Archiv der Kategorie: Rezensionen

Ligotti, Thomas – Alptraum-Netzwerk, Das (Edgar Allan Poes Phantastische Bibliothek Band 2)

_Der Fänger im Schlafmohnfeld._

Edgar Allen Poe ist eine wichtige Persönlichkeit der phantastischen Literatur, so weit nichts Neues. Seine teils delirierenden Streifzüge durch bizarre Alpdruckwelten sind noch heute Inspiration für Autoren. Um dem Rechnung zu tragen, hat der |BLITZ|-Verlag „Edgar Allen Poes Phantastische Bibliothek“ ins Leben gerufen, eine literarische Verbeugung vor dem opiumschmauchenden Wort-Virtuosen. Aber es irrt sich, wer glaubt, dass der |BLITZ|-Verlag eine Horde von Nachwuchstalenten verpflichtet hat, um in Poe’schen Werken zu wildern. Natürlich hat Herausgeber Markus K. Korb den deutschen Phantastik-Underground nicht außen vor gelassen, (er selbst hat ja den ersten Band zu der Reihe beigesteuert), aber gleichzeitig hat er einige Schätze von Autoren geborgen, die dem deutschsprachigen Leser bisher nicht zugänglich waren.

_Veteran gegen Nachwuchs: K.O. in der 2. Runde._

Markus K. Korb hat in „Grausame Städte“ (Band 1 der Phantastischen Bibliothek) gute Arbeit geleistet, aber mit Thomas Ligotti steigt ein Meister in den Ring, der seinen Vorgänger gnadenlos von der Matte putzt. Der 1953 geborene Amerikaner durchlebte eine Phase wachsender Depressionen, die im August 1970 in Agoraphobie gipfelte, der Angst, sich jenseits bekannter Orte zu bewegen. Seine Geschichten sind das Ventil für seine Ängste, das Sprachrohr seiner rabenschwarzen Weltsicht, die in ihrem Nihilismus einem H.P. Lovecraft durchaus ebenbürtig ist. Dabei ist Ligotti aber „realistischer“ (so weit man das bei ihm sagen kann), er streift dem Bösen nicht die Maskerade kosmischer Ungetüme über, sondern sucht es mitten unter uns, beleuchtet den Alltag dabei mit derartig bitterem Humor, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt.

_Meine Arbeit ist noch nicht erledigt._

Unscheinbarer könnte ein Storytitel kaum sein. Dementsprechend überrascht war ich über die schiere Sprachgewalt, mit der Ligotti den Arbeitsalltag von Frank Dominio darstellt. Ausgeblutet ist dieser, angeekelt vom Karriere-Streben seiner Kollegen, vom Mobbing und vom Schleimen in der Chefetage. Mit bitterstem Zynismus betrachtet er die Beziehungen seiner Kollegen unter sich, muss hilflos mitansehen, wie sie ihm, dem Außenseiter, das berufliche Grab schaufeln, weil er es wagt, sich nicht dem braven Blöken unterwürfiger Angestellter anzuschließen. Dementsprechend vor die Tür gesetzt, sieht er seinen Ausweg nur noch in einem Amoklauf, doch dann kommt plötzlich alles ganz anders …

Hört sich nach Standard an? Nur bis man es gelesen hat! Ligotti möchte in seinen Storys nicht das „echte Leben“ imitieren, von Anfang an ist klar, dass man es hier mit einem Gleichnis zu tun hat, mit einem rabenschwarz gezeichneten Abgesang auf die Welt. Das fängt schon mit Dominios sieben Gegenspielern an, den Sieben Zwergen, (oder sieben Schweine, wie er sie nennt): Barry, Harry, Perry, Mary, Kerrie, Sherry, angeführt von Richard, dem Doc. Man erlebt die komplette Geschichte aus Dominios Perspektive heraus, und es dauert nicht lange, bis man von seinem Ekel angesteckt wurde. Beispiel gefällig? Bitteschön:

|Allgemein gesagt: Erwarte nichts als alptraumhafte Obszönitäten, die geboren werden, wenn menschliche Köpfe miteinander Verkehr haben. Noch allgemeiner gesagt: Was immer geboren wird, wächst letzten Endes zu einer alptraumhaften Obszönität heran – im „großen Ganzen“. Für mich selbst gesagt: Es gibt keine Engel, es sei denn Engel des Todes … und ich würde nie wieder meinen Platz unter ihren Reihen anzweifeln, oder es an Entschlossenheit mangeln lassen, in ihren wilden Reihen zu dienen.|

_Ich habe einen speziellen Plan für diese Welt._

Wiederum eine Horror-Story, die sich innerhalb einer seelenlosen Firma abspielt. In einer unbenannten Stadt mit dem wenig verheißungsvollen Spitznamen „Murder City“ hat diese Firma ihren Sitz, und wie jede Firma will sie wachsen, sich durch Umstrukturierungsmaßnahmen optimieren, um aus „Murder City“ schließlich wieder eine „Golden City“ zu machen. Stattdessen verdrängen bizarre Zombie-Mitarbeiter die Belegschaft, und ein ätzender, gelber Nebel breitet sozialen Verfall über die Stadt …

Stilistisch ähnlich zum Vorgänger, von dünnerer Handlung, aber von massiver sprachlicher Dichte, die unter die Haut geht. Mehr über die Story zu verraten, hieße den Leser vorab eines bitteren Erlebnisses zu berauben.

_Das Alptraum-Netzwerk._

Nur zehn Seiten lang, aber mit Abstand das verstörendste Werk aus diesem Sammelband: Es ist keine Erzählung im eigentlichen Sinn, sondern ein Flickwerk aus „Kleinanzeigen“, Videosequenzen, Träumen, Gedankenblitzen und vielem mehr, die alle die Entwicklung eines Mega-Konzerns beschreiben, beginnend im Jetzt und in einer weit entfernten, ultra-bizarren Zukunft endend. Nirgends ist Ligottis Zynismus so ätzend, sein Menschenekel so ausgeprägt wie im Alptraum-Netzwerk. Seine Sprache ist kalt, abstrakt, teilnahmslos und zeichnet den Wolf im Menschen mit skalpellartiger Schärfe:

|Aus dem Notizbuch eines Leiters:
Und wäre ich dazu entschlossen, mich nur vom Fleisch meines eigenen Personals zu ernähren, ohne Zugang zu den Leuten der anderen überlebenden Aufseher oder sonstigem Personal zu haben, so bestünde die größte Herausforderung darin, jeden von ihnen im essbaren Zustand zu halten und zugleich meinen Verbrauch zu regulieren.|

_Erzähltechnische Kreativität vs. Lesefluss._

Nun zeichnet sich bei den Zitaten eines ab: Ligotti erzählt kraftvoll und gewählt, aber er hält sich nicht an die Konventionen der Mainstream-Literatur. Seine Sätze sind mitunter lang und kompliziert, seine Vergleiche sind eher abstrakt als bildreich und gerne verzichtet er auf die klare Auflösung der Fragen, die sich während der Erzählungen ergeben mögen. Dabei merkt man ihm aber an, dass er das mit voller Absicht tut, Verstörung ist sein elementarstes Stilmittel, und nichts liegt ihm ferner als eine Anbiederung an den Entspannungs-Leser.

Dementsprechend ist „Das Alptraum Netzwerk“ ein Sammelband, der polarisieren dürfte: Wer sich unter gutem Horror eine Ansammlung rotgetränkter Phantastereien erwartet, liegt hier vollkommen falsch. Zynische Kreaturen allerdings finden hier eine heilsam boshafte Abrechnung mit den alltäglichen Perversionen der „Normalgesellschaft“. Und wenn ich schon so oft zitiert habe in dieser Rezension, kommt es auf ein drittes Mal auch nicht an. So soll der geneigte Leser selbst entscheiden, ob ihm das gewisse Quäntchen Misanthropie zueigen ist, um Werke genießen zu können, über deren Motive der Autor Folgendes schreibt:

|Haß auf das System im weitestmöglichen Sinn. In diesem Fall diente das System der Firmenumgebung als Mikrokosmos für das größere System des Lebens, das sich schließlich eindeutig als das ultimate Objekt des Abscheus herausstellt.|

Da lacht einem doch das schwarze Herz in der modrigen Brust! Eine Schande nur, dass es gerade mal ein Bruchteil von Ligottis Werk in den deutschen Sprachraum geschafft hat. Eine Schande vor allem, wenn man bedenkt, dass der nihilistische Kurzgeschichten-Autor schon seit zwanzig Jahren seine giftige Feder schwingt …

http://www.BLITZ-Verlag.de

Parzzival, S.H.A. – Germania (Titan-Sternenabenteuer 23)

Band 22: [„Todesanzeigen“ 2063

„Germania“ ist der zweite Band des neu begonnenen Social-Fiction-Abschnitts innerhalb der „Titan“-Reihe und erzählt die Geschichte um die seltsame Liebe zwischen Shalyn Shan und der rätselhaften Monja weiter fort – dieses Mal allerdings in sehr knapper Form. Auf gerade mal 157 Seiten bringt es dieses Buch, und die Ersparnisse beim Umfang der Story machen sich dann leider auch sehr negativ bemerkbar. Doch nicht nur das; auch das neu betretene Feld namens Social-Fiction will einfach nicht greifen. Statt Innovation bildet sich in „Germania“ zum ersten Mal im Laufe der Serie echte Langeweile heraus, so dass man nur hoffen kann, dass die Reihe schon bald wieder zu den ursprünglichen Weltraumabenteuern zurückkehrt.

_Story_

Für Michael Moses, den mächtigsten Menschen der Erde, soll die feierliche Einweihung seiner neuen Metropole Germania zum bedeutendsten Ereignis in seinem ganzen Leben werden. Die Stadt, die nach den Plänen des Dritten Reiches entworfen wurde, soll die Machtstellung des kompromisslosen Wirtschaftsgiganten noch weiter stärken und zudem weitere Arbeitsplätze sichern. Doch noch bevor die Festivitäten richtig in Gange kommen, wird Germania von einem furchtbaren Orkan heimgesucht. Eine Gruppe von Klimaterroristen hat einen hinterhältigen Anschlag auf die neue Zentrale von Moses’ World-Market-Imperium ausgeübt und damit das gesamte Gleichgewicht der Erde ins Wanken gebracht. Denn nicht nur in der Wüste Arizonas, wo Germania entstanden ist, sondern auch an anderen Schauplätzen wird die Naturkatastrophe zu einer echten Bedrohung, bei der auch mehrere Menschen ihr Leben lassen.

Moses und der befreundete CRC-Chef Amos Carter starten Verhandlungen mit den Terroristen und stellen dabei fest, dass diese die Kontrolle über den erpresserischen Eingriff in das Weltklima vollständig verloren haben. Trotzdem lässt der Germania-Gründer die Basis der Terroristen stürmen und ihre ‚Bewohner‘ vor laufender Kamera vernichten. Doch dies ist nicht die einzige Katastrophe, mit der die Menschen in Germania und Umgebung zu kämpfen haben; auch eine Gruppe von mutierten Rattenfröschen macht die Erde unsicher.

Und während all dies geschieht, ist Monja weiterhin auf der Suche nach ihrer Vergangenheit. Ihre neue Lebensgefährtin Shalyn Shan begleitet sie bei der Erkundung des jüngsten folgenreichen Blackouts und stößt dabei auf noch mehr Rätsel. Noch immer steht die Frage im Raum, wer diese Monja wirklich ist, und was sich hinter ihrer Vergangenheit verbirgt. Obwohl Shalyn der hübschen Monja total verfallen ist, weiß sie nicht, was sie von der Sache halten soll. Und noch bevor sie zu ersten Lösungen kommen kann, gerät sie selber in Gefahr …

_Meine Meinung_

Ich habe im Laufe dieses Buches mehrmals darüber nachgedacht, die Geschichte aus der Hand zu legen und dieser Serie bis auf Weiteres meine Freundschaft zu kündigen. Bereits das vorangegangene Buch war nicht gerade berauschend, wobei dort noch eine in sich schlüssige und auch weitestgehend spannende Story aufzufinden war. In „Germania“ sind all diese positiven Eindrücke ausnahmslos verschwunden. Die Geschichte ist nicht nur dröge und langweilig, sie ist auch von vorne bis hinten leicht durchschaubar. Überraschungen hält Autor(in) S.H.A. Parzzival indes keine mehr bereit. Aber wie soll das bei einer übertrieben schnellen Erzählgeschwindigkeit auch funktionieren? Wie soll man beispielsweise die Bedrohung durch den gravierenden Klimawandel auf sich wirken lassen, wenn sie mit einem Schlag wieder ausgeräumt zu sein scheint – und das, bevor sich die tatsächlichen Auswirkungen offenbart haben …? Der Autor schließt den mit Abstand wichtigsten Handlungsabschnitt schon ab, ehe er sich überhaupt hat entwickeln können, und das macht die Sache immer unglaubwürdiger. Man hätte eine ganze Reihe mit dem Attentat auf Germania und dessen Folgen füllen können; Parzzival reichen dazu ungefähr 80 Seiten, dann sind jegliche Ansätze versaut und das letzte bisschen übrig gebliebene Atmosphäre gänzlich zerschmolzen. Wenn es das ist, was die Macher von „Titan“ unter einem Social-Fiction-Thriller verstehen, wird es Zeit, das Genre frühzeitig zu begraben!

Kaum besser fällt die Kritik bezüglich der beiden Hauptcharaktere Shalyn Shan und Munja aus. Schön, dass sich die beiden Turteltäubchen an jeder Stelle herzen müssen – aber ist es wirklich glaubhaft, dass man sich während der größten Klimakatastrophe, die die Welt je gesehen hat, lächelnd küsst? Na ja, ich weiß nicht. Aber es kommt noch schlimmer: Germania ist noch nicht von der Bedrohung entlastet, da springen die beiden in Shalyns Privat-Pool und machen sich da planschend ein paar schöne Stunden. Tut mir Leid, aber spätestens in dieser Szene hat das Buch völlig verloren und bringt die Serie infolgedessen leider auch in Verruf. Beschämend, was S.H.A. Parzzival aus dem tollen Charakter Shalyn Shan gemacht hat. Eingeschworene Anhänger werden die Augen verdrehen, wenn sie das lesen. Aber gut, meine Aufgabe ist es nicht, enttäuscht zu schimpfen. Wohl aber möchte ich klarstellen, dass die Serie auf dieser billigen Ebene keine Zukunft hat. „Germania“ ist das Negativ-Beispiel dafür, wie man einen mühsam erarbeiteten Ruf in kürzester Zeit wieder ruinieren kann. Meine Bitte an das Autorenteam: Schickt die „Titan“ wieder zurück in den Weltraum und lasst sie fremde Welten erkunden. Pseudo-innovative Inhalte wie die hier gebotenen will absolut niemand lesen!

Grangé, Jean-Christophe – schwarze Blut, Das

Der französische Krimiautor Jean-Christophe Grangé zählt auch international zu den Erfolgsautoren; insbesondere sein Roman [„Die purpurnen Flüsse“ 936 verkaufte sich nicht nur in den Buchläden hervorragend, auch die Verfilmung wurde zu einem Verkaufshit an den Kinokassen. Nun hat Jean-Christophe Grangé seinen neuen Thriller „Das schwarze Blut“ vorgelegt, der ebenfalls eine hervorragende Drehbuchvorlage liefert, sodass wir diese Geschichte sicherlich in absehbarer Zeit auch auf der Kinoleinwand wiederfinden werden.

Im Zentrum des vorliegenden Thrillers stehen zwei männliche Protagonisten: Auf der einen Seite lernen wir den Sensationsreporter Marc Dupeyrat kennen, der seit Jahren fasziniert ist von Morden, Mördern und ihren Motiven. Ihm gegenüber steht der Freitaucher und Massenmörder Jaques Reverdi, der seine Faszination für das Morden auch in die Tat umsetzt.

Schon in seiner Schulzeit wurde Marc mit einem blutigen Selbstmord auf der Schultoilette konfrontiert, doch spätestens, seit seine Verlobte Sophie einem brutalen Verbrechen zum Opfer fiel, möchte Marc die Beweggründe eines Mörders verstehen. Als er nun die Chance wittert, mit dem mutmaßlichen Massenmörder Jaques Reverdi Kontakt aufzunehmen, verwandelt sich Marc in „Elisabeth Bremen“ und schickt dem Mörder unter diesem Pseudonym Briefe in ein malaiisches Gefängnis.

Mit diesen Briefen trifft Marc Dupeyrat einen Nerv bei Reverdi. Zunächst stellt dieser seiner Brieffreundin Elisabeth einige unangenehme Aufgaben, um ihre Vertrauenswürdigkeit zu testen. Doch als er beginnt, ihren Ausführungen zu glauben, schickt er sie los zu einer blutigen Schnitzeljagd, auf der sie die furchtbaren Geheimnisse des französischen Massenmörders ergründen wird.

Während Reverdi also in einem malaiischen Gefängnis auf seinen Prozess wartet, wandelt Marc auf Reverdis Spuren und findet sukzessive heraus, auf welch grausame Weise Reverdi seine Opfer ermordet hat. Nach und nach verwandelt Marc sich gedanklich dabei immer mehr in den Massenmörder, er versetzt sich in die Lage des Mörders und schleicht sich in dessen Gedanken ein, doch in seinen Briefen ist Marc wieder die bewundernde Elisabeth, nur sein eigentliches Ich rückt immer weiter in den Hintergrund.

Am Ende erkennt Marc das Geheimnis des schwarzen Blutes und möchte aus diesem Wissen Profit ziehen, doch ahnt er noch nicht, welche Folgen sein Handeln haben wird; denn Reverdi gelingt die Flucht aus dem Gefängnis und hiermit beginnt sowohl für Marc wie auch Khadidscha, die Pate gestanden hat für „Elisabeth Bremens“ Foto, ein Alptraum …

In routinierter Weise erzählt Jean-Christophe Grangé seine gut durchdachte Geschichte. Zunächst steht die Entwicklung der Hauptcharaktere im Mittelpunkt der Erzählung. Hier lernen wir auf fast hundert Seiten die beiden männlichen Hauptfiguren kennen, die auf den ersten Blick gar nichts gemeinsam zu haben scheinen, die sich dann aber doch ähnlicher sind, als den beiden bewusst ist. Grangé entwickelt hierbei interessante Charaktere und gibt ihnen einen persönlichen Hintergrund, der den Figuren Leben einhaucht und sie größtenteils glaubwürdig erscheinen lässt. Insbesondere der undurchschaubare und mutmaßliche Massenmörder Jaques Reverdi, der seine Opfer brutal misshandelt und ermordet, birgt eine unglaubliche Faszination. Reverdi ist leidenschaftlicher Freitaucher und erreicht größere Tiefen als alle seine Konkurrenten, er findet seine persönliche Erlösung in der [Apnoe,]http://de.wikipedia.org/wiki/Apnoe die auch bei seinen Mordritualen eine große Rolle spielt.

Der Beginn des Buches mutet zunächst etwas ziellos und gemächlich an, es kommt nicht so recht Spannung auf, außerdem bleibt unklar, worauf Grangé hinaus will; ganz langsam entwickelt er seine Geschichte und setzt Stein auf Stein, bevor er sein Erzähltempo anzieht und uns mitnimmt auf den Weg der Erkenntnis. Die ersten hundert Seiten lesen sich daher recht schleppend, doch dann reißt uns die Story mit und entführt uns an exotische Tatorte, die dem Leser einen Schauer über den Rücken laufen lassen. Eins ist klar: Grangé verheimlicht nichts, er präsentiert uns haarklein die grausamen Mordrituale und beschönigt nichts.

In dem Moment, wo Marc sich auf die Reise nach Südostasien begibt, nimmt die Erzählung ein unglaubliches Tempo auf, das einen nicht mehr loslässt. Wir werden ähnlich gepackt wie Marc Dupeyrat und möchten unbedingt das Rätsel des schwarzen Blutes ergründen und erfahren, wie aus dem vaterlosen kleinen Jungen Jaques Reverdi ein kaltblütiger Killer werden konnte.

Jean-Christophe Grangé beweist nicht nur eine blühende und grausige Fantasie, sondern auch ein großes Erzähltalent, denn er schafft es, uns Personen und Situationen bildlich vor Augen zu führen. Wenn sich Marc im Unwetter auf eine kleine düstere Insel begibt und Reverdis Mordhütte aufsucht, wenn dort der Bambus raschelt und Marc im Dunkeln eine konservierte Leiche ausgräbt, bekommen wir eine Gänsehaut und sind hautnah dabei, wir können uns dieser Geschichte nicht mehr entziehen. Empfindliche Leser sollten daher von diesem Buch lieber Abstand nehmen und auf einen neuen Roman von Rosamunde Pilcher warten, doch Fans von Thomas Harris und Jonathan Nasaw werden hier auf ihre Kosten kommen, zumal Grangé einige deutliche Anleihen bei Harris vornimmt, wenn beispielsweise Reverdi zunächst in Elisabeth Inneres vordringen will, bevor er ihr selbst etwas anvertraut. Das Hannibal Lector’sche „quid pro quo“ wird hier zitiert, aber auch an anderer Stelle erinnert Grangé an „Das Schweigen der Lämmer“.

Der Spannungsbogen setzt zwar vergleichsweise spät ein, doch ist er durchaus gelungen, da er mitzureißen weiß. Nur am Ende übertreibt es Grangé; hier möchte er noch mal alles umkrempeln und greift einmal zu oft in die Trickkiste, sodass dem erfahrenen Thrillerleser beim Zuklappen des Buches doch ein müdes oder sogar genervtes Lächeln auf die Lippen kommt. Am Ende wird man das Gefühl nicht los, dass Grangé mit der Brechstange versucht hat, seinem Buch ein innovatives Ende zu geben, doch so ganz kann es einfach nicht überzeugen.

Auch einige logische Unstimmigkeiten trüben den Lesegenuss, denn Reverdi ist auf der einen Seite der eiskalte und überlegte Killer, der mit ausgefeilten Methoden arbeitet und nie Interviews gibt, doch dann verliebt er sich Hals über Kopf in eine fremde Brieffreundin und vertraut ihr seine innersten Geheimnisse an, er macht sie praktisch zu seinem Lehrling und schickt sie blindlings auf den Weg der Erkenntnis. Das nehme ich dieser Romanfigur einfach nicht ab. Auch Marc Dupeyrat offenbart eine nervtötende Naivität, wenn er nach seiner Rückkehr einen Bestseller über Reverdi verfasst und tatsächlich zu glauben scheint, dass niemand die Parallelen erkennen würde oder dass er mit seinen Holzfällermethoden den Killer überlisten könnte. Dem Ganzen die Krone setzt allerdings die Szene auf, in der Reverdi und Khadidscha schließlich vor Reverdi fliehen müssen und dabei die sicheren Mauern eines großen Hotels verlassen, um lieber zu Fuß des Nachts in einen dunklen Wald zu flüchten, obwohl dies bislang immer Reverdis liebste Mordkulisse war und ihr Auto direkt vor dem Hotel steht.

Doch wird sich „Das schwarze Blut“ sicherlich trotz dieser Schönheitsfehler blendend verkaufen und auch verfilmen lassen; vielleicht steht Jean Reno hier zur Abwechslung einmal Pate für den Killer Reverdi, die Rolle des Dupeyrat wird sich wohl kaum mit Reno besetzen lassen. Jean-Christophe Grangé ist mit diesem Thriller sicherlich kein großer Wurf gelungen, dafür leistet er sich zu viele Schnitzer, nichtsdestotrotz gefällt das vorliegende Buch ganz gut, vertreibt es einem doch auf unterhaltsame Weise die Zeit bis zum nächsten Nasaw oder einem besser durchdachten Grangé.

Cook, Thomas H. – Verhör, Das

Mit „Das Verhör“ hat sich Thomas H. Cook in die absolute Meisterklasse des abgründig düsteren Psychothrillers eingeschrieben, und wer gern Krimis mit dem freundlichen Prädikat „entspannende Unterhaltung“ liest, sollte besser die Finger davon lassen. Eine Ewigkeit ist das her, dass ich einen Krimi tatsächlich(!) nicht mehr aus der Hand legen konnte, z. B. als ich vor Jahren diese Schwäche für Danny Upshaw entwickelte. Danny Upshaw, der direkt aus James Ellroys L.A. der 50er kam (vgl.: „Blutschatten“), ist eine dieser Figuren, die man nicht vergessen kann, ebenso wenig wie die unbehaglichen, ja peinlichen Momente, die mit einer derartigen Lektüre einhergehen: Wenn man nämlich spät nachts anstatt endlich zu schlafen ins Dunkle hineinhorcht und plötzlich unzählige verdächtig knarrende Geräusche im stillen Haus wahrzunehmen glaubt.

Thomas H. Cooks Psychothriller „Das Verhör“ spielt ebenfalls in den 50er Jahren und ist ebenso fesselnd, so cool und düster beängstigend wie ein Ellroy – mit der Garantie, dass Cooks Figuren einen nicht so schnell wieder loslassen werden.

Es sind nur noch 12 Stunden, die der Polizei bleiben, um den Hauptverdächtigen, Albert Jay Smalls, des Mordes an einem achtjährigen Mädchen zu überführen. Gelingt es ihnen in diesen wenigen Stunden nicht, Smalls in einem letzten Verhör zu einem Geständnis zu bewegen, ist der völlig verwahrloste Obdachlose wieder ein freier Mann. Ein Bürger, der sich wieder im Park herumtreiben wird und der mit seiner Vorliebe für kleine Mädchen vielleicht jetzt schon sein nächstes Opfer in Gedanken vor sich sieht. Dem Polizeichef persönlich liegt viel an der Aufklärung des Falles, und so setzt er in dieser letzten Nacht seine besten Leute auf Smalls an, dem, sollte er im regulären Verhör die Tat nicht gestehen, ein Verhör der anderen Art droht. Doch zunächst versucht das eingespielte Team Norman Cohen und Jack Pierce den verschüchterten, schweigenden Verdächtigen, dem seine Schuld auf die Stirn geschrieben zu sein scheint, unter Druck zu setzen. Als dieser in einem unbedachten Moment ein Detail aus seiner Jugend preisgibt, verfolgt Pierce die Spur, die ihn in Smalls Vergangenheit führt, während Cohen das Verhör allein fortsetzt. Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem nicht nur der Verdächtige bedrohlich nah an die Grenzen der nervlichen und körperlichen Belastbarkeit stoßen wird.

„Das Verhör“ ist (wie z. B. auch der gleichnamige Film mit Romy Schneider und Lino Ventura – ein Klassiker, der Cook als Vorbild gedient haben mag) ein großartig subtil gezeichnetes Psycho-Kammerspiel. Durch Rückblenden, Nebenschauplätze und einhergehende Handlungsstränge wird es jedoch aufgelockert, so dass die Action durchaus nicht zu kurz kommt. Dennoch sind es die finsteren Strömungen der Seele, die Abgründe der Psyche, die Cook nie aus den Augen verliert. Unterschwellig brodeln sie in jeder der Figuren, und dem Autor gelingt es exzellent, immer wieder das eine Thema der „Fehler und Irrtümer“ in zahlreichen Variationen an seinen ebenso unterschiedlichen wie überaus realistischen Charakteren durchzuspielen. Nach dem zwölfstündigen Verhörmarathon hat sich die ganz persönliche Verzweiflung fast jeder Figur offenbart. Ein Seelenstriptease, der immer neue Fragen aufwirft und der gerade, weil er lediglich mögliche Antworten und Erklärungen aufzeigen kann, im Laufe der Handlung immer spannender wird. Wie grausam und clever aber Cook seine Handlungsstränge wirklich verwoben hat, wird erst auf der letzten Seite deutlich, das ist absolut famos! Der Stil ist eigentlich leicht zu durchschauen: Eine einzige Suggestion ist es, der man sich jedoch nicht entziehen kann und die eine ungeheuer dunkle Atmosphäre schafft. Das Verhör ist äußerst beunruhigend, beklemmend. Es ist aber auch sehr urban, verdammt sexy. Ein absolutes Muss.

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

Fritz Leiber – Der unheilige Gral (Die Abenteuer von Fafhrd und dem Grauen Mausling 1)

Nehwon ist eine mittelalterlich anmutende Welt, in der die Magie zum alltäglichen Leben gehört. Götter, der Tod und Dämonen mischen sich gern persönlich in die Geschicke der Menschen ein. Das Land zerfällt in große und kleine Länder und Stadtstaaten, die in der Regel feudal regiert werden. Recht und Ordnung werden vom jeweiligen Herrscher definiert und mit Schwert und Dolch durchgesetzt. Die Landkarte weist viele weiße Flecken auf, außerdem gibt es mysteriöse Stätten, die anscheinend Passagen in fremde Welten oder Dimensionen ermöglichen.

Fritz Leiber – Der unheilige Gral (Die Abenteuer von Fafhrd und dem Grauen Mausling 1) weiterlesen

Blaudez, Lena – Spiegelreflex. Ada Simon in Cotonou

Die Projektionsfläche, die Afrika, ‚der dunkle Kontinent‘, bietet, ist groß und scheint allzu häufig durch eine eher naive Faszination für das Exotische bestimmt. Nomaden, Naturvölker und natürlich auch Vodou; der direkte Kontakt zur Natur, zu Übersinnlichem und den Verstorbenen erscheinen ebenso verlockend wie beängstigend. Dazu gesellt sich eine grausame Geschichte, die in den Köpfen vorwiegend durch den immer wieder in Mode kommenden Kolonialstil und Hollywood-Verfilmungen präsent ist. Hinzu kommt, dass das weltpolitische Tagesgeschehen oft derart brisant scheint, dass Hungersnöte, Epidemien, Völkermorde und Diktaturen in Afrika schnell zur Randnotiz werden. Ein Kontinent, der im Chaos zu versinken scheint. Vor allem im frankophonen Raum Schwarzafrikas gibt es allerdings immer mehr hervorragende SchriftstellerInnen, die uns Europäern spannende, andere und ungeahnte Einblicke in das afrikanische Denken und Handeln geben könnten. Könnten, da viele Texte oft gar nicht erst ins Deutsche übersetzt werden. Weitaus angenehmer scheint es nämlich, sich dem Fremden, dem Exotischen über das Bekannte zu nähern. Und so stapeln sich die Werke überraschend vieler deutsch-afrikanischer schriftstellernder Prinzessinnen, Massais etc. in den Buchläden und finden reißenden Absatz.

Und jetzt also auch noch ein Krimi! Einer, der mitten in Westafrika, im kleinen Staat Benin, spielt. Von einer deutschen Autorin – die sich allerdings auszukennen scheint, die der erotischen Exotik nicht wirklich erliegt und deren Debütroman fast in jeder Hinsicht hinreißend und überzeugend gelungen ist.

Ada Simon, die Protagonistin in Lena Blaudez‘ „Spiegelreflex“, liebt Afrika, und insbesondere das westafrikanische Benin ist für sie zu einer zweiten Heimat geworden. Als Fotoreporterin hat sie das Land schon oft bereist und kennt sich für eine Europäerin hervorragend aus. Und da sich Fotos von Afrikanerinnen, die auf traditionelle Weise ihre Produkte herstellen, gut in die westlichen Industrienationen verkaufen lassen, kann sie hier bestens ihrem viel geliebten Beruf nachgehen. Dass derartige Reisen für eine |yovo|, ein Weiße also, nicht ganz ungefährlich sind, merkt Ada direkt nach der Ankunft am Flughafen. Denn anstatt sie zu ihrem Hotel zu fahren, entführt sie der Taxifahrer in einen dunklen Hinterhof, wo offensichtlich Menschen für den Vodou-Kult ‚gesammelt‘ werden. Als Europäerin hat Ada aber noch mal Glück, denn in Afrika ist ‚eine weiße Leiche eine besondere Leiche‘, und somit handelt man sich mit entführten, getöteten |yovos| nur unnötigen Ärger ein.

Am nächsten Morgen scheint das Leben wieder in Ordnung zu sein. Ada genießt die Atmosphäre und trifft ihren alten Freund Patrick in Papa Pauls |Champagner-Bar|. Die Freude über das Wiedersehen ist groß, zu erzählen gibt es viel. Ada schmiedet Pläne für ihre Fotoreise und knipst sich – wie Fotografen das nun einmal tun – durch die Bar, um das Flair festzuhalten. Als kurz darauf Patrick erschossen wird, ist bald klar, dass Ada den Mörder abgelichtet haben muss. Und dass ein derartiger Beweis von skrupellosen Mördern nicht hingenommen werden kann, versteht sich ebenfalls von selbst. Die Bedrohung wird überdeutlich, doch Ada macht sich trotz aller warnenden Einschüchterungsversuche auf ihre Reise durch das Land, beschützt nur durch ein Gris-Gris und eine Vodou-Zeremonie.

Wohl nicht ohne Hintergedanken lässt die Autorin Blaudez ihre Protagonistin Ada Simon während ihrer Reise immer wieder in Bulgakows „Der Meister und Margarita“ lesen. Handelt es sich doch hierbei um ein Hauptwerk russischer Literatur über Moral, Unterdrückung und Geldgier, in dem übrigens die Schwarze Magie keine unbedeutende Rolle spielt. Und zweifelsohne ist auch Spiegelreflex. Ada Simon in Cotonou ein Sittenbild nicht nur der afrikanischen Kultur. Ein spannendes Sittenbild voller Abenteuer, das Gut und Böse in vielerlei Schattierungen aufzeichnet und das Zeitgeschehen mit dem Übersinnlichen verflechtet. Das gelingt so faszinierend, dass es kaum stört, dass die eigentliche Krimihandlung etwas dürftig – dafür aber immerhin sehr realistisch anmutet. Korruption, Kredite, Spenden, Bodenschätze: Es sind das Geld und die Macht, die regieren, die ganz privaten Vorteile eines jeden. Und über allem regiert der Vodou, der Staatsreligion ist. Ada Simons Fotoreportage wird eine Reise von Projekt zu Projekt und niemanden scheint es zu stören, dass, sind die Gelder einmal geflossen, weitere Unterstützung, Ersatzteile etc. benötigt werden, um tatsächlich Hilfe zu leisten. Die Jagd nach den richtigen Fotos, der richtigen Kameraeinstellung wird mit der Zeit zunehmend zur Flucht vor Patricks Mördern. Ada Simon erscheint dabei ebenso professionell wie naiv. Extrem cool auf alle Fälle, wenn sie durch die Wüste rast, ohne Passierschein dazu gezwungen ist, Beamte zu bestechen, afrikanische Frauen beim Hirsestampfen fotografiert oder über afrikanische Märkte bummelt, um die Ingredienzien für eine Vodou-Zeremonie zu besorgen. Ada ist von dem Land, durch das sie fährt, das sie in Bildern dokumentiert, fasziniert. Sie lässt sich auf die Kultur ein, ohne den Anspruch, sie zu vollends zu verstehen. Vor allem aber lässt sie sich durch nichts so schnell beeindrucken.

Bemerkenswert an „Spiegelreflex“ ist vor allem der Stil. (Wenig ‚fraulich‘ soll er sein, was wohl heißen soll: Auch Männer dürfen sich an die Lektüre wagen?) Wie der Titel es vorgibt, erzählt Lena Blaudez wie durch die Perspektive einer Kamera reflektiert und distanziert, beschreibt mal schonungslos drastisch, mal liebevoll, fast immer amüsant in unendlichen Facetten den afrikanischen Alltag. Mal bietet sie mit dem Breitwinkel ein buntes Panorama, mal zoomt sie wie beiläufig dicht an Persönliches, Menschliches, Tragisches. Wir sehen einen Teil Afrikas durch Adas Linse, wir hören, riechen, fühlen und schmecken mit ihr – und das macht eindeutig Lust auf mehr! Und da der zweite Band schon geschrieben sein soll und Ada Simon auf den letzten Seiten von Spiegelreflex plant, nach Kamerun aufzubrechen, bleibt am Ende nur die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Vielleicht ja in Douala! Oder am Strand von Limbé?

© _Anna Veronica Wutschel_
|Diese Rezension wurde mit freundlicher Genehmigung unseres Partnermagazins [X-Zine]http://www.x-zine.de/ veröffentlicht.|

John Sandford – Kalter Schlaf

Das geschieht:

Lucas Davenport, Ermittler in der Abteilung Öffentliche Sicherheit im Stab des Gouverneurs von Minnesota, wird gerufen, wenn sich ein Verbrechen ereignet, das sich nicht ins übliche kriminalistische Raster fügt. Der Mord an dem Russen Oleschew in der Stadt Duluth fällt in diese Kategorie, hat man ihn doch mit einer Waffe erschossen, die mehr als ein halbes Jahrhundert alt sein muss.

Hektik bricht aus, als sich herausstellt, dass der Ermordete der Sohn eines einflussreichen Geschäftsmanns ist, der es im neuen Russland zu Macht und Geld sowie besten Verbindungen zur Regierung gebracht hat. Außerdem werden ihm Verbindungen zur russischen Mafia nachgesagt. Der zornige Vater fordert Aufklärung, aus Russland schickt man die „Ermittlerin“ Nadeschda Kalin. Das ruft den US-Geheimdienst auf den Plan, der nicht ohne Grund vermutet, dass Kalin zur ‚Konkurrenz‘ gehört und mehr weiß als sie verlauten lässt. John Sandford – Kalter Schlaf weiterlesen

Heller, Jane – geliehene Mann, Der

Amy Sherman arbeitet in einem großen Verlagshaus, besitzt ein nettes Apartment in Manhatten und führt eigentlich ein glückliches Leben – bis sie auf der Straße zufällig ihrer Erzfeindin begegnet. Tara Messer war früher seit Schulzeiten ihre beste Freundin, bis Amy sie vor vier Jahren eines Tages mit ihrem damaligen Verlobten Stuart im Bett erwischte. Die Freundschaft zerbrach auf der Stelle, Stuart und Tara heirateten und Amy blieb verlassen zurück, betrogen von den zwei wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Tara moderiert inzwischen eine Radiosendung, während Stuart als Vorstand der familieneigenen Feinkostkette fungiert. Tara sieht nicht nur blendend aus, sondern schwelgt auch noch in Reichtum und offenbar in einer glücklichen Ehe. Um ihrer Rivalin keinen Triumph zu gönnen, erzählt Amy, sie sei mit ihrem Traummann verlobt und heirate demnächst. Da sie davon ausgeht, dass sie Tara nie wieder sehen wird, macht sie sich über ihre Lüge keine weiteren Gedanken.

Leider erfährt Amy kurz darauf, dass ihre Notlüge Folgen nach sich zieht. Ihre Chefin eröffnet ihr, dass ausgerechnet ihr Verlag Taras Lifestyle-Buch „Einfach schön“ mit Tipps zum schöneren Leben herausbringen wird. Amy soll die Promotion dafür übernehmen und alle weiteren Pläne mit Tara abklären. Um ihren Job nicht zu gefährden, lässt sich Amy widerwillig darauf ein. Dabei steht sie aber bald vor einem Problem, denn Tara will unbedingt Amys Verlobten kennen lernen und gleichzeitig die alte Freundschaft wiederbeleben. Für Amy steht fest: Ein Mann muss her und zwar am besten einer, der Tara schwer beeindruckt. Nach und nach scheiden alle Männer in Amys Bekanntenkreis dafür aus. Da erfährt sie per Zufall, dass Tara von Tony Stiles, einem Krimiautor aus Amys Verlag, schwärmt. Tatsächlich ist Tony Stiles sehr attraktiv, beruflich erfolgreich, hat oft mit Amy zu tun und wäre ideal für die Rolle ihres Alibi-Verlobten. Es gibt nur einen Haken – Amy und Tony können sich nicht leiden.

Doch Amy will sich diese Chance nicht entgehen lassen. Sie setzt alles ein, um Tony zu umgarnen und sein Vertrauen zu gewinnen, damit er sich auf das Spiel einlässt. Dabei stellt sich überraschend heraus, dass Tony gar nicht so unsympathisch ist, wie es den Anschein hatte …

Das Prinzip von Jane Hellers Romane funktioniert immer ähnlich: Im Mittelpunkt steht eine Frau zwischen dreißig und vierzig, beruflich erfolgreich, aber Langzeitsingle, die in humorvollem Tonfall von ihrem Leben erzählt und auf überraschenden Umwegen zu ihrem Traummann kommt. Ein Happy-End ist, trotz aller Wirrungen, unvermeidlich, weshalb Jane Hellers Romane sehr vorhersehbar sind. Dass sie trotzdem für gute Unterhaltung sorgen, liegt vor allem an der witzigen und lockeren Präsentation und der auf Sympathie getrimmten Hauptfigur.

|Durchschnittsfrau als Identifikationsfigur|

Wer bereits andere Romane der Autorin gelesen hat, wird bei der Ich-Erzählerin womöglich ein Déjà-vu verspüren. Ihr Hauptziel ist es, die Leserin zu ihrer Verbündeten zu machen und zur Identifikation einzuladen. Aus diesem Grund ist Amy Sherman eine sympathische Frau mit beruflichem Erfolg, aber keine überragende Schönheit und vor allem mit diversen Macken ausgestattet. Sie ist keine perfekte Barbiepuppe wie ihre einstige Freundin Tara, sondern eine natürliche Frau, die ihre Umwelt mit viel Ironie und sich selber mit ebenso viel Eigenhumor betrachtet und kommentiert. Der geneigten Leserin fällt es leicht, sich zu Amy hingezogen zu fühlen, vor allem im Kontrast zu Tara Messer, die geradezu dem Klischee einer Konkurrentin entspricht. Trotz des guten Ausgangs, an dem man nie wirklich Zweifel hat, muss sich Amy im Verlauf der Handlung durch einige Probleme quälen und brenzlige Situationen meistern, von denen man viele aus dem eigenen Leben erkennt. Umso erfrischender ist es, dass Amy mit ihrer trockenen Art diesen Widrigkeiten mit Sarkasmus begegnet, die alles halb so schlimm aussehen lassen. Ob es die aufgetakelte Erzfeindin, die stressige Chefin oder der Klatsch verbreitende Assistent ist, alles wird mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor betrachtet, die man sich selber in solchen Lagen herbeizuwünschen pflegt. Dabei darf man nicht vergessen, dass das Thema des Romans den Stoff für ein Drama geboten hätte – Fremdgehen und Betrug von der besten Freundin, Liebeslügen und berufliche Strapazen sind hier auf dem Parkett vereint, allerdings wohlbemerkt immer mit einem Augenzwinkern und schwarzem Humor präsentiert.

|Vorhersehbare Lovestory|

Dennoch reicht dieser Roman in keiner Hinsicht an andere Werke von Jane Heller heran. Einer der Gründe dafür ist, dass die meisten der Vorgänger die altbekannte Lovestory mit Hindernissen mit einer kriminalistischen Handlung kombinierten. Stets gerät dabei die Protagonistin per Zufall in ein Mordkomplott hinein, ermittelt auf eigene Faust, lernt dabei den Mann ihrer Träume kennen und überführt am Ende, nach einem furiosen Showdown, den Mörder. Selten wurden Mörderjagden amüsanter beschrieben als bei Jane Heller, sodass es letztlich fast nebensächlich ist, wer der Täter war, weil man es bedauert, dass seine Festnahme die witzigen Ermittlungen der Ich-Erzählerin beenden. Die Romane aber, in denen Jane Heller diese soliden Pfade verlässt und sich auf die Lovestory allein konzentriert, fallen in ihrem Charme und ihrer Überzeugungskraft deutlich dagegen ab. Das gilt in eingeschränktem Maß für „Fahr zur Hölle, Liebling“ und offensichtlicher für „Wer zuletzt lacht“ und so auch hier. Zwar tangiert auch hier im letzten Drittel ein mögliches Verbrechen die Handlung, doch dieses kriminalistische Element wirkt aufgesetzt und kann keinem Vergleich mit den Killerjagden früherer Werke standhalten. Dieses Prinzip wirkt sich auch negativ auf die Vorhersehbarkeit aus. War es früher nicht so schlimm, dass man den guten Ausgang schon ahnte, weil man immerhin noch rätseln konnte, wer der Täter ist und wer ihm bis zu seiner Ergreifung noch zum Opfer fällt, so ist es hier schon schwerer, sich von der Handlung fesseln zu lassen. Gerade die anfängliche offenkundige Abneigung zwischen Amy und Tony ruft eher Langeweile hervor. Bereits bei der ersten Begegnung der beiden weiß man, dass es letztlich auf eine Beziehung zwischen ihnen hinauslaufen wird. Zunächst sorgen noch die bissigen Wortduelle der beiden für Unterhaltung, aber auch das hat ein Ende, als sich Tony viel zu rasch auf das Verlobungs-Spiel mit Amy einlässt. Dabei legt er auch noch, um die Übertreibung zu vervollständigen, eine solche Bereitwilligkeit an den Tag, dass man sich als Leser fast über diese Konstruktion ärgert. Selbst wenn sich die beiden plötzlich extrem sympathisch finden, ist das noch kein plausibler Grund, damit sich Tony ohne Zögern über Monate hinweg als Verlobter ausgibt – und das auch noch, wo er ihr zuvor erklärte, dass er eine entschiedene Abneigung gegen Lügen besitzt. Zwar treten gegen Ende des Buches noch einmal Schwierigkeiten und Vertrauensprobleme zwischen dem frischgebackenen Pärchen auf, aber auch hier ist klar, dass das Happy-End nur verzögert, nicht verhindert wird.

|Aus Feind wird Freund|

Zu geradlinig verläuft auch die Versöhnung zwischen Amy und Tara. Ein uneingeschränktes Happy-End gibt es hier zwar nicht, aber dafür, dass Amy sich einst zutiefst von ihr verraten fühlte, kommen sich die Frauen wieder sehr nah. Um diese Entwicklung zu unterstützen, findet etwa in der Mitte des Romans ein Perspektivenwechsel statt. Statt Amy erzählt nun Tara aus ihrer Sicht die Dinge, die zu ihrer Ehe mit Stuart geführt haben und wie sie die Wiederbegegnung mit ihrer einst besten Freundin empfunden hat. Der Clou dabei ist, dass Tara natürlich in mancherleih Hinsichten nicht ganz so schuldig ist wie von Amy gedacht und hinter ihrer Fassade so manches Problem lauert, das man angesichts des perfekt inszenierten Barbie-Lebens nicht vermuten würde. Allerdings erwartet man bei einem solchen Perspektivenwechsel beinah zwangsläufig, dass der Erzähler die Dinge anders sieht und man mit einer ganz neuen, gegensätzlichen Sicht konfrontiert wird. Eine echte Überraschung hat Taras Erzählung daher für den Leser kaum zu bieten. Spätestens nach den ersten Seiten hat man begriffen, worauf ihre Darstellung der Ereignisse hinausläuft, sodass der Unterhaltungswert in dieser Phase noch einmal gebremst wird. Die Handlung an sich ist natürlich extrem unrealistisch, was man sich auf jeden Fall schon vor dem Lesen klarmachen muss.

|Lockere Unterhaltung|

Ein Plus dagegen ist wiederum der Schreibstil, der keine weiteren Anforderungen an den Leser stellt. Die Ich-Erzählerin spricht mit lockerer Zunge und wendet sich hin und wieder mit einer rhetorischen Frage sogar direkt an die Leser, angenehmerweise aber ohne damit zu penetrant zu werden. Wenn einem dieser joviale Tonfall zusagt, wird man leicht dazu verführt, das Buch in einem Rutsch herunterzulesen

_Fazit_

Ein leicht zu lesener und mit lockerer Feder geschriebener Frauenroman, der sich mit viel Humor mit dramatischen Themen wie Fremdgehen, Betrug in Freundschaften und problematischen Liebesbeziehungen befasst. Der flüssige Stil sorgt dafür, dass man das Buch innherhalb kurzer Zeit ohne große Konzentration durchlesen kann. Abzüge gibt es allerdings für die Vorhersehbarkeit und die mangelnde Spannung. Alles in allem ein durchschnittlicher Roman der Autorin, die es in ihren Krimis sehr viel besser kann.

_Jane Heller_ wurde 1950 in New York geboren. Sie arbeitete mehrere Jahre lang im Verlagsgeschäft, ehe sie selber zu schreiben begann. Heute lebt sie mit ihrem Ehemann in Florida. Weitere Werke sind u. a.: „Die Putzteufelin“, „Wie Feuer und Wasser“, „Willkommen im Club“ und „Liebe im Preis inbegriffen“.

Schröder, Rainer M. – Fall von Akkon, Der (Die Bruderschaft vom Heiligen Gral 1)

Die Hafenstadt Akkon im Jahr 1291: Die letzte Bastion der christlichen Kreuzfahrerstaaten im Heiligen Land steht vor dem Fall. Jerusalem ging bereits im Jahr 1244 unwiderruflich an die Mamelucken verloren, die Belagerung Akkons stellt nur noch das letzte Kapitel der unvermeidbaren Vertreibung der Kreuzfahrer aus Outremer dar.

Doch Templergroßmeister Guillaume de Beaujeu hält eisern die Stellung, obwohl er weiß, dass kein nennenswerter Entsatz aus Europa zu erwarten ist. Man hat das Heilige Land bereits aufgegeben. Bei einem der letzten trotzigen und vergeblichen Ausfälle der Templer werden Gerolt von Weißenfels und drei weitere Ordensbrüder im Chaos der hastigen Flucht von ihren Abteilungen getrennt und drohen den wütenden Sarazenen in die Hände zu fallen. Ein geheimnisvoller, uralter Mann im Habit der Templer rettet sie auf wundersame Weise: Staubböen blasen den Verfolgern ins Gesicht, die Erde tut sich vor ihnen auf und lässt sie stürzen.

Der alte Mann offenbart den vier verblüfften Templern ihre Bestimmung: Er gehört zur geheimen Bruderschaft der Arimathäer, deren Existenz sonst nur noch dem Großmeister der Templer bekannt ist. Sie sollen das größte Geheimnis der Christenheit vor den Ungläubigen bewahren: den Heiligen Gral.

Während Akkon untergeht, erhalten die Vier ihre Weihe zu Gralsrittern. Doch die Schergen des Bösen sind bereits in Akkon eingedrungen und keineswegs mit den Moslems identisch …

_Der Autor_

Rainer M. Schröder (* 1951) beschreibt sich selbst als Mann mit vielen Neigungen und Talenten. Bevor er im Jahr 1977 zum Schriftsteller wurde, studierte er Gesang, später Jura und Theaterwissenschaften, arbeitete als Lokalreporter für rheinische Lokalzeitungen und den Rundfunk. Beeinflusst von Autoren wie Jack London und Joseph Conrad, unternahm er zusammen mit seiner Frau abenteuerliche Reisen, von den Everglades über den stürmischen Nordatlantik bis in die australische Wildnis. Zusammen mit dem berühmten Schatztaucher Mel Fisher tauchte er nach der spanischen Schatzgaleone Atocha, diese Erlebnisse verarbeitete er in seinem Abenteuerroman „Das Goldriff“. Heute lebt er in Palm Coast, Florida.

Während Rainer M. Schröder in Deutschland vor allem als Jugendbuchautor mit Schwerpunkt auf historischen Themen bekannt ist, veröffentlichte er unter dem Pseudonym Ashley Carrington umfangreiche historische Gesellschaftsromane für ein erwachsenes Publikum. „Der Fall von Akkon“ stellt den ersten Band der Trilogie „Die Bruderschaft vom Heiligen Gral“ dar, mit der Rainer M. Schröder sowohl jugendliches als auch erwachsenes Publikum erreichen will.

_Historie mit Indiana-Jones-Einschlag_

Geballtes Recherchewissen und Detailreichtum erwarten den Leser von der ersten Seite an: Von Organisation und Tagesablauf der Templer, dem Verhältnis der Ritterorden untereinander und der politischen Situation zu dieser Zeit bis hin zur Bauweise von Belagerungsmaschinen sowie der Befestigungsanlagen Akkons trumpft Schröder auf. Dabei geizt er nicht mit hilfreichen Fußnoten und Erklärungen: So ist zum Beispiel „Outremer“ nichts anderes als eine altfranzösische Bezeichnung für das Heilige Land, die ganz einfach und nachvollziehbar als „Übersee“ übersetzt werden kann. Ebenso wird erklärt, warum die Tore Akkons in einem rechten Winkel hinter den Mauern liegen: So wird der Einsatz schwerer Rammböcke durch den Knick und Platzmangel verhindert, die Schwachstelle Tor lässt sich so auch besser verteidigen.

Am Beispiel der vier zu Gralsrittern aufsteigenden Templer wird auch plastisch dargestellt, wer damals in der Regel dem Orden angehörte: Sehr viele Templer stammten wie Gerolts übermäßig stolzer und spöttelnder Freund Maurice von Montfontaine und der Gründer Hugo von Payens aus Frankreich, nachgeborene Söhne aus Adelsfamilien wie Gerolt von Weißenfels wählten oft den militärisch organisierten Orden anstelle des Klosterlebens. Ein armer Ritter Christi war gewiss keiner der Ritter des Ordens, denn man musste mindestens das Vermögen haben, um drei Pferde und seine Ausrüstung selbst zu stellen. Als „Sergeanten“ wurden dienende Brüder ohne den nötigen Stand oder materielle Güter bezeichnet, sie trugen einen schwarzen oder braunen Mantel anstelle des weißen Habits mit dem Beausant (rotes Templerkreuz). Woher der Ausdruck „Saufen wie ein Templer“ stammt, demonstriert vor allem der Schotte McIvor von Conneleagh. Ungewöhnlich, wenn auch nicht unmöglich, ist Schröders vierter Templer, Tarik el-Kharim, ein Nachfahre christlicher Beduinen.

Die Schilderung der Belagerung und der Zustände in der Stadt ist sehr überzeugend gelungen, das fantastische Element stellt der vorerst namenlose uralte Gralshüter dar, der die Vier zu Gralsrittern weiht und ihnen die Segnungen des Grals demonstriert – langes Leben, die Fähigkeit in allen Zungen (Sprachen) zu sprechen und für jeden der vier Ritter eine besondere individuelle Gabe …

Hier zeigt sich ein anfangs netter Indiana-Jones-Einschlag; der alte Gralshüter erinnert von seiner Erscheinung und seiner Geschichte frappierend an Steven Spielbergs „Indiana Jones und der letzte Kreuzzug“. Dieses Mal sind die bösen Feinde des Grals jedoch keine Nazis, sondern so genannte „Iskaris“; Menschen, die sich unter ihrem Anführer Sjadú (Judas-Anagramm) dem Fürsten der Hölle verschworen und sich nach dem Gottesverräter Judas Ischariot benannt haben. Ihr Ziel ist es, den Gral zu stehlen und zu entweihen; wie die Gralshüter besitzen sie übermenschliche Fähigkeiten. So sind sie fast nur durch Enthaupten, In-Stücke-schlagen oder einen Stich ins Herz zu töten. In Gegensatz zu den Gralsrittern riechen die Bösewichter aber lustigerweise leicht mufflig und verrottet; insbesondere für die geschärften Sinne eines Gralshütern sind sie so relativ leicht zu erkennen.

Bedenken habe ich hinsichtlich der zukünftigen Entwicklung der Trilogie; zwar wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Fähigkeiten, die der Gral verleiht, sich nur langsam entfalten, aber wenn die Vier bereits in diesem Band Macht über Feuer, Wasser, Luft und Erde besitzen und Maurice bereits jetzt mit der Hand in einen Marmorblock eindringen kann, befürchte ich eine Mutation der vier Gralshüter zu |Marvel|-Superhelden nach Art der „Fantastischen Vier“. In diesem Band halten sie sich jedoch glücklicherweise noch zurück.

Dieser Fakt, der bei Indiana Jones mit einem Augenzwinkern und Humor übergangen werden kann, passt hier leider nicht so Recht zur Geschichte, die zwar humorvoll geschrieben wurde, aber ernster und realistischer ist, sich an historischen Fakten stärker orientiert und besonders auf diesem Gebiet auch auftrumpfen kann. Der Schreibstil und die Sprache Rainer M. Schröders sind zwar relativ neutral und gehoben, dennoch dringt der Jugendbuchautor des Öfteren durch. Das zeigt sich auch in der Charakterisierung der vier sympathischen Helden: Gerolt ist ein ernster und pflichtbewusster Templer, der es mit Ehre und Pflicht oft etwas zu genau nimmt. Der Franzose Maurice ist dagegen eitel, standesbewusst und oft etwas vorlaut. Der schottische Hüne McIvor sowie Tarik, der die Weisheit der Wüste scheinbar mit Löffeln gefressen hat, runden so die recht stereotype Heldentruppe ab, was nicht heißt, dass sie nicht überzeugen könnte, ganz im Gegenteil. Die Abenteuer dürften auch abenteuerlustige Erwachsene mehr als zufrieden stellen; wer Jack London und Joseph Conrad liebt, wird Rainer M. Schröders Romane ebenso verschlingen. Die abenteuerliche Flucht der Templer aus Akkon quer über das Mittelmeer verschlägt sie schließlich bis nach Kairo und in höchste Gefahr für Leben und Gral …

_Spannende Abenteuerliteratur in glänzender Aufmachung_

Rainer M. Schröder hat den Bogen raus: Sein Roman ist nicht nur spannend und unterhaltsam, er ist auch exzellent recherchiert, sein Literaturverzeichnis im Anhang des Romans füllt sechs Seiten. So ist der Roman weitaus lehrreicher und gehaltvoller als gewöhnliche Abenteuerliteratur. Auch hebt er sich in seiner hochwertigen Aufmachung weit von der Masse ab: Bereits der Schutzumschlag mit dem silber glänzenden Schwertheft, dessen Hintergrund rautenförmig ausgestanzt ist und einen Blick auf drei Templer in typischer Ordenstracht zeigt, ist ungewöhnlich wertig und ansprechend. Ein silbernes Lesebändchen sowie der vorzügliche Druck und der mit schwarzen Ornamenten auf roten Grund verzierte Qualitätseinband laden geradezu ein, dieses hochdekorative Buch ins Bücherregal zu stellen. Hochwertiges Kartenmaterial rundet die positive Erscheinung noch weiter ab. Der Inhalt muss sich ebenfalls nicht verstecken und macht Lust auf mehr: Von 1291 bis zum Untergang des Templerordens im Jahr 1314 könnte sich die Trilogie erstrecken, mehr als genug Stoff für weitere packende Abenteuer der vier Gralshüter.

Der nächste Band der Trilogie scheint in Ägypten zu spielen, er trägt den Titel |“Das Amulett der Wüstenkrieger“| und wird voraussichtlich im Juni 2006 erscheinen.

Offizielle Homepage von Rainer M. Schröder:
http://www.rainermschroeder.com/

Homepage des Arena Verlags:
http://www.arena-verlag.de/

|Siehe ergänzend dazu auch die [Rezension 2344 von Maren Strauß.|

Lohner, Alexander – Jesustuch, Das

Der Zweifel an Festgelegtem und Bestehendem ist momentan eines der Kernthemen der modernen Literatur. Vor allem die Geschichte des Neuen Testaments wird derzeit in Form verschiedener Verschwörungstheorien angegriffen und angezweifelt. Illuminaten, Katharer und andere mysteriöse Gruppen sind die Helden der aktuellen Bestseller-Autoren, und es ist noch kein Ende dieser Entwicklung in Sicht. Alexander Lohner schlägt in seinem Roman „Das Jesustuch“ jedoch einen etwas traditionelleren Weg ein, der aufgrund der anhaltenden Religions- und Glaubenskriege nach wie vor auf dem aktuellen Stand ist. Hier thematisiert er die von Vorurteilen behaftete Kritik an fremden Glaubensrichtungen und wandert dafür zurück ins 13. Jahrhundert zur Zeit der Kreuzzüge. Nun sind gerade die Kriege aus dieser Ära ein sehr populäre literarisches Gebiet, das auch immer mal wieder gerne erkundet wird. Und eigentlich arbeitet Lohner in „Das Jesustuch“ auch keine grundlegend neuen Erkenntnise heraus. Aber dennoch ist dieser Roman ein echtes Goldstück, bei dem Historisches wunderbar in einen fiktiven Plot eingeflochten wurde, ohne in irgendeine klischeebesetzte Schublade hineinzurutschen. Hut ab, kann man da bereits einleitend sagen!

_Story_

Wir schreiben das Jahr 1270, als König Ludwig IX. zum siebten Kreuzzug aufruft, dem zahllose ehrfürchtige junge Menschen folgen. Unter ihnen ist auch der adelige Jüngling Jean-Pierre, der ein Stück der verloren gegangenen Familienehre durch seinem Einsatz im Krieg wieder gutmachen möchte. Gegen den Willen seiner Angehörigen macht er sich auf den Weg nach Tunis, von wo aus die Befreiung der heiligen christlichen Stätten losgetreten werden soll.

Doch schon auf der Überfahrt gerät der junge Franzose in Schwierigkeiten, als sein Schiff durch einen Sturm von der restlichen Flotte getrennt und schließlich von Piraten erobert wird. Die gesamte Mannschaft wird von den Gefolgsleuten des Emirs in Gefangenschaft genommen und als Druckmittel benutzt, um den Rückzug des französischen Heeres zu erwirken. Jean-Pierre kommt durch seinen gehobenen Stand eine Schlüsselrolle zu, die ihm jedoch auch gewisse Freiheiten ermöglicht. Vom Status her eine Geisel, genießt er im Palast des Emirs immer mehr Freiheiten. Infolgedessen lernt er auch den Prinzen Khalid näher kennen, mit dem er fortan einige sehr philosophische Diskussionen über die Unterschiede und Motivationen ihres Glaubens führt. Die beiden werden schließlich zu sehr guten Freunden und vergessen dabei gänzlich die Umstände, unter denen Jean-Pierre in die ‚Obhut‘ des muslimischen Herrschers geraten ist. Besonders Jean-Pierre bekommt, nach wie vor von den Vorurteilen des Christentums beherrscht, bald eine ganze andere Meinung vom islamischen Glauben und lernt, ihn zu akzeptieren, denn in gewissem Sinne verfolgen sowohl die Christen als auch die Muslime die gleichen Ziele.

Über Khalid lernt Jean-Pierre dann auch Nathanael kennen, mit dem er nach Jerusalem aufbricht, um die legendären heiligen Orte zu erkunden, die er einst befreien sollte. Durch weitere Gespräche und neue Meinungen erlangt der französische Christ letztendlich ein komplett anderes Bild vom Islam als jenes, das man ihm vor den Kreuzzügen auferlegt hatte. Doch dies hat seinen Preis: Jean-Pierre wird von seiner Religion als Ketzer und Verräter am eigenen Glauben angeklagt!

_Meine Meinung_

Intoleranz, Starrsinn und blinde Gefolgschaft – die Attribute, die der Autor den Vertretern des christlichen Glaubens im 13. Jahrhundert auferlegt, sind keineswegs erstrebenswert, aber dennoch in ihrer Darstellung sehr realistisch. Dabei ist „Das Jesustuch“ beileibe keine grundlegende Kritik gegen das Christentum, geschweige denn eine direkte Anklage gegen das kriegerische Volk, das aus Unwissenheit und fehlender Bereitschaft zur Akzeptanz einer weiteren Religion wahllos Menschen umgebracht hat. So etwas hätte man schließlich auch auf 200 Seiten abhandeln können, ohne dabei zu sehr in bereits erprobte, klischeetriefende Fußstapfen zu treten.

Stattdessen nähert sich Lohner dem Thema auf eine eher zurückhaltende, unterschwellig auch spirituelle Art, die besonders durch die sehr tiefgreifenden Diskussionen zwischen Jean-Pierre und Khalid sowie später auch Nathanael geprägt wird. Natürlich sind derweil die Kreuzzüge in vollem Gange und die Kriegshandlungen werden in diesem Roman sicher nicht minder umfassend behandelt wie die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Glauben, doch das Buch ist insgesamt von einer sehr angenehmen Ruhe durchwirkt, von der man sich gerne anstecken lässt.

Der Autor beweist hierbei allerdings auch sein ausführliches Hintergrundwissen, durch das es ihm ziemlich leicht fällt, seine Darstellungen der verschiedenen Religionen bzw. das Pro und Kontra mit schlagkräftigen Argumenten zu belegen. Es wäre ein Leichtes gewesen, das Interesse für den Islam und später für das Judentum durch eine klug inszenierte Verschwörung gegen das ‚böse‘ Christentum zu wecken und die in Europa verbreitete Glaubensrichtung an den Pranger zu stellen, indem lediglich die von ihr erzeugten Missstände verurteilt werden, aber eine solche Herangehensweise liegt Alexander Lohner fern.

In seinem Buch stehen nämlich immer noch die fiktiven Charaktere und somit auch die erzählte Geschichte im Vordergrund, und erst danach folgen die historische Einarbeitung sowie die sehr frei gestaltete Diskussion, bei der allerdings auch die Eigenschaften der Hauptfiguren und deren derzeitige Stellung eine bedeutende Rolle spielen.

Dadurch, dass sich Lohner im Verlauf der Geschichte zahllose Möglichkeiten zur weiteren Entwicklung offen lässt, gelingt es ihm zudem, von einem Spannungshöhepunkt zum nächsten zu gelangen. Wichtig ist diesbezüglich, dass die befürchteten Ausschweifungen der Gespräche, von denen ich denke, dass sie durch die Inhaltsangabe in ihrem Umfang überschätzt werden, gänzlich ausbleiben. Sie sind der Kern der Entwicklung von „Das Jesustuch“, beeinträchtigen aber nicht die sich fortlaufend wandelnde Erzählung.

Und dennoch ist es im Endeffekt nicht die Handlung als solche, sondern verstärkt die aus ihr resultierende Botschaft, die einem in Erinnerung bleibt, die man gleichzeitig als moralischen Aufruf verstehen darf, nicht mit blinder Fahrlässigkeit gegen Unbekanntes, in diesem Falle Religionen, zu wettern, wenn man die wahren Hintergründe nicht aus erster Hand kennt. Es hat etwas von dieser „erst denken, dann handeln“-Mentalität, allerdings viel schöner verpackt und facettenreich inszeniert.

Es ist auf jeden Fall überaus interessant, welche Einzelheiten der Autor der Historie entlockt und wie er sie in das Gerüst seiner Erzählung integriert. „Das Jesustuch“ ist demzufolge auch ein sehr empfehlenswertes Buch, das in einer Zeit, in der Djihad auf einem ganz anderen, bedrohlicheren Level ausgeführt wird, aktueller denn je ist. Und außerdem wird hier bewiesen, dass die Beschäftigung mit diesem Thema nicht immer gleich zur innerlichen Verkrampfung führen muss; die Grundstimmung dieses Romans ist nämlich trotