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Philip Kerr – Das Janus-Projekt [Bernhard Gunther 4]

Nach dem II. Weltkrieg versucht Privatdetektiv Gunther einen beruflichen Neuanfang, doch einer seiner ersten Aufträge führt ihn zurück in die nazibraune Vergangenheit, deren kriminelle Vertreter und Seilschaften sich in der jungen Bundesrepublik etabliert haben und Gunther für einen perfiden Plan missbrauchen… – Der neue Roman der Bernhard-Gunther-Reihe fesselt mit Zeitkolorit, ärgert durch seinen schwachen Plot und scheitert mit dem Versuch, das Phänomen des deutschen Verdrängens & Vergessens der Nazi-Jahre fassbar zu machen: lesbar, aber keine Offenbarung.
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Nuyen, Jenny-Mai – Feenlicht (Die Sturmjäger von Aradon 1)

Die Sturmjäger von Aradon:

Band 1: „Feenlicht“

Hel hat fast ihr gesamtes Leben auf der Schwalbe verbracht. Der Kapitän hält sehr, sehr viel von ihr, und das nicht nur, weil sie die seltene Gabe der zweiten Sicht besitzt. Er hat bereits den Rat der Magier in Aradon davon in Kenntnis gesetzt, dass er Hel zu seiner Nachfolgerin bestimmt hat. Doch dazu kommt es nicht mehr. Ein unerwarteter Sturm reißt das Schiff vom Himmel und zerschmettert es vollständig. Hel ist die einzige Überlebende, und auch sie hat es nur geschafft, weil ein geheimnisvoller Fremder sie gerettet hat. Als sie schließlich nach Aradon gelangt um den Magiern Bericht zu erstatten, stellt sie fest, dass hinter dem Absturz der Schwalbe weit mehr steckt, als sie vermutet hat!

Hel ist ein sehr genügsames, bescheidenes, stilles Mädchen. Sie betrachtet die Schwalbe als ihr Zuhause und ist vollauf damit zufrieden, stundenlang im Mastkorb zu sitzen und Ausschau zu halten. Dass sie auf Grund der Ereignisse plötzlich so im Mittelpunkt der Politik steht, gefällt ihr gar nicht, ganz abgesehen davon, dass die Denk- und Handlungsweise der Mächtigen sich mit ihrer eigenen überhaupt nicht verträgt. Hel ist einfach zu ehrlich und es dauert nicht lange, bis sie sich zum ersten Mal Gedanken darüber macht, wie sie sich vor dem, was sie eigentlich tun soll, drücken kann.

Ihr Freund Nova scheint das genaue Gegenteil zu sein. Wo er auch auftaucht steht er im Mittelpunkt, stets lächelnd und unbeschwert. Er erobert ein Mädchenherz nach dem anderen und lässt sie alle sogleich wieder fallen. Doch der so leichtfertig und oberflächlich wirkende Bursche hat sich offenbar in den Kopf gesetzt, Hel zu beschützen, und lässt sich durch nichts davon abbringen, nicht einmal durch den Zorn der Magier.

Der Magier Olowain, mit dem Hel und Nova vorwiegend zu tun haben, ist Hüter der Bibliothek. Und wie ein echter Wissenschaftler legt er großen Wert darauf, dass etwas nachweisbar sein muss, um als echtes Wissen zu gelten. Was allerdings das aktuelle Geschehen angeht, scheint er weit weniger erpicht auf die Wahrheit als darauf, seine vorgefasste Meinung zu bestätigen. So viel er über die Vergangenheit weiß, so ignorant ist er, was die Gegenwart betrifft.

Karat ist ein einfacher Söldner, der sich weder für Ursachen noch für Gründe interessiert. Seine grausame Vergangenheit hat ihn gelehrt, dass nur das eigene Überleben zählt. Überlebt hat er, aber er lebt nicht, und diesen Mangel spürt er ohne dabei zu wissen, was ihm eigentlich fehlt. Kein Wunder also, dass das Gerücht von einem mordend durch das Land ziehenden Dämon ihn reizt. Er beschließt den Dämon zu jagen, als könne der Kick, den der Kampf gegen ein solches Geschöpf bedeutet, die Lücke in seinem Inneren füllen.

Und dann wäre da natürlich noch der geheimnisvolle Fremde, der Hel aus den Trümmern der Schwalbe gerettet hat. Woher er kommt, ist recht bald klar, das ist aber auch schon alles. Er beantwortet keinerlei Fragen zu seiner Person oder seinem Vorhaben, also bleibt dem Leser nur Beobachtung, und die zeigt bald, dass Hels Retter nicht alles so vorfindet, wie er es erwartet hat, und das scheint ihn zu verunsichern.

Ich finde es immer wieder erstaunlich, mit wie viel Einfühlungsvermögen und Authentizität Jenny-Mai Nuyen ihre Charaktere zeichnet. Das gilt für den fast weltfremd wirkenden Olowain genauso wie für den von Gewalt gezeichneten Karat. Selbst der Fremde, über den der Leser zunächst einmal so gut wie gar nichts erfährt, hat ein eigenes Profil, das über seine bewusst erzeugte Aura des Geheimnisvollen hinausreicht. Die Entwicklungen, die sich im Innern der Figuren vollziehen, erscheinen zu keiner Zeit überstürzt, gekünstelt oder sonst irgendwie unnatürlich, alles bleibt stets behutsam, nachvollziehbar und glaubwürdig.

Die Welt, in der die Geschichte angesiedelt ist, ist eine sterbende Welt. Einst war das Land lebendig, es bewegte und veränderte sich ständig. Verantwortlich dafür ist eine Substanz namens Lirium, die aus dem Kern nach oben steigt und in Adern verläuft, aber auch Pflanzen, Tiere und Menschen erfüllt. Alles, was lebt, lebt durch Lirium. Dieses Lirium ist es, das Hel durch ihre Gabe der zweiten Sicht sehen kann, es erscheint ihr als Licht.

Die Menschen nutzen dieses Lirium als Rohstoff, erhitzen Wasser damit oder beleuchten ihre Häuser. Die exzessive Nutzung hat Lirium knapp werden – und das Land sterben lassen. Ganze Landstriche haben sich seit Generationen nicht mehr verändert, was den Menschen nur lieb ist, denn sie haben die Bewegungen des Landes stets als Bedrohung empfunden. Die Verknappung von Lirium dagegen droht zum Problem zu werden.

Umso erstaunlicher erscheint die Magie, die der Fremde wirkt. Der Lymaerus, auf dem er und Hel reiten, besteht offensichtlich aus purer Magie, doch er scheint sich nicht dadurch zu verbrauchen, dass er die beiden trägt. Es ist, als bestünde zwischen dem Fremden und dem lebendigen Land eine freundschaftliche Verbindung. Das Land unterstützt den Fremden aus freien Stücken. Die Magie, die der Fremde in der Windigen Stadt benutzt, verbraucht dagegen ganz offensichtlich Energie, genauso offensichtlich aber wird diese Energie nicht dem Land entzogen. Der Fremde opfert seine eigene Energie dafür.

Dass es ausgerechnet die „Guten“ sind, deren Kultur auf Ausbeutung beruht, und ihre Gegner diejenigen, die ihre Fähigkeiten im Einklang mit dem Land anwenden, löst jeglichen Schwarz-Weiß-Effekt gekonnt in Wohlgefallen auf.

Das ist aber nur ein Strang der Geschichte. Den anderen stellen die Isen, ein Volk, das von den Inseln südlich des Kontinents stammt. Die Isen, die heute auf dem Kontinent leben, wurden einst dorthin verschleppt und sind noch immer eine unterdrückte Minderheit, was sich unter Anderem darin zeigt, dass die Magier versuchen, die Lirium-Knappheit auf Kosten der Isen zu entschärfen, indem sie den Verkauf von Lirium an Angehörige des Inselvolkes verbieten. Die gärende Unzufriedenheit der Isen nehmen sie nicht ernst und dem Gerücht über die Anführerin einer Rebellengruppe tragen sie lediglich dadurch Rechnung, dass sie eine Attentäterin auf die Frau ansetzen. Politische Gewaltprävention at its best!

All diese Details wurden nahtlos miteinander verknüpft. Es dauert eine Weile bis die Handlung Fahrt aufnimmt. Der erste Teil des Buches lebt hauptsächlich von dem Rätsel um Hels geheimnisvollen Retter, die Handlung verläuft hier ausgesprochen ruhig und wird nur durch die kurze Turbulenz in der Windigen Stadt unterbrochen. Danach rücken die Magier und Isen und mit ihnen Karat mehr in den Vordergrund. Die aufkeimenden Aufstände bringen etwas Leben in diesen Abschnitt, richtig spannend wird es aber erst, als sich endlich die Wege aller Beteiligten kreuzen.

Mit anderen Worten, der erste Band des Sturmjäger-Zyklus ist eher eine ruhige Lektüre, die dem sorgfältigen Aufbau der Welt und der Grundsituation gewidmet ist. Dabei hat Jenny-May Nuyen eine Menge Rätsel eingebaut, nicht nur was Hels Retter angeht, sondern auch Hel selbst umgibt ein Geheimnis; von dem Land jenseits der Berge hat der Leser bisher so gut wie gar nichts erfahren und es dürfte auch kaum überraschen, wenn die Geschichtsschreibung der Magier ein wenig zu subjektiv ausgefallen wäre und einiger Korrekturen bedürfte. Hier hat die Autorin gekonnt die Balance gehalten und gerade genug Fragen beantwortet, um ein Gefühl der Frustration zu vermeiden, gleichzeitig aber auch genug zurück gehalten, um den Leser neugierig zu machen.

Mir hat das Buch gut gefallen. Ein etwas höheres Erzähltempo wäre an manchen Stellen vielleicht nicht schlecht gewesen, aber das sei im Hinblick auf die gelungenen Charaktere und den interessanten Entwurf von Welt und Magie gern verziehen.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“, ihr Debüt, begann sie im Alter von sechzehn Jahren. „Feenlicht“ ist der Auftakt zu ihrem ersten Mehrteiler Die Sturmjäger von Aradon.

Gebundene Ausgabe: 480 Seiten
ISBN-13: 978-3570160336

www.jenny-mai-nuyen.de/
http://www.randomhouse.de/cbjugendbuch/index.jsp

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 4,00 von 5)

Nuyen, Jenny-Mai – Rabenmond – Der magische Bund

Mion ist ein Ruinenkind, zerlumpt, hungrig und mit einem Kopf voller Träume von einem besseren Leben. Doch als sie eines Tages mit Pfeil und Bogen auf einen Fuchs schießt, der gar kein Fuchs ist, scheinen ihre Träume jäh zu einem frühen Ende verdammt. Da taucht ein seltsamer Fremder auf, der ihr Rettung anbietet. Aber bedeutet dieses Angebot wirklich Mions Rettung?

Lyrian ist der Sohn des Kaisers. Das hat ihm noch nie besonders gefallen, aber seit der letzten Nacht der Wintersonnwende hat er beschlossen zu fliehen. Seine Freundin Baltipp, die Tochter des Tierpflegers der kaiserlichen Gärten, begleitet ihn. Tatsächlich schaffen sie es bis über das Mitternachtgebirge. Doch dann zeigt sich, dass sie von ihrer Richtung abgewichen sind, mit fatalen Folgen …

Getragen wird die Geschichte hauptsächlich von vier Personen. Mion mag aufgrund der Härten ihrer Kindheit eine raue Schale haben. Sie ist anpassungsfähig, zäh und kann ganz kräftig austeilen. Außerdem spielt sie regelmäßig ein ziemlich hartes Spiel namens Ritus. Aber sie hat einen weichen Kern. Sie hängt sehr an ihrem kleinen Bruder Mirim, und der Schuss auf den Fuchs tut ihr bereits leid, kaum dass sie den Pfeil losgelassen hat. Wie alle Menschen in Elend und Armut träumt sie von einem besseren Leben, doch Mion ist außerdem entschlossen genug, für diesen Traum auch etwas zu riskieren, als sich ihr eine Chance bietet. Diese Mischung aus Rücksichtslosigkeit, Ehrgeiz, Mitgefühl und Sehnsucht wird ihr schließlich zum Verhängnis.

Lyrian ist ähnlich hin- und hergerissen. Auch er besitzt ein freundliches, mitfühlendes Herz, er ist sich seiner Verantwortung als Thronfolger bewusst und voller guter Vorsätze. Leider lässt sich das nicht ohne Weiteres mit dem in Einklang bringen, was seine Eltern und der Adel von ihm erwarten. Die Vorstellungen der Herrschenden darüber, wie ein Kaiser und seine Regierung zu sein haben, laufen Lyrians Denken und Fühlen massiv zuwider. Und sein vages Gefühl, dass da etwas fürchterlich falsch läuft, reicht nicht aus, um den Forderungen seiner Umgebung erfolgreich zu begegnen.

Baltipp ist noch weit weniger geneigt, die herrschende Weltanschauung infrage zu stellen. Für sie sind nur drei Dinge wichtig: ihr Vater, die Tiere, um die sie sich kümmert, und Lyrian. Sie ist weder besonders hübsch noch besonders klug, aber sie ist sehr, sehr treu. Nicht, dass sie sich ernsthafte Hoffnungen machen würde, was Lyrian angeht. Sie ist sich durchaus ihrer Stellung bewusst und zufrieden mit seiner Freundschaft. Andererseits duldet ihre Anhänglichkeit aber auch nicht, dass er sich von ihr entfernt. Als Lyrian sich in ein anderes Mädchen verliebt, ist Baltipp überfordert.

Der rätselhafte, geheimnisvolle Charakter ist in diesem Buch ein Mann namens Jagu. Er ist es, der Mion Hilfe anbietet, als sie wegen des erschossenen Fuchses in der Klemme steckt. Aber über seine Gründe schweigt er. Dass er immer wieder tagelang einfach verschwindet, dass er ständig zwischen Grobheit und Freundlichkeit schwankt, zwischen teilweise brutaler Ehrlichkeit und beharrlichem Schweigen, tut ein Übriges. Mal wirkt er hilflos und verletzlich, mal ist er ausgesprochen kaltschnäuzig und skrupellos. Auch er spielt Ritus, was Mion nicht verstehen kann, denn er ist erfolgreich und wohlhabend und hat es eigentlich nicht nötig, sich in Träume zu flüchten.

