblick auf, als die Forscherwelt sich in einem religiös begründeten Streit zusätzlich entzweite. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Theorie einer Evolution der Arten nicht nur neu, sie widersprach auch der kirchlichen Lehre, wonach Gott Tiere (und Pflanzen) wie in der Bibel beschrieben geschaffen habe und diese unveränderlich seien. Das ‚Mischwesen‘ Archaeopterix verkörperte jenen Widerspruch, den die Anhänger der Evolution erwartet und deren Gegner gefürchtet hatten (Kap. 2: „Das fehlende Glied“; Kap. 3: „Der gefiederte Rätsel“). Paul Chambers – Die Archaeopteryx-Saga. Das Rätsel des Urvogels weiterlesen

Joseph Conrad – Der Geheimagent

Mr Verloc besitzt einen kleinen, überteuerten Krämerladen in Londons unvorteilhaftem Viertel Soho. Die Treppe hoch hinter dem schäbigen Laden wohnt er mit seiner Frau Winnie, deren geistig behindertem Bruder Stevie und ihrer Mutter.

Mr Verloc ist fett und faul.

Als Mieter von Winnies Mutter erflirtete er sich zunächst vor allem deren Gunst, und die alte Dame war froh darüber, dass dieser ruhige Mann, der ihrem schwierigen Sohn, dem Schuhputzer, immer so großzügig Trinkgeld gab, ihrer Tochter den Hof machte. Und als Winnies Liebschaft mit einem jüngeren Mann zerfiel, wandte sie sich eben Verloc zu, der ihren einzigen vom toten Vater ungeliebten Bruder wenigstens akzeptierte. Und so heirateten die beiden, und Verloc eröffnete mit dem Geld der Schwiegermutter seinen kleinen Laden und nahm dafür die bettlägerige Alte und Winnies debilen Bruder bei sich auf.

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Sara Douglass – Glaszauberin, Die (Die Macht der Pyramide 1)

Tirzah ist eine begnadete Glasschleiferin. Aber sie ist auch eine Sklavin. Zusammen mit ihrem Vater wurde sie in den fernen Süden verkauft, zur Tilgung seiner Spielschulden. Nicht einmal ihren wirklichen Namen durfte sie behalten. Nun schleift sie Glasnetze für eine riesige Pyramide, deren Zweck sie nicht versteht. Doch schon beim ersten Betreten des riesigen Bauwerks spürt sie, dass damit etwas nicht stimmt. Das Glas schreit regelrecht vor Qual und bittet Tirzah um Hilfe. Nur was für Hilfe? Und wie sollte eine Sklavin helfen können? Noch dazu, wo ihre Gabe des Verstehens von Elementen und den ihnen innewohnenden Geistern sie sofort den Kopf kosten kann …

Yaqob, ein Glasarbeiter wie sie, will die Sache auf seine Weise lösen: durch bewaffneten Aufstand. Bevor die Männer jedoch losschlagen können, bringt eine Reihe von Ereignissen alles durcheinander:
Ein Baustein, der oben an der Spitze der Pyramide für die Einfassung des gläsernen Schlusssteins verwendet werden sollte, macht sich selbstständig und tötet einen Sklaven! Die Tatsache, dass niemand in der Nähe war, der ihn hätte anstoßen oder hinunterwerfen können, macht den Bauleiter Ta’uz aus irgendeinem Grund äußerst nervös.

Chad Nessar, der König des Landes, kommt, um die Baustelle zu inspizieren und lässt bei seiner Abreise zusätzlich zu weiteren 2000 Mann Bewachung seinen Neffen Boaz zurück, einen der fanatischsten und härtesten Magier der gesamten Kaste. Und Boaz lässt, kaum dass er angekommen ist, Tirzah zu sich holen …

Tirzah ist nicht unbedingt die typische Heldin. Sie ist nicht ausschließlich zu dem Zweck geboren worden, um das Land Ashdod vor dem Untergang zu retten, keine Prophezeiung zwingt sie gegen ihren Willen, über sich hinauszuwachsen. Was das junge Mädchen vor allem auszeichnet, ist ein ausgeprägter Wille zu überleben. Sie fügt sich in alles, was ihr an Unbill widerfährt, in dem Bewusstsein, dass ihr nichts anderes übrig bleibt, doch ertragen kann sie es nur, weil sie auf gar keinen Fall sterben will. Sonst hätte sie womöglich längst den Freitod gewählt, scharfes Werkzeug steht ihr ja in ausreichender Menge zur Verfügung. Ihr Überlebenswille erstreckt sich aber nicht nur auf ihr eigenes Leben, sondern auch auf das ihrer Freunde. Yaqobs Revolte flößt ihr deshalb mindestens so viel Angst ein wie die Pyramide.

Dennoch ist Tirzah etwas Besonderes aufgrund der Tatsache, dass sie so viel Zeit mit Boaz verbringt. Sie steht in unmittelbarer Nähe zu diesem Mann, hat Einblicke, die sonst niemand hat und hält damit den Schlüssel in der Hand. Sie weiß, dass sie ihn eigentlich benutzen sollte, doch unwillkürlich geht sie den Weg des geringsten Widerstandes. Sie fürchtet sich zu sehr vor der Unberechenbarkeit ihres Herrn.

Yaqob ist davon ziemlich enttäuscht. Eigentlich ist er ein recht sympathischer, netter Kerl. Aber obwohl Tirzah und er ein Paar sind, fällt ihm zu Boaz Aufforderung an Tirzah, in sein Haus zu kommen, als Erstes ein, dass sie damit in der idealen Position ist, um zu spionieren. Nicht, dass Tirzahs Situation ihm gleichgültig wäre, er hasst Boaz deswegen doppelt und dreifach und ist außerdem eifersüchtig. Trotzdem scheint die Revolte ihm wichtiger zu sein als Tirzah. Das und seine extreme Gewaltbereitschaft sind ein ziemlich dunkler Fleck auf seiner weißen Weste, zumal der Sklavenaufstand, selbst wenn er gelänge, das eigentliche Problem, nämlich die Fertigstellung der Pyramide, in keiner Weise lösen würde.

Der zwiespältigste Charakter ist Boaz. Nicht wirklich schizophren, aber mit zwei sehr unterschiedlichen Gesichtern, von denen er eines außerhalb der Wände seines Hauses niemals zeigt! In allererster Linie ist er ein Magier, der kurz davor steht, seinen Traum von einer ungeheuren Machtfülle zu verwirklichen. Diese machthungrige, rücksichtslose und auch grausame Seite hat die andere fest im Griff. Doch seit er Tirzah begegnet ist, gerät die Seite des Magiers aus zwei Richtungen zunehmend unter Druck, und das stürzt auch Tirzah in eine Menge Gewissenskonflikte.

Das alles zeigt bereits, dass die Autorin glaubhafte und stimmige Charaktere ohne Schwarz-Weiß-Zeichnung in eine Geschichte eingewoben hat, in der – wie im |Weltenbaum|-Zyklus auch – die innere Welt der Protagonisten eine ebenso große Rolle spielt wie die Geschehnisse um sie herum. In anderen Punkten unterscheidet sich dieses Buch wiederum erheblich von Sara Douglass‘ Erstlingswerk. Bis auf den Anfang und die Reise in den Süden, die relativ kurz gehalten wurden, spielt sich die gesamte Handlung auf der Baustelle der Pyramide und in der benachbarten Siedlung ab. Da Tirzah aus der Ich-Perspektive erzählt, gibt es nur einen einzigen Handlungsstrang. Die Komplexität von Boaz‘ Charakter, die durch die feine Beobachtungsgabe Tirzahs voll zur Geltung kommt, und Tirzahs eigene Zerissenheit bieten jedoch genügend Vielschichtigkeit auch für Leser, die es gerne etwas komplizierter haben.

Spannung bezieht das Buch nicht nur aus Boaz‘ Unberechenbarkeit, sondern auch aus der stetig wachsenden Bedrohung durch den Schatten, den die Pyramide über das Land wirft. Sara Douglass hat sich hier von Pythagoras und anderen griechischen Denkern inspirieren lassen, für die die Mathematik nicht nur eine Natur- sondern auch eine Geisteswissenschaft war. Das Aufstellen allgemeingültiger Lehrsätze führte in der philosophischen Betrachtung zu der Folgerung, dass Zahlen nicht einfach Mengendefinitionen von Menschenhand sind, sondern die Essenz aller Dinge. Für sie war die ganze Welt aus Zahlen aufgebaut, und die Untersuchung von Zahlen sollte sie daher zu Erkenntnissen über Funktion und Ordnung des Kosmos führen. Die Eins nahm dabei einen besonderen Raum ein. Als erste aller Zahlen sah man in ihr den Ursprung der Welt, sie galt deshalb als unteilbar.

Angelehnt an dieses philosophische Prinzip hat die Autorin ihren Kult von der Eins entworfen. Die Pyramide der Magier ist die Verkörperung der vollkommenen mathematischen Formel. Sie soll es den Magiern ermöglichen, die Eins nicht nur wie bisher kurz zu berühren, sondern mit ihr zu verschmelzen und damit ungeschränkt auf die ihr innewohnende Macht zuzugreifen.

Doch die Sache scheint einen Haken zu haben. Der Leser hat das Gefühl, dass da etwas unaufhaltsam auf ihn zukriecht, das er zwar nicht versteht, dessen Bösartigkeit aber in den diversen Unfällen an der Baustelle und den Veränderungen, die offenbar ganz von selbst mit der Pyramide vorgehen, deutlich zu Tage tritt. Die Aussicht auf den Tag der Fertigstellung und erst Recht auf den der Einweihung wird immer mehr zum Albtraum.

Was genau die Eins so mächtig macht, welche Nebenwirkungen die Magier mit ihrem Experiment heraufbeschwören und welche Folgen die Fertigstellung der Pyramide letztlich haben wird, erfährt der Leser leider nicht. Das ist allerdings nicht die Schuld der Autorin. Vielmehr liegt es daran, dass |Piper| das Buch einfach verkrüppelt hat. Genauer gesagt, es wurde nur die erste Hälfte veröffentlicht! Das geschieht nicht zum ersten Mal. Schon beim |Weltenbaum|-Zyklus hat der Verlag alle drei Bände einfach jeweils halbiert. Selbst bei einem Zyklus gibt es dafür keinen ersichtlichen Grund außer dem, mehr Profit zu machen. Dieses Buch aber war niemals als Zyklus gedacht, sondern als in sich abgeschlossener Einzelband! Trotzdem hat sich der Verlag das Recht herausgenommen, dem Leser das Ende vorzuenthalten und auf die zweite Hälfte zu vertrösten, deren Veröffentlichungsdatum noch nicht feststeht. Genauso gut könnte der Buchhandel beschließen, bei allen Harry-Potter-Büchern vor Verkauf die zweite Hälfte der Seiten herauszutrennen, und den Käufern erklären, diese stünden erst in einem halben Jahr zum Verkauf!

Für den Leser ist diese Vorgehensweise schlicht inakzeptabel. Und ich wage zu bezweifeln, dass die Autorin, die „Tresholder“ (der Originaltitel des Gesamtbuches) als eines ihrer Lieblingswerke bezeichnet hat, davon begeistert wäre. Sollte |Piper| davon künftig nicht Abstand nehmen, ist es wohl besser dazu überzugehen, die Bücher im Original zu lesen. Eine Mühe, die ich bisher gescheut habe, die mir eine unverstümmelte Version aber allemal wert ist!

Ein abschließendes Fazit ist mir zu diesem Buch also leider nicht möglich. Was ich jedoch bisher gelesen habe, hat mir ausnehmend gut gefallen, auch wenn der eigentliche Höhepunkt des Buches leider erst im nächsten Band zu finden sein wird. Glaubhafte Charaktere und ein ausgewogenes Verhältnis von innerer und äußerer Handlung ergeben eine Geschichte, die ein Stück außerhalb der üblichen Abläufe und Erzählformen der Fantasy liegt, aber dennoch zu fesseln versteht. Eine angenehme und gelungene Abwechslung und ein neuerlicher Beweis für die hohe Erzählkunst der Autorin.

Sara Douglass arbeitete zuerst als Krankenschwester, bevor sie ein Studium in historischen Wissenschaften begann. Sie promovierte und arbeitete in den folgenden Jahren als Dozentin für mittelalterliche Geschichte. Das Schreiben fing sie nebenbei an, als Ausgleich zum Stress. Nach dem Erfolg ihres |Weltenbaum|-Zyklus stieg sie aus ihrem Beruf aus und konzentrierte sich aufs Schreiben und ihren Garten. Sie lebt in einem Cottage in Bendigo/Australien. Außer dem Weltenbaumzyklus und „Tresholder“ schrieb sie diverse Romane und Kurzgeschichten, von denen auf Deutsch bisher nur noch „Der Herr des Traumreiches“ erschienen ist.

My Сreative

_Sara Douglass bei |Buchwurm.info|:_
[Die Sternenbraut 577
[Sternenströmers Lied 580
[Tanz der Sterne 585
[Der Sternenhüter 590
[Das Vermächtnis der Sternenbraut 599
[Die Göttin des Sternentanzes 604
[Der Herr des Traumreichs 1037

Sara Paretsky – Die verschwundene Frau

Paretsky Verschwundene Frau Cover TB 2002 kleinDas geschieht:

Auf dem Heimfahrtüberrollt Privatdetektivin Vic Warshawski zu später Stunde in einem verrufenen Viertel ihrer Heimatstadt Chicago beinahe den leblosen Körper einer jungen Frau, die mitten auf der Straße liegt. Die Polizei scheint mit Warshawskis Schilderung zunächst zufrieden zu sein. Doch am nächsten Tag wirft man ihr plötzlich vor, den Tod verschuldet zu haben. Ganz offensichtlich sucht die Polizei einen Sündenbock. Die Leiche verschwindet, der Unfallbericht wird gefälscht. Der korrupte Detective Lemour wird Warshawski auf den Hals gehetzt, um sie einzuschüchtern.

