Schlagwort-Archive: SF

Brian Herbert/Kevin J. Anderson – Mentats of Dune / Die Mentaten des Wüstenplaneten (Die großen Schulen 2)

Das DUNE-Universum: Kampf der Mentaten

85 Jahre nach der Schlacht von Corrin ist das Imperium von Kaiser Salvador mehr denn je in zwei Fraktionen gespalten. Auf der einen baut Josef Venport mit seiner Navigatorengilde seinen Machtbereich aus, auf der anderen führt der Maschinenfeind Manford Torondo seine „Butlerianer“ gegen jede Art von Maschinennutzung. Ein Kulturkonflikt von epischen Ausmaßen ist die Folge, und jede Vereinigung muss wählen, auf welcher Seite sie letzten Endes steht.

Gilbertus Albans hat die Mentatenschule auf Lampadas gegründet. Auf Lampadas befindet sich auch Torondos Hauptquartier. Daher muss Gilbertus sehr vorsichtig agieren, zumal er den Speicherkern des letzten Roboters, Erasmus, wie seinen Augapfel hütet.

Obwohl die letzte Reste der Maschinenverbände und alle Denkmaschinen systematisch vernichtet werden, wagen es die Bene Gesserit, im Verbogenen Computer weiterhin einzusetzen. Ein Jahr zuvor haben sie von kaiserlichen Truppen schwere Verluste hinnehmen müssen, konnten aber ihre Computer und Datenbanken retten und verstecken. Damit planen sie das genetische Schicksal der Menschheit. Weil sich die bislang einzige Ehrwürdige Mutter Raquella unter großem Zeitdruck sieht, betraut sie die einzige andere, neue Ehrwürdige Mutter Valya Harkonnen mit heiklen Aufträgen wie etwa der Wiederbeschaffung der Gendatenbank. Aber Valya Harkonnen verfolgt einen geheimen Racheplan: Sie will Vorian Atreides finden und alle seine Nachkommen eliminieren…

Diese Besprechung basiert auf der Taschenbuchedition der englischsprachigen Originalausgabe.

Die Autoren
Brian Herbert/Kevin J. Anderson – Mentats of Dune / Die Mentaten des Wüstenplaneten (Die großen Schulen 2) weiterlesen

Ken Liu (Hrsg.) – Zerbrochene Sterne. Die besten chinesischen SF-Stories


Durchwachsene Qualität, hoher Preis

Ein junger Mann wird dreimal in der Nacht angerufen – und jedes Mal ist er selbst am anderen Ende der Leitung. Genauer gesagt, sein zukünftiges Ich, und dreimal soll er die Welt vor der unausweichlichen Zerstörung retten. »Mondnacht« lautet der Titel dieser Kurzgeschichte von Cixin Liu, die der preisgekrönte Herausgeber und Übersetzer Ken Liu zusammen mit fünfzehn weiteren Erzählungen der besten Science-Fiction-Autoren Chinas in diesem Band versammelt hat.

Manche sind bereits in der Literaturszene etabliert und international berühmt wie etwa Cixin Liu, Hao Jingfang und Han Song, manche gehören zur jungen, ehrgeizigen Generation wie Qiufan Chen und Xia Jia, und andere wiederum sind in der wachsenden Zunft der Geisteswissenschaftler verwurzelt, zum Beispiel Regina Kanyu Wang und Fei Dao. Sie alle entwickeln in ihren Erzählungen einen kritischen, von der Gegenwartskultur geprägten Blick auf China, und manche Texte konnten erst in der Übersetzung überhaupt veröffentlicht werden. Abgerundet wird dieser Sammelband durch drei Essays, die das Phänomen der chinesischen Science-Fiction ausführlich beleuchten und verständlich machen. (Verlagsinfo)
Ken Liu (Hrsg.) – Zerbrochene Sterne. Die besten chinesischen SF-Stories weiterlesen

John Varley – Titan / Der Satellit (Gäa-Trilogie 1)

Venus & Gäa: Abenteuer auf der künstlichen Welt

Der Saturnmond Titan gab den Astronomen lange Rätsel auf. Während das bemannte Raumschiff „Ringmaster“ von der Erde ins Saturn-System einfliegt, wird immer deutlicher, dass es sich um keinen natürlichen Himmelskörper handeln kann, sondern um ein Artefakt. Der Satellit ist ein gewaltiges radförmiges Gebilde mit 1300 Kilometern Durchmesser und einem Umfang von 4000 Kilometern am äußeren Torus.

Als sich die „Ringmaster“ unter dem Kommando von Captain Cirocco „Rocky“ Jones vorsichtig an den äußeren Rand heranmanövriert, um eine Landung zu versuchen, schießen plötzlich gewaltige Tentakel aus dem Torus und ziehen das Schiff heran. Die „Ringmaster“ wird in Fetzen gerissen. Die Menschen an Bord verlieren das Bewusstsein. Cirocco erwacht im Innern des Ringrades. Zusammen mit den anderen Überlebenden begibt sie sich auf eine phantastische Reise durch diese neue Welt, um das Zentralgehirn zu finden… (gekürzte Verlagsinfo)

John Varley – Titan / Der Satellit (Gäa-Trilogie 1) weiterlesen

Karen Joy Fowler – Künstliche Dinge. Erzählungen

Frauen in und nach der Revolution – ein Experiment

„Künstliche Dinge enthält ein Dutzend wunderbar seltsamer und heiterer Betrachtungen über die Geschichte. Ganz normale Menschen werden in außergewöhnliche Geschehnisse verstrickt, vom Mittelalter bis zur Gegenwart in Irland oder Vietnam, in ferner Zukunft oder auf fernen Planeten. Die Abenteuer, die sich daraus ergeben, sind surreal, ergreifend und faszinierend. Welch eine Story-Sammlung! Eine ganz eigene neue Stimme in der Science Fiction.“ Kim Stanley Robinson, SF-Schriftsteller und Sachbuchautor.

Karen Joy Fowler – Künstliche Dinge. Erzählungen weiterlesen

Michael Bishop – Die seltsamen Bäume von Ectaban

Fernes Ongladrad: das Experiment Kunst vs. Krieg

12.000 Jahre in der Zukunft und in 800 Lichtjahren Entfernung läuft ein gesellschaftliches Experiment. Nach zwei schrecklichen Kriegen haben sich die Überreste der Menschheit zu einem Versuch entschlossen: In der Selbstverstümmelung ihrer Fähigkeiten sehen sie die letzte Chance, sich vor der Selbstvernichtung zu bewahren.

Auf Ongladrad wurden genetisch manipulierte Gruppen ausgesetzt, um zu testen, ob ein friedliches Zusammenleben möglich ist. Satelliten beobachten den Verlauf, während die Jahre vergehen. Der Künstler Gabriel Elk birgt noch Fähigkeiten und Wissen der Alten. Seine Gabe kann die kleine Kolonie retten – oder ihren Untergang herbeiführen …
Michael Bishop – Die seltsamen Bäume von Ectaban weiterlesen

Alastair Reynolds – Unendlichkeit (Revelation Space 01)

Endlose Enthüllungen

Vor Millionen von Jahren ereignete sich in den Tiefen des Alls eine Katastrophe, die das Volk der Amarantin auslöschte, kurz bevor es die Fähigkeit zur Raumfahrt entwickelte. War es ein kosmischer Zufall? Oder sollten die Amarantin daran gehindert werden, zu den Sternen aufzubrechen? Bei Ausgrabungen stoßen Wissenschaftler auf die uralten Artefakte dieses außerirdischen Volkes. Nun wollen sie die Wahrheit über den Untergang der Amarantin erfahren – doch sie ahnen nicht, welch übermächtigem Gegner sie sich in den Weg stellen. (Verlagsinfo)

„Unendlichkeit“ – Space-Opera vom Feinsten, dachte ich gleich. Und es geht auch richtig gut und flott los: auf fremden Welten, mit Alien-Artefakten. Aber dann wurde die Welt, in der Handlung spielt, immer komplexer, je mehr Personal hinzukam und je mehr Details ich mir merken musste. Ich dachte, das könne nur besser werden. Aber als schließlich alle Hauptpersonen aufeinander trafen, wurde es richtig schwierig …

Drei Handlungsstränge führen aufeinander zu und bilden einen Knoten. Diese Stränge liegen zunächst jeweils mehrere Jahre auseinander, denn interstellare Reisen erfordern eine Menge Zeit. Bei der Inbezugsetzung der Stränge ist mithin Zeit ein wichtiger Faktor. Glücklicherweise sind alle Kapitel mit Jahreszahlen versehen: Wir schreiben die Mitte des 26. Jahrhunderts.
Alastair Reynolds – Unendlichkeit (Revelation Space 01) weiterlesen

Bob Shaw – Die Heißluft-Astronauten (Die Zwillingswelten 1)

Weltenwanderung per Ballon

In einer der Zwillingswelten wird das Land knapp, deshalb beschließt der König die Eroberung der Nachbarwelt. Die Auswanderer können leicht per Heißluft-Ballon die Kluft zwischen den nahe beieinander liegenden Welten überwinden, doch die Expedition steht unter einem Unstern und wird von etlichen Überraschungen begleitet…

Für diesen Roman wurde der Autor 1986 mit dem BSFA Award ausgezeichnet.

Der Autor
Bob Shaw – Die Heißluft-Astronauten (Die Zwillingswelten 1) weiterlesen

Frank W. Haubold – Die Sternentänzerin. Erzählungen

Gemischte Gefühle: gute Phantastik, mittelmäßige Sciencefiction

Die vorliegende Sammlung von Haubolds phantastischen Erzählungen aus den Jahren 2005 bis 2009 enthält unter anderem die 2008 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnete Geschichte „Heimkehr“.

Zu finden sind hier unter anderem:

– die Titelgeschichte, die den Lebensweg der russischen Tänzerin Lena Romanowa beschreibt, die bei einem Gastspiel in ihrem Heimatort durch ein Attentat schwer verletzt wird und erst viele Jahre später aus dem Koma erwacht. Mit unglaublicher Energie lernt sie wieder laufen und sogar tanzen und feiert schließlich ein unglaubliches Comeback zwischen den Sternen.