Zwischen diesen vier Hauptfiguren entspinnt sich ein kompliziertes Netz aus Beziehungen, Abhängigkeiten und Lügen. Die Charakterzeichnung ist von derselben Intensität, die die Autorin bisher bei all ihren Büchern zu erzeugen wusste; das gilt auch für Nebenfiguren wie Faunia oder die Kaiserin. Sehr gelungen.

Was das Buch aber vor allem interessant macht, ist die eigentliche Thematik. Im Kaiserreich Wynter herrschen die Drachen. Keine feuerspeienden Echsen, sondern Gestaltwandler. Ihre Herrschaft gründet sich auf der Tatsache, dass Drachen denken und Menschen fühlen. Da Gefühle jedoch die Ursache sind für alles Übel, das es auf der Welt gibt, sind alleine die Drachen, die Gefühle nicht kennen, in der Lage, gerecht zu herrschen, denn sie allein sind erhaben über Neid, Ehrgeiz, Rachsucht und Gier. So zumindest lautet die Staatsdoktrin.

Dass diese Ideologie auf einer Lüge basiert, wird nur zu bald deutlich. Drachen fühlen durchaus. Sie fühlen Kummer und Liebe und vor allem Angst! Angst vor der Wahrheit, denn sollte das Volk diese erkennen, wäre es mit der Herrschaft der Drachen vorbei! Und in ihrer Angst verbieten sie, dass das einfache Volk lesen lernt, sie lassen alte Bücher verbrennen und in der Nacht der Wintersonnwende, der einzigen Nacht, in der sie verletzlich sind, kostenlos Wein ausschenken, damit die Menschen sich betrinken und ihnen nicht gefährlich werden können. Gleichzeitig ist Mion der beste Beweis dafür, dass Menschen nicht nur fühlen, sondern auch denken können.

Eines jedoch scheint sich im Verlauf der Handlung zu bestätigen: Gefühle sind die stärksten Triebfedern überhaupt. Und im Fall dieser Geschichte ziehen sie vor allem negative Folgen nach sich. Selbst der völlig uneigennützige Lyrian ist letztlich mitverantwortlich für die zahllosen Toten eines blutigen Massakers, weil er auf sein Herz gehört hat, und nicht auf seinen Verstand. Hier ist es tatsächlich so, dass alles Chaos und alles Blutvergießen seine Ursache in den Gefühlen hat, ganz gleich, ob diejenigen von Menschen oder Drachen.

Jenny-Mai Nuyens Bücher haben sich von Anfang an in keines der gängigen Fantasy-Schemata pressen lassen. Dieses Buch jedoch ist besonders sperrig. Nicht nur, weil es kein Happy End hat, sondern weil es noch einen Schritt weiter geht und sich gegen eine Idee stellt, die auch in anderen Bereichen der Literatur vorherrscht: dass die Liebe allen Widerständen zum Trotz immer siegt und danach alles gut wird. Hier wird nichts gut. Nicht einmal der Sturz der Tyrannen scheint positive Auswirkungen zu haben. Im Kleinen – in der Beziehung zwischen den Hauptfiguren – wie im Großen – in der Politik – münden alle Gefühle und die daraus resultierenden Taten in eine einzige Welle der Zerstörung. Ein Szenario, das sicherlich nicht jedem liegt. So ganz desillusioniert wollen die meisten Leser ihr Buch dann doch nicht zuklappen. Ich fand das Buch jedenfalls sehr gut. Es mag Fantasy sein. Aber es ist trotzdem wahr.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“, ihr Debüt, begann sie im Alter von sechzehn Jahren. Inzwischen ist sie zwanzig und studiert Film an der New York University.

511 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN-13: 978-3-570-16000-8

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Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

George Pelecanos – Der Totengarten

Das geschieht:

In Washington, der Hauptstadt der USA, trieb er 1985 sein Unwesen: der „Palindrom“-Mörder, der drei schwarze Teenager, deren Vornamen sich von vorn wie von hinten lesen ließen, vergewaltigte und ihnen in die Köpfe schoss. Gefasst werden konnte er nie, denn er tauchte spurlos unter; ein Fall, der Sergeant T. C. Cook, der damals mit den Ermittlungen betraut war, sehr nahe ging.

Mehr als zwei Jahrzehnte später liegt Asa Johnson mit einer Kugel im Schädel in einem Park in Washington. Ex-Cop Dan Holiday glaubt die Handschrift zu erkennen. Er tut sich mit dem längst pensionierten Cook zusammen, der dem „Palindrom“-Killer immer noch nachjagt. Dritter im Bund wird Gus Ramone, Holidays ehemaliger Partner, der im Polizeidienst geblieben und an den Ermittlungen im Mordfall Johnson beteiligt ist. Mit frischem Eifer und den Methoden des 21. Jahrhunderts beginnt das Trio aufs Neue mit der Fahndung.

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Hensel, Jana / Raether, Elisabeth – Neue deutsche Mädchen

2002 trat Jana Hensels Erinnerungsbuch [„Zonenkinder“ 4989 seinen Siegeszug durch das deutsche Feuilleton und – vor allem – die Bestellerlisten an. Die Idee, die dem Buch vorangestellt war, hatte durchaus Potenzial: Hensel, die zum Zeitpunkt der Veröffentlichung so lange in der BRD wie in der DDR gelebt hatte (als die Mauer fiel, war sie gerade dreizehn), war angetreten, exemplarisch aufzuzeigen, wie es ist, ein Wendekind zu sein. Nur kann man so einen biographischen Knick offensichtlich nicht exemplarisch aufzeigen, und „Zonenkinder“ scheiterte an genau diesem Anspruch. Das kollektive „Wir“, das Hensel während des gesamten Buches beschwor, war nervtötend, anmaßend und schlussendlich falsch.

Mittlerweile ist Jana Hensel irgendwie angekommen im neuen größeren Deutschland und hat sich auch von dem allgemeingültigen Wir verabschiedet. Zusammen mit ihrer Freundin Elisabeth Raether hat sie sich nun noch einmal zusammengetan, um aktuellen Befindlichkeiten nachzuspüren. Wieder ist die zugrunde liegende Idee originell: Hensel mit ihrer DDR-Biographie und Raether als BRD-Kind wollen herausfinden, was es heißt, heute eine Frau zu sein. Alice Schwarzer, deren Name traditionell immer fällt, wenn es um Feminismus in Deutschland geht, spielt dabei eigentlich nur als Aufhänger eine Rolle. Hensel lässt sich zwar zu ein wenig Schwarzer-Kritik hinreißen, aber mit Leidenschaft scheint sie nicht am Werke. Es scheint vielmehr, als fühlten sich die Autorinnen verpflichtet, die große Mutter des Feminismus in Deutschland wenigstens auf einer Seite namentlich zu erwähnen, um dann nahtlos dazu überzugehen, was sie als wichtig empfinden: Liebe oder deren Abwesenheit, Sex, Geld, Arbeit und die Unverbindlichkeit des Berliner Großstadtlebens.

In einzelnen Essays widmen sich Hensel und Raether also verschiedenen Aspekten des Frauseins. Das liest sich durchaus interessant und flüssig. Geradezu anekdotisch erzählen die beiden von (in der Regel missglückten) Affären, von dem Versuch, in der taffen „Männerwelt“ zu bestehen, von der seltsamen Entwurzelung im zusammenwachsenden Berlin. Die Nabelschau hat einen gewissen Tagebuchcharakter: Das Geschehene wird durchaus kritisch betrachtet und analysiert, und doch bleiben die Erzählungen des Scheiterns rein privat. Die Autorinnen sagen „überhaupt nichts aus, was über die jeweiligen Geschichten hinausginge“, meint beispielsweise der Rezensent der |F.A.Z.| und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Hensel und Raether haben ein persönliches Buch geschrieben, ein Buch, in dem sich Frauen ihres Jahrgangs wiederfinden oder auch nicht. Doch über ihre Selbstanalyse hinaus wollen die neuen deutschen Mädchen keine Auskunft darüber geben, wie die Sache mit dem Feminismus denn nun weitergehen sollte. Wenn die Ideen Schwarzers so überkommen sind, womit sollten wir sie ersetzen?

Abgesehen von den persönlichen Betrachtungen, finden sich in dem Buch auch zwei Essays zur Mütterngeneration, die sich durchaus interessant lesen. Da geht es auf der einen Seite um Elisabeth Raethers Mutter, die zunächst eine vollkommen durchschnittliche Mittelschichtenkarriere in der BRD macht: Heirat, Kinder, Hausfrau. Doch dann entscheidet sie, dass das nicht alles gewesen sein kann. Sie lässt sich scheiden, beginnt wieder zu arbeiten, wird ihre eigene Herrin. Für Raether ist diese Mütterbiographie ein Zeichen dafür, dass der Feminismus damals begann, die Mittelschicht zu erobern.

Auch Hensel ist ein Scheidungskind, und auch ihre Mutter steht geradezu beispielhaft für den Lebenslauf vieler Frauen in der noch jungen DDR. Sie arbeitet Vollzeit. Sie zieht aus dem Ledigenwohnheim aus, um zu heiraten. Die kleine Jana wird geboren. Durchaus genau schildert Hensel diese Jahre und analysiert die Unterschiede zur heutigen Zeit. Sie stellt das damalige Denken im „Kollektiv“ dem heutigen Götzen des „Individualismus“ gegenüber. Ihre Mutter, sagt sie, war noch eingebunden in ein großes Ganzes, war ein Rädchen in einer riesigen Maschine. Jana Hensel nennt das „Perspektivlosigkeit“, ist aber gleichzeitig ehrlich genug, einen gewissen Neid zuzugeben. Denn es kann auch sinnstiftend und beruhigend sein, sich als Teil einer Gruppe fühlen zu können. Heute will man das natürlich nicht mehr. Jeder ist sich selbst der nächste. Das Denken kreist nur um das eigene Individuum. Die Frage darf gestattet sein, ob man das, was auch zur Zersplitterung der Gesellschaft beiträgt, nun Fortschritt nennen soll.

Die beiden Mütter-Kapitel bieten den meisten Mehrwert in einem Buch, das ansonsten eher zufällig wirkt. Vielleicht war das auch den Autorinnen klar und sie haben die beiden Essays deshalb in der Mitte des schmalen Bandes platziert. In der Elterngeneration bietet sich die Möglichkeit, eine Rückschau zu halten – eine Sache, die die Analyse ungemein erleichtert. Im Rest des Buches finden sich dagegen kaum Erkenntnisse, die irgendeine Art von Allgemeingültigkeit für sich beanspruchen könnten.

Das heißt jedoch nicht, dass die Autorinnen sich jeglicher Wertung enthielten. Ganz im Gegenteil! Raether bevorzugt die Innenansicht. Auf geradezu intime Weise nimmt sie den Leser an die Hand und erkundet mit ihm ihre eigene Seelenlandschaft. Geht eine Affäre in die Brüche, so spürt sie den Gründen nach, und der Leser begleitet sie Stück für Stück, wenn ihr Muster in ihrem Verhalten bewusst werden. Jana Hensel ist da anders. Die Gründe für ihr Scheitern (in einer Beziehung, am Arbeitsplatz) sucht sie nicht in erster Linie in sich selbst, sondern in anderen. Und natürlich wird sie fündig. Mal sind es die bösen tradierten Männerstrukturen in einer Berliner Redaktion, dann die reaktionären Familienvorstellungen anderer Leute. Immer jedoch überanalysiert Hensel ihre Deutungsmuster und überreizt sie dadurch.

Was bleibt von „Neue deutsche Mädchen“? Nicht viel, leider. Hensel und Raether haben ein wirklich lesenswertes, ja sogar kurzweiliges Buch über ihr eigenes Leben geschrieben, das sich kaum auf eine ganze Generation verallgemeinern lässt. Sie verweigern sich jeglicher Theorie und konfrontieren den Leser mit ihren persönlichen Geschichten, um ihn dann mit der eventuellen „Deutung“ allein zu lassen. Wie Jana Hensel im Essay „Über eine ostdeutsche Herkunft“ festgestellt hat, geht es nur um das Individuum. Auch „Neue Deutsche Mädchen“ kreist nur um diesen Götzen, und so stellt sich beim Leser leider Leere ein, wo er wohl Erkenntnis erwartet hatte.

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Simon Beckett – Kalte Asche

Das geschieht:

Dr. Simon Hunter, forensischer Anthropologe der Universität London, freut sich nach einer anstrengenden Dienstreise auf die Heimreise, als ihn ein Hilfegesuch der Polizei nach Runa, eine kleine Insel der Äußeren Hebriden vor der Nordwestküste Schottlands, führt. Dort wurde in einem verfallenen Cottage eine völlig verbrannte Leiche entdeckt, die Hunter nicht nur untersuchen, sondern auch feststellen soll, ob ein Mord oder nur ein Unfall vorliegt.

Runa ist eine kleine aber fest in sich ruhende Inselgemeinschaft, deren Mitglieder sich sämtlich zu kennen glauben. Konflikte werden intern gelöst, und „denen vom Festland“ steht man geschlossen misstrauisch und ablehnend gegenüber. Das erschwert die Ermittlungen, zumal Hunter mit Sergeant Fraser ein schroffer und dem Alkohol ergebener Polizeibeamter zur Seite gestellt wurde.

Die Leiche entpuppt sich als weiblich, und der Schädel weist deutliche Spuren eines heftigen Schlages auf. Der Tod war folglich gewaltsam. Der Täter oder die Täterin muss sich noch auf der Insel aufhalten, die in den Wochen seit dem Mord nachweislich niemand verlassen hat. Während Fraser dem Fall nicht gewachsen ist, kann sich Hunter auf die Unterstützung des ehemaligen Inspektors Andrew Brody verlassen, der seinen Altersruhesitz auf Runa genommen hat. Der alte Polizist hat seinen Job nicht verlernt. Gemeinsam mit Hunter nimmt er die Schar der Verdächtigen unter die Lupe. Die ist zwar klein, aber schwer zu durchschauen.