Aus purer Not beginnt die Detektivin in eigener Sache zu ermitteln. Trotz der Verschleierungstaktik bringt sie in Erfahrung, dass es sich bei der Frau um die junge Immigrantin Nicola Aguinaldo handelt, die man fast tot geprügelt hatte, bevor man sie ihr vor das Auto legte. Nicola arbeitete als Kindermädchen für Robert Baladine, den Eigentümer von „Carnifice“, eines Sicherheitsdienst-Imperiums mit 3000 Beschäftigten, zu dem sogar eine eigene Haftanstalt vor den Toren der Stadt gehört. Hier saß Nicola als Gefangene ein, nachdem sie Eleanor, Baladines Gattin, ein wertvolles Schmuckstück gestohlen hatte. Auf mysteriöse Weise gelang es ihr später scheinbar zu fliehen. Sara Paretsky – Die verschwundene Frau weiterlesen

Jodi Picoult – Beim Leben meiner Schwester

Dürfen Eltern sich ihr Wunschkind aussuchen, um damit bestimmte Zwecke zu erfüllen? Was ist, wenn Eltern ein krebskrankes Kind haben und sich den idealen Spender „designen“ lassen? Die heutige Wissenschaft macht vieles möglich, doch führen manche Praktiken zu schier unlösbaren ethischen Problemen. Jodi Picoult schildert in ihrem neuen Roman eine dramatische Familiengeschichte, die genau diese Fragen aufwirft und den Leser zum Nachdenken anregen soll und auch wird.

Ich will leben

Anna Fitzgerald ist nur 13 Jahre alt, als sie ihrer krebskranken Schwester Kate eine Niere spenden soll. Dies ist der Moment, in dem Anna beschließt, sich einen Anwalt zu nehmen, um ihren Eltern die Entscheidungsgewalt in medizinischen Fragen wegnehmen zu lassen. In den Gelben Seiten findet sie den erfolgreichen Anwalt Campbell Alexander, der ihren Fall übernehmen soll. Der jedoch zeigt sich zunächst skeptisch und lässt sich nur durch die ihn erwartende Publicity zu diesem Pro-bono-Fall hinreißen. Annas Eltern Sara und Brian sind überrascht, als sie eine Vorladung vom Gericht bekommen. Sara, die früher als Anwältin gearbeitet hat, beschließt spontan, ihren Fall selbst zu vertreten.

Doch geht es nicht nur um Annas Leben, sondern auch um das ihrer älteren Schwester Kate. Im Alter von zwei Jahren wurde bei Kate eine spezielle Form der Leukämie festgestellt. Da ihr Bruder Jesse als Spender nicht in Frage kam, beschlossen Sara und Brian damals, noch ein Kind zu zeugen und zwar eines, das in allen Punkten als Spenderin für Sara passen würde. Schon das Nabelschnurblut wird für Kate gespendet, in den Jahren danach schließen sich Lymphozyten-, Granulozyten- und sogar eine Knochenmarksspende an. Einen Großteil ihrer Kindheit hat somit auch Anna im Krankenhaus verbracht, geholfen hat es ihrer Schwester immer nur zeitweise. Als schließlich Kates Nieren versagen, könnte nur Anna ein Organ spenden, da ansonsten das Risiko für Kate zu groß wäre. Die Zeit drängt, denn Kate geht es immer schlechter.

Die Verfahrenspflegerin Julia wird vom Gericht bestellt, um sich ein Bild von Anna und ihrer Familie zu machen. In vielen Gesprächen lernt sie Annas Motive und die ihrer Eltern kennen. Doch auch Julia ist ratlos angesichts der sich ihr dargestellten Situation. Gleichzeitig kämpft sie mit privaten Problemen, denn zu ihrer Highschoolzeit hatte sie einst eine kurze Affäre mit Campbell Alexander, damals allerdings hatte er sie sitzen gelassen. Nun flammt die alte Liebe erneut auf.

An allen Fronten erleben wir persönliche Dramen mit, denn in der Familie Fitzgerald liegt einiges im Argen …

Perspektivenwechsel

„Beim Leben meiner Schwester“ ist aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Zunächst lernen wir Anna kennen, die uns ihre Entscheidung mitteilt, dass sie keine Niere für ihre Schwester spenden möchte, da sie bereits oft genug im Krankenhaus gewesen ist. Anna schaltet daraufhin Campbell Alexander als ihren Anwalt ein. Auch aus der Sicht des erfolgreichen Staranwalts erfahren wir einen Teil der Geschichte, er gibt offen zu, dass er Annas Fall zunächst als reine Werbung für sich selbst ansieht und daher den Fall pro bono übernimmt. An Alexanders Seite begleitet ihn stets sein Servicehund Judge, obwohl der Anwalt doch gar nicht blind ist. Welche Funktion Judge in seinem Leben einnimmt, erleben wir hautnah mit, als Anna gerade vor Gericht ihre Aussage macht. Auch die Verfahrenspflegerin Julia erzählt ihren Teil der Geschichte, sie berichtet von den Verletzungen, die Campbell Alexander ihr zugefügt hat, als er sie damals zu Schulzeiten fallen gelassen hat, wir lernen ihre Schwester kennen und begleiten Julia auf ihren Besuchen bei Anna und ihrer Familie.

Aus Saras Perspektive wird die Familiengeschichte von Kates Krankheit erzählt. Dieser Teil der Geschichte setzt ein, als Kate zwei Jahre alt ist und Sara zum ersten Mal merkwürdige blaue Flecken bei ihr entdeckt, woraufhin nach etlichen Tests schließlich Leukämie diagnostiziert wird. Sara berichtet von ihrer Entscheidung, ein passendes Kind zu bekommen, das als Spenderin für Sara fungieren kann, und sie ertappt sich dabei, wie sie dieses ungeborene Kind gar nicht als eigenständige Persönlichkeit wahrnimmt, sondern nur als geeignete Spenderin: „Obwohl ich im neunten Monat bin, obwohl ich reichlich Zeit zum Träumen hatte, habe ich mir über dieses Kind noch keine besonderen Gedanken gemacht. Wenn ich an diese Tochter denke, dann nur daran, was sie für die Tochter tun kann, die ich bereits habe.“ Später erfahren wir aus Saras Sicht, wie Kates Krankheit sich weiterentwickelt, wie Kate schließlich bei der Chemotherapie einen anderen Patienten kennen lernt, in den sie sich verliebt. Wir werden Teil von Kates Krankengeschichte und erfahren insbesondere Saras Gründe für die vielen Behandlungen und auch für Annas Spenden.