– die Geschichte von den Planetenplünderern, die ihrerseits einem Wächtersystem zum Opfer fielen, welches seinerseits nicht auf die Schutzmechanismen der Föderation vorbereitet ist …

Der Autor

Selbstbeschreibung: „Ich bin 55 Jahre alt und schreibe seit rund 20 Jahren überwiegend Kurzgeschichten und Erzählungen. Nach dem Abitur habe ich Informatik an der TU Dresden studiert und nach ein paar Jahren Berufspraxis an der Humboldt Universität zu Berlin promoviert. Ich bin verheiratet und lebe mit meiner Frau in einem Dorf namens Waldsachsen nahe der Stadt Meerane auf halber Strecke zwischen Gera und Chemnitz.“

Bibliographie

A) Buchausgaben:

|“Am Ufer der Nacht“| (1997), Roman in Erzählungen.
|“Der Tag des silbernen Tieres“| (mit Eddie M. Angerhuber, 1999), EDFC Passau. Unter anderem mit der Erzählung |“Das Große Rennen“|, 2. Platz beim Deutschen Science Fiction Preis 2000.
|“Das Tor der Träume“| (Phantastische Erzählungen, 2001), EDFC Passau. Der Erzählungsband wurde für den Deutschen Phantastik Preis 2002 nominiert, zwei Geschichten für den Deutschen Science Fiction Preis und für den Deutschen Phantastik Preis.
|“Das Geschenk der Nacht“| (Phantastische Erzählungen, 2003), EDFC Passau. Zwei Geschichten wurden für den Deutschen Science Fiction Preis 2004 nominiert, die Story „Die weißen Schmetterlinge“ zusätzlich für den Deutschen Phantastik Preis 2004 (2. Platz).
|“Wolfszeichen“| (Phantastische Erzählungen, 2007), Edition Lacerta. Zwölf unheimliche Kurzgeschichten und Erzählungen aus den Jahren 1997 bis 2007.
|“Die Schatten des Mars“| (Episoden-Roman, 2007), EDFC Passau. Illustrierte Liebhaberausgabe (Hardcover, Leinen), ausgezeichnet mit dem Deutschen Science Fiction Preis 2008
|“Die Sternentänzerin“| (Collection, 2009), p.machinery Murnau. Zehn Science Fiction Erzählungen aus den Jahren 2005 bis 2009, Illustrierte Paperback-Ausgabe.

B) Als Herausgeber (Auswahl):

|“Die Jenseitsapotheke“| (Jahresanthologie 2006, EDFC Passau)
|“Die Rote Kammer“| (Jahresanthologie 2008, EDFC Passau)
|“Das Experiment“| (Jahresanthologie 2009, EDFC Passau)

C) Erzählungen (Auswahl):

|“Der Garten der Persephone“| (2001), in „Reptilienliebe“, Heyne
|“Der Mann auf der Brücke“| (2001), in „Weihnachtszauber“, Lübbe
|“Die Stadt am Fluß“| (2005) in „Der ewig dunkle Traum“, Blitz-Verlag
|“Die Legende von Eden“| (2005) in „Die Legende von Eden“, Shayol
|“Das Orakel“| (2006) in „Plasmasymphonie“, Shayol
|“Die Tänzerin“| (2007) in „Der Moloch“, Shayol
|“Heimkehr“| (2007) in „S.F.X.“, Wurdack
|“Die Gänse des Kapitols“| (2010) in „Weltraumkrieger“, Atlantis

Die Erzählungen

_1) |Der Tausendäugige|_

Ein Team von interstellaren Schatzsuchern dringt in einen gesperrten Raumsektor ein und landet schließlich auf einem seit Jahrhunderten verlassenen Planeten. Während Kommandant Nik Thornton das Unternehmen rücksichtslos vorantreibt, sorgt sich die ansonsten ehrliche Pilotin Liza Santini um die Sicherheit seiner Gefährten. Je weiter der Landungstrupp in die vergessene Stadt der Kalaniden vordringt, desto stärker werden ihre Befürchtungen. Doch die diversen Abtaster finden kein Anzeichen von Leben.

Thornton & Co. dringen mit einer Sprengung des Tores in einen Würfel der Stadt und stoßen auf einen Schatz. Als sie die Artefakte abtransportieren wollen, wird Carter von einem Pfeil aus dem Nichts beschossen und getötet. Weitere Pfeile zwingen die Plünderer in Deckung. Thornton befielt Liza, Sprengbomben zu werfen, doch ein Gegenangriff erfolgt nicht. Die Lage bleibt ruhig, was Liza umso nervöser macht. Aber es ist zu spät: Die Nanoorganismen haben bereits alle Angehörigen des Teams infiltriert. Für sie kommt jede Hilfe zu spät, doch auch Liza in der Landefähre wird schnell bewusstlos.

Der Abwehrorganismus „Argos“ hat die Eindringlinge einen nach dem anderen unschädlich gemacht. Seine kalanidischen Schöpfer haben diese Welt zwar schon längst verlassen, doch ihre Schätze sind immer noch zu bewachen. Durch den Kontakt neugierig geworden, kapert Argos das Schiff der Fremden, um zu ihrer Heimatwelt aufzubrechen und dort allerlei Unheil anzurichten. Doch der Nano-Roboter hat nicht mit den Tücken des Hypernets gerechnet, das sich ebenso als Portal wie als Falle einsetzen lässt …

|Mein Eindruck|

Der Autor hat seine Story dankbarerweise A. E van Vogt gewidmet, einem Veteranen aus der goldenen Ära der Sciencefiction. Van Vogt lieferte offensichtlich auch die Vorlage für die Ausgangssituation. In seiner berühmtesten Erzählung „Schwarzer Zerstörer“ aus dem Jahr 1939 gelangt eine Forschungsexpedition auf den Planeten des titelgebenden Raubtiers, das sich allerdings als äußerst intelligent und rücksichtslos erweist. Es infiltriert das Raumschiff, doch mit einem Trick kann man es wieder loswerden. Die Parallelen zu Haubolds Story sind verblüffend.

Diesmal tritt der Wächter einer verschwundenen Zivilisation in der Manier H.P. Lovecrafts auf, um eine Gruft und Schatzkammer vor der Plünderung zu beschützen. Natürlich wirkt der Fluch der Grabkammer wie schon bei den Pharaonen, doch funktioniert die Abwehr nicht übernatürlich, sondern auf Nanobot-Basis. Für Liza Santini sieht es aus, als griffe eine Gaswolke an. Das klingt doch schon wesentlich moderner als van Vogts Supertiger.

Die letzten zwei Szenen sind auch recht gelungen. Argos macht eine kleine Fehlkalkulation beim Eintritt in das Hypernetz, und Liza Santini findet wider Erwarten Gelegenheit, sich an dem fiesen Tippgeber zu rächen, der sie und die Plünderer auf eine so gefährliche Welt schickte. Klassische Abenteuer-SF und eine runde Sache.

_2) |Die Tänzerin. Le sacre du printemps|_

Russland ist im Jahre 2044 ein Kriegsschauplatz. Als die berühmte Balletttänzerin Lena Romanowa während einer Tournee ihre Jugendliebe Sergej wiedertrifft, folgt sie aus einer Laune heraus dessen Einladung zu einem Auftritt in ihrer Heimatstadt Melenki, die sie vor über dreißig Jahren verlassen hat. Melenki liegt in einer umkämpften Zone. Die Fahrt dorthin wird zu einer Reise in die Vergangenheit, doch Lenas Tanz auf der Bühne des alten Kulturhauses endet in einem Anschlag …

Über 18 Jahre später erwacht Lena aus ihrem Koma und bekommt neue Beine. Im Jahr 2063 tanzt sie wieder an Bord der großen Linienraumschiffe, die zum Mars fliegen. Erst als wenige Jahre später ihr deutscher Partner stirbt, sieht sie das Ende ihrer Laufbahn gekommen, sie ist nun fast siebzig Jahre alt. Doch es gibt noch eine wichtige Sache zu erledigen, flüstern die Schatten des Mars ihr zu. So wie damals in den Außenbezirken Moskaus, als sie vor den Landstreichern das „Frühlingsopfer“ tanzen wollte, muss sie noch einmal ihre Kunst zeigen …

|Mein Eindruck|

Obwohl die Geschichte chronologisch und leicht verständlich erzählt ist, ist sie inhaltlich doch recht komplex. Zahlreiche Themen werden durch Rückblenden und inneren Monolog eingefangen, insbesondere die Themen Liebe, Kunst und Krieg. Die Kunst besteht selbstverständlich in der Verbindung aus Musik und Tanz, wohingegen der Krieg lediglich in seinen Auswirkungen auf die Künstlerin zu spüren ist: Er hat ihr den Vater genommen, weshalb sich die Mutter zu Tode trank. Und er hat Lena den Geliebten genommen, der in den vorderen Reihen des Theaters saß, als der Anschlag erfolgte. Nicht zuletzt ist auch sie eine Versehrte …

Deshalb ist durchaus bemerkenswert, dass Lena nicht wie Vater und Mutter aufgeben oder ins Nichts verschwinden, sondern trotzig ihr Schicksal annimmt. Auf dem zweiten Höhepunkt ihrer Laufbahn schlägt der Tod wieder zu, reißt ihr den Partner von der Seite. Wahrscheinlich fühlt sie in diesem Moment, dass sie dem Tod ein Opfer schuldet. Später werden die Russen auf dem Mars zu „Lenas Garten“ pilgern, denn dort wächst das grünste Gras …

In der Mitte gibt es eine sehr schöne, ziemlich unheimliche Gruselszene, als Lena glaubt, im Elternhaus dem Geist ihrer Mutter zu begegnen. Das ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Autor auch sehr gut Horror und Phantastik schreiben kann.

_3) |Die Heilige Mutter des Lichtes|_

200 Jahre nach der Verwüstung Mitteleuropas. Nach dem Tod der alten Schwester Matisse wird die junge Novizin Tiana zu einer Hüterin der Schwesternschaft ernannt. Zum ersten Mal darf sie am Ritual der Weihe eines Neugeborenen teilnehmen. Im Kreise der Zwölf sieht sie sich in einem unterirdischen Kuppelsaal der „Heiligen Mutter des Lichtes“ gegenüber – einer wundertätigen Statue, der die Bewohner des „Netzes“ ihr Überleben in der Wüste verdanken.

Doch weder Tiana noch ihre Schwestern ahnen etwas von der wahren Natur ihrer Schutzheiligen. Diese offenbart sich, sobald die Hüterinnen den Saal mit dem geblendeten Neugeborenen verlassen haben …

|Mein Eindruck|

Als die heimlichen Arbeiter hinter der Statue hervorkommen und sich einige Scherze erlauben, kippt die weihevolle Stimmung der ersten Häfte der Geschichte unversehens ins Frivole um. Der ostdeutsche Autor hatte offenbar nicht die Absicht, dem Vatikan eine Heiligenlegende zu kredenzen, sondern entzaubert die ganze Ordensschwesternschaft als arme, irregeleitete Irre. Das macht den kleinen, vom Laser der titelgebenden Statue geblendeten Säugling aber auch nicht wieder sehend. Und nur männliche Babys werden so verstümmelt. Daher blieb bei mir ein bitterer Nachgeschmack.