Dass Runa diverse Geheimnisse birgt, wird sogar dem Fremdling Hunter rasch klar. Dann bricht ein gewaltiger Sturm los, der Runa völlig isoliert und dem Mörder die willkommene Gelegenheit bietet, Spuren zu verwischen und mögliche Zeugen zu beseitigen, zu denen sich zu seinem Schrecken auch David Hunter zählen muss …

Ewig spannend: der ‚unmögliche‘ Mord

Hoch schlugen die Wellen, als Simon Beckett 2006 seinen ersten Krimi um den psychisch angeschlagenen Forensiker David Hunter veröffentlichte. Allzu drastisch beschreibe er, was der Tod mit dem menschlichen Körper anrichte, während der eigentliche Romanplot zu dürftig daherkomme, so der grundsätzliche Tenor der Kritik, von der sich die Leser indes nicht beeindrucken ließen. Ihnen gefiel „Die Chemie des Todes“ als Buch, das bei objektiver Betrachtung weder besser noch schlechter als die meisten zeitgenössischen Thriller war.

„Kalte Asche“ ist das zweite Kapitel in der David-Hunter-Vita, das Beckett wieder als Kriminalgeschichte erzählt. Gegenüber dem Debüt gibt es diverse Veränderungen bzw. Entwicklungen. Dieses Mal steht die Ermittlung im Vordergrund, während Hunters private Probleme (angenehm) ausgeklammert oder nur kurz angerissen werden. „Kalte Asche“ ist ein klassischer „Whodunit?“, der geschickt mit den literarischen Stilmitteln des 21. Jahrhunderts dargeboten wird.

Der Mord auf einer durch das Meer und das Wetter isolierten Insel ist wahrlich kein Einfall, der durch Originalität besticht. Wer Krimis liest, wird sogleich ältere Romane nennen können, die sich dieser Kulisse bedienen. (Der bekannteste ist vermutlich „Ten Little Niggers“/„And Then There Were None“, 1939; dt. „Zehn kleine Negerlein“/„Letztes Weekend“/„Und dann gab’s keines mehr“, von Agatha Christie.) Die Vorteile liegen auf der Hand: Der Schauplatz ist (scheinbar) überschaubar, die Zahl der Verdächtigen bleibt auf die (kleine) Gruppe der Insulaner beschränkt. Ein guter Autor wird sich hüten, unfair vorzugehen, was bedeutet, dass Leser, die miträtseln möchten, über dieselben Indizien und Hinweise verfügen wie die ermittelnden Beamten und Detektive.

Zu viel des unterhaltsam Schlechten

Was natürlich eine Illusion ist, was wir durchaus wissen. Letztlich erwarten wir, dass uns der Verfasser im großen Finale überrascht und die sorgfältig gelegten Spuren ad absurdum führt. Dieser Erwartung wird Beckett völlig gerecht, bevor er leider dem heutzutage üblichen Hang zum „Last-Minute-Twist“ folgt, d. h. auf den letzten Seiten den eigentlichen Übeltäter ans Licht zerrt, um der bisher erzählten und logisch aufgeklärten Story eine gänzliche neue Deutung aufzupfropfen.

Selbst das übersteht die Geschichte gut, aber Beckett will den Jeffrey-Deaver-Effekt und zieht auf der allerletzten Seite ein weiteres As aus dem Ärmel; er versucht es jedenfalls, denn was hier stattfindet, ist ebenso lächerlich wie billig und verdirbt viel von dem gutem Eindruck, den „Kalte Asche“ bisher hinterließ.

Denn Runa ist ein malerischer und überzeugender Ort für diesen ziemlich abenteuerlich geplotteten Thriller. Einsame Hügel, bestanden mit steinzeitlichen Hügelgräbern, dazwischen Moore, darüber Nebel, Wolken und Regen: Hier ist die Zivilisation sichtlich abwesend, verläuft das Leben nach alten, sogar archaischen Regeln. Die Inselgemeinde ist eine verschworene Gemeinschaft, in der Konflikte freilich gären wie in einem Dampfkochtopf. Nicht selten entweicht der Überdruck explosiv = gewalttätig und straft den Anschein eines gemütlich-trägen Inselalltags Lügen.

Verfluchte Heimat!

Einig ist man allerdings im Schulterschluss gegen alle ‚Fremden‘. Das schließt selbst den Wohltäter Michael Strachan ein, dem man es insgeheim verübelt, dass er über die finanziellen Mittel verfügt, seinem Gutmenschentum zu frönen. Gern würden die Insulaner ohne solche Hilfe auskommen, die sie eher gnädig als freudig oder gar dankbar annehmen.

Sergeant Fraser verkörpert perfekt das ungeliebte „Festland“, dessen Vertreter ohne Rücksicht auf die feinen Strukturen der Runa-Gesellschaft umherpoltern und gern Überlegenheit bzw. Überheblichkeit an den Tag legen. David Hunter versucht es mit ‚Verständnis‘, trägt aber dabei ebenfalls zu dick auf und stößt auf Ablehnung. Wie Fraser begreift Hunter nicht, dass Runa für seine Bewohner gleichermaßen Segen und Fluch ist: kein idyllischer Urlaubsort, sondern harte Realität und ebenso Heimat wie Verbannung.

David Hunter wird durch die Ereignisse auf Runa immerhin erfolgreich von seiner nach wie vor schwierigen privaten Situation abgelenkt. Nur halbwegs hat er den tragischen Verlust von Frau und Kind überwunden. Seine neue Gefährtin ist nach schrecklichen Erlebnissen (s. „Die Chemie des Todes“) selbst mental labil. Die Beziehung ist ohnehin schwierig, und die Spannungen verschärfen sich, weil Hunter von seiner – durchaus obsessiven – Beschäftigung mit meist grausam zu Tode gekommenen Menschen nicht lassen will. Er hat darin seinen Ausgleich gefunden, der ihm hilft, den Verlust der Familie zu kompensieren: Hunter will Antworten auf Fragen, die ohne seinen Einsatz womöglich unbeantwortet blieben.

Liebe zum garstigen Job

Im Vergleich zu „Die Chemie des Todes“ räumt Beckett dem inneren Ringen Hunters deutlich weniger Raum ein. Dem Roman kommt das sehr zu Gute, da der Verfasser die eigentliche Handlung vorantreibt, die sich u. a. um das Phänomen der klassischen Selbstentzündung dreht, für das Beckett eine logische Erklärung vorlegt.

Der Autor hält das Tempo durch, verzettelt sich nicht mehr in den endlosen Selbstzerfleischungen, die Hunters Denken und Handeln im Vorgängerband allzu stark bestimmen. In dieser Hinsicht wirkt Runa katalytisch: Die Insel ist auch für Hunter eine Stätte jenseits seines Alltagslebens, mit dem er sich während seines Aufenthaltes nur sporadisch beschäftigen muss.

Ob Hunter dank des angemerkten (aber hier natürlich verschwiegenen) finalen Knalleffekts noch einmal ermitteln wird, ist unklar – soll unklar wirken, aber in diesem Punkt lässt sich niemand vom Verfasser in die Irre führen. Stattdessen legt Beckett das Fundament für neue private Turbulenzen seines Helden, der mit ziemlicher Sicherheit recht bald seine nächste garstige Leiche unter die Lupe nehmen wird.

Autor

Simon Beckett (geb. 1968) versuchte sich nach Abschluss eines Englischstudiums als Immobilienhändler, lehrte Spanisch und war Schlagzeuger. 1992 wurde er freier Journalist und schrieb für bedeutende britische Zeitungen wie „Times“, „Daily Telegraph“ oder „Observer“. Im Laufe seiner journalistischen Arbeit spezialisierte Beckett sich auf kriminalistische Themen. Als Romanautor trat Beckett zuerst 1994 an die Öffentlichkeit, doch deren breite Aufmerksamkeit fand er erst mit den Romanen um den Forensiker David Hunter (ab 2006). Allerdings wurde Beckett bereits für „Animals“ (1995, dt. „Tiere“) mit einem „Raymond Chandler Society’s Marlowe Award“ für den besten internationalen Kriminalroman ausgezeichnet.

Mit seiner Familie lebt Simon Beckett in Sheffield. Über sein Werk informiert er auf dieser Website. Interessant ist, dass er seine vier zwischen 1994 und 1998 veröffentlichten (und inzwischen auch in Deutschland erschienenen) Romane unerwähnt lässt.

Taschenbuch: 432 Seiten
Originaltitel: Written in Bones (London : Bantam Press 2007)
Übersetzung: Andree Hesse
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eBook: 532 KB
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Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Janice Deaner – Als der Blues begann

Janice Deaners Debütroman „Als der Blues begann“ wurde bereits 1994 in Deutschland veröffentlicht und erhielt viel Lob. Im Sommer 2007 bringt |Rowohlt| das Buch als Neuauflage heraus, um dem geneigten Leser mit einem wunderbaren Familienroman in der heißen Jahreszeit zu erfrischen.

Die zehnjährige Maddie lebt mit ihrer älteren Schwester Elena, dem kleinen Bruder Harry und den Eltern Leo und Lana in den Siebzigern in Detroit. Leo gibt Klavierunterricht, während Lana von sich behauptet, Schriftstellerin zu sein, und den ganzen Tag in einem Sessel sitzt und in Notizbücher schreibt, die ihre Kinder nicht lesen dürfen.

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Jilliane Hoffman – Morpheus

Jilliane Hofmann weiß, wovon sie spricht, wenn sie ihre Heldin C.J. Townsend in den Gerichtssaal schickt. Hofmann war selbst stellvertretende Staatsanwältin von Florida, doch man kann ihr nur wünschen, dass sie nicht mit solchen Fällen zu tun hatte wie C.J.

In „Cupido“, dem Vorgängerbuch, hatte C.J. damit zu tun, einen Serienmörder, der sie während ihres Studiums brutal vergewaltigt hatte, hinter Gitter zu bringen. Dass sie ihre Anklage darauf stützte, dass sie Beweise zurückbehielt, kostet nun die drei Polizisten, die als Einzige neben ihr vom entlastenden Tonband wussten, das Leben. Ein Mörder zieht durch die Straßen Miamis – und er hat es auf Polizisten abgesehen, die Dreck am Stecken haben.

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Nuyen, Jenny-Mai – Drachentor, Das

Es herrscht Krieg. In einer großen Schlacht besiegt Haradons Heer das der Myrdhanen.

Alasar sitzt wie jeden Sonnenaufgang in den letzten Tagen auf einem hohen Felsen und hält Ausschau nach den Rückkehrern aus der Schlacht, nach seinen Eltern und Brüdern. Doch was er an diesem Morgen heranziehen sieht, ist das Heer der Haradonen! Eilig holt Alasar seine Schwester Magaura und alle Einwohner seines Dorfes, die bereit sind, ihm zu folgen, und führt sie hinauf in die Höhlen der Berge, während die Feinde hinter ihm alles in Schutt und Asche legen. Doch was er mit den Flüchtlingen, die wie er fast ausschließlich Kinder sind, aus dem Nichts aufbaut, ist kein Neuanfang …

Ardhes ist die Prinzessin von Awrahell, die personifizierte Hoffnung der Elfen auf eine Zukunft in dem Land, das einst ihnen gehörte, und aus dem die Menschen sie immer weiter verdrängen. Doch Königin Jale, gebürtige Haradonin, verabscheut die Elfen und hat den Elfenkönig Octaris nur um der Macht willen geheiratet. Sie drängt ihre Tochter dazu, einen Menschen zu heiraten und zu Ende zu führen, was sie selbst begonnen hat: die endgültige Vertreibung der Elfen. Da beobachtet Ardhes zufällig ihre Mutter mit einem Geliebten!

Revyn hat für Krieger und Soldaten nichts als Verachtung übrig. Doch um seiner dunklen Vergangenheit zu entfliehen, schließt er sich ihnen an und lässt sich in Logond, der Hauptstadt Haradons, zum Drachenreiter ausbilden. Der Umgang mit den schönen, mächtigen und unsagbar traurigen Wesen ist der einzige Lichtblick in seinem düsteren Leben. In kürzester Zeit hat er sich einen Namen als begnadeter Drachenzähmer gemacht. Einziger Wermutstropfen ist die Tatsache, dass immer wieder Drachen einfach spurlos verschwinden. Eines Nachts gelingt es einem Mädchen, nahezu sämtliche Drachen zu befreien und aus der Stadt zu führen. Revyn beteiligt sich an der Verfolgung, doch nicht, um das Mädchen einzufangen, sondern um das Rätsel der verschwundenen Drachen zu lösen…

In einem Sog, dem sich keiner der drei entziehen kann, treiben sie aufeinander zu, und ihr Zusammentreffen wird die Welt unwiederbringlich verändern. Denn sie sind Ahirah, Kinder von Ahiris, dem Gott des Schicksals …

Wie schon „Nijura“, so zeigt auch „Das Drachentor“, dass Jenny-Mai Nuyen eine große Begabung für Charakterzeichnungen hat.

Alasar ist der geborene Anführer. Er weiß, wie man andere überzeugt, wie man die Begeisterung in ihnen weckt, die nötig ist, um auch Aufgaben von herkulischem Ausmaß erfolgreich durchzuziehen. Unter seiner Führung hätten die Höhlenkinder zu einer blühenden Gesellschaft werden können. Doch der Krieg hat ihn vergiftet. Verlustängste und der Wunsch nach Rache bestimmen all sein Tun, und sie werden umso stärker, je älter er wird. Er ignoriert die Tatsache, dass die Höhlenkinder erwachsen werden, auch Magaura. Selbst den vernünftigsten Argumenten seines besten Freundes Rahjel ist er schließlich nicht mehr zugänglich, Kritik wird als Verrat gewertet. Alasar ist auf dem besten Weg, ein grausames, kaltherziges Ungeheuer zu werden.

Ardhes ergeht es ähnlich. Jale ist verlogen, intrigant und machthungrig, Octaris dagegen besitzt zwar mächtige Gaben, lässt aber alles um sich herum einfach widerstandslos geschehen. Ardhes verachtet sie beide. Sie fühlt sich ungeliebt und benutzt und reagiert darauf zunächst mit Verweigerung, dann mit Trotz. Dabei verschwendet sie keinen einzigen Gedanken an die Folgen ihres Tuns für andere. Von allen drei Ahirahs zeigt Ardhes am stärksten das Verhalten einer noch unreifen Heranwachsenden, was wiederum nicht verwundert, da sie als Einzige zumindest relativ behütet und sicher aufgewachsen ist.