Brian dagegen begleiten wir häufig zu seinen Einsätzen. Der Familienvater arbeitet als Feuerwehrmann und rettet andere Leben, wo ihm dies bei seiner eigenen Tochter so schwer fällt. Die Feuerwehr hat mit einem Brandstifter zu kämpfen, der verlassene Hütten anzündet und zunächst nicht gefasst werden kann. Doch aus Jesses Perspektive werden wir recht schnell Zeuge der Brandstiftungen, denn Jesse hat seine eigenen Probleme zu verarbeiten. Während seine Schwestern ständig im Mittelpunkt des Familiengeschehens stehen – die eine wegen ihrer schweren Krankheit und die andere wegen ihrer Spenden – bleibt er außen vor und rebelliert gegen die Nichtbeachtung durch seine Eltern. Sein Zimmer verfügt über einen separaten Eingang, sodass Jesse unbemerkt kommen und gehen kann.

Zunächst ist dieser ständige Perspektivenwechsel sehr gewöhnungsbedürftig, da man sich zu Beginn jedes Kapitels neu einfinden muss, doch später empfand ich dies als gelungenes Stilmittel, da uns die handelnden Personen dadurch sehr nahe gebracht werden. Wir erleben die Probleme und Sorgen jedes Einzelnen hautnah mit und lernen auch die Gründe für ihr Handeln kennen. So paradox es auch erscheinen mag, so verstehen wir dadurch sowohl Annas Weigerung zu einer Organspende als auch Saras Gründe für die Nierentransplantation. Jodi Picoult schafft es überzeugend, uns jede Perspektive deutlich zu machen, wir begleiten jeden Protagonisten immer wieder auf Schritt und Tritt und fühlen auch mit jedem mit. Das Handeln jeder Person wird verständlich, auch wenn besonders Annas und Saras Wünsche miteinander kollidieren.

Nach und nach wird offenkundig, welche Probleme die Familie Fitzgerald mit sich auszumachen hat. Die Interessen ihrer beiden Töchter stehen praktisch im Gegensatz zueinander. Um die kranke Tochter gesund zu machen, muss die gesunde Tochter immer wieder ins Krankenhaus und sogar eine schwere Knochenmarkstransplantation über sich ergehen lassen, die Anna nicht gut verträgt. Die Familie ist kurz vor dem Auseinanderbrechen, was auch den Eltern auffällt, die sich plötzlich nichts mehr zu sagen haben. Zusammengehalten werden die fünf eigentlich nur durch die zu überstehenden Krisen und durch Kates Krankheit, die nur bekämpft werden kann, wenn alle füreinander da sind. Doch speziell Jesses und Annas Interessen bleiben dabei häufig auf der Strecke. So darf Anna nicht auf das Eishockeyseminar fahren, auf das sie sich so gefreut hatte, weil sie in der Zeit eventuell für weitere Spenden gebraucht werden könnte.

„Bis dahin ist ausgeschlossen, dass sie nach Minnesota fährt. Nicht weil ich Angst habe, Anna könnte dort etwas passieren, sondern weil ich Angst habe, Kate könnte etwas passieren, wenn ihre Schwester nicht da ist. […] Und dann brauchen wir Anna – ihr Blut, ihre Stammzellen, ihr Gewebe – und zwar hier.“

Unlösbar

Jodi Picoult hat einen sehr persönlichen Roman vorgelegt, der uns die Personen wunderbar näher bringt und der es schafft, mit jedem mitfühlen zu lassen. Inhaltlich hat sie sich ein Thema herausgesucht, das ethisch schwierig zu beurteilen ist und gerade moralisch unlösbar erscheint. Wir können Annas Standpunkt sehr gut nachvollziehen, dass sie ihre Niere nicht spenden möchte, da dies einen schweren Eingriff in ihre eigene Gesundheit darstellen würde und sie danach ihr geliebtes Eishockeyspiel aufgeben müsste. Anna möchte mit ihren 13 Jahren endlich die Chance auf ein einigermaßen normales Leben haben und die Chance darauf, erwachsen zu werden (obwohl sie uns in den meisten Situationen doch schon sehr erwachsen vorkommt). Doch verbunden ist dies unweigerlich mit Kates Tod. Wie soll man hierzu eine Lösung finden? Jodi Picoult hat sich ein Ende ausgedacht, das dem Leser das Nach- und Weiterdenken ermöglicht. Sie präsentiert uns nicht ihre eigene Lösung, sondern schafft es sehr geschickt, diese Schwierigkeit zu umschiffen. Vielleicht trägt Picoult am Ende ein wenig dick auf, doch vielleicht war dies auch die einzig mögliche Auflösung in diesem Buch?!

„Beim Leben meiner Schwester“ regt zum eigenen Nachdenken an. Wie würde man selbst in dieser Situation reagieren? Ist es überhaupt gerechtfertigt, sich ein Wunschkind wie Anna erschaffen zu lassen, welches von Anfang an die Aufgabe des Spenders zu übernehmen hat? Aber ist es nicht auch völlig normal, dass Eltern alles Menschenmögliche versuchen wollen, um ihr krankes Kind zu retten? All dies sind Fragen, auf die es keine richtige und keine falsche Antwort gibt, daher fällt es uns schwer, das Buch aus der Hand zu legen und abzuschalten. Wenn wir das Buch am Ende zuklappen, rollt uns vielleicht sogar die eine oder andere Träne über die Wange, denn wir müssen loslassen von uns lieb gewonnenen Figuren. Durch die so persönlichen Schilderungen im Laufe der Geschichte haben wir uns besonders mit Anna richtig angefreundet, eine so „persönliche Beziehung“ habe ich nur selten zu Romanfiguren aufgebaut – und das, obwohl die reine Handlung des Buches nur eine gute Woche umfasst.


Etwas Besonderes

„Beim Leben meiner Schwester“ drückt auf die Tränendrüse, vielleicht ist es daher eher ein Buch für Frauen, ganz bestimmt ist es jedoch ein Buch, das Einfühlungsvermögen benötigt und die Bereitschaft, sich mit diesem Thema auseinander zu setzen. Jodi Picoult hat ein Buch vorgelegt, das mich tief bewegt und mitgerissen hat. Der Roman ist flüssig geschrieben und schnell durchgelesen, dennoch ertappt man sich immer wieder dabei, dass man über die geschilderte Situation nachdenkt. Ein wenig störend empfand ich die beginnende Liebesgeschichte zwischen Campbell und Julia, ein reiner Familienroman wäre auch passend gewesen, insgesamt fügt sich aber sogar diese Liebelei ganz gut in das Gesamtgeschehen ein, da wir dadurch auch den Staranwalt aus einer ganz anderen Perspektive kennen lernen dürfen.

Das vorliegende Buch ist ein ganz persönliches Erlebnis, das ich jedem, der sich für dieses Thema und die damit verbundenen Fragen interessiert, nur wärmstens ans Herz legen kann.

Taschenbuch: 480 Seiten
Originaltitel: My Sister’s Keeper
ISBN-13: 978-3492247962
www.piper.de

Der Autor vergibt: (5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (9 Stimmen, Durchschnitt: 4,11 von 5)

Dart-Thornton, Cecilia – Im Bann der Sturmreiter (Die Feenland-Chroniken 1)

„Im Bann der Sturmreiter“ erzählt die Geschichte von Imrhien. Wobei Imrhien eigentlich gar nicht so heißt, denn Imrhien ist ein Findelkind. Nicht eines, das als Säugling irgendwo vor eine Tür gelegt oder einfach ausgesetzt wurde, sondern eines, das schon auf dem Weg zum Erwachsenwerden ist, als man es findet. Sein Gesicht ist durch das Gift eines Efeus grausam entstellt, es kann nicht sprechen und sich an nichts erinnern. Eine alte Dienstmagd nimmt sich seiner an und päppelt es auf. Schon bald muss es bei der Arbeit helfen, schwerer Arbeit. Und es leidet unter dem Abscheu seiner Umgebung, der Gleichgültigkeit und Kälte, der Missachtung. Als sich eines Tages die Möglichkeit bietet, von der Festung Isse zu fliehen, nimmt es diese Möglichkeit wahr. Es will seine Identität wiederfinden! Als Piraten das Windschiff angreifen, auf dem es sich versteckt hat, kommt es vom Regen in die Traufe. Wieder wird es bedrängt und gequält, sodass es schließlich in seiner Verzweiflung einfach über Bord springt. Es landet in einem Wald voller Dunkelelfen …

Cecilia Dart-Thornton tastet sich nur langsam an dieses Kind heran. Im Prolog nennt sie es noch Geschöpf. Erst als es von der alten Dienstmagd Hemd und Hose erhält und von der Kleidung der anderen auf seine eigene schließt, nennt die Autorin es Junge. Als wäre er ein Neugeborenes, muss er sich erst langsam in diese fremde Welt hineintasten, in die er geraten ist. Da er keinerlei Erinnerungen mehr hat, ist er völlig entwurzelt, und durch die Ablehnung seiner Umgebung kann er keine neuen Wurzeln schlagen. Doch er ist nicht dumm und lernt eine Menge durch lauschen und beobachten.

Die eigentliche Zeit des Lernens beginnt jedoch, als er durch den Wald zieht. Hier hat er zum ersten Mal einen Begleiter, der ihn nicht von vornherein als Krüppel abtut, sondern ihn ernst nimmt. Dieser Abenteurer namens Sianadh bringt ihm die Zeichensprache bei, erzählt ihm von der Vergangenheit des Landes und von Licht- und Dunkelelfen. Von ihm erhält er auch seinen Namen Imrhien.

Als die beiden die Stadt erreichen, findet Imrhien auch neue Freunde in Sianadhs Familie. Dessen Schwester ist eine Heilerin, und wenn sie selbst auch nicht die Macht besitzt, Imrhiens Gesicht zu heilen, so weiß sie doch eine Frau, die diese Macht besitzen könnte: Maeve Einauge. Voller Hoffnung macht Imrhien sich auf den Weg zu dieser Frau! Denn das eigene Gesicht wiederzufinden, bedeutet vielleicht auch, den wahren Namen und die Erinnerungen wiederzufinden.

Imrhien besitzt eine rasche Auffassungsgabe und einen gesunden Menschenverstand, doch die Scham über seine Entstellung macht das Findelkind scheu und zurückhaltend, besonders als es sich verliebt. Die unzähligen Demütigungen haben keine Rachsucht, sondern Mitgefühl hervorgebracht, es weiß, wie ein Ausgestoßener sich fühlt, und handelt entsprechend. Seine Handlungsweise stößt aber durchaus nicht immer auf Verständnis oder gar Zustimmung. Vor allem gegen Sianadhs Sohn Diarmid, der es auf seiner Reise zu Maeve Einauge begleitet, kann es sich nur schwer durchsetzen, dazu fehlen ihm das Selbstbewusstsein und eine Stimme. Sprechende Hände sind nur aus der Nähe sichtbar und leicht zu ignorieren.

Sianadh ist leichter zu überzeugen, wenn er eine Torheit vorhat. Spätestens, nachdem ihm eine missachtete Warnung ein paar gebrochene Rippen eingebrockt hat, ist er bereit, auf Imrhien zu hören. Der gutmütige, leutselige Mann, der sich selbst gern als Bär bezeichnet, liebt gute Geschichten und gutes Essen. Letzteres ist im Wald nicht immer zu bekommen. Aber Sianadh hat Erfahrung mit der Wildnis. Mit der Stadt offenbar weniger, dort tappt er von einem Fettnäpfchen ins nächste.
Diarmid ähnelt seinem Onkel nur wenig. Er ist ein wenig steif und förmlich, seine Treue und Ergebenheit gehört ganz und gar dem König. Er färbt sich sogar die roten Haare, damit man ihm seine Abstammung von den Ertish nicht ansieht. Denn er ist von dem brennenden Ehrgeiz beseelt, bei den Dainnan, der Elitetruppe des Königs, aufgenommen zu werden. Als sie unterwegs einem dieser Dainnan begegnen, erhält sein Stolz einen ziemlichen Dämpfer. Doch er ist entschlossen zu lernen.
Sein Verhältnis zu Imrhien ist geprägt von Unsicherheit. Imrhien passt nicht ganz in das Schema seines Weltbildes, deswegen verhält er sich distanziert und kühl, lässt aber keinen Zweifel daran, dass er seine Aufgabe als Beschützer außerordentlich ernst nimmt. Für ihn bedeutet das auch, dass Ihmrhien sich unterzuordnen hat. Das ist nicht unbedingt immer zu beider Vorteil!

Dorn, der Dainnan, ist eine Mischung zwischen Krieger und Waldläufer, so eine Art Aragorn, nur nicht so ernst und grimmig. Dorn lächelt gern und schafft es sogar, in der Zeichensprache zu scherzen. Gleichzeitig haftet ihm ein Hauch von Melancholie an, deren Ursprung lediglich einmal kurz angedeutet wird. Ansonsten wird seine Vergangenheit kein einziges Mal erwähnt. Aber diese eine Andeutung genügt, um den Leser zu der Frage zu veranlassen, ob Dorn sich sein Haar wirklich nur aus modischen Gründen färbt.

Ebenso gekonnt wie die Hauptpersonen schildert die Autorin auch Charaktere, die nur ganz kurz vorkommen, wie Ustorix, der älteste Sohn der Herrscher von Isse, oder der Fechtmeister Mortier. Aufgrund dieser präzisen Darstellung würde der Leser erwarten, dass sie später noch einmal vorkommen, was aber nicht der Fall ist. Die Handlung konzentriert sich ganz auf Imrhien und weicht so gut wie nie von diesem Handlungsstrang ab. Im Grunde wäre es nicht nötig, an diesem einen Strang so festzukleben, denn die Geschichte wird nicht in der Ich-Form erzählt, trotzdem verschwinden alle Figuren, von denen Imrhien sich im Laufe der Geschichte entfernt, völlig in der Versenkung. Mag sein, dass Imrhien einfach nicht wichtig genug war, um nach seiner Flucht verfolgt zu werden. Andererseits fragt man sich, warum die Autorin sich die Mühe gemacht hat, Ustorix überhaupt zu erwähnen, wenn diese Szene nicht noch irgendwelche Auswirkungen auf das Geschehen hat. Das Ganze wirkt ein wenig irritierend, wie ein loser Faden, von dem man sich fragt, wozu er eigentlich aufgenommen wurde. Und davon gibt es noch mehr.