Der Autor meint hierzu: „Das „Projekt PACEM“ dient nicht dem Amüsement der Beteiligten, sondern wurde ins Leben gerufen, um den Kreislauf von Krieg, Wiederaufbau und Krieg zu durchbrechen, den die Protagonisten in der männlichen Aggressivität verortet haben. Die Mitglieder der Wartungscrew existieren nur noch als elektronische Wesenheiten und ihr Schicksal ist eher tragisch, während die matrizentrische Gesellschaft in den Bio-Habitaten recht gut gedeiht.“

_4) |Ein gastfreier Planet|_

Der erfahrene Saatgut-Verkaufsprofi Mike Golden ist nicht glücklich darüber, dass ihm an Bord der „Demeter“ ausgerechnet eine Frau als Kommandantin vor die Nase gesetzt wurde, zumal ihm die „Kommandeuse“ Agneta Lindström unterwegs nicht viel mehr als die kalte Schulter zeigt. Das spärlich bekleidete weibliche Empfangskomitee auf GO 42 erscheint ihm daher gerade recht, um sich für die erlittenen Demütigungen zu entschädigen. Die Amazonen reiten so spärlich bekleidet auf ihren Spezial-Dildo-Sätteln, dass Mike erst die Augen aus dem Kopf fallen und dann sein Ständer tätig werden will. Doch er hält sich zurück, denn die Rede der Amazonen ist von „Wildlingen“, auf die sie mit Aggressivität reagieren. Was könnte damit gemeint sein?

Als er sich in den nahen Wald verzieht, fällt ihm eine unbewaffnete Amazone direkt vor die Füße: Sie hat sich den Fuß verstaucht. Kaum hat er sie erfolgreich beschwichtigt und fachgerecht verarztet, kann er ihrer unzweideutigen Einladung nicht widerstehen. Die Love Session in ihrer Höhle wird er niemals vergessen, denkt er. Dann bricht sie ihm das Genick und beginnt, ihn fachgerecht auszuweiden. Schließlich wollen andere auch noch was von diesem Wildling …

|Mein Eindruck|

Die Story ist Michel Hoellebecq gewidmet, dem bekannten Autor von „Elementarteilchen“, der vor keinerlei machomäßigen Schilderungen zurückschreckt. Ähnlich wie manche „Helden“ dieses Autors führt sich auch Mike Golden auf: wie im erotischen Selbstbedienungsladen. Sein Macho-Zynismus ist abstoßend, und das war wohl auch die Absicht des Autors. Deshalb erschreckt uns Mikes Ende keineswegs, sondern kommt uns wie seine verdiente Strafe für seine Amoralität vor.

Nur der Verweis auf „Arrakis’ Friend“ war mir eine Anbiederung des Autors an die SF-Fans zu viel (Arrakis = DUNE = Wüstenplanet). Jedes Universum in einer Story sollte für sich stehen, es sei denn, es ist kontingent mit dem gleichen Universum in einer anderen Story des gleichen Autors, etwa bei Asimov oder Heinlein (Future History).

_5) |Das Schiff|_

Die Armada ist die größte Sternenflotte, die die Allianz in den fünfhundert Jahren ihres Bestehens in den freien Raum entsandt hat, doch ihre Mission steht unter keinem guten Stern. Auf dem ersten Planeten, einer Wasserwelt, verschwinden zwei Trupps von Menschen und wenig später desertieren zwölf Mitreisende in einem kleinen Schiff, werden aber sofort verfolgt.

Bereits die erste Fehlentscheidung des Militärs löscht auf der Wasserwelt eine intelligente Meereszivilisation aus und ruft eine uralte Macht auf den Plan, deren Entscheidungen unumstößlich sind: Die Armada hat keine Chance, wohl aber die Flüchtlinge und ihr Verfolger …

|Mein Eindruck|

Das alte Muster von Frevel und Strafe ist in eine Art Heiligenlegende eingewoben, mit der das Schicksal der Zwölf geschildert wird. Die Zwölf ist in der Bibel eine heilige Zahl, denn es gibt nicht nur zwölf Apostel, sondern auch zwölf Brüder des Joseph und noch vieles mehr. Kein Wunder also, dass der Satz „Sie waren zwölf“ mehrfach in Bibeltonfall wiederholt wird. Mit dem Satz „Dann waren sie zwölf, und aus irgendeinem Grunde wussten sie, dass sie nunmehr vollzählig waren“, treibt der Autor den pseudobiblischen Mystizismus auf die Spitze. Dabei ist diese weihevolle Heiligenverehrung nur dadurch gerechtfertigt, dass diese Zwölf fast die einzigen Überlebenden der Erde sind.

Tja, und dann ist am Anfang und Schluss noch die Rede von einem enorm großen Schiff, das aber irgendwie überhaupt nichts mit dem Rest der Geschichte zu tun zu haben scheint. Dieses Detail hat mich ziemlich ratlos zurückgelassen. Mir kam die Story unfertig vor und in ihrem Kern wie die Überarbeitung eines Textes aus den seligen DDR-Zeiten.

_6) |Die Stadt am Meer|_

Die „Stadt am Meer“ ist ein idyllischer Ort, der dem Dichter Friedrich Grünfeld alles bietet, was er sich wünschen kann. Doch über allem liegt der Schatten einer Vergangenheit, zu der der Schriftsteller keinen Zugang mehr findet. Die apokalyptischen Bilder, die er nur im Traum-Rausch zu sehen vermag, ängstigen ihn, sind aber gleichzeitig der einzige Quell seiner Inspiration. Als ihn seine Geliebte Malia verlässt und ihm die Traum-Tickets ausgehen, trifft Friedrich eine folgenschwere Entscheidung: Er erschießt seinen Traum-Dealer Rico.

Sogleich beginnt die Welt um ihn herum in Trümmer zu fallen, bis er getroffen wird und alles in Schwärze versinkt. Eine Stimme weckt ihn. Erst sind die Worte nur bruchstückhaft zu verstehen, dann wird ein Satz daraus: „Leutnant Grünfeld, können Sie mich verstehen?“ Die Sprecherin ist eine Krankenschwester in blauem Kittel, die aussieht wie Malia. Maria? Grünfeld nickt. Wo ist er?

Sie sagt ein paar Worte, die bewirken, dass seine Erinnerung vollständig zurückkehrt. Es herrschte Krieg, und Leutnant Grünfeld führte eine Gruppe Soldaten. Wer war der Gegner noch gleich? Sogenannte „Shak“. Granateneinschläge legten das Haus hinter ihnen in Trümmer. Dann weitere Granateinschläge – und nichts mehr. Schwester Maria liest aus seinem Gedichtband vor und lächelt. Ob sie wohl mit ihm ausgeht – in eine kleine Stadt am Meer?

|Mein Eindruck|

Die Alternativwelt, die sich der bettlägerige Soldat erträumt, ist erotisch, sinnlich, entspannt. Malia nennt er seine „Katzenfrau“, und sie liebt es, ihn zu beißen. Grünfeld schlägt sich als abgebrannter Dichter durch. Jedenfalls solange bis er den Angler trifft. Der teilt ihm ein paar unangenehme Wahrheiten mit, die Friedrich nicht wahrhaben will. Die Welt beginnt an den Rändern zu bröckeln, bis es zum Kataklysmus kommt, als Rico, sein Traumverkäufer, mit ihm Russisch-Roulette spielen will.

Die Handlung ist schrittweise und konsequent aufgebaut, doch muss der Leser auch entsprechend viel Geduld aufbringen, weil so wenig passiert. Dafür verändert sich in der Hauptfigur um so mehr. Endlich kommt dann die Wende, und der Träumer erwacht. Dieses Motiv findet sich zahllose Male in der literarischen und cineastischen Phantastik: Das Leben ist ein Traum. Zuletzt etwa in „Inception“ von Christopher Nolan.

Worauf es ankommt, ist der Nutzen, den der Träumer hat, und die Ursache des Traumas, das im Traum überwunden werden soll. Diese Erklärung muss die Pointe liefern. Hier hätte ich von der Geschichte einen schockierenden Tiefschlag erwartet, beispielsweise dass Grünfelds Körper teilweise amputiert wurde, doch ich wurde mit einem pseudo-versöhnlichen Schluss abgespeist.

_7) |Das ewige Lied.| Rilke gewidmet_

Der Pilot Christoph ist jung wie die meisten der Freiwilligen, die die Admiralität rekrutiert hat. Auf dem Weg zum Einsatzort durchqueren sie lichtlose Abgründe und begegnen ausgebrannten Nomadenstädten, bevor sie auf Pendragon, der letzten Bastion der Menschheit vor dem Niemandsland, zur Flotte stoßen. Von einem Seher wird Christoph als Aufklärungsflieger ausgewählt. Als die Armada aufbricht, fliegt er mit seinen Gefährten voran, bis sie auf eine Nomadenstadt treffen, die wie durch ein Wunder verschont geblieben ist. Man teilt ihm mit, dass es sich um Joyous Gard handelt, ein „Kunstwerk“.

Tatsächlich ist diese durchs All treibende Stadt unter ihrem Kraftfeld anders. Statt hoher Wolkenkratzer, zwischen denen Verkehr strömt, finden die Piloten in ihren Kampfjets hier eine ländliche Idylle vor, über der ein Schloss emporragt. Dort werden sie freundlich zu einem Fest empfangen, als ob die Herrschaften schon auf sie gewartet hätten. Wie seltsam.

Dennoch lässt sich Christoph den Wein schmecken, und O’Brien tanzt mit einer Blondine. Christophs Blick fällt auf die edle Genevra, die ihm später in den Hof folgt, um ihn in ihre Kemenate einzuladen. Dort spenden sie einander Trost, Liebe und Wärme. Doch Christoph erwacht allein und umringt von einem Flammenmeer. Es gelingt ihm gerade noch, dem Brand zu entfliehen und in seinem Kampfjet aufzusteigen. Da entdeckt er den Feind. Ist es ein … Drache?

|Mein Eindruck|

In dieser allegorischen Erzählung sollte man kein Wort wörtlich nehmen, denn dies würde in die Irre führen. Vielmehr erinnert die Geschichte mit ihren deutlichen Bezügen (Pendragon, Lancelot, Genevra) an nichts so sehr wie an die Artus-Legende vom Grünen Ritter. Darin muss der Ritter der Tafelrunde mehrere Treueprüfungen bestehen, bevor er sich dem schrecklichen Grünen Ritter stellen kann.