Revyn dagegen ist ein Kind ohne Wurzeln, nirgendwo fühlt er sich zuhause. Er verabscheut sowohl den Alkohol als auch das Töten, doch sich selbst verabscheut er auch. Erinnerungen und Gewissensbisse verfolgen ihn überall hin. Alles, was er sich wünscht, sind Friede für seine Seele und ein Ort, an den er gehört. Aber all seine Bemühungen, das Richtige zu tun, all seine Versuche der Sühne und Wiedergutmachung scheinen zu seiner wachsenden Verzweiflung nur immer weiter in die Katastrophe zu führen!

Eine gute Portion Einfühlungsvermögen hat diese drei so glaubhaft und lebendig werden lassen, dass man sie förmlich vor sich zu sehen meint. Aber auch die Nebencharaktere wie Königin Jale, König Octaris oder Revyns Kriegskameraden Twit und Capras sind ungemein plastisch und in sich stimmig ausgeführt. Selbst dem König der Myrdhanen, der nur in ein paar kurzen Szenen auftaucht, hat die junge Autorin dieselbe Aufmerksamkeit und Sorgfalt angedeihen lassen wie ihren Hauptfiguren, ohne sich dabei in Details zu verlieren.

Die Geschichte selbst braucht ein wenig Anlaufzeit. Es ist nicht von Anfang an ersichtlich, was die Drachen mit dem Krieg zwischen Haradon und Myrdhan zu tun haben. Erst als zum ersten Mal ein Drache verschwindet, wird dem aufmerksamen Leser die Verbindung deutlich.
Das Hauptaugenmerk des Geschehens liegt zunächst auf einer Prophezeiung, von der Octaris Ardhes erzählt. Wobei Prophezeiung wahrscheinlich nicht unbedingt das richtige Wort ist. Vielmehr handelt es sich um Visionen. Octaris ist ein Seher. Und wenn er nachts zu den Sternen hinaufstarrt, sieht er die Zukunft der Welt, in der die Ahirah eine entscheidende Rolle spielen. Ardhes lauscht diesen Visionen ihres Vaters. Doch wie es bei Visionen oder Prophezeiungen üblich ist, sind sie nicht in klare, eindeutige Worte gefasst. Ardhes ist nicht die Einzige, die aus den Worten ihres Vaters falsche Schlüsse zieht.

Das hört sich jetzt nicht unbedingt neu an. Ist es auch nicht. Aber es ist mit viel Engagement und Herzblut erzählt. Und eines ist tatsächlich ungewöhnlich: Hier gibt es keinen Tyrannen, Zauberer oder finsteren Gott, in dem sich alles Böse konzentriert und den es zu besiegen gilt. Deshalb hat das Buch auch kein Happyend. Es hat überhaupt nur ein halbes Ende, insofern, als der Leser erfährt, was aus zweien der drei Ahirah geworden ist. Doch ein Schicksal bleibt offen.

Auch die Handlung als solche hat nicht den sonst üblichen Abschluss erhalten. Nicht nur, dass der drohende Untergang nicht aufgehalten werden konnte; da es kein personifiziertes Böses gibt, das hätte besiegt werden können, gibt es auch keinen strahlenden Helden, der nach der Schlacht mit dem Wiederaufbau beginnen könnte. Jenny-Mai Nuyen erzählt hier das Ende einer Epoche, ohne einen Blick auf einen Neuanfang zu werfen.

Insofern ist „Das Drachenauge“ für einen Fantasy-Roman unerwartet realistisch. Das Böse ist kein Fremdkörper, der von außen in die bis dahin heile Welt eindringt und mit Heldenmut und Opferbereitschaft wieder vertrieben werden kann. Gut und Böse sind Teil der Welt, waren es immer und werden es immer sein. Sie bleiben von Umwälzungen, von Aufstieg und Fall, völlig unberührt. Trotzdem hat das Buch kein negatives Ende. Denn einer der drei Hauptcharaktere hat eine Wandlung durchgemacht und wirft zumindest ein kleines Hoffnungslicht auf den düsteren Weg ihrer Welt, auf den die Autorin einen Ausblick gegeben hat.

Um es kurz zu machen: Jenny-Mai Nuyen hat die Hoffnungen, die ich in ihr neuestes Buch setzte, voll erfüllt. Ihre Sprache ist nach wie vor bildhaft und ausdrucksstark, sowohl was Stimmungen als auch Landschaften betrifft; ihre Charaktere agieren nicht nur glaubhaft und nachvollziehbar, sie sind voller Leben, als hätte ich sie persönlich gekannt; und auch ihre Ideen, vor allem im Zusammenhang mit der Welt der Drachen, haben mir sehr gut gefallen, auch wenn der Gedanke von Fell bei einem Drachen etwas ungewöhnlich erscheint.

Jemand, der sich langweilt, sobald der Held der Geschichte nicht ununterbrochen von einer unermesslichen Gefahr in die andere stolpert, sollte besser die Finger von dem Buch lassen. Wer dagegen mehr als rasante Action im Sinn hat, dem kann ich das Buch wärmstens empfehlen. Jenny-Mai Nuyen schreibt nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit ihrer Seele. Das ist deutlich zu spüren. Zur Abwechslung mal finde ich das vollmundige Lob von Verlag und Presse, für das ich normalerweise überhaupt nichts übrig habe, durchaus gerechtfertigt.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“, ihr Debüt, begann sie im Alter von sechzehn Jahren. Inzwischen ist sie neunzehn und studiert Film an der New York University. Ihr neuester Roman „Nocturna – Die Nacht der gestohlenen Schatten“ ist für Juli dieses Jahres angekündigt.

Taschenbuch, 576 Seiten
ISBN-13: 978-3-570-30388-7

www.jenny-mai-nuyen.de/
www.randomhouse.de/cbjugendbuch/index.jsp

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 5,00 von 5)

Nuyen, Jenny-Mai – Nijura – Das Erbe der Elfenkrone

Scapa ist ein Dieb. Zugegeben, ein sehr geschickter, findiger Dieb, trotzdem ist das Leben in den engen Gassen der Kesselstadt für einen gerade mal dreizehnjährigen Gassenjungen nicht einfach, schon gar nicht, wenn man von einem übermächtigen Unterweltboß ausgebeutet wird. Trotzdem wäre Scapa womöglich nie auf die Idee gekommen, sich gegen Vio Torren aufzulehnen, wäre da nicht seine Freundin Arane. Die ist unter keinen Umständen bereit, sich irgendjemandem zu beugen! Wenn es nach ihr ginge, wären sie und Scapa die Herrscher über Kesselstadt, und kein Rückschlag kann sie von ihrem festen Ziel abbringen: die Eroberung von Vio Torrens Fuchsbau …

Einige Tagesreisen von Kesselstadt entfernt in den dunklen Wäldern lebt in einem Hykaden-Dorf das Mädchen Nill. Als Halbelfe ist sie eine Außenseiterin und erfährt von den Menschen ringsum hauptsächlich Ablehnung und Spott. Am wohlsten fühlt sie sich draußen im Wald, zwischen Bäumen, Moos und Farn. Dort findet sie eines Tages in einer hohlen Birke einen schwarzen, steinernen Dorn und nimmt ihn mit. Doch mit dem ungewöhnlichen Stück hat es eine besondere Bewandtnis, und schon bald findet Nill sich zu ihrer Überraschung auf einer Queste wieder.

Eine äußerst gefährliche Fahrt, wie sich bald herausstellt. Denn ein Usurpator hat die Krone der Moorelfen an sich gerissen, und er will Krieg …

Scapa, Arane und Nill sind die Hauptcharaktere des Buches.

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als sei Scapa der Anführer. Er ist derjenige, der spricht, sowohl mit den Hehlern, denen sie ihre Beute verkaufen, als auch mit den anderen Straßenkindern, deren Unterstützung für ihren Angriff auf Torren sie suchen. Die treibende Kraft in seinem Leben jedoch ist Arane! Ganz gleich, was er auch tut, er tut es immer für sie. Scapa ist ein Kind der Extreme. Nachdem er sich Arane verschrieben hat, gibt es nichts anderes mehr für ihn, ohne sie ist er wie eine leere Hülle. Ein trauernder Scapa, der seinen Weg ohne Arane weitergeht, ist unvorstellbar. Entweder ein Leben mit ihr, oder gar keines!

Arane dagegen wirkt nicht so, als könnte sie ohne Scapa nicht leben. Was nicht heißen soll, dass sie nicht an ihm hängt. Aber sie hat mehr als nur das eine Ziel, Scapa glücklich zu machen. Arane ist ehrgeizig, ja geradezu machthungrig. Und als sie von Scapa getrennt wird, geht sie ihren Weg ebenso zielstrebig weiter wie zuvor. Ihr Antrieb ist Zorn: Zorn auf alle, die ihr nichts zutrauen! Weil sie arm ist, nur ein Kind und noch dazu ein Mädchen! Sie will es ihnen allen zeigen!

Nill ist im Vergleich zu Arane außerordentlich bescheiden. Alles, was sie sich wünscht, ist Zuneigung. Doch die Liebe ist launisch, und so verliert sie ihr Herz ausgerechnet an Scapa, hinter dessen finsterem Gesicht und abweisender Art sie eine tief verletzte Seele vorfindet …

Die Zeichnung ihrer Charaktere ist Jenny-Mai Nuyen hervorragend gelungen. Das gilt nicht nur für die drei Hauptprotagonisten, sondern für alle ihre Figuren, von den vier Elfenkriegern, die Nill begleiten, bis hin zu den kleinen Nebenrollen wie dem verstoßenen Nachtelf Maferis. Dabei ist es nicht mit Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit getan – keine der Figuren ist ausschließlich gut oder böse -, sondern jeder einzelne von ihnen ist so plastisch beschrieben, dass man ihn fast anfassen kann. Außer bei Juliet Marillier ist mir so etwas noch nicht begegnet.

Dieselbe Intensität findet sich auch bei den Beschreibungen des Dunklen Waldes, der Kesselstadt oder der Marschen. Die Autorin schreibt in einer sehr poetischen Sprache, die mit wenigen Worten Bilder und Stimmungen wachzurufen weiß. Wer sich darauf einlässt, auf den wartet eine Welt, die vielleicht in ihrem Entwurf nicht absolut neu ist, aber ungeheuer lebendig und hautnah!

Die Handlung mag ebenfalls nicht unbedingt neu sein. Eine Gruppe von Gefährten, die sich aufmachen, einen Tyrannen zu stürzen, ist uns schon oft genug begegnet. Doch einige überraschende Wendungen sorgen dafür, dass das Schema „Held folgt seiner Bestimmung in die Höhle des Löwen und ficht dort den Kampf zur Befreiung der Welt aus“ auf dieses Buch nicht anwendbar ist. Abgesehen davon wird die Geschichte größtenteils von den Charakteren getragen, deren eindringliche Schilderung dem Geschehen seine Dramatik verleiht.

Das soll nicht heißen, dass im Grunde außer Gerede nicht viel passiert. Die Gefährten werden verfolgt, nicht nur von Schergen des Usurpators, sondern auch von Lebewesen der Sümpfe, eine Verfolgungsjagd durch die Gassen Kesselstadts findet sich ebenso wie Verrat und Krieg. Die Autorin hält geschickt die Balance zwischen der Entwicklung der Charaktere, dem Fortlauf der Geschichte und den gelegentlich eingestreuten Rückblenden, die Erklärungen für die Ausgangssituation der Erzählung liefern. So kommt bei der Lektüre zu keiner Zeit Langeweile auf.

Es lässt sich allerdings nicht leugnen, dass ich auch bei diesem Buch an ein paar Kleinigkeiten hängen geblieben bin.

Zum Beispiel hat es mich doch sehr überrascht, dass die Elfen und ihr Wildschwein so problemlos dicke Kerkermauern durchbrechen konnten. Außerdem fragte ich mich, wie Fesco es so ganz ohne Proviant zurück bis nach Kesselstadt geschafft hat. Am erstaunlichsten fand ich, dass nicht Ifredes das Weiße Kind war, obwohl er eigentlich alle Voraussetzungen dafür erfüllt hätte … Im Hinblick auf die Gesamtheit des Buches jedoch sind das nur Kleinigkeiten.

Um es kurz zu machen: Jenny-Mai Nuyen hat vielleicht nicht die Fantasy neu erfunden, aber sie hat einen faszinierenden und beeindruckenden Beitrag dazu abgeliefert! Ihre Charakterzeichnung und die Darstellung ihrer Welt beweisen viel Gespür und Einfühlungsvermögen, ihre Geschichte zeigen deutlich Geschick und Einfallsreichtum. Ein neuerlicher Beweis dafür, dass für das Verfassen lesenswerter Bücher nicht unbedingt die Lebenserfahrung eines Erwachsenen nötig ist! „Nijura“ ist ein Roman, den ich guten Gewissens nicht nur Jugendlichen, sondern auch Erwachsenen empfehlen kann. Er hat mir so ausnehmend gut gefallen, dass ich bestimmt auch ihren nächsten Roman lesen werde.

Jenny-Mai Nuyen stammt aus München und schrieb ihre erste Geschichte mit fünf Jahren. Mit dreizehn wusste sie, dass sie Schriftstellerin werden wollte. „Nijura“ begann sie im Alter von sechzehn Jahren. Inzwischen ist sie achtzehn, studiert Film an der New York University und arbeitet an ihrem nächsten Roman.

Gebundene Ausgabe 512 Seiten
ISBN-13: 978-3-570-13058-2

www.jenny-mai-nuyen.de/
www.randomhouse.de/cbjugendbuch/index.jsp

Der Autor vergibt: (5.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Kaes, Wolfgang – Herbstjagd

Martina Hahne, alleinerziehende Mutter von zwei Teenagern, hat kein Glück mit Männern. Nach der Geburt ihrer Tochter verlässt sie ihr Mann, auch alle weiteren Beziehungsversuche enden in einer Enttäuschung. Tochter Jasmin will um jeden Preis Model werden, der ältere Boris rebelliert, die harte Arbeit im Supermarkt reibt die gestresste Mutter auf. Da gibt ihr eine Kollegin den Tipp, sich per Internet eine Bekanntschaft zu suchen. Auf diesem Weg lernt sie Mario kennen, einen reichen Kölner Unternehmer, der sie mit Komplimenten und Aufmerksamkeiten überschüttet. Die ersten Treffen verlaufen zaghaft, erst nach und nach werden sie intim miteinander. Dabei verlangt Mario von Martina so genannte „Liebesbeweise“, die immer demütigender für sie werden. Martinas Liebe verwandelt sich in Angst. Als es ihr zu viel wird, trennt sie sich per E-Mail von ihrem einstigen Traummann. Mario verkraftet das Aus nicht und stellt ihr mit Anrufen und drohenden E-Mails nach.