Nun ist „Im Bann der Sturmreiter“ ja „nur“ der erste Band eines Zyklus. Ich gehe deshalb davon aus, dass lose Fäden wie der von Ustorix und Mortier in den folgenden Bänden wieder aufgenommen werden. Abgesehen von diesen losen Fäden wirkt das Buch aber auch noch in anderer Hinsicht ein wenig unfertig. Die Abenteuer, die Imrhien unterwegs zu bestehen hat, sind einfach lose hintereinander aufgereiht, ohne einander zu bedingen oder sonst irgendwelche Auswirkungen auf die eigentliche Handlung zu haben. Sie bewirken keine Charakteränderung, sie dienen nicht zur Lösung irgendwelcher Rätsel und stellen keine neuen, die es zu lösen gälte. Das einzige Rätsel des Buches bleibt Imrhiens Herkunft und vielleicht noch Dorns Vergangenheit. Aber kaum etwas von dem, was Imrhien unterwegs zustößt, steht damit in irgendeinem Zusammenhang.

Es scheint, als dienten Imrhiens Reisen nur dazu, sämtlichen Gattungen, Arten und Unterarten von Licht- und Dunkelelfen einen Auftritt zu ermöglichen. Laut Quellenangabe war es das erklärte Ziel der Autorin, die Anderwelt so originalgetreu wiederzugeben wie möglich. Ihre Recherchen in den vielen schottischen und walisischen Quellen in Ehren, aber auf Dauer wirken die Massen an verschiedenen Nixen, Wichteln und sonstigen Geisterwesen eher ermüdend, es sei denn, man hegt dieselbe Begeisterung für derlei Geschichten wie die Autorin selbst. Für alle anderen wäre etwas weniger vielleicht mehr gewesen, denn wie gesagt, die vielen verschiedenen Begegnungen bleiben – bis auf eine – ohne Auswirkungen auf die Geschichte, und als Ausschmückung allein empfand ich ihre Auftritte zu massiv und erdrückend.

Ausschmückend ist auch die Sprache der Autorin. Hier kann man ihr tatsächlich einen hohen Grad an Virtuosität bescheinigen. Bilder und Stimmungen werden mit einer enormen Vielfalt an Ausdrücken bedacht, das gilt besonders für Kleidung, Lichtverhältnisse und Landschaftsbeschreibungen, aber auch die Geisterstürme und ihre Auswirkungen. In diese Welt einzutauchen, sie vor dem inneren Auge bildlich entstehen zu lassen, ist hier eine Kleinigkeit. Die Darstellung von Imrhiens Gefühlswelt bleibt dahinter ein gutes Stück zurück, obwohl der Leser durchaus immer wieder in seine Gedanken mit einbezogen wird.

An eigenen Ideen war in dem Buch – der vielen Anderweltbeschreibungen wegen – nicht mehr viel vorhanden. Die wenigen, die vorkamen, waren durchaus interessant und neu für mich, so zum Beispiel das Sildron, das besondere Gestein Dominit, das Geisterstürme abhalten kann, und natürlich die Sturmreiter und die Windschiffe. Gegen ein paar zusätzliche Einfälle dieser Art hätte ich gern einige von den Dunkelelfen eingetauscht.

Denn trotz aller Ausschmückung und trotz des massiven Einsatzes aller Arten von Geisterwesen kommt im Verlauf der Handlung nur wenig Spannung auf. Die ständig neuen Versuche der Dunkelelfen, die Protagonisten ins Verderben zu führen, werden irgendwann langweilig, vor allem, weil man jedes Mal vorher schon weiß, dass diese im letzten Moment entkommen werden. Die finstere Bedrohung, die während Imrhiens Aufenthalt in der Stadt nur ganz leise angedeutet wurde, ging bei der nächsten Reise wieder verloren, und über die Zusammenrottung im Norden und den drohenden Krieg erhält man zu wenig Hintergrundinformationen, um es als echte Bedrohung wahrzunehmen. Es tut sich nicht wirklich etwas, der Spannungsbogen hängt durch.

So war dieser Einstieg in den Zyklus doch etwas langatmig und gewissermaßen ereignislos. Bleibt zu hoffen, dass in den Folgebänden das Erzähltempo ein gutes Stück anzieht, sich die vielen sinnlosen Fäden zu einem sinnvollen Netz zusammenfinden und die hingehauchten Andeutungen etwas handfester werden. Denn als brillant und einen Genuss für Freunde von Tolkien und Sara Douglass, wie der Klappentext vollmundig anpreist, kann man diesen Einstieg noch nicht bezeichnen. Vor allem hinter der Vielschichtigkeit des |Weltenbaum|-Zyklus bleibt dieses Buch bisher noch weit zurück. Mit etwas mehr Schwung und Bewegung im Handlungsverlauf und einem engeren Zusammenhang der einzelnen Ereignisse untereinander, etwas mehr Konzentration auf die interessanten und gelungenen Hauptfiguren und weniger auf die Wesen der Anderwelt, könnte sich der Zyklus aber durchaus noch zu einem guten Buch entwickeln!

|Piper| hat wieder ein recht ordentliches Lektorat abgeliefert, nur würde mich interessieren, ob der Wald Tiriendor oder Tieriendor heißt. Das Cover ist vom optischen Eindruck her so elegant und gelungen, dass ein Einwand gegen die absolut untauglichen Segel des Windschiffs als prosaisch abgelehnt werden muss. Auch ohne Schutzumschlag ist dieser Band eine sehr schöne Ausgabe, dunkel gebunden und mit Leseband. Die Karte im Buchdeckel ist trotz Gold-auf-Schwarz-Druck gut lesbar, nur die Küstenlinien erfordern eventuell einen zweiten Blick.

Cecilia Dart-Thornton, selbst ein Findelkind, wuchs in der Nähe von Melbourne auf. „Im Bann der Sturmreiter“ gehört zu den |Feenland-Chroniken|, deren zweiter Teil „Das Geheimnis der schönen Fremden“ im Oktober erscheinen soll. Eine Herausgabe des dritten Bandes in deutscher Sprache ist momentan noch nicht Sicht, dürfte aber nicht allzu lang auf sich warten lassen. Die Autorin schreibt inzwischen an ihrem nächsten Zyklus, dessen erster Band „The Iron Tree“ im Februar erschienen ist. Neben dem Schreiben widmet sie sich außerdem der Musik und der Photographie.

http://www.dartthornton.com

Holt, Anne – Wahrheit dahinter, Die

_Auf den Hund gekommen_

Kurz vor Weihnachten erreicht Hanne Wilhelmsen die Schreckensnachricht, dass vier Leichen gefunden worden sind, die von Schüssen aus zwei verschiedenen Waffen durchlöchert wurden. Ihr Urlaub muss folglich erst einmal verschoben werden und auch an ruhige Feiertage ist selbstverständlich nicht zu denken. Drei der Opfer zählen zur reichen Familie Stahlberg, doch das vierte Opfer gibt der Polizei Rätsel auf; zunächst ist seine Identität unklar, doch auch als Knut Sidensvans als viertes Mordopfer identifiziert ist, fehlt sämtlicher Zusammenhang zur Familie Stahlberg. Erschwerend für die Ermittlungen kommt hinzu, dass ein Hund zuerst am Tatort gewesen ist und sich dort an den Leichen gütlich getan hat. Viele Spuren sind dadurch verwischt worden.

Dennoch zeichnet sich schnell ab, dass Familie Stahlberg einiges zu verbergen hat. Das Familienoberhaupt Hermann Stahlberg und seine Ehefrau Tutta sind ermordet worden, sowie der älteste Sohn Preben. Zurück bleiben die Kinder Carl-Christian und Hermine, die beide mehr zu wissen scheinen, als sie zugeben wollen. Zudem besitzt Carl-Christian einen Waffenschein und hatte sich offensichtlich mit seinem Vater überworfen. Hermine dagegen hat zwar ein Drogenproblem, scheint aber dennoch von ihren Eltern bevorzugt worden zu sein. Billy T. findet über zweideutige Kontakte im Osloer Untergrund heraus, dass Hermine illegal Waffen gekauft und sich in den letzten Wochen seltsam benommen hat. Auch die Alibis der beiden Stahlbergkinder sind mehr als dünn, sodass der Schluss nahe liegt, dass eine Familientragödie aufzuklären ist.

Doch Hanne Wilhelmsen will sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden geben und bemüht sich, mehr über das vierte Opfer herauszufinden, das ihrer Meinung nach nicht nur zufällig in das Familiendrama geschlittert ist, sondern eine wichtige Rolle spielen könnte. Dennoch macht sich Hanne mit ihren unkonventionellen Ermittlungsmethoden keine Freunde. Am Ende steht aber allen Beteiligten eine große Überraschung bevor …

_Interessant und überraschend, aber konstruiert_

In einer Art Prolog begleiten wir einen herumstreunenden Hund bei seinem blutigen Leichenfund, der für das ausgehungerte Tier ein wahres Festmahl darstellt. Gleich darauf beginnen auch schon die Ermittlungen, als Billy T. spätabends seine Kollegin Hanne Wilhelmsen zum Tatort beruft, obwohl diese kurz vor ihrem wohlverdienten Weihnachtsurlaub steht. Der begangene Mord ist grausam, doch verdichten sich die Hinweise schnell zu einem konkreten Tatverdacht, denn es ist offensichtlich, dass Carl-Christian und auch Hermine Stahlberg einiges zu verbergen haben. Beide lügen und können kein entlastendes Alibi vorweisen.

Wie nach einem Rettungsanker greifen die Polizisten dankbar diese Verdachtsmomente auf, um ihre Ermittlungen so schnell wie möglich abschließen zu können. Der Mord hat viel Aufsehen erregt, außerdem sind die Beamten urlaubsreif und übermüdet, sodass man es ihnen fast nachsehen kann, dass sie viele Hinweise nicht hinterfragen, sondern sich nur noch in eine Richtung fortbewegen.

Dem gegenüber steht allein Hanne Wilhelmsen, die zwar auch nicht so recht an die Unschuld der Stahlbergkinder glauben kann, da diese sich immer mehr in Lügen verstricken, doch Hanne möchte sicher sein und die Verbindung Knut Sidensvans zur einflussreichen Familie Stahlberg herausfinden. Dennoch entwickelt der Kriminalfall sich relativ einseitig weiter, es wird kaum in andere Richtungen ermittelt und für den Leser zeichnet sich auch kein anderer Tatverdächtiger ab. Erst mit Kenntnis der Auflösung bemerkt der Leser, dass Anne Holt ganz unbemerkt zwischendurch Hinweise eingeflochten hat, die sehr wohl einen weiteren Verdächtigen bemerkbar machen. Diese Andeutungen sind allerdings so geschickt eingestreut, dass ich sie überlesen hatte und am Ende von der Autorin überrascht wurde. Um sich das ganze Lesevergnügen zu erhalten, empfehle ich, die Inhaltsangabe auf Seite 2 nicht zu lesen, da hier ein wenig vorgegriffen wird.

Trotz alledem war ich mit der Auflösung am Ende nicht vollauf zufrieden; es war klar, dass Anne Holt noch ein Ass aus dem Ärmel zaubern würde und am Ende nichts so ist, wie es scheint, allerdings kam mir das Buchende künstlich konstruiert vor. Obwohl zwischendurch kleine Hinweise eingeflochten waren, fiel der wahre Schuldige vom Himmel und auch die Hintergründe des Mordes und der Tatablauf scheinen nicht sonderlich realistisch, zu viele Zufälle kommen hier zusammen. Hier schießt Anne Holt in ihrem Wunsch, ihre Leser zu überraschen, meiner Meinung nach etwas über das Ziel hinaus.

_Personalien_

„Die Wahrheit dahinter“ ist ein weiterer Krimi aus der Hanne-Wilhelmsen-Reihe, der mit einem kleinen zeitlichen Bruch nach „Das letzte Mahl“ die Serie fortsetzt. Aus eigener Erfahrung kann ich nur dringend dazu raten, die Bücher in chronologischer Reihenfolge zu lesen, um der personellen Weiterentwicklung folgen zu können. Anne Holt verwendet viel Zeit darauf, um ihre handelnden Figuren näher vorzustellen; so erfahren wir in diesem Buch, dass Hanne Wilhelmsen nach dem Tod ihrer ehemaligen Lebensgefährtin Cecilie eine wohlhabende Frau namens Nefis geheiratet hat. Die beiden leben zusammen mit ihrer skurrilen Haushälterin Marry in einer schönen Wohnung und auch Nefis äußert mehr als deutlich den Wunsch nach einem Kind. So sind auch in dieser Beziehung die Streitereien vorprogrammiert, denn in dieser Hinsicht ist Hanne Wilhelmsen uneinsichtig wie eh und je. Obwohl sie inzwischen in therapeutischer Behandlung ist, konnte sie ihre traurige Kindheit noch nicht überwinden und mag auch nicht die Verantwortung für ein eigenes Kind übernehmen.

Eine weitere wichtige Figur ist Billy T., der mit der Frau seines fünften Kindes zusammenlebt, aber permanent unter Geldmangel leidet, weil er vier Exfreundinnen Alimente für die gemeinsamen Kinder zahlen muss. Auch seine Verbindung zu dubiosen Osloer Kreisen sind noch nicht eingeschlafen; so liefert Billy T. entscheidende Hinweise zur Auflösung des Mordfalles. Während Billy T. in den vorigen Romanen Hannes einziger Vertrauter war und er allein wusste, dass seine Kollegin lesbisch ist, distanziert sich Hanne in diesem Buch mehr denn je von Billy T.

Doch auch die Stahlbergkinder bekommen viel Raum in der Erzählung. Anne Holt stellt ausführlich Hermine und ihre Drogenprobleme vor, aber auch Carl-Christian und seine Ehefrau Mabelle finden Erwähnung. Die Autorin versucht hier bemüht, alle Charaktere nahezu gleichwertig zu behandeln; wir begleiten fast alle Personen in ihr Privatleben und lesen über ihre Gedanken und Handlungen. Allerdings franst die Erzählung dadurch so sehr aus, dass man den Gedankengängen der Autorin kaum folgen kann. Wünschenswert wäre es gewesen, wenn Anne Holt sich auf drei oder vier Figuren konzentriert hätte, nicht jeder Charakter kann gleichwertig vorgestellt werden, ohne die Leser zu verwirren. Durch die vielen Charakterisierungen gerät leider die Erzählung ins Stocken, da es inhaltlich nur wenig vorangeht. Schade – eine gute Figurenzeichnung trägt zwar zum Lesegenuss bei, kann aber die Freude auch trüben, wenn sie übertrieben wird.

_Am Ende siegt die Wahrheit_

Anne Holt hebt sich alleine schon durch ihre lesbische Krimiheldin deutlich von ihren Krimikollegen ab, verwendet aber so viel Zeit und Mühe, um ihre Figuren zu präsentieren, dass dringend dazu geraten ist, Holts Romane in chronologischer Reihenfolge zu lesen. Sonst ist es äußerst schwierig, die vergangenen personellen Entwicklungen nachzuvollziehen. Der vorliegende Kriminalfall erscheint uns äußerst brisant; drei Mitglieder der einflussreichen Familie Stahlberg sind brutal ermordet worden und stören damit die idyllischen Vorbereitungen zum verschneiten Weihnachtsfest in Oslo. Dadurch entsteht ein interessanter Gegensatz. Durch die ausschweifenden Personenbeschreibungen verliert man sich aber schnell in den unterschiedlichen Handlungssträngen und blättert ein wenig verwirrt weiter; ein roter Faden wäre hier an einigen Stellen wünschenswert gewesen. Die Auflösung erschien mir ein wenig zu unwahrscheinlich und konstruiert, sodass ein fader Nachgeschmack zurückbleibt. Dennoch versteht es Anne Holt, ihre Leser zu unterhalten und wie immer am Ende auch zu überraschen. Es sind daher nur kleine Abzüge zu vermerken, die die Lektüre dieses Buches ein wenig verkomplizieren und das Lesevergnügen trüben.

Markolf Hoffmann – Nebelriss (Das Zeitalter der Wandlung 1)

Das Zeitalter der Wandlung:
Band 1: Nebelriss
Band 2: Flammenbucht
Band 3: Schattenbruch
Band 4: Splitternest

Wem beim Stichwort „Fantasy“ eine bunte Truppe aus Bäcker- oder Magierlehrling, rotnasigem Zwerg sowie ähnlichen Rollenbildern und Stereotypen vorschwebt, die verständlicherweise für Brechreiz und gepflegte Langweile sorgt, den kann man verstehen.

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Anne Eliot Crompton – Merlins Tochter

Der wievielte Artus/Merlin/Morgaine/…-Roman ist das eigentlich? An die zehn habe ich rezensiert, gelesen weit mehr. Die Highlights waren Mary Stewarts Merlin-Zyklus und natürlich MZBs „Die Nebel von Avalon“; den Tiefpunkt markierte Susan Shwartz’ „Der Wald von Broliande“. Und alle mischten die Karten neu, besetzen Rollen um, rückten Verhältnisse in ein anderes Licht…

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Mario R. Dederichs – Heydrich. Das Gesicht des Bösen

„Das Gesicht des Bösen (1904-1942)“; S. 13-24: Im Bösen ist Reinhard Heydrich (1904-1942) heute eine fast mythische Gestalt. Sein Tod exakt zu dem Zeitpunkt, da der Triumph- und Terrorzug des „Dritten Reiches“ seinen Höhepunkt erreichte, bewahrte ihn vor dem glanzlosen Ende durch Selbstmord oder Henkerstrick, das die meisten anderen Nazi-Fürsten ereilte. So geriet Heydrich nach 1945 quasi „außer Sicht“; der „Hitlergang“ blieben drei zusätzliche Jahre, die Liste ihrer Verbrechen zu verlängern. Doch den organisierten Völkermord und damit die größte Gräueltat der Nazis hatte Heydrich vorbereitet. Auf sein mörderisches Geschick und die dadurch geschaffenen Strukturen konnte die NS-Führungsspitze sich stützen. Heydrichs Opfer erkannten sehr gut den „jungen bösen Todesgott“ und die „Bestie in Menschengestalt“. Die Unbelehrbaren erinnern sich lieber an den bienenfleißigen, schneidigen, korrekten Tatmenschen, der in seiner knappen Freizeit dem Leistungssport frönte und so herrlich die Geige spielte.

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Sara Douglass – Der Herr des Traumreichs

Die Adern. Ein harmloser Name für eine unerträgliche Hölle. In Schmutz, Hitze und Gestank schuften hier zahllose Sträflinge, um Glomm abzubauen, einen teerhaltigen Rohstoff, auf dem der größte Teil des Wohlstands in diesem Land beruht. Sie sterben innerhalb weniger Jahre, entweder in einstürzenden Stollen, ertränkt vom hereindringenden Meerwasser, das direkt oberhalb der Stollen rastlos auf und ab wogt, an purer Erschöpfung oder an einer der vielen Krankheiten, die in den Minen grassieren. Jeder Heiler des Landes ist durch Edikt der Krone verpflichtet, drei Wochen im Jahr in diesen Bergwerken Dienst zu tun und Kranke zu behandeln.

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Barry Hughart – Die Brücke der Vögel (Meister Li 1)

„Ich heiße Lu, und mein Vorname ist Yu, aber man darf mich nicht mit dem bedeutenden Verfasser von Das Buch vom Tee verwechseln …“
Mit diesem Satz stellt sich ein junger Mann vor, der von allen nur Nummer Zehn der Ochse genannt wird, weil er der zehnte Sohn seines Vaters und sehr stark ist. Er ist der Erzähler in „Die Brücke der Vögel“ und, das sei vorab verraten, auch in allen anderen Meister-Li-Romanen von Barry Hughart. Ein großer, gutmütiger und freundlicher Kerl, dessen Stärke nicht nur in seinen Muskeln liegt.

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