Christoph allerdings versagt in seiner Prüfung. Er ist seiner Freundin Magdalena nicht treu. Von dieser träumt er, sie wäre wie Jesus ans Kreuz genagelt, doch wenn er sie befreit, beißt sie ihn wie ein Vampir. Ihre Doppelnatur bzw. seine ambivalente Haltung zu ihr ist offensichtlich. Er fürchtet, sie zu verraten. Und das tut er dann auch, wen wundert’s.

Nach Angaben des Autors handelt es sich bei der Geschichte um eine „fast 1:1 SF-Nacherzählung von Rilkes seinerzeit wohl berühmtestem Werk, der „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“. Siehe [hier]http://de.wikisource.org/wiki/Die__Weise__von__Liebe__und__Tod__des__Cornets__Christoph__Rilke .

Der Besuch des Ritters auf dem Schloss, wo ihn die Liebe erwartet, ist ein typisches Motiv des Fin de siècle. Am Schluss bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet, und ich fand mich wieder einmal unzufrieden zurückgelassen. Und die Idee mit den fliegenden Städten hat der Autor von James Blish geborgt. Deshalb sollte die Widmung vielleicht nicht Rilke gelten, sondern Blish.

_8) |Heimkehr|_

Wie jedes Jahr vor den Weihnachtstagen besucht der Wissenschaftler Prof. Bernhard Kravitz den kleinen Ort Niederlahr, in dessen Nähe er früher gelebt und in dessen Institut er bis 2012 gearbeitet hat. Im Restaurant „Zum Löwen“ trifft er auf den UN-Ermittler Mulders, der noch immer versucht, das Geheimnis der mysteriösen Barriere aufzuklären, die das Institut seit jenem Ereignis vor acht Jahren von der Außenwelt trennt. Mulders vermutet, dass Professor Kravitz in den Fall verwickelt ist, hält sich aber mit Schuldzuweisungen zurück. Denn auch Kravitz‘ Frau Miriam ist hinter der unsichtbaren Mauer eingeschlossen.

Zu Kravitz‘ Erstaunen befinden sich Mulders und sein Assistent Kwang auf der richtigen Spur. Kravitz hat am Vorabend des Ereignisses anno 2012 tatsächlich den russischen Geologen Sergei Komarov in Boston getroffen. Dem Treffen war aber bereits eine geheime Materialübergabe vorausgegangen. Komarov hatte ihm vier kleine Kügelchen übergeben, die jedoch von einer fremden Substanz waren: sehr schwer und von einem sibirischen Meteroiten stammend. Kravitz sollte sie, da die Analyse Komarov nicht gelungen war, mit seinem Synchrotron beschießen und das Ergebnis analysieren. Gerade als Kravitz seinen Kollegen in Boston traf, erfolgte dieses Experiment – und das Ereignis war das Resultat: die Barriere ….

Was Mulders nun nahelegt, ist der Umstand, dass es bei diesem Material nicht um außerirdisches Material im herkömmlichen Sinne handelt, sondern um Produkte einer außerirdischen Zivilisation, also um ein technisches Produkt. Doch zu welchem Zweck? Als Kravitz zum richtigen Schluss gelangt, ereignet sich eine entscheidende Wende in Realität …

|Mein Eindruck|

Endlich mal eine rundum zufriedenstellende Geschichte! Sie liest sich wie das Exposé zu einem Science-Fiction-Roman, der von Andreas Eschbach stammen könnte. Die Handlung bringt Elemente aus „Armageddon“, Robert Sawyers „Flash Forward“ und Stephen Kings „Die Arena“ zusammen, um eine recht menschliche Geschichte zu erzählen. Auch die Aliens wollen bloß heimkehren, genau wie Kravitz. Das Phänomen des Robinson-Syndroms liefert dabei einen psychologischen Hinweis: Die Bewohner der Stadt verlassen ihr Zuhause, so dass die Barrieren-Zone zu einer Insel wird.

Eine Romanfassung müsste allerdings Miriams Standpunkt miteinbeziehen, um so eine emotionale Wärme in die sachliche und ziemlich kühle, eben wissenschaftliche Atmosphäre dieser Geschichte einzubringen.

_9) |Der Wunderbaum|_

Dreißig Jahre nach dem mysteriösen Verschwinden seiner Tochter Jasmin kehrt Gabriel Grünberg an den Ort des Geschehens zurück. Im örtlichen Gasthof erfährt er von der jungen Wirtin Hanna, dass das alte Forsthaus wieder vermietet ist – an einen Geologen und Meteoritenexperten namens Fehrmann, der am Amselsee seinen Forschungen nachgeht. Nach einer wunderbaren Nacht an der Seite von Hanna in seinem Bett macht sich der Schriftsteller auf den Weg zum Forsthaus. Vielleicht kann er endlich mit der schrecklichen Last der Vergangenheit abschließen.

Doch das Forsthaus, in dem seine Familie bis zu Jasmins Verschwinden lebte, ist verlassen und die Bohrstelle am nahegelegenen Amselsee verwaist. Der Geologe bleibt wie Jasmin unauffindbar, und nur ein am Boden liegender Camcorder verspricht Aufschluss zu geben über das, was hier geschehen sein mag. Am Waldrand fällt Gabriel eine große Silberweide auf, die geradezu zu leuchten scheint, als rufe sie ihn. Die Filmaufnahmen auf dem Camcorder bestätigen seinen Eindruck. Er hätte aber nie erwartet, dass der Filmende auf den Baum zulaufen und dabei „Vera!“ rufen würde …

|Mein Eindruck|

Diese gelungene und sehr stimmungsvolle Erzählung ist der Beweis, dass der Autor auch Urban Fantasy ohne Probleme schreiben kann. Da fällt mir der Name des Kanadiers Charles de Lint ein, über den ich schon mehrmals geschrieben habe („Yarrow“, „Grünmantel“, „Into the Green“). Die phantastische Begebenheit ist eingebettet in eine realistisch eingefangene Gegenwart, doch der Naturraum und seine spezielle Stimmung bilden die Brücke – um jenen schrecklichen Verlust der Tochter zu erklären und so eine Lösung des Problems zu ermöglichen. Kein Wunder also, dass auch Gabriel Grünberg spurlos verschwindet …

_10) |Die Legende von Eden|_

Folgendermaßen beginnt die LEGENDE: Als Gegenleistung für ihre Begnadigung verpflichten sich die beiden Sträflinge David Green, ein Kybernetiker, und William Jefferson, ein Exsoldat, das Schicksal des Prospektorenschiffes „Argo“ aufzuklären, zu dem schon vor Monaten der Kontakt abgebrochen ist. Im Zielsystem angekommen finden sie die „Argo“, die der Merkantilen Allianz MEDEA gehört, äußerlich unversehrt, aber verlassen vor.

Dave und Bill sind schockiert: Aus den Videoaufzeichnungen geht hervor, dass einige Besatzungsmitglieder vor Ort Selbstmord begangen haben, doch der Schlüssel zu den Ereignissen liegt anderswo – auf dem Planeten Eden, den das verlassene Schiff noch immer umkreist. Also müssen sie mit der zweiten Fähre „Castor“ hinunterfliegen. Sie landen unweit der „Pollux“, doch diese ist leer.

Mit dem Landrover folgen sie den Spuren eines anderen Landrovers zum Meer und fragen sich, was ihre Vorgänger dort gesucht haben mögen. Dave fällt auf, dass das Meer viel zu blau ist und die Wiesen viel zu grün – etwas stimmt hier nicht. Ist alles nur eine Vorspiegelung, die ihnen jemand vorgaukelt, um sie in eine Falle zu locken? Am Strand sind sie auf einen Angriff gefasst. Doch dann nähert sich ihnen aus dem Meer eine Gefahr, der sie nichts entgegenzusetzen haben …

Mein Eindruck

Sofort kommt dem SF-Freund angesichts solcher Szenarien Stanislaw Lems Roman „Solaris“ in den Sinn, aber auch einige frühe Romane und Stories von Philip K. Dick. Natürlich ist das Mädchen, das Dave (nein, nicht Bowman!) in seiner Illusion trifft, dunkelhaarig und heißt Lisa – und natürlich essen sie Eis zusammen. Sie ist seine jüngere Schwester – genau wie bei Dick, der seine Zwillingsschwester im Alter von nur wenigen Tagen verlor und zeit seines Lebens vermisste (siehe Lawrence Sutins Dick-Biografie).

Aber die fremde Intelligenz, die Daves Innerstes kennt und ihm zeigt, hat nicht nur Trost auf Lager. Als er zu Bill zurückkehrt, wartet dieser mit einigen neuen Informationen auf. Nun da sie nicht mehr von der MEDEA-Zentrale abgehört werden – Bill hat die „Castor“ gesprengt und der Sender der „Pollux“ ist tot – kann er es Dave ja sagen: Rachels Tod war eine abgekartete Sache und somit auch Daves Veurteilung als ihr vorgeblicher Mörder. Nun haben die beiden ein Motiv, um es der MEDEA heimzuzahlen, denn deren Verbrechen sind zahl- und namenlos …

Die Novelle wirkt ebenfalls wie ein Romanentwurf, wie so viele dieser Geschichten. Der Autor behilft sich am Schluss mit dem plumpen Trick, die Legende von Bill und Daves Heldentaten von einer Dokumentation herunterrattern zu lassen statt sie à la DUNE ausführlich in Szene zu setzen. Dafür wäre ja auch gar kein Platz gewesen.

Schwächen des Textes

Seite 25: „mon capitan“: eine Mischung aus Frz. und Spanisch. Richtiger: „mon capitaine“.
Seite 81: „unter eine(r) Idee fixe“.
Seite 147: „Dann waren sie zwölf, und aus irgendeinem Grund wussten sie, dass sie vollzählig waren.“ Grammatisch völlig korrekt, aber ganz schlechter Stil.
Seite 155: „voll Vertrauen, das(s) ihnen nicht geschehen konnte …“

Unterm Strich

Die meisten Erzählungen dieser Sammlung sind auch für Leute leicht zu lesen, die nichts mit Zukunftsliteratur am Hut haben, sondern vielleicht nur mal etwas lesen möchten, das über den Bezirk der gewohnten Wirklichkeit hinausgeht. Es muss ja nicht gleich Fantasy à la Harry Schotter sein. Auch eine Urban Fantasy in der Tradition von Charles de Lint ist von Haubold durchaus stilvoll realisiert worden, siehe „Der Wunderbaum“, der Anfang von „Die Hl. Mutter des Lichtes“ und „Heimkehr“. Ich könnte mir sehr gut einen entsprechenden Roman vorstellen.

Die zweite Kategorie von Erzählungen umfasst allegorische Geschichten wie die Artus-Pastiche „Das ewige Lied“, „Die Tänzerin“ und vor allem „Die Stadt am Meer“. Während „Die Tänzerin“ noch am realistischsten davon ist (trotz der Geisterszene), überschreiten die beiden anderen Geschichten doch die Grenzen der jeweiligen Realität um einiges. „Die Stadt im Meer“ stellt heilsamen Traum und traumatische Krieg einander gegenüber, in „Das ewige Lied“ ist eine Ritterlegende über Treue und betrogene Jugend umgesetzt. Alle diese Erzählungen sind ungewöhnlich stimmungsvoll umgesetzt und fast immer spannend bis zum Schluss. Allerdings war ich mit den Schlüssen nicht immer einverstanden. Am gelungensten ist zweifellos der in der Titelgeschichte „Die Tänzerin“.

Die genremäßig ausgeführte Sciencefiction bildet die dritte und letzte Kategorie von Erzählungen. Dazu gehören „Der Tausendäugige“, der van Vogt zitiert, „Ein gastfreier Planet“, der an Robert Sheckley erinnert und schließlich „Die Legende von Eden“, indem sich „Solaris“, DUNE und Philip K. Dick die Hand zu reichen scheinen. Diese Storys sind für den Kenner ganz passabel, aber oftmals mit einem Makel behaftet. Das liegt wahrscheinlich, dass nichts an die gewohnten Klassiker heranreichen darf. Eine Ausnahme bildet „Das Schiff“, das ich keinem Vorbild zuordnen konnte, das aber in seiner bibelhaften Pseudomystik schwer verdaulich ist.

Der Autor verfügt also, wie man sieht, nicht nur thematisch über eine große Bandbreite, sondern auch stilistisch. In puncto Stil kann er sich noch erheblich verbessern, und wenn die Produktionsbedingungen und der deutsche Markt für SF ein wenig günstiger wären – etwa so wie in Großbritannien – dann könnte Haubold mehr Mühe in seine SF-Geschichten stecken. Und er könnte aus seinen noch besser gelungenen phantastischen Erzählungen auch diejenigen Romane formen, die in ihnen stecken – sofern sie jemand hierzulande lesen (und drucken) möchte. Ich zumindest würde sie sehr gerne lesen.

Taschenbuch: 312 Seiten
ISBN-13: 978-3839134559
p.machinery

_Frank W. Haubold bei |Buchwurm.info|:_
[„Die Legende von Eden (und andere Visionen)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=1990
[„Rattenfänger (Magic Edition, Band 8)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2249
[„Das schwerste Gewicht (EDFC Jahresanthologie 2005)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2352
[„Die Jenseitsapotheke (EDFC Jahresanthologie 2006)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=3256
[„Das Mirakel (EDFC Jahresanthologie 2007)“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4577
[„Wolfszeichen“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4716
[„Die Schatten des Mars“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4726
[„Fenster der Seele“]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=4788

Wolfgang Jeschke / Ben Bova (Hrsgg.) – Titan-9. SF-Erzählungen

Classic SF: Zauber der X-Logik

Die Großen der Science-Fiction werden mit ihren Meisterwerken bereits in der so genannten „Science Fiction Hall of Fame“ verewigt, welche natürlich in Buchform veröffentlicht wurde (statt sie in Granit zu meißeln). Daher können Freunde dieses Genres noch heute die ersten und wichtigsten Errungenschaften in der Entwicklung eines Genres nachlesen und begutachten, das inzwischen die ganze Welt erobert und zahlreiche Medien durchdrungen hat.

In der vorliegenden Ausgabe des Auswahlbandes Nr. 9 von „Titan“, der deutschen Ausgabe der „SF Hall of Fame“, sind Storys von Henry Kuttner alias Lewis Padgett, Fredric Brown, Clifford Simak und Murray Leinster gesammelt.
Wolfgang Jeschke / Ben Bova (Hrsgg.) – Titan-9. SF-Erzählungen weiterlesen

Ursula K. Le Guin – Die linke Hand der Dunkelheit (Hainish-Zyklus 4)

Die Autorin als rechte Hand des Lichts

Die Bewohner des Planeten Gethen sind uns Menschen verblüffend ähnlich – mit einem Unterschied: Sie kennen keine zwei Geschlechter. In ihrer Kultur sind geschlechtsspezifische Machtkämpfe, wie wir sie kennen, nicht möglich. Doch es gibt andere Formen von Macht … Der bis heute bedeutendste und weit über die Science Fiction hinaus prägende Roman über Geschlechterrollen und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft. (Verlagsinfo)

Der Roman erhielt sowohl den HUGO- als auch den Nebula-Award der US-Leser und -Kritiker.

Die Autorin
Ursula K. Le Guin – Die linke Hand der Dunkelheit (Hainish-Zyklus 4) weiterlesen

Ken MacLeod – Das Sternenprogramm. SF-Roman

Politisch engagierte Science Fiction

„Nach dem Dritten Weltkrieg ist Europa ein zersplitterter Kontinent. Politische Gruppierungen von ultrarechten Nationalisten über religiöse Fundamentalisten bis hin zu Neokommunisten zerfleischen sich gegenseitig. Und während die Vereinten Nationen, gestützt auf die orbitalen Kampfstationen der USA, den Status quo aufrecht zu erhalten versuchen, verelendet Großbritannien immer mehr, grassieren Hunger und Seuchen, von denen viele aus tödlichen Biowaffen stammen. Die Lage scheint ausweglos…“ (Verlagsinfo)

Der Autor
Ken MacLeod – Das Sternenprogramm. SF-Roman weiterlesen

Philip K. Dick – Der unmögliche Planet. SF-Erzählungen

Best-of-Sammlung von Dicks Erzählungen

Philip K. Dick (1928-82) ist in Hollywood angesagt: Der letzte Höhepunkt der Verfilmungen seiner Werke besteht in Steven Spielbergs Actionkrimi „Minority Report“ und nun auch „Paycheck“. Aber die Verfilmungen begannen schon 1980 mit Ridley Scotts „Blade Runner“, und das ist nun ein wahrer Kultfilm geworden. Andere Filme wie „Matrix“, „eXistenZ“, „Vanilla Sky“ und „Die Truman Show“ verdanken Dicks Ideen ebenfalls sehr viel, ohne ihm allerdings dafür nachträglich zu danken.

Philip K. Dick – Der unmögliche Planet. SF-Erzählungen weiterlesen

Paul J. McAuley – Vierhundert Milliarden Sterne (Alien-Trilogie 1)

Alien-SF mit Sense of Wonder

„Vierhundert Milliarden Sterne“ ist der erste Band einer wichtigen Science Fiction-Trilogie, des sogenannten „Alien-Zyklus“. Noch 16 Jahre nach ihrer Veröffentlichung erweist sich die Trilogie als ein Startpunkt der aktuell blühenden „New Space Opera“, die in erster Linie von britischen Autoren geformt wird: Stephen Baxter, Alastair Reynolds, McAuley, Charles Stross, Ken MacLeod – dies sind die englischen Namen, die man sich merken muss. (Natürlich gibt es auch Vertreter auf der anderen Seite des Teiches.)

Nach der unten skizzierten Handlung zu urteilen, würde man nicht denken, dass dieser Band eine Vision der Entwicklung von Zivilisationen in unserer Galaxis enthält. Aber genau das ist der Fall. Und das macht diese Space Opera so wichtig. Das amerikanische Gegenstück wäre wohl Gregory Benfords CONTACT-Zyklus, der immerhin sechs Romane umfasst.

Der Autor
Paul J. McAuley – Vierhundert Milliarden Sterne (Alien-Trilogie 1) weiterlesen

M. John Harrison – Licht. SF-Roman

Für Hartnäckige: Space Opera der mühsamen Art

1999: Radioastronomen entdecken eine Zone in unserer Milchstraße, in der alle bekannten Regeln der Physik ihre Gültigkeit verlieren und in der sich die Realität geradezu aufzulösen scheint.

400 Jahre später: Man hat entdeckt, dass es in dieser Zone von Artefakten nicht-menschlicher Kulturen nur so wimmelt. Hier macht eine junge Raumfahrerin am Rande dieser Zone, dem „Strand“, eine Entdeckung, die weit in die Vergangenheit weist, ins Jahr 1999 …

Mit „Licht“ legt der englische Starautor M. John Harrison den ersten definitiven Science-Fiction-Roman des 21. Jahrhunderts vor: Eine atemberaubende Achterbahnfahrt durch Zeit und Raum, ein Buch, so voller Energie und Einfälle, dass man nur staunen kann. Wofür andere Autoren mehrbändige Zyklen benötigen und George Lucas sechs Filme – dafür genügt Harrison dieser eine Roman! (Verlagsinfo, modifiziert)

Der Autor
M. John Harrison – Licht. SF-Roman weiterlesen

Brian W. Aldiss – Helliconia: Frühling (Helliconia 1)

Auftakt zur besten Planeten-Trilogie der SF

Der erste Band der Trilogie, die als ein zusammenhängender Roman zu lesen ist, stellt das komplizierte Doppelsternsystem vor, das den Schauplatz des dramatischen Geschehens um Klimawandel und Kulturfolgen auf der Welt Helliconia darstellt. Eine Raumstation verfolgt das geschehen und berichtet der weit entfernten Erde davon: Dies ist ihr Bericht. In der Einleitung lernen wir einen der Helden kennen: Yuli, den abtrünnigen Priester, der zum Gründer der Stadt Oldorando wird. Doch verhilft neues Denken der menschlichen Rasse auch zu erfolgreichem Überleben?
Brian W. Aldiss – Helliconia: Frühling (Helliconia 1) weiterlesen

Philip K. Dick – Zeit aus den Fugen. Phantastischer Roman

Paranoia-Klassiker

Zeit aus den Fugen“ (ein Zitat aus „Hamlet“), 1959 erschienen, kommt als unscheinbare Prosaerzählung daher, genauso wie das Geschehen in einem unscheinbaren Ort spielt, der nicht einmal einen richtigen Namen hat: „Old Town“. Doch das Ganze ist eine gigantische Truman-Show, eine Matrix, die nur einen Zweck zu haben scheint: ihren wichtigsten Bewohner, Ragle Gumm, über die Natur der Wirklichkeit zu täuschen.

Der Autor
Philip K. Dick – Zeit aus den Fugen. Phantastischer Roman weiterlesen

Friedel Wahren (Hg.) – Isaac Asimov’s Science Fiction 52. Folge. SF-Stories

Das Gesetz des Wandels: Von Mafs, Kindern und Künstlern

Dieser 52. IASFM-Auswahlband bietet drei Geschichten über Kinder im weitesten Sinne sowie über Kunst und Imagination. Den neun angloamerikanischen Erzählungen hat die Herausgeberin eine von einer deutschen Autorin beigefügt. Das ist Tradition in der deutschen Ausgabe von Asimov’s Science Fiction Magazin.

Hier findet man:

– Die Story von zwei Astronautinnen auf dem Jupitermond Io, die eine bemerkenswerte Entdeckung machen.
– Die Story vom überfluteten Los Angeles, wo durch Mutation angepasste Kinder nach Liebe suchen.
– Die Story von der Welt, in der Zweigeschlechtlichkeit die Norm ist, was für Monosex-Musliminnen Probleme bedeutet.
– Die Story vom Blutrache übenden Mädchen in Nordirland, die das gesetz der Serie bricht.
– Die Story vom klug gemachten Schimpansen, der in freier Wildbahn keine Artgenossen mehr findet.
Und fünf weitere Geschichten.
Friedel Wahren (Hg.) – Isaac Asimov’s Science Fiction 52. Folge. SF-Stories weiterlesen

Fred Hoyle & John Elliot – A wie Andromeda – Geheimbotschaft aus dem All (Edition ’84 – Die positiven Utopien)

Invasion: das Mädchen von den Sternen

Geheimnisvolle Funksignale aus dem Andromedanebel werden als Bauanweisung für einen Supercomputer erkannt. Der Alien-Computer ermöglicht die Erzeugung von Leben aus der Retorte, zunächst einen Prototypen, dann das menschlich aussehende Mädchen Andromeda alias André. Doch André gehorcht zunächst nur dem Alien-Computer, und das macht sie dem Chefwissenschaftler Fleming verdächtig.

Unterdessen versuchen die Militärs und die Regierung Englands, sie und den Computer als Werkzeug ihrer Machtpolitik zu benutzen. Fleming erkennt die Gefahr, die von dem Supercomputer ausgeht, und André bestätigt, dass sie und der Computer die Menschen für minderwertige Intelligenzen halten. Als er gegen das Gespann vorgeht, gerät er in Lebensgefahr. Denn längst hat Andromeda alle Fäden in der Hand, um die Welt auf einen neuen Weg zu führen.

Die Autoren
Fred Hoyle & John Elliot – A wie Andromeda – Geheimbotschaft aus dem All (Edition ’84 – Die positiven Utopien) weiterlesen

Nagula & Armer (Hrsg.) – Zärtlich war die Zukunft. Liebesgeschichten aus der Welt von morgen

Die Körperlotterie und andere Geschichten um Liebe, Sex, Erotik und Gender

Die Liebe verändert die Welt. Aber die Welt verändert auch die Liebe. Was also wird Zärtlichkeit in der Welt von morgen sein: ein elektronischer Impuls in einem Computerprogramm? Ein antikes Laster? Eine technische Disziplin durchtrainierter Hochleistungserotiker? Acht Autoren [schreiben] über Zukunft in Sachen Liebe. (Verlagsinfo)
Nagula & Armer (Hrsg.) – Zärtlich war die Zukunft. Liebesgeschichten aus der Welt von morgen weiterlesen

Philip K. Dick – Paycheck – Die Abrechnung. Erzählungen

Mittelmäßige Story-Auswahl

Der vorliegende Band enthält einige der besten Storys von Philip K. Dick (1928-82), darunter die literarische Vorlage zu John Woos Actionkrimi „Paycheck – Die Abrechnung“ (mit Ben Affleck und Uma Thurman). Etliche andere Storys erschienen bereits in der Mammutstorysammlung „Der unmögliche Planet“. Einige sind dort aber nicht enthalten, so auch „Paycheck“. Ich bespreche diese „neuen“ Storys eingehender.

Philip K. Dick ist in Hollywood angesagt: Der letzte Höhepunkt der Verfilmungen seiner Werke besteht in „Paycheck – Die Abrechnung“. Aber die Verfilmungen begannen schon 1980 mit Ridley Scotts „Blade Runner“, und das ist nun ein wahrer Kultfilm geworden. Weiter ging’s mit „Total Recall“, „Screamers“, „Impostor“ und „Minority Report“. Andere Filme wie „Matrix“, „eXistenZ“, „Vanilla Sky“ und „Die Truman Show“ verdanken Dicks Ideen ebenfalls sehr viel, ohne ihm allerdings dafür nachträglich zu danken. Warum Dick ziemlich genau 50 Jahre nach Erscheinen der jeweiligen Storys aktuell wird, könnte etwas mit den Lizenzrechten zu tun haben. Das ist aber nur eine Vermutung.

Aber auch die Filme befassen sich zwangsläufig mit den Grundthemen in Dicks Werk: Was ist menschlich? Und was ist die Wirklichkeit? Früher oder später dürfte wohl jeder Leser ebenfalls auf diese zwei Fragen stoßen. Dick liefert dazu eine Menge Anregungen und unterhaltsame Ideen.

Der Autor

Philip Kindred Dick (1928-1982) war einer der wichtigsten und zugleich ärmsten Science-Fiction-Schriftsteller seiner Zeit. Obwohl er fast 30 Jahre lang veröffentlichte (1953-1981), wurde ihm zu Lebzeiten nur geringe Anerkennung zuteil. Oder von der falschen Seite: Das FBI ließ einmal seine Wohnung nach dem Manuskript von „Flow my tears, the policeman said“ (dt. als „Die andere Welt“ bei Heyne) durchsuchen. Okay, das war unter Nixon. Er war mehrmals verheiratet und wieder geschieden, philosophisch, literarisch und musikologisch gebildet, gab sich aber wegen des Schreibstresses durchaus dem Konsum von Medikamenten und Rauschdrogen wie LSD hin – wohl nicht nur auf Erkenntnissuche wie 1967.
Er erlebte noch, wie Ridley Scott seinen Roman „Do androids dream of electric sheep?“ zu „Blade Runner“ umsetzte und ist kurz in einer Szene in „Total Recall“ (1982) zu sehen (auf der Marsschienenbahn).

Vorwort – von Sascha Mamczak

Sascha Mamczak ist bei Heyne der verantwortliche Lektor für die Science-Fiction-Titel. In seinem Vorwort geht er auf die Frage ein, wie sich Science-Fiction und Film/Fernsehen zueinander verhalten, genauer: Wie gut könnten Verfilmungen von Science-Fiction-Stoffen sein, wenn sich Film & Fernsehen Mühe gäben? Es gibt ja so unterschiedliche Werke wie „Blade Runner“ und „Total Recall“ – der eine ein Kultfilm, der andere ein Starvehikel im Gewand eines Actionfilms. Aus seinen Antworten muss man allerdings selbst ableiten, was Mamczak von John Woos Film „Paycheck“ halten würde, wenn man ihn fragte.

Wichtiger noch sind seine Anmerkungen zur Bedeutung der Science-Fiction als literarisches bzw. multimediales Mittel, um sich mit der Gegenwart auseinanderzusetzen: Sie ist das einzige Genre, das die angemessenen Mittel bereitstellt. Wie sonst sollte man die Tatsache umsetzen, dass die USA & Co. einen permanenten Präventivkrieg gegen „den Terror“ führen? Wer schuldig und wer unschuldig ist – wer bestimmt das?

Die Folgen dieses neuen Kalten Krieges werden zunehmend bizarrer, je mehr deutlich erkennbar wird, wie skrupellos sich die USA und Großbritannien eine Entschuldigung für ihren Angriff auf den Irak zusammengedichtet haben. Dass die angegriffenen „Terroristen“ nun weltweit den Spieß umdrehen, wird noch zu einigem Kopfzerbrechen und leider auch zu vielen Opfern führen. Wir bekommen es bereits jetzt durch gestiegene Sicherheitsausgaben zu spüren.

Die Erzählungen

Paycheck – Die Abrechnung (1953)

Die Titelstory schildert uns die Abenteuer des Mechanikers Michael Jennings. Er ist gerade von einer zweijährigen Anstellung bei der Firma Rethrick Construction zurückgekehrt. Da man ihm aber sein Gedächtnis gelöscht hat (eine Operationsnarbe beweist das), erinnert er sich nicht daran, was er in dieser Zeit getan hat. Man kann sich seine Überraschung vorstellen, als er als Lohn für zwei Jahre Lebenszeit nicht die erwarteten 50.000 Verrechnungseinheiten, sondern lediglich eine Tüte mit sieben rätselhaften Gegenständen erhält. Doch es ist alles rechtens, wie Kelly, die Empfangsdame, beweist: Er hatte die Umwandlung des Geldes in „Naturalien“ selbst genehmigt.

In den zwei Jahren ist es zu einem Regierungsumsturz gekommen. Mittlerweile schnüffelt so etwas wie Gestapo hinter allem her – natürlich auch hinter Jennings. Man will wissen, was Rethrick baut und was Jennings dabei zu tun hatte. „Wo ist die Rethrick-Fabrik?“ Jennings hat keine Ahnung. Doch mit Hilfe der „geerbten“ Objekte kann er a) entkommen und b) sogar diese ominöse Fabrik ausfindig machen: Sie liegt in Iowa, ein grauer Betonklotz auf einem schwer bewachten, kahlgebrannten Hügel.

Da kommt Jennings ein verwegener Gedanke: Wenn er Rethrick mit dem erpressen könnte, was er in der Fabrik zu finden hofft, dann könnte er Teilhaber werden. Leider kommt es ganz anders, denn Kelly, der er sich anvertraut und auf die er baut, ist nicht die, für die sie sich ausgibt…

Nanny (1955)

„Nanny“ (Kindermädchen) ist eine beißende Satire auf das amerikanische Konsumverhalten. – In einer Welt der nahen Zukunft gibt es Robotkindermädchen (ähnlich wie „Asimo“), die zwar ihre Schützlinge behüten wie ihren künstlichen Augapfel, aber dafür gegeneinander kämpfen bis zum Letzten. Nach wenigen Jahren sind die Modelle so veraltet, dass sie die Schlachten untereinander verlieren und durch neue ersetzt werden müssen. Das wiederum hält die Wirtschaftsmaschine am Laufen, ist aber auch ein Spiegelbild des Rüstungswettlaufs zwischen beiden großen Machtblöcken während des Kalten Krieges . Geschildert durch die Augen zweier Kinder und zweier Elternpaare ist diese Erzählung zwar sehr geradlinig, aber auch sehr einfühlsam.

Jons Welt (1954)

Caleb Ryan lebt in einem verwüsteten Nachkriegsamerika, das sich so langsam wieder berappelt. Immerhin verfügt er als Ingenieur inzwischen über eine richtige Zeitmaschine. Damit will er in die Vergangenheit reisen, an jenen Zeitpunkt, da der Militärforscher Schonerman den Grundstein legte für jene Killerroboter à la „Terminator“, die zunächst von der UNO gegen die Sowjets eingesetzt wurden, die sich dann aber verselbständigten und Krieg gegen alle Menschen führten – und dabei fast Erfolg gehabt hätten.

Der einzige Umstand, der Ryans perfekt geordnetes Leben stört, ist das abnorme Verhalten seines Sohnes Jon. Jon hat, wie er erzählt, lebhafte „Visionen“ von einer alternativen Wirklichkeit, in der die Erde von gelben Weizenfeldern und grünen Parks bedeckt ist und weiß gewandete Menschen über das Universum diskutieren. Jons Vater lässt ihn umgehend am Gehirn operieren, um diese Hirngespinste abzustellen.

In der Vergangenheit gelingt es Ryan und seinem Begleiter Kastner, Schonermans wissenschaftliche Unterlagen zu stehlen und zu entkommen. Auf einem der Zwischenstopps zurück in die Zukunft erfährt Ryan, dass der Krieg vorüber ist. Von den Killerrobotern, den „Greifern“, haben die Soldaten nie etwas gehört, auch nicht von einem gewissen Schonerman.

Als die Zeitreisenden in ihrer eigenen Zeit ankommen, sehen sie Jons Visionen verwirklicht. Jon gibt es nicht mehr. Doch anhand der Schonerman-Papiere könnten sie in der Vergangenheit noch einmal die Wiederholung des Krieges herbeiführen…

Die Story erinnert stark an „Die Sieger“, in der Soldaten, die lange im Bunker ihre Welt errichtet hatten, plötzlich in eine grüne Welt an der Oberfläche dringen, wo Roboter herrschen. Die Pointe ist sowohl ironisch als auch tragisch, wenn man Jons Schicksal bedenkt.

Frühstück im Zwielicht (1954)

Eine bitterböse, fesselnde Story mit einer überdeutlichen Warnung vor einem Atomkrieg.- Die fünfköpfige amerikanische Musterfamilie der McLeans frühstückt wie jeden Werktagmorgen, doch als Sohn Tommy zur Schule gehen will, ist da keine Schule mehr. Auch keine Straße, keine Häuser, nicht einmal eine Stadt. Da ist nur ein diffuser Nebel und wehende Asche vor der Haustür…

Die Soldaten, die mit Gasmasken in das Haus der McLeans eindringen, sind völlig von den Socken: ein gesunder Mann, der nicht beim Militär ist, eine Frau, die „nicht verschnürt“ ist, und Kinder, die nicht in Kanada im Lager indoktriniert werden. Und kiloweise Lebensmittel! Nachdem das gegenseitige Entsetzen und Erstaunen etwas abgeklungen ist, erklärt der herbeigerufene Politische Kommissar die Lage: 1977 – also in der Zukunft der McLeans – begannen die Sowjets, die USA mit robotergesteuerten Raketen zu beschießen. Er herrscht permanenter Weltkrieg zwischen den Machtblöcken. Die Raketen haben Amerika in eine radioaktive Wüste aus Schutt und Asche verwandelt.

Die einzige Möglichkeit, wie die McLeans in dieses Horrorszenario gekommen sein können, ist eine Zeitanomalie. Nachdem sie sich dafür entschieden haben, hier nicht leben zu wollen – man hätte sie alle getrennt -, verschlägt sie ein schwerer Raketenangriff wieder in ihre angestammte Gegenwart. Erschüttert, doch unfähig, die Wahrheit über die erlebte Zukunft zu erzählen, beginnt Tim McLean zu berichten: „Es muss an dem Heißwasserboiler gelegen haben“…

Kleine Stadt (1954)

Verne Haskel ist ein frustrierter Arbeiter in Woodland, Kalifornien. Er arbeitet in der Fabrik für Pumpen und Ventile. Seine Frau Madge ist ebenfalls frustriert und hat deshalb einen Liebhaber, Dr. Paul Tyler, aber das merkt Verne nicht. Denn Verne beschäftigt sich seit seiner Kindheit privat nur mit seiner riesigen Modelleisenbahn, die er im Keller aufgebaut hat. Madge findet sie monströs und Vernes Verhalten infantil. Dr. Tyler hingegen schwant Übles, sieht aber in Vernes Obsession zunächst eine Möglichkeit, ihn unmündig erklären zu lassen und sodann Madge zu bekommen.

Dummerweise verfällt Verne eines Nachts auf den verwegenen Gedanken, die Modelleisenbahn und das Abbild von Woodland, das sie reflektiert, abzuändern. Alles wird ersetzt und umgemodelt. Dann passiert etwas, das typisch ist für Dick: Die Vorstellung wird zur Wirklichkeit. Motto: Du kannst die Welt verändern, wenn du es willst. Und also geschah es, und Verne sah, dass es gut war.

Das Vater-Ding (1954)

Der achtjährige Charles Walton ist entsetzt: Er hat seinen Vater doppelt gesehen. Doch das Wesen, das sich nun an den Tisch zum Abendessen setzt, kann nicht sein richtiger Vater sein. Es sieht nicht echt aus. Und es droht ihm mit Prügel, sollte er nicht zur Vernunft kommen. Doch Charlie weiß sich zu helfen. Er geht zu Tony Peretti, dem 14-jährigen Schulrabauken, der bereits ein Luftgewehr besitzt. Peretti glaubt Charlie erst, als er die abgestreifte Haut von Charlies echtem Vater in einer Tonne in der Garage gezeigt bekommt. Peretti fällt an dem lebenden Vater-Ding auf, dass es irgendwie ferngesteuert wirkt. Doch wodurch und woher? Der beste Sucher ist Bobby Daniels, und tatsächlich: Unter einem Betondeckel im Garten findet sich ein riesiger Käfer. Leider nützt das Luftgewehr nichts gegen das Viech, und das Vater-Ding greift das Trio an. Charlie flieht in ein Bambusgebüsch und erstarrt: Dort wächst bleich wie ein Pilz – ein Mutter-Ding. Und einen Meter ist ein Charlie-Ding schon fast herangereift. Und dahinter warten noch andere Dinger. Da packt ihn das Vater-Ding…

Der gute (gütige) Vater verschwindet und wird durch den schlechten (strafenden) Vater ersetzt: eine der verbreiteten Kindheitsängste. Offenbar auch die von Philip K. Dick. Obwohl die Story von 1954 sehr gut in das paranoide politische Klima der McCarthy-Ära passen würde, die in jedem linken Amerikaner ein kommunistisches Monster vermutete.- Die Story ist sehr lebendig, spannend und einfühlsam erzählt. Sie erinnert am Schluss stark an Jack Finneys Roman „Invasion of the body-snatchers“, der nur ein Jahr später veröffentlicht wurde. Dieser sah bislang zwei Verfilmungen, 1956 von Don Siegel und 1978 durch Philip Kaufman.

Zwischen den Stühlen (The Chromium Fence, 1955)

In den USA haben zwei politische Parteien das Sagen: Die Naturalisten bestehen auf dem Recht des Menschen, Schweiß abzusondern und keine gepflegten Zähne zu haben. Die Puristen sind das Gegenteil: Die Schweißdrüsen sind zu entfernen und die Zähne penibel zu reinigen etc.

Don Walsh jedoch, ein braver Arbeiter mit Familie, weigert sich, einer dieser Parteien am Tag der Wahl sein Votum zu geben. Streit gibt es schon genug in seiner Familie: In der winzigen Wohnung kabbelt sich sein Schwager als Naturalist mit Dons Sohn Jimmy, einem Fähnrich der Puristenliga.

Am Tag, als die von der Industrie gestützten Puristen siegen, wird auch das sogenannte Horney-Gesetz verabschiedet, das Nazi-mäßige Verhältnisse einführt: Es gibt eine Konformitätskontrolle, und Don soll zur Umerziehung ins Lager. Als er allerdings erkennt, dass der Psychiater-Robot ihn falsch im Sinne der Regierung beraten hat, trifft er eine fatale Entscheidung. Dons Ende kommt unvermittelt und wirkt schockierend.

Autofab (1955)

Nach fünf Jahren Atomkrieg kriechen die Menschen (d.h. die Amerikaner) wieder aus ihren Löchern und bauen sich ärmliche Siedlungen. Aber sie haben es im Vergleich zu anderen Völkern noch gut: Automatische Fabriken, die sie zuvor unterirdisch angelegt hatten, versorgen sie mit allem, was sie brauchen: Medikamente, Lebensmittel, Kleidung, you name it.

Doch „der Mensch ist Mensch, weil er begehrt“ – und das gilt besonders für die Freiheit. Eines Tages beschließen die Oberen von dem, was einst Kansas City war, sich einen Autofab-Experten zu holen, um endlich selbst die Leitung der Automatischen Fabriken – kurz „Autofab“ – zu übernehmen. Denn die Autofab lässt sich nicht abschalten. O’Neill hat ein paar geniale Ideen, und nachdem die anderen ihre Wut an unschuldigen Androiden abreagiert haben, kommt er auch zum Zuge: Er legt einen Köder aus dem seltenen Metalls Wolfram aus, um den sich garantiert zwei Autofabs streiten müssen. Tatsächlich scheint sich die Autofab von Pittsburgh über den Haufen raren Rohstoffs zu freuen, da fallen die Jäger und Roboter aus Detroit über ihre Maschinen her. Pittsburgh sucht sich Verbündete, Detroit natürlich ebenfalls – schon bald ist der schönste Krieg im Gange.

Leider haben die Menschen jetzt zwar Freiheit, aber nichts mehr von den Autofab-Annehmlichkeiten. Mehrere Monate später geht O’Neill der halb zerstörten Autofab von Kansas auf den Grund und hört ein Rumoren, Surren und Grummeln. Tut sich da was? Und was, um Himmels willen, wird da unten produziert?

Man hat diese Story als Vision einer außer Kontrolle geratenen Ökologie gedeutet, als eine „grüne“ Warnung. Das scheint mir zu weit hergeholt. Denn die Autofab ist die Verkörperung einer Technologie, die sich aufgrund der Survival-Ideologie des Militärs, inzwischen der Kontrolle des Menschen entzieht. Die Autofab-Kultur kann denn auch nur mit einer militärischen List außer Gefecht gesetzt werden, jedoch nicht mit einem Frontalangriff. Richtig fies wird die Story dann am Schluss, als aus der Wiederauferstehung der Fabrik ihre Ausbreitung auf den Rest des Universums folgt.

Zur Zeit der Perky Pat (1963)

Ähnlich wie in „Autofab“ leben auch hier die Überlebenden eines Atomkrieges in unterirdischen Anlagen, die sie „Launengruben“ nennen“, und bekommen alles Lebensnotwendige von Flugzeugen, die Care-Pakete abwerfen. Aus den mechanischen Teilen bauen die Erwachsenen aber nicht etwa besonders nützliche Dinge, sondern eine Art Puppenhaus, über das jede Familie verfügt. Das Spiel heißt „Perky Pat“ und funktioniert genau wie Monopoly, nur dass die Hauptfigur eine Barbiepuppe namens Perky Pat ist: 17, blond und unschuldig. So geben die Überlebenden ihrem Bedürfnis nach, in der Scheinwelt der Vergangenheit zu leben, einer Welt des Konsums. Währenddessen lernt die junge Generation, mutierte Tiere, sogenannte Hutzen (Hunde + Katzen) zu jagen und zu essen.

Eines Tages kommt es zu einem Wettstreit zwischen Perky-Pat-Spielern und Spielern von „Companion Connie“ aus Oakland. Die Bedrohung ihrer jeweiligen Scheinwelten ist enorm: Companion Connie ist – oh Schock! – nicht nur verheiratet und intim mit ihrem Mann, sondern erwartet auch noch ein Baby! Als die Gewinner in ihre Perky-Pat-Kolonie zurückkehren, werden sie dort mit Steinwürfen bedroht und ausgestoßen: Companion Connie ist ihnen ein Gräuel.

Zwei Jahre später (1965) weitete Dick dieses Thema zu seinem Roman „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“ aus: Die Scheinwelt von Überlebenden auf dem Mars wird durch Halluzinogene noch zementiert und plausibler.

Allzeit-bereit (1963)

In einem Amerika der nahen Zukunft haben es die Beamtengewerkschaften geschafft, dass sie einen Stellvertreter des Präsidenten stellen können. Dieser steht auf Abruf bereit, falls das präsidiale Supergehirn Unicephalon (= Ein-Kopf) 40-D ausfallen sollte. Bei einer Alien-Invasion tritt dieser Ernstfall ein: die KI fällt für Wochen aus. Nun muss Max Fischer ran, ein behäbiger Bürokrat, der plötzlich die Rolle des Obersten Befehlshabers der Streitkräfte ausfüllen soll.

Kein Wunder, dass er Opposition hervorruft, allerdings aus einem unwahrscheinlichen Lager: von den Medien. Die Nachrichtensprecher dieser Zeit sind Clowns und sehen auch so aus: mit roter Perücke und Knollennase. Jim-Jam Briskin bestreitet, dass Max Fischer legitimer Präsident der USA ist und stellt sich selbst Gegenkandidaten auf. Es sieht nicht gut aus für Fischers gerade erst begonnene Laufbahn als Präsi und er will schon auf den Knopf zur Vernichtung von Briskin drücken, da meldet sich die KI Unicephalon zurück und bringt alle zur Räson. Na, dann vielleicht beim nächsten Mal, Max?

Ein kleines Trostpflaster für uns Temponauten (1974)

„Ich will sterben“, fleht Addison Doug, doch dieser Wunsch bleibt ihm verwehrt. Genauso wie seine Mit-Temponauten Benz und Crayne ist er in einer Zeitschleife gefangen: Er ist dazu verdammt, immer wieder seinen eigenen Tod, seine Rückkehr und die nationale Trauerfeier wiederzuerleben. Seine Merry Lou ist ihm nur eine kleine psychologische Stütze bei seiner Bürde, aber immerhin: Benz und Crayne haben überhaupt niemanden, der ihnen hilft.

Nach und nach erfahren wir aus Gesprächen, wie es zu der misslichen Lage kam. Die Russen hatten schon ein Team 50 Jahre voraus in die Zukunft geschickt. Die Amerikaner mussten natürlich nachziehen, mit einem doppelt so weiten „Flug“. Leider ging beim „Wiedereintritt“ in die Gegenwart etwas schief, und damit begann die Zeitschleife. Als einzigen Ausweg sieht Doug die Selbstvernichtung beim „nächsten“ Flug: Er nimmt 50 Pfund Zusatzgewicht mit, so dass es beim Rückeintritt zu einer Implosion kommen müsste, bei der die Temponauten sterben sollten….

Das ist eine psychologisch tiefgründige, aber logisch gesehen anstrengende Story. Kein Wunder angesichts der zu bewältigenden Zeitparadoxa. Am wichtigsten ist aber die Psychologie, und auch bei dieser hapert es, besonders bei Merry Lou: Wenn sie Doug liebt, warum hilft sie ihm dann zu sterben? Sie sagt nie, dass sie ihn von seiner Bürde – nämlich die Hölle des ewigen Lebens – befreien will. Auch wird erst beim wiederholten Lesen klar, warum Doug seinen zwei Kollegen etwas vormacht: Sein letztes Gespräch mit dem Militärkommando der Mission verläuft ganz anders als er es ihnen erzählt. Fazit: In dieser Story, die zuerst in „Final Stage“ (GB) erschien, steckt mehr, als auf den ersten Blick zu sehen ist. Daher hat sie andere Autoren stark beeinflusst.

Die Präpersonen (1974)

Diese provokante Erzählung schildert die Welt des kleinen Jungen Walter Best, in der die Abtreibung bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes legalisiert ist. Walter lebt daher in ständiger Furcht vor den „Männern im weißen Lieferwagen“: Von ihren Eltern für unerwünscht erklärte Kinder können noch lange nach ihrer Geburt durch Euthanasie getötet werden. Die Parallelen zu den Maßgaben für eine Abtreibung sind unübersehbar – der Autor hat lediglich die Frist vom 5. Monat auf das 12. Jahr verschoben, genau wie das die US-Regierung in seiner Story-Welt tut.

Kein Wunder, dass diese Geschichte in den USA die vehemente Kritik feministischer Autorinnen hervorrief, und sogar Professor Joanna Russ, selbst progressive Science-Fiction-Autorin („Planet der Frauen“), wurde ausfallend gegenüber dem Autor! Man sollte aber berücksichtigen, dass Dick seine Ansicht zur Abtreibung hier nicht unreflektiert und pauschal formuliert hat, sondern mit Vorbedacht. Und dass es nicht unbedingt seine eigene Meinung sein muss – ähnlich wie bei „Glaube unserer Väter“. Es trifft aber zu, dass er hier Walter Bests Vater Ian, einen Abtreibungsgegner, einige sehr unschöne Dinge über Frauen sagen lässt, die sich keine Kinder wünschen. Auch ansonsten hält Dick hier starken Tobak bereit.

Mein Eindruck

Meine Eindrücke habe ich zu fast jeder Story geschrieben. Unter den „neuen“ Storys ragen sicherlich „Paycheck“ (1953) und „Frühstück im Zwielicht“ (1954) heraus. In „Paycheck“ entwickeln unscheinbare Gegenstände wie etwa ein Busfahrschein oder ein Poker-Chip lebenswichtige Bedeutung. In den Augen des Zeitreisenden ändert sich ihre Bedeutung für sein Leben grundlegend, weil sie sich genau dann als passend erweisen, wenn ihr Nutzen am größten ist. Hier erhebt sich die Frage, ob nicht Ursache und Wirkung vertauscht werden. Der Witz ist aber, dass bei Zeitreisen mit höchster Wahrscheinlichkeit Ursache und Wirkung vertauscht werden. Davon abgesehen, erweist sich „Paycheck“ als durchaus robuste Basis für einen Thriller. John Woo hat dann nur noch die Action hinzufügen müssen – mit den erkennbar traurigen Ergebnissen.

„Frühstück im Zwielicht“ ist eine laute und eindeutige Warnung vor dem kommenden Weltkrieg. Die Anfangsszene ist ein echter Schocker: man sitzt friedlich und nichts ahnend beim Frühstück, als ein paar Soldaten brüllend die Tür eintreten und fragen, was der Unsinn soll, schließlich herrsche Krieg! Hier erlaubt sich Dick natürlich auch einen Spaß mit Zeit, Raum und Chaos. Am besten ist aber der ironische Schluss: Die Betroffenen betrachten es als ihre Pflicht, ihren nichts ahnenden Nachbarn nichts von dem Horror, der möglicherweise auf sie zukommt, zu verraten, sondern behelfen sich lieber mit dem defekten Heißwasserboiler, der all die Verwüstung an ihrem Haus angerichtet haben muss. Mögen die Nachbarn noch lange friedlich schlafen.

Dagegen fallen die Storys „Allzeit-bereit“, „Zwischen den Stühlen“, „Jons Welt“ und „Kleine Stadt“ ein ganz klein wenig ab. Da sie aber in gleicher Weise auf eine Pointe hin geschrieben sind, verfehlen sie ihre Wirkung auf den Leser nicht. Sie sind ironisch, zuweilen tragisch oder komisch. Die Botschaft ist häufig eine Warnung oder zumindest das Anprangern eines realen oder möglichen Missstandes, selbst wenn dies die (austauschbare?) Position des US-Präsidenten betrifft.

Unterm Strich

„Paycheck“ ist bietet eine ähnlich gute Auswahl an Storys wie „Minority Report“ – ebenfalls ein Film-Tie-in, wie die Amerikaner sagen. Die Überschneidungen sind geringer, als man zunächst befürchten würde – so fehlt etwa die harte Story „Glaube unserer Väter“. Diese Storys hier sind wahlweise provokativ („Präpersonen“), kritisch („Nanny“, Vater-Ding“, „Zwischen den Stühlen“), ironisch („Paycheck“), tragisch („Jons Welt“, „Temponauten“) und komisch („Kleine Stadt“, „Perky Pat“), aber stets mit einer Pointe versehen, die den Leser mit einer klaren Aussage des Autors zurücklässt.

Diese Auswahl – mit sechs Filmfotos illustriert – bietet dem deutschen Leser, der vielleicht nicht mehr auf die Haffmans-Story-Gesamtausgabe zurückgreifen kann, eine Menge weiterer Storys, die in den letzten Jahren nicht mehr zugänglich waren – auch nicht in „Der unmögliche Planet“ mit seinen 832 Seiten.

Die einzige Geschichte, die in Philip K. Dicks persönlicher Auswahl seiner besten Storys („Best of PKD“, 1977, vgl. die Moewig-Ausgabe) noch nicht in diesen späten Auswahlbänden vorliegt, ist „If there were no Benny Cemoli“ aus dem Jahr 1963. Die genannte PKD-Ausgabe von 1977 enthält übrigens ein gutes Vorwort von Dicks englischem Kollegen John Brunner sowie ein Nachwort und Anmerkungen vom Meister selbst.

Michael Matzer ©2004ff

[Nachtrag des Lektors: Die Seitenangabe bei amazon weicht ab, es sind 381 Seiten.]