An einem regnerischen Septembertag verschwindet Martinas Tochter Jasmin. Die Fünfzehnjährige kehrt nicht von der Schule heim. Gegen Mitternacht verständigt Martina die Polizei. Zur gleichen Zeit wird auch die vierzehnjährige Anna vermisst gemeldet. Anna stammt aus gutem Haus und kennt Jasmin nicht, doch bei beiden lässt der Täter den Eltern ein Foto der Mädchen zukommen, aufgenommen nach ihrer Entführung. Anhand eines der Bilder gelingt es der Polizei, die beiden Mädchen in einem Naturschutzgebiet zu finden – aber nur eines von ihnen lebt noch.

Der rauhe Bonner Hauptkommissar Jo Morian und seine junge, burschikose Kollegin Antonia Dix übernehmen den Fall. Obwohl sie in alle Richtungen ermitteln, steht der mysteriöse „Mario“ auf ihrer Verdächtigenliste ganz oben. Doch die Nachforschungen erweisen sich als problematisch. Zeugenaussagen ergeben zwei völlig unterschiedliche Phantombilder von „Mario“ und dem Entführer, wichtige Spuren wurden verwischt und einige Polizeimitarbeiter halten die Stalking-Theorie für unglaubwürdig. Auch persönlicher Druck lastet auf dem Duo – Antonia Dix wird wegen ihrer Unerfahrenheit längst nicht von allen Kollegen respektiert. Morian dagegen fühlt sich gegen seinen Willen zu Annas Lehrerin Dagmar, selbst ein Stalking-Opfer von „Mario“, hingezogen. Für die Ermittler beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, denn niemand weiß, wann der Täter wieder zuschlägt …

Nach „Todfreunde“ und „Die Kette“ bekommen die Leser nun einen dritten Fall von Kommissar Morian präsentiert, der sich nach Kindesmissbrauch und Terror mit dem Thema Stalking befasst. Auch hier beweist der Autor wieder einmal sein Gespür für brisante Themen und liefert einen äußerst spannenden und gelungenen Thriller ab.

|Charakterstarkes Ermittler-Duo|

Serienermittler gibt es in der Krimi- und Thrillerwelt mittlerweile wie Sand am Meer. Schwer genug für einen Autoren, einen Ermittler zu erschaffen, der sich von seinen zahlreichen Kollegen, heißen sie nun Wallander, Cross, Wexford oder Pitt, abhebt und dem Leser einprägt. Mit der Figur des Kommissar Josef Morian ist ihm so ein Charakter gelungen. Dabei ist Morian, wie ihn fast alle Kollegen nennen, eigentlich ein Durchschnittstyp und gewiss nicht fehlerlos, was ihn aber gerade so sympathisch macht. Der ehemalige Amateurboxer hat mittlerweile an Gewicht zugelegt, lebt nach seiner Scheidung alleine, hat zu wenig Zeit für seine beiden Kinder, schweigt mehr als dass er redet und ist bekannt für das Vertrauen, das er gegenüber Zeugen ausstrahlt. Morian ist kein makelloser Superman, der jedes Verbrechen im Handumdrehen löst, doch er ist ein zuverlässiger Kollege, der mit viel Herzblut an seinen Fällen arbeitet und in seiner aufreibenden Arbeit seine Berufung gefunden hat. Kollegin Antonia Dix bietet den perfekten Gegenpol. Erfreulicherweise bilden die beiden kein Liebespaar, sondern stehen vielmehr in einer Art leicht distanziertem Vater-Tochter-Verhältnis zueinander. Antonia ist knapp dreißig, verbirgt ihre rassige Schönheit hinter einem raspelkurzen Haarschnitt und burschikosen Auftreten inklusive stämmiger Kickboxerin-Figur und Militär-Jacke. Morian schätzt die scharfsinnige und ehrgeizige Ermittlerin und verspürt des Öfteren einen Beschützerinstinkt in ihrer Nähe. Ganz anders sieht es dagegen Oberstaatsanwalt Arentz, der, wie auch einige der Polizeimitarbeiter, der Jugend und der Unerfahrenheit von Antonia skeptisch gegenübersteht. Vor allem Arentz nutzt jede Gelegenheit, um die junge Frau zu diskriminieren und ihr offen zu widersprechen. Bei den Ermittlungen lastet nicht nur der Druck der Öffentlichkeit auf Antonia, sondern der Fall weitet sich für sie zu einer Bewährungsprobe aus. Gerade unter diesem Druck unterlaufen der sonst so gefassten Kriminalbeamtin kleine Schnitzer, die sie noch verletztlicher und menschlicher wirken lassen. Auch das Privatleben der beiden wird gestreift, angenehmerweise aber nie zum Hauptthema erhoben. Antonia ist einsamer Single, Morian wehrt sich gegen seine Gefühle für die Zeugin Dagmar Losem; beide haben mit ihren privaten Empfindungen zu kämpfen, doch im Fokus steht zu jeder Zeit die Jagd nach dem psychopathischen Stalker.

Unterstützung erhält Morian dabei wie schon in den vorherigen Bänden von seinem Freund Max Maifeld, einem ehemaligen Journalisten, der nach den Rachedrohungen eines Schwerkriminellen in Köln-Mülheim untergetaucht ist und nun als Detektiv schwierige Fälle übernimmt. Mit dabei ist der durchtrainierte Schwarzamerikaner Hurl, Max Maifelds Partner, der nicht viele Worte verliert, dafür aber mit bestechender Verlässlichkeit selbst gefährlichste Einsätze übernimmt. Morian, Antonia, Max und Hurl bilden ein buntes Quartett, das sich trotz oder gerade wegen seiner Gegensätzlichkeit als ein nahezu unschlagbares Team präsentiert. Hin und wieder gibt es trotz aller Aufregung und der Ernsthaftigkeit des Themas bei Max und Hurl sogar amüsante Erlebnisse – denn obwohl sie die perfekte Zusammenarbeit liefern, ist vor allem Max zeitweise genervt von den unterschiedlichen Lebensvorstellungen innerhalb der Zwangs-WG.

|Spannung und Dramatik bis zum Schluss|

Über 500 Seiten umfasst der Schmöker, doch beachtlicherweise wird der Spannungsfaktor von der ersten bis zur letzten Seite konstant hochgehalten. Viele Fragen warten auf die Beantwortung: Werden sie dem Internet-Stalker das Handwerk legen? Wird es bis dahin noch weitere Opfer geben? Wer ist der Informant, der die Presse immer wieder mit vertraulichen Polizei-Interna über den Fall versorgt? Glaubwürdig werden Höhen und Tiefen der Ermittlungsarbeit aufgezeigt. Morian und seine Helfer verzeichnen wichtige Erfolge, die sie dem Täter näher bringen, doch es gibt auch zahlreiche Rückschläge – entweder, weil Fehler passieren oder weil „Mario“ ihnen intellektuell gewachsen ist. Positiv ist zudem, dass der Autor sich nicht scheut, Charaktere sterben zu lassen oder lieb gewonnenen Figuren Enttäuschungen geschehen zu lassen. Bereits vor den letzten Seiten ahnt man, dass den Leser hier kein geschöntes Hollywood-Ende erwartet, sondern dass Wolfgang Kaes es durchaus wagt, auch hier konsequent zu sein und die harte Realität einfließen zu lassen, in der nicht alle Konflikte eine ideale Lösung erfahren. Bis zum Schluss heißt es bangen um die Protagonisten und die Nebencharaktere – und hoffen, aber nicht wissen, dass die Gerechtigkeit siegen wird.

Den ganzen Roman über ist offensichtlich, dass der Autor lange Jahre als Polizei- und Gerichtsreporter tätig war. Detailgenau und immer verständlich bringt er Einblicke in die Ermittlungsarbeit, sodass man spürt, dass hier ein Experte über Dinge schreibt, die er selber erlebt hat, nicht bloß über angelesenes Bücherwissen. Gleiches gilt für das ausgeprägte Lokalkolorit. Bewohner des Köln-Bonner Raums werden nicht nur zentralen Örtlichkeiten, die auch flüchtige Besucher der Gegenden kennen, begegnen, sondern auch unscheinbaren Straßen und Ecken, die zeigen, dass hier ein Einheimischer seine Kenntnisse spielen lässt.

|Nur kleine Mankos|

Schwächen besitzt dieser Roman nur wenige. Eine davon liegt in der Fülle von Handlungssträngen, die das Werk äußerst komplex machen. Die Schauplätze wechseln häufig; am meisten steht natürlich Morian im Zentrum, aber es wird auch zu Antonia, zu Max und Hurl, zu Stalking-Opfer und Zeugin Dagmar Losem sowie auch zum Täter selbst übergeblendet. Bei manchen Absätzen muss man sich erst ein paar Sätze lang einlesen, ehe man weiß, in welchem Handlungsstrang man sich gerade befindet. Die vielen Schicksale, darunter natürlich auch die der Familien der Opfer, bilden ein miteinander verbundenes Netzwerk. Zum Schluss laufen tatsächlich alle Fände zusammen – doch bis dahin ist es zeitweise mühsam, den Überblick zu behalten, wer in welcher Form mit dem anderen verbunden ist. Auch der Zufall wird hier manches Mal zu oft bemüht. Ein paar der Verbindungen sind nicht naturgegeben, sondern entstehen durch unvorhersehbare Ereignisse, die dafür sorgen, dass sich die Wege mancher Personen kreuzen. Das macht es Morian und seinem Team mehrmals zu einfach, eine Spur zu verfolgen. Während in der ersten Hälfte viele Untersuchungen im Sande verlaufen und die Jagd nach „Mario“ phasenweise fast aussichtslos erscheint, fallen vor allem im letzten Drittel den Ermittlern einige Erkenntnisse durch Zufälle oder Dummheit der Täter in die Hände.

Nicht abschrecken lassen darf man sich vom Stil, der einem auf der ersten Seite entgegenspringt: In der hektischen Erzählweise der erlebten Rede, sogar bis hin zu Anklängen an den Bewusstseinsstrom, werden hier stakkatoartige Sätze verwendet, die oft nur aus einem Wort und aus inhaltlichen Gedankensprüngen bestehen. Allerdings zeigt sich bald, dass dieser Stil nur bei „Marios“ Perspektive zum Einsatz kommt und selbst dort nie mehr so penetrant wie auf der ersten Seite. Zwar durchzieht gründsätzlich ein nüchterner Stil mit kurzen Sätzen den Roman, der sich aber flüssig lesen lässt.

_Unterm Strich_ bleibt ein hochspannender Thriller über das brisante Thema „Stalking“, das durch ein sympathisch-interessantes Ermittlerduo, überraschende Wendungen und Dramatik bis zum ungewissen Ende besticht.

_Der Autor_ Wolfgang Kaes, geboren 1958 in der Eifel, arbeitete nach seinem Studium der Politikwissenschaft, Kulturanthropologie und Pädagogik viele Jahre lang als Journalist. Er schrieb unter anderem als Polizei- und Gerichtsreporter für den |Kölner Stadt-Anzeiger|, für den |Stern| und als Lokalchef der |Rhein-Zeitung| in Bonn. 2004 erschien sein erster Roman „Todfreunde“, 2005 der Nachfolger „Die Kette“, beide mit dem Ermittler Kommissar Morian. Mehr über ihn gibt es auf seiner Homepage http://www.wolfgang-kaes.de.

http://www.rowohlt.de

Peter Sander – Tod bei Tisch

sander-tod-bei-tisch-cover-kleinEin Kriminalschriftsteller stolpert in der schwedischen Provinz über einen angeblich durch Selbstmord geendeten Arzt und dessen undurchsichtige Familie. Er verliebt sich in die Tochter des Hauses, versucht den Fall selbst zu lösen und stellt sich dabei wider Erwarten so geschickt an, dass der Mörder schließlich mit den üblichen lebensgefährlichen Folgen nervös wird … – Konventioneller Krimi aus Skandinavien, der weniger durch einen originellen Plot oder Hochspannung gefällt, sondern handwerkliches Geschick und viel trockenen Witz zu bieten hat.
Peter Sander – Tod bei Tisch weiterlesen

Simon Beckett – Die Chemie des Todes

Das geschieht:

Einst war er einer der führenden forensischen Mediziner Englands: David Hunter hat sie alle übertroffen, wenn es galt, einem modernden Mordkadaver die Geheimnisse seines Todes zu entlocken. Dann kam seine Familie durch einen Unfall um, was Hunter beruflich und privat aus dem Gleis warf. Er floh aus der Großstadt und zog als einfacher Landarzt in dem kleinen Dorf Manham in der englischen Grafschaft Norfolk.

Die Tage des selbst gewählten Exils gehen zu Ende, als in einem Wäldchen die übel zugerichtete Leiche von Sally Palmer gefunden wird: traktiert mit scharfen Messern und mit Schwanenflügeln dort, wo eigentlich nur Schulterblätter sein sollten. Chief Inspector Mackenzie findet wenige Spuren aber David Hunter, der ihn bei seinen Ermittlungen unterstützen soll. Als dieser sich weigert, traktiert ihn der mürrische Polizist so lange, bis Hunter nachgibt.

Den Ausschlag dafür gibt das Verschwinden von Lyn Metcalf. Nicht nur Mackenzie fürchtet, dass der unbekannte Mörder die junge Frau in seine Gewalt gebracht hat. Ein Wettlauf auf Leben und Tod beginnt. Die Suche im dichten Wald um Manham ist gefährlich, denn der Kidnapper hat überall Schlingen aus- und Fallgruben angelegt. Im Dorf schwingt sich der fanatische Law-and-Order-Pfarrer Scarsdale zum Sprecher der Furchtsamen und Misstrauischen auf. Eine Bürgerwehr wird aufgestellt, die mehr Schaden anrichtet als zu schützen.

Für Dorffremde und Außenseiter wird das Leben in Manham ungemütlich, denn die braven Bürger suchen Sündenböcke. Alte Rechnungen werden bei dieser Gelegenheit gleich mit beglichen. Auch Hunter kommt ins Gerede, hält aber aus: Der Mörder hat sich ausgerechnet seine neue Freundin geschnappt, welcher das bekannte Ende droht, wenn es nicht endlich gelingt, die kärglichen Beweise so zu deuten, dass dem Täter Einhalt geboten werden kann …

Schon wieder der beste Thriller?

„Die Chemie des Todes“ ist als Roman nicht so interessant wie der Konflikt, der sich in der Kritik um ihn entzündet hat. Der nüchterne Tatbestand ist für den erfahrenen Krimileser rasch klar: Dies ist ein solider Thriller um bizarre Serienmorde und unterhaltsam dargebotene Ermittlungstechniken, der – verschnitten mit dem üblichen Quantum Seifenoper – dem Genre weder nützt noch schadet.

Ruhig und bei langsamem Aufbau der Spannung erzählt Autor Beckett eine Story, wie sie die Liebhaber klassischer britischer Krimis normalerweise lieben und die in jedem Jahr zu Dutzenden – meist als Taschenbuch mit gesichtslosem Bildstock-Einheitscover – auf den Buchmarkt geworfen werden.

Den Unterschied macht offensichtlich das Getöse der Werbetrommeln, die für „Die Chemie des Todes“ gerührt wurden. Längst sind bei den Verlagen sämtliche Hemmungen gefallen, noch der übelste Mist wird nicht nur gedruckt, sondern auch in Superlativen angepriesen. Man fällt als Leser darauf herein und ist verstimmt. Trotzdem ist es ungerecht, dass ausgerechnet der arme Simon Beckett die Zeche zahlen soll.

Der Tod kann sehr lebendig sein

Zur Klage gibt es selbstverständlich Anlass. Wieso wählt der Autor als Hauptfigur einen forensischen Anthropologen, wenn er für die Handlung recht wenig Kapital daraus schlägt? Oder sind wir Leser alle bereits so CSI- & Scarpetta-geschädigt, dass wir ohne Seziersaalbabbel und labortechnischen Overkill etwas vermissen? Beckett lässt Hunters Beruf sehr wohl in die Handlung einfließen: angenehm zurückhaltend allerdings und primär dort, wo seine Erkenntnisse zur Geschichte beitragen, wie der Verfasser entschied sie zu erzählen.

Dazu gehört auch der gemächliche Einstieg ins kriminalistische Geschehen. „Die Chemie des Todes“ ist einerseits kein Actionthriller und andererseits Auftakt zu einer Serie mit David-Hunter-Romanen. So nimmt sich Beckett die Zeit diese Figur und ihre von tiefen inneren Konflikten geprägte Geschichte sorgfältig aufzubauen bzw. zu erzählen, während sich der kriminalistische Handlungsstrang erst nach und nach in den Vordergrund schiebt. Selbstverständlich gehört die vorsichtige Annäherung ans weibliche Geschlecht zu Hunters Gesundungsprozess, und natürlich ist es das Objekt seiner neu erwachten Begierde, das dem Mörder in die Finger gerät: „Die Chemie des Todes“ ist wie schon angedeutet ein konventionell geplotteter Thriller.

David Hunter trägt zwar einen sprechenden Namen, benimmt sich jedoch ganz und gar nicht wie ein Jäger. Beckett schildert ihn als gebrochenen Mann, der nach einer persönlichen Tragödie aus seinem psychisch anstrengenden Job als Gerichtsmediziner aussteigt und in der Stille der Provinz einen Neuanfang versucht. Die damit verbundenen Schwierigkeiten schildert der Verfasser überzeugend aber ohne das Seelendrama neu zu erfinden.

Todes-Experte kehrt ins Leben zurück

Hunter ist kein Sherlock Holmes des 21. Jahrhunderts, der sich eifrig über faulige Leichen beugt, um sie unter Präsentation angenehm ekliger Überraschungen zu ‚lesen‘, sondern ein verstörter und störrischer Zeitgenosse, der sich zudem gegen die Rolle des zentralen Handlungsträgers sträubt. Tatsächlich wehrt er sich gegen alles, das den mühsam geschaffenen Panzer aus Routine und Gleichgültigkeit zerbrechen könnte. Eine blitzartige Wiedergeburt als spürgewaltiger Schnüffel-Forensiker wäre deshalb reichlich unglaubwürdig.

Beckett mag kein Neuerer sein aber er bemüht sich wenigstens, allzu ausgefahrene Geleise zu vermeiden. Sein Manham ist kein Sammelbecken ulkig-wirrer Dorftypen oder -trottel, die in so vielen „Whodunits“ den Hintergrundchor abgeben müssen. Das Verderben kommt über eine Gemeinde, der Harmonie stets ein Fremdwort war. In der Krise bildet sich keine Gemeinschaft; stattdessen bilden sich Gruppen, die einander argwöhnisch belauern und höchstens in ihrer Hatz auf verdächtige Außenseiter einig sind: Selbst die Bürger von Manham unterliegen im 21. Jahrhundert dem alten Irrglauben, dass auf dem Land Frieden dort herrscht, wo in der Stadt das Böse regiert.

Pfarrer Scarsdale ist das Sprachrohr für die gleichzeitig Ängstlichen und Aggressiven. Leider ist diese Figur Beckett zum Zerrbild missglückt. Er wirkt wie ein frühneuzeitlicher Hexenjäger, der im Namen des HERRN seinen persönlichen religiösen Fundamentalismus nährt. Selbst in der Provinz dürfte es indes kaum mehr möglich sein ‚normale‘ Menschen auf diese Weise in einen hysterischen Lynchmob zu verwandeln. Beckett merkt es selbst und lässt diesen Handlungsstrang unauffällig versanden.

Der Mörder muss einer der Manham-Bewohner sein – so verlangt es die Regel. Wer es sein könnte, dämmert dem Leser eventuell ein wenig zu früh; Beckett verteilt in dieser Hinsicht großzügig Hiebe mit dem Zaunpfahl. Ansonsten hält sich der Verfasser auch hier an die Konventionen, die einen Irrsinnigen fordern, der rasch und gnadenlos killt und erst im Finale vom Drang erfasst wird, sich dem Helden in einem wahren Redeschwall zu offenbaren. Kein Wunder, dass es so mit dem perfekten Mord nichts wird. Wiederum gilt freilich: Beckett mutet seinem Publikum nichts Schlimmeres zu, als es bereits gewöhnt ist. Wer sich ohne große Vorab-Erwartungen an die Lektüre begibt und die Dreist-Werbung ignoriert, wird durchaus seinen Lese-Spaß finden.

Autor

Simon Beckett (geb. 1968) versuchte sich nach Abschluss eines Englischstudiums als Immobilienhändler, lehrte Spanisch und war Schlagzeuger. 1992 wurde er freier Journalist und schrieb für bedeutende britische Zeitungen wie „Times“, „Daily Telegraph“ oder „Observer“. Im Laufe seiner journalistischen Arbeit spezialisierte Beckett sich auf kriminalistische Themen. Als Romanautor trat Beckett zuerst 1994 an die Öffentlichkeit, doch deren breite Aufmerksamkeit fand er erst mit den Romanen um den Forensiker David Hunter (ab 2006). Allerdings wurde Beckett bereits für „Animals“ (1995, dt. „Tiere“) mit einem „Raymond Chandler Society’s Marlowe Award“ für den besten internationalen Kriminalroman ausgezeichnet.

Mit seiner Familie lebt Simon Beckett in Sheffield. Über sein Werk informiert er auf dieser Website. Interessant ist, dass er seine vier zwischen 1994 und 1998 veröffentlichten (und inzwischen auch in Deutschland erschienenen) Romane unerwähnt lässt.

Taschenbuch: 431 Seiten
Originaltitel: The Chemistry of Death (London : Bantam Press 2006)
Übersetzung: Andree Hesse
http://www.rowohlt.de

eBook: 530 KB
http://www.rowohlt.de

Der Autor vergibt: (3.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (1 Stimmen, Durchschnitt: 1,00 von 5)

Laurie R. King – Die Insel der flüsternden Stimmen

Die psychisch kranke Rae zieht sich auf eine einsame Insel zurück, um dort ein altes Haus wiederaufzubauen. In den Trümmern entdeckt sie Spuren, die auf ein hässliches Familiengeheimnis hindeuten, während in der Nacht Schritte und Stimmen hörbar sind … – Als Mischung aus Mystery und Thriller kann dieser Roman lange die spannende Balance halten. Dann kommt der Moment der Aufklärung, der die Geschichte ins Routinierte kippen lässt: trotzdem ein rundum spannendes Werk!
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Jay Bonansinga – DIe Eismumie (Frozen)

Das geschieht:

FBI-Profiler Ulysses Grove ist am Ende. Seit Monaten hält ihn der „Sun-City-Killer“ in Atem, der durch die USA geistert und anscheinend wahllos Menschen mit einem Pfeilschuss in den Nacken tötet. Anschließend bahrt er die Leichname sorgfältig auf und arrangiert ihre Arme in einer typischen Geste, die zu enträtseln dem Fachmann einfach nicht gelingt. Schließlich bricht Grove zusammen und wird in einen Arbeits- und Erholungsurlaub geschickt: Im fernen Alaska fanden zwei Touristen im Eis eines Gletschers die Mumie eines vor 6000 Jahren umgekommenen Mannes. Die Archäologen der University of Alaska sind in heller Aufregung, zumal der Tote einem Verbrechen zum Opfer fiel.

Mord in der Steinzeit! Die Presse horcht auf. Maura County vom „Discovery Magazine“ rät den Wissenschaftlern, sich der Hilfe eines Kriminologen zu sichern. Eher widerwillig fügt sich Groves in diese Rolle. Er fühlt sich abgeschoben und will zu ‚seinem‘ Fall zurück. Eine bizarre Laune des Schicksals eröffnet ihm diese Möglichkeit: Der Steinzeitmensch, „Keanu“ genannt, zeigt die gleichen Verletzungen wie die Opfer des „Sun-City-Killers“! Da Groves nicht an Geister glaubt, denkt er an einen Nachahmungstäter. Ermittlungen ergeben, dass es am Fundort der Mumie zu einem Zwischenfall kam: Richard Ackerman, einer der beiden Finder, zeigte Anzeichen einer geistigen Verwirrung und verschwand wenig später spurlos. Jay Bonansinga – DIe Eismumie (Frozen) weiterlesen

Hoffman, Jilliane – Morpheus

Nach dem großen Erfolg ihres Debütwerkes [„Cupido“, 699 welches international die Bestsellerlisten erobern konnte, legt Jilliane Hoffman mit „Morpheus“ nun ihren zweiten Roman vor, der direkt an „Cupido“ und seine Erfolge anknüpfen soll und sich dabei inhaltlich so stark an seinem Vorgänger orientiert, dass der neue Thriller kaum als in sich abgeschlossene Fortsetzung gelten kann.

William Bantling sitzt seit inzwischen drei Jahren im Todestrakt und wartet auf seine Hinrichtung. C.J. Townsend arbeitet dagegen immer noch als Staatsanwältin, obwohl sie im Cupido-Fall Beweismittel unterschlagen hat und weiß, dass Bantling für Taten im Gefängnis sitzt, die er nicht begangen hat. Diese Gedanken verfolgen C.J. immer noch auf Schritt und Tritt, auch wenn sie im Grunde genommen sicher ist, dass sie das Richtige getan hat. Doch der Cupido-Fall holt C.J. bald ein, als nämlich in Miami nacheinander vier Polizisten brutal ermordet und verstümmelt werden. Bei diesen handelt es sich genau um diejenigen Beamten, die von der illegalen Fahrzeugkontrolle, die schließlich zu Bantlings Festnahme geführt hat, gewusst haben.

Obwohl C.J. seit drei Jahren glücklich mit Dominick Falconetti liiert ist und auch seinen Heiratsantrag angenommen hat, weiß Dominick immer noch nichts von den früheren Machenschaften seiner Freundin. Als C.J. eine Botschaft des Polizistenmörders, den die Presse |Morpheus| getauft hat, erhält, flieht sie in Panik und trennt sich von Dominick, weil sie ihm nicht die Wahrheit sagen möchte. Ihre Flucht führt sie zunächst zu Bantlings Anwältin Lourdes Rubio, die C.J. abfällig begegnet und eine Wiederaufnahme im Fall Cupido ankündigt. Tatsächlich dauert es nicht lange, bis C.J. nach Miami zurückgerufen wird, weil Bantlings neuer Anwalt Berufung eingelegt hat und den Fall mit neuen Beweismitteln neu aufrollen will.

C.J. ist in Panik: Auf der einen Seite fürchtet sie sich vor Morpheus, der nach und nach die damaligen Zeugen ermordet und sie als Nächste im Visier haben muss, und auf der anderen Seite möchte sie William Bantling nicht mehr unter die Augen treten. Doch es kommt zu einer neuen Anhörung und damit zu einer Konfrontation zwischen C.J. und ihrer Vergangenheit, die sie gerne vergessen möchte …

Genau nach ihrem altbekannten Schema erzählt Jilliane Hoffman auch ihren neuen Thriller; sie lässt ihre Leser nicht lange warten, sondern schildert zügig den ersten Mord. Victor Chavez, der aufgrund eines anonymen Anrufes im Cupido-Fall die illegale Fahrzeugkontrolle durchgeführt hat, ist dabei das erste Opfer des brutalen und rücksichtslosen Polizistenmörders. Doch dauert es nicht lange, bis weitere Opfer gefunden werden. Die Spur führt in das kolumbianische Drogenmilieu, denn einer der ermittelnden Beamten kann die Verstümmelungen der Leichen als so genannte Kolumbianische Krawatte identifizieren. Die Polizei weiß daraufhin schnell, wo genau sie zu suchen hat, zumal alle ermordeten Cops ihre Spuren im Drogenmilieu hinterlassen haben. Doch C.J. zieht ihre eigenen Schlüsse, denn nur sie weiß, dass alle Mordopfer ihre Mitwisser sind. Nach und nach werden die Zeugen ermordet, bis neben Lourdes Rubio nur noch C.J. übrig bleibt.

Die Handlung ist zweigeteilt. Zunächst erscheint uns „Morpheus“ wie ein normaler Thriller, es werden brutale Verbrechen geschildert und Spuren gedeutet, doch etwa ab der Hälfte geht es nur noch um pure Juristerei. Wir begleiten die ängstliche C.J. zu ihren Nachforschungen in der Bibliothek, zu ihren richterlichen Anhörungen und hoffen für sie, dass sie einer Neuauflage des Cupido-Falles entgehen kann. Detailliert erfahren wir alle juristischen Schritte und Feinheiten, alle Fehler, die im Cupido-Falle begangen wurden, und wir lernen die Möglichkeiten kennen, die Bantling noch für seine Berufung bleiben. Im zweiten Teil des Romans lässt Jilliane Hoffman durchblicken, dass sie sich auf diesem Gebiet gut auskennt, doch leider driftet sie mir dabei zu sehr ins Grisham-Genre ab. Die eigentliche Mordserie rückt hier komplett in den Hintergrund, um Morpheus geht es so gut wie gar nicht mehr.

Hoffmann orientiert sich meiner Meinung nach auch zu stark an ihrem Debütroman. Da „Cupido“ erfolgreich war, möchte sie offensichtlich genau dort wieder ansetzen, doch muss dies Bemühen zwangsläufig scheitern. Morpheus ist kein eigenständiger Roman, sondern eine direkte Fortsetzung, die viele Wiederholungen aus „Cupido“ enthält und somit oft auf der Stelle tritt. „Morpheus“ ist ohne Kenntnis des Vorgängerromans kaum lesbar und kündigt am Ende auch nicht gerade sehr subtil eine weitere Fortsetzung an. Wo „Cupido“ noch neu und spannend war, ist der vorliegende Roman nur vorhersehbar und abgekupfert. „Morpheus“ kann kaum mit neuen Aspekten dienen und ist in der zweiten Hälfte dank der ganzen Rechtsverdreherei kaum noch spannend, obwohl das Buch aufgrund der knappen Sprache schnell gelesen ist.

Auch in der Figurenzeichnung kann Hoffman nicht punkten. Alle auftretenden Figuren sind stereotyp und eindimensional. C.J. Townsend ist immer noch das arme Opfer, das nun nicht mehr nur unter seiner Vergewaltigung zu leiden hat, sondern auch unter der Misshandlung durch ihren ehemaligen Psychiater, der sie über Jahre hinweg als Schachfigur in seinem eigenen kranken Spiel eingesetzt hat. Dennoch ist C.J. natürlich beruflich erstaunlich erfolgreich und privat glücklich liiert, sodass bald die Traumhochzeit mit dem gut aussehenden Dominick Falconetti ansteht, der sie im letzten Buch noch vor dem sicheren Tod gerettet hat.

„Morpheus“ ist ein enttäuschender Abklatsch von „Cupido“, bringt kaum neue Erkenntnisse, sondern erzählt haargenau nach dem gleichen Schema viele bereits bekannte Dinge und wärmt den Bantling-Fall nochmals auf. Während das Buch zunächst rasant und spannend beginnt, hält sich Jilliane Hoffman ab der Hälfte lediglich mit langatmiger Juristerei auf und langweilt somit ihre treuen Leser. Auch die Auflösung des aktuellen Polizistenmordes mitsamt seinem Showdown weiß nicht zu überzeugen, zu konstruiert klingt der ganze Fall, zu unrealistisch wirkt es, wenn C.J. Townsend die x-te lebensgefährliche Situation nahezu unbeschadet übersteht. Mit dem Holzhammer kündigt Hoffman schließlich die nächste Fortsetzung an und verscherzt es sich dadurch gänzlich mit ihren Fans. Von „Cupido“ war ich sehr positiv überrascht und „Morpheus“ ist über weite Strecken alles andere als langweilig, dennoch finde ich es schade, dass Jilliane Hoffman ihre bereits bekannte Geschichte lediglich auf ein weiteres Buch ausgedehnt hat.

Hennig von Lange, Alexa – Woher ich komme

Alexa Hennig von Lange ist die wohl schillerndste unter den jungen Autorinnen Deutschlands. So jung ist die 1973 in Hannover geborene, ehemalige „Bim Bam Bino“-Moderatorin aber auch nicht mehr. Inzwischen lebt sie nach langem Aufenthalt in Berlin mit ihrem Mann und den zwei Kindern wieder in Hannover.
Literarisch ist man 1997 auf sie aufmerksam geworden, ihr Debüt „Relax“ hielt sich lange in den Bestsellerlisten und bestach durch die authentische und schonungslose Jugendsprache der Autorin. Wie es so häufig ist, wurden die folgenden Romane „Ich bin’s“ und der Tagebuchroman „Mai 3D“ zu echten Enttäuschungen und ließen am Talent des Rotschopfes zweifeln. Zurück zu alter Stärke hatte sie zum Glück mit dem Jugendbuch „Ich habe einfach Glück“ im Jahre 2001 gefunden, für das sie schließlich mit dem Jugendliteratur-Preis ausgezeichnet wurde. Zuletzt erschienen „Erste Liebe“ und „Mira reicht’s“ 2004. Die Erstausgabe zu „Woher ich komme“ wurde 2003 veröffentlicht.

Die Handlung des 100 Seiten kurzen Romans ist gar keine. Die 30-jährige, namenlose Protagonistin fährt mit ihrem Vater ans Meer, wie es die Familie jeden Sommer getan hat. In der Gegenwart hält man sich aber nicht lange auf, auf den gesamten Text bezogen nur wenige Seiten. Es ist ein stiller und träger Ausflug, den Vater und Tochter hier unternehmen. Das Meer, der Ort, zu dem es die Beiden gezogen hat, ist der Ort der Erinnerungen, die wie Schatten immer wieder, meist nur kurz, an der Oberfläche erscheinen.
Jede Erinnerung ist nur wenige Sätze lang, bricht so unvermittelt, wie sie aufgetaucht ist, ab und wird von einer anderen abgelöst. Die Protagonistin geht in Gedankensprüngen ihre Kindheit durch. Diese ist auf den ersten Blick eine glückliche. Man erfährt, dass sie einen kleinen Bruder hatte, der im Sommer, immer wenn die Familie zum Urlaub ans Meer gefahren ist, Geburtstag hatte. Liebevoll, fast poetisch werden Situationen dieser Sommertage geschildert, aber es klingt auch viel Wehmut darin an. Eines Sommers wird die Familie während des geliebten Sommerurlaubs für immer auseinander gerissen. Bei einem Spaziergang im Watt wird man von der Flut überrascht. Die Protagonistin kann sich an den Strand retten und muss zusehen, wie nur ihr Vater aus dem Wasser zurückkehrt.
Es tun sich inmitten dieser tragischen Gegebenheit und Schilderungen einer oberflächlich normalen und glücklichen Kindheit aber auch noch weitere düstere Abgründe auf. So zum Beispiel die Affäre der Mutter mit dem Nachbarn.

„Woher ich komme“ ist ein ruhiges und schlichtes, so zerbrechlich wie die Erinnerungen der Protagonistin wirkendes Buch. Es ist ebenfalls eine authentische Erzählung. Die Erinnerungen wurden ausgezeichnet von der Autorin gestaltet und angeordnet. Die von der Protagonisten erinnerten Dinge liegen schon mehr als ein Jahrzehnt zurück. Durch diesen Umstand wirken sie auf den Leser oft unklar und schemenhaft, an einigen Stellen aber bemerkenswert detailliert. Es sind meist die schönen Erinnerungen, wie die tiefe Verbundenheit mit dem Bruder oder Gesten der Mutter, die sich in das Gedächtnis eingebrannt haben, die präzise und emotional berührend wiedergegeben werden.
Angesichts der letztendlich mehr als tragischen Kindheit verbergen sich viele Dinge im Kopf der Protagonistin, die sie scheinbar noch nicht für sich abschließen konnte. Durch die räumliche Nähe zu diesen Erinnerungen (das Meer) brechen sie unweigerlich und geballt hervor. So wird es für den Leser schwierig, diese in einen Kontext einzuordnen, denn sobald sich Klarheit anbahnt, wird eine Erinnerung von der anderen abgelöst. Zeitliche und räumliche Sprünge folgen dabei aufeinander, bis sich das Angedeutete gegen Ende des Romans mehr und mehr entblättert, aber immer noch viel Raum für die Fantasie des Lesers lässt.
„Woher ich komme“ ist kein Buch, das sich mit der dramaturgischen Entwicklung einer Handlung oder der von Charakteren aufhält. Die Handlung ist die Vergangenheit, und die muss sich der Leser schon selbst erarbeiten. Wer sich darauf einlässt, kann einige gute Stunden mit einem höchst interessanten und für die Autorin außerordentlich erwachsenem Buch verbringen.

|Leseprobe| aus der Taschenbuchausgabe Februar 2005, Seiten 9/10.

»Meine Mutter und ich sahen, wie sich der Priel mit Wasser füllte, und der Sand war nicht mehr da, und mein Vater war weit draußen, hörte unsere Rufe nicht, und der Himmel war blau. „Lauf so schnell du kannst!“ Meine Mutter schubst mich in die Richtung, in der sie den Strand vermutet, und das ist die richtige Richtung, und ich renne so gut es geht, im feuchten Sand, und Mama versinkt in die andere Richtung, in Richtung meines Vaters, meines Bruders. Der war klein und wusste von nichts. Ging an Papas Hand und hatte uns zugewinkt. Die Sonne stand über uns, flirrend, keine Wolken, einfach nur Himmel und sehr viel Raum. Zwischen Mama und mir, zwischen mir und meiner Familie wurde der Abstand immer größer.
Mein Vater kam allein zurück.«

Philip Kerr – Newtons Schatten

Das geschieht:

Um die Jahreswende 1696/97 herrscht nicht nur in London, sondern in ganz England Unruhe. Nicht der Krieg gegen Frankreich erregt die Gemüter: Die Regierung hat den Einzug der alten Silber- und Goldmünzen befohlen, deren Edelmetallgehalt inzwischen ihren Nominalwert überschreitet. Sie sollen neu geprägt werden: ein normaler Vorgang, der hier jedoch völlig planlos umgesetzt ist, denn während ein Großteil des ‚alten‘ Geldes bereits einkassiert wurde, kommt die königliche Münzanstalt im Tower zu London mit dem Prägen der neuen Geldstücke einfach nicht nach. Es sind zu wenige Münzen im Umlauf, was der Wirtschaft stark schadet. In der Münze selbst herrschen Unfähigkeit und Korruption. Diebe und Falschmünzer stehlen Prägestöcke und füllen sich die Taschen.

Die Regierung hat deshalb einen neuen Aufseher über die Münzanstalt gesetzt: Der Physiker und Astronom Dr. Isaac Newton musste den Posten übernehmen. Mit dem ihm eigenen Elan hat er sich auf die Aufgabe gestürzt und entpuppt sich wider Erwarten als richtiger Mann am rechten Ort. Aber Newton macht sich viele Feinde. Rigoros räumt er mit Schlendrian und Schurkerei in der Münze auf und verdirbt vielen Strolchen das Geschäft. Auch die „Ordnance“, die eigentliche Festungsbesatzung, hasst die Münzbeamten, die man ihr im Tower vor die Nase gesetzt hat. Newton heuert deshalb einen Gehilfen an, der ihm gleichzeitig als Leibwächter dient. Als solcher bekommt der junge Christopher Ellis, ein verkrachter Jurastudent, bald viel zu tun. Sein unlängst verschwundener Amtsvorgänger wird ertränkt im Wassergraben des Towers entdeckt. Philip Kerr – Newtons Schatten weiterlesen

Baltenstein, Dorothea S. – Vier Tage währt die Nacht

Dorothea S. Baltenstein wurde um 1890 in Schleswig geboren und lebte in der Nähe von Kattowitz. Das Manuskript dieses Romans gelangte 1944/45 durch Erbschaft und die Wirren der Vertreibung aus Schlesien nach Jena, wo es der Berliner Michael Schmid veröffentlichen ließ.

Und genau diese Geschichte um die Autorin von „Vier Tage währt die Nacht“ ist ein reines Phantasieprodukt des |Eichborn|-Verlags, wo der Roman erstmals 2002 erschien. Die Dame hat nie gelebt und dementsprechend auch nie ein Buch geschrieben. Die wahren Autoren sind vier Berliner Schülerinnen und ihr Lehrer, besagter Michael Schmid, wie die Presse herausfand.

So ungewöhnlich diese Tatsache schon ist, genauso ungewöhnlich und herrlich spannend geht es eine vier-Tage-währende-Nacht auch weiter. Doch ich greife vor, denn ich sollte wohl zuerst erwähnen, dass Sir Mortimer Pope, ein angesehener Poet und Schriftsteller, neun weitere namhafte Autoren in sein schottisches Schloss eingeladen hat, damit alle gemeinsam ein unübertreffliches Werk erschaffen, das die Literaturwelt noch nicht gesehen hat.

Und ich vergaß: Wir befinden uns im Jahre 1817, wo großartige Autoren wie z.B. Sir Walter Scott mitten in ihrem Schaffen stehen und die Welt zwar mit nahrhafter Poesie versorgt ist, allerdings die napoleonische Nachkriegszeit den Menschen noch zu sehr im Nacken sitzt, um ihr den gebührenden Respekt zu erweisen. Genau das möchte aber Sir Mortimer ändern und so treffen die neun Poeten, Dichter und Schriftsteller nach und nach ein, um sich selbst beim ersten Abendmahl kennenzulernen:

Der Vikar Father Thomas Olivier, ein scheinbar gütiger und ruhiger schottischer Geistlicher.
Der Engländer Robert Milton, der trotz seiner jungen Jahre dunkle Erfahrungen mit sich herumzutragen scheint.
Die junge, schöne Nightingale Dubois, die sich der Schauerliteratur verschrieben hat und für Sir Mortimer fast eine Nichte ist.
Das Schriftsteller-Ehepaar Alice und Geoffrey Stalliot, sie eine dunkle, traurige Schönheit und er ein korpulenter, dem Alkohol sehr zusprechender Mann.
Der schottische Professor Wilbur Prescott, in der Tat ein zerstreuter Professor, ein Gelehrter in Philosophie und Geschichte.
Der Vicomte de Marais, ein französischer, äußerlich reservierter Aristokrat und Dichter.
Der Amerikaner Samuel E. Goldsmith, dessen Repertoire Reiseberichte, politische Essays und politische Schlüsselromane umfasst.
Und nicht zuletzt der Erzähler der Ereignisse: Jonathan Lloyd, der sich sofort in Nightingale verliebt und selbst der Sohn eines engen Freundes von Sir Mortimer ist und diesen bereits jahrelang kennt und liebt.

Die sich dem Abendmahl anschließende Burgführung sorgt dann auch für die erste Aufregung, denn Sir Mortimer erzählt die düstere Geschichte der Lady Lorraine, die aus zurückgestoßener Liebe dem Wahnsinn anheim fällt und schließlich auf dem Scheiterhaufen endet. Der Legende nach geht ihr Haus |Dull Manor|, unmittelbar neben dem Schloss gelegen, alle hundert Jahre in Flammen auf – und das wäre genau diese Nacht, in der die Gäste angekommen waren.

Der Erste, den das Unglück noch in der gleichen stürmischen Nacht trifft, ist der Comte de Marais, der mit der einstürzenden Zugbrücke, dem einzigen Zugang zum Schloss, in die Tiefe gerissen wird. Den geschockten Poeten ist klar, dass der Comte das brennende |Dull Manor| sehen wollte – in der Tat steigen von dem Haus Rauchsäulen in den Himmel -, aber die Brücke hätte niemals von dem Sturm zerstört werden können, dazu war sie zu stabil. Was war passiert? Hatte der Comte das Feuer selbst gelegt und war gar noch am Leben? War er ein Irrer, der durch Tod seine poetische Phantasie anregt?

Goldsmith und Lloyd machen sich auf die Suche nach Hinweisen, als der nächste Todesfall in der zweiten Nacht hereinbricht: Geoffrey Stalliot wird im Weinkeller von herabstürzenden Weinfässern erschlagen. Kurz zuvor hatte er sich mit seiner Frau heftig gestritten und Lloyd hörte, dass er sie misshandelt und sie ihn betrogen hatte. Hatte sie ihren Mann zusammen mit ihrem neuen Liebhaber Milton umgebracht? Hatte sie auch den Comte ermordet, den sie bereits vor Ankunft im Schloss kannte?

Während gegenseitige Anschuldigungen und Verdächtigungen das literarische Unternehmen aussichtslos werden lassen, verfällt Sir Mortimer immer mehr in Depressionen und Schuldvorwürfen und der Bote, der den Eingesperrten Rettung bringen könnte, kommt erst in wenigen Tagen…

Während ich diese Zusammenfassung schreibe, wünschte ich, ich hätte dieses Buch noch nicht gelesen, damit ich noch einmal völlig unwissend in dessen spannenden Abgründe eintauchen und fieberhaft die Seiten umblättern könnte, um dem Mörder schrittweise näherzukommen und ihm dann überraschend gegenüberzustehen.

Jeder einzelne der Charaktere hinterlässt einen bleibenden Eindruck, jeder, außer unserem Erzähler, ist verdächtig und wird unter die Lupe genommen. Der Leser interpretiert in jede Bewegung, jedes Wort, jede Mimik alles und nichts hinein, weil alle Poeten ihre sympathischen, bemitleidenswerten und negativen Seiten haben. Was für ein Detektivspiel, das die Autoren da erschaffen haben!

Bestechend und eindringlich ist die perfekte Einheit zwischen Wort und Handlung, die dieses Buch von der ersten Seite an beherrscht. Die Literatur durchzieht das Geschehen wie eine Welle, mal ganz sanft, fast unterschwellig, mal aufbäumend und Beachtung erzwingend. Folgender Dialogausschnitt zeigt, welche Poesie und auch Philosophie den Leser erwartet:

|“Ich debattierte unlängst mit einem Freunde“, erzählte der Graf, „und es ging um die Frage, ob man heutigen Tages eine neue Geschichte überhaupt noch schreiben könne. Er glaubte – und es trieb ihn in die Verzweiflung -, dass alle Geschichten schon geschrieben seien. Und ich sagte zu ihm: Lieber Freund, solange der Mensch existiert, den in seiner seelischen Tiefe auszuloten wir niemals ganz erreichen werden – nur sehr wenigen ist dies gelungen, ich nenne Shakespeare -, einerlei, so lange wird es die Möglichkeit zu Geschichten geben, einmal vorausgesetzt, dass alle Geschichten mit Menschen zu tun haben. Das ist es, beiseite gesprochen, was mir Dichtung, Bücher einzig interessant macht: Es geht um Menschen. Und aus jedem guten Buch lerne ich Neues über sie.“
Ich blieb still, verwundert darüber, dass er just den Punkt angesprochen, der mir selbst zuvor durch den Kopf gegangen, die Vielschichtigkeit und Undurchschaubarkeit der Menschen.
„Nehmen Sie Mythen, Sagen, Märchen“, fuhr der Comte fort. „Sie sind wahr, weil sie uns etwas über Menschen erzählen. Wie Sie wissen, beschäftige ich mich selbst intensiv damit. Ich habe Tieck und Jakob und Wilhelm Grimm selbst kennen gelernt herüben in den deutschen Ländern. Was für Männer, welch bedeutende Wissenschaftler, Miss Nightingale, Mr. Lloyd! Ja, in den Gesprächen mit ihnen damals ward ich mir erstmals der Bedeutung von Märchen in ihrer ganzen, großartigen Universalität bewusst. Denn es ist ein grobes Missverständnis unserer Zeit, diese Gattung abzutun als lediglich den Stoff, aus dem man Kindern Gutenachtgeschichten offeriert, damit sie besser schlafen. Nein, insofern, als auch hier Menschen zu Gebote stehen, über die verhandelt wird, muss man auch hierbei vom Stoff reden, aus dem die Träume sind. Die Grimms ziehen durch die deutschen Lande mit Papier, einem Stift und offenem Geist und notieren, was sie hören, und sie haben mit dieser Ausrüstung schon jetzt einen ungeheuren Schatz geboren.“|

Der Leser wird langsam in die Geschichte eingeführt, das erste Abendmahl mit Personenvorstellung und die Burgführung sind fast 130 Seiten lang. Ich habe den Fehler begangen und war zu ungeduldig, um sie gebührend zu genießen, also macht es besser. Denn jede Seite zaubert herrlich düstere und geheimnisvolle Bilder hervor, bevor sich eine prickelnde, zum Zerreißen gespannte Atmosphäre einschleicht, die mich nicht mehr losließ, bis ich die letzte Seite mit einem bedauernden Seufzer schloss und wusste, mit diesem Buch einen echten Schatz gefunden zu haben, den ich noch oft zur Hand nehmen werde!

Fazit: Ein dichterisch glänzendes, spannendes und verzauberndes Werk mit großartigen Charakteren, in dem Spannung, Liebe, Melancholie, Philosophie und Psychologie, kleine und große Geheimnisse und vor allem Poesie zu einer unter die Haut gehenden Atmosphäre verbunden werden.

Cornwell, Bernard – Stonehenge

Einen Roman über die Entstehung von Stonehenge konnte ich mir einfach nicht entgehen lassen. Geben die „aufgehängten Steine“, so eine mögliche Übersetzung des Namens Stonehenge, doch seit jeher Rätsel auf. Bis heute konnte nur die Frage nach dem Wann? zufrieden stellend gelöst werden, jedoch die Antworten auf das Wie?, Wer? und vor allem Warum? bestehen aus Spekulationen, Vermutungen und purem Rätselraten. Optimale Voraussetzungen für einen umfangreichen historischen Roman rund um das berühmteste Bauwerk dieser Art, dessen sich der britische Autor Bernard Cornwell – u.a. durch seine Arthur-Trilogie bekannt geworden – leidenschaftlich annimmt.

Wahrheit und Fiktion – was was ist, erklärt der ehemalige BBC-Reporter in einem ausführlichen Nachwort selbst, das auch die wissenschaftlichen Ergebnisse in Bezug auf vorgeschichtliche Steinkreis-Anlagen – die in der Zeit von 4000 bis 1500 v.Chr. in ganz Nordwesteuropa entstanden sind – und im Besonderen auf Stonehenge zusammenfasst. Sehr informativ und gut erklärt! Darum werde ich mir einen Vergleich auch sparen, nur so viel sei erwähnt, dass der Autor die geschichtlichen Fakten für ein glaubwürdiges, mitreißendes Spektakel geschickt verwendet und den Leser gekonnt glauben macht: Genau so und nicht anders ist es passiert!

Aber was ist nun passiert?

Fremdländisches Gold zerstört die Idylle von Ratharryn und bringt die Gottheiten zum Wüten. Aufgefunden in einem nicht mehr benutzten Tempel, weiß niemand, woher es stammt und warum es aufgetaucht ist. Und die Fremdländischen wollen es zurück, denn es sind göttliche Schätze, deren Verlust nur Unglück bringen kann. Zwietracht bringt es auch nach Ratharryn, denn des Clanführers ältester Sohn Lengar will es zum Krieg gegen den Nachbarn Cathello verwenden. Doch sein Vater entscheidet, dass es nun zum Stamm gehört, und um die Götter zufrieden zu stellen, muss der Tempel neu erbaut werden.

Lengar kehrt mit den Fremden in ihr Land zurück, womit sein jüngster Bruder Saban nun der zukünftige Clanführer ist, denn der mittlere Bruder Camaban ist verkrüppelt und damit aus dem Stamm ausgestoßen. Doch Camaban schafft es, bei der mächtigen Zauberin Sannas von Cathello in die Lehre zu gehen. Er geht ebenfalls zu den Fremden, mit dem Plan, Slaol, dem Sonnengott, den größten, beeindruckendsten Tempel aller Zeiten zu bauen, denn als Ausgestoßener hat er in eben jenem verfallenen Tempel gelebt, als das Gold kam und Slaol hat schon immer zu ihm gesprochen. Und er will einen Steintempel, genau wie Cathello, nur mächtiger und größer.

Nachdem Saban die Mannbarkeitsprüfung überstanden und Derrewyn aus Cathello geheiratet hat, kehrt Lengar mit einem Vernichtungsfeldzug zurück, tötet seinen Vater, schickt Saban in die Sklaverei zu den Fremden nach Saramennyn und erhebt sich selbst zum neuen Clanführer.

In Saramennyn angekommen, wird Saban wieder frei und lernt die Gebräuche der Fremden kennen. Jedes Jahr zur Mitsommerwende wird eine Sonnenbraut dem Sonnengott durch Verbrennen geopfert, jedoch ist diese Sonnenbraut für einen Monat vorher eine Göttin. Als Aurenna, die neue Sonnenbraut, vom Gott verschont bleibt, wird sie seine neue Frau, allerdings bleibt sie immer in Kontakt mit dem Gott.

Camaban erwählt Saban zum Baumeister und die Suche nach den richtigen Steinen beginnt ca. 135 Meilen von seiner Heimat entfernt. Sie finden nicht nur die Steine, sondern einen fertigen Tempel, den der verrückt gewordene Hohepriester der Fremden auf einem Berganhang gebaut hatte. Saban muss jetzt noch eine Lösung für den unmöglich erscheinenden Transport finden, doch Camaban lässt ihm keine Ruhe und so baut Saban Schiffe, die stark genug sind, um die mannshohen Steine fortbewegen zu können. Der Transport der Steine und der neue Aufbau erstreckt sich über viele Jahre und als der neue Tempel steht, ist er enttäuschend klein und unscheinbar. Ein neuer Tempel soll gebaut werden, diesmal der richtige, denn hinzu kommt, dass der Tempel nun noch mehr Bedeutung hat: Er soll den Sonnengott und die Mondgöttin zusammenführen und damit den Tod, den Winter und alles Leid aus der Welt vertreiben …

Mit jeder Seite von „Stonehenge“ bricht eine Informationswelle über den Leser herein, die einerseits ein wenig erdrückend erscheint, andererseits so detailliert und fesselnd ist, dass ich zumindest nichts überlesen konnte und wollte. Die Story wird nie langweilig, da immer wieder Drehungen und Windungen den roten Faden zu einer Schleifenlinie werden lassen und neue Charaktere einen völlig anderen Wind hineinbringen. Die Charaktere sind überhaupt großartig, allein Camaban fasziniert durch seine herausfallende Entwicklung und den heranwachsenden Wahnsinn, der in der damaligen Zeit sicherlich bei Priestern und Zauberern vorherrschte und somit das Volk in Schach hielt.

Jeder von ihnen besticht durch Lebendigkeit, Kraft und eine ureigene, perfekt ausgearbeitete Persönlichkeit, die zusammengebracht ein Feuerwerk höchsten Lesegenusses auslösen. Lengar, der eiskalte Krieger, Saban, der ruhige, kluge Baumeister, Camaban, der sich selbst als die Verkörperung des Sonnengottes sieht, Derrewyn, die hasserfüllte, gnadenlose Zauberin und schließlich auch Aurenna, die, durch Camaban angesteckt, selbst dem Wahn anheimfällt und glaubt, die Mondgöttin zu sein – sie alle verfolgen ihre eigenen Ziele, haben ihre eigenen Wünsche und doch verbindet sie der Bau des Tempels. Freiwillig oder unfreiwillig, sie beugen sich den Göttern.

Ebenfalls ein wichtiger Beitrag zu diesem Meisterwerk sind die Beschreibung der Gedanken von Camaban, die geistige Entstehung des Tempels und das stetige Wachsen seiner Bedeutung. Beeindruckend schildert Cornwell, wie das Leben seiner Protagonisten voll und ganz auf den Glauben ausgerichtet ist, wie alles mit den Göttern zusammenhängt und welche Abhängigkeit sich daraus ergibt.

Es ist natürlich sehr wahrscheinlich, dass Stonehenge zur Himmelsbeobachtung genutzt wurde, aber auch Rituale wie Beerdigungen, Hochzeiten, Opferungen etc. werden dort stattgefunden haben, doch warum dieses große, beschwerliche, fast übermenschliche Unterfangen? In vielen Urvölkern gibt es die Legende, dass die Sonne und der Mond vor Beginn der Zeit Liebende waren und sich im Streit getrennt haben – vielleicht wurde Stonehenge ja wirklich erbaut, um beide wieder zueinander zu führen?

Auf jeden Fall ist „Stonehenge“ ein Buch, das allemal lesenswert ist, für mich eines der besten historischen Werke, die ich bis jetzt in der Hand hatte.

Homepage des Autors: http://www.bernardcornwell.net

Mehr zu dem Thema:
http://www.england-seiten.de/specials/stonehenge
http://www.stonehenge.brain-jogging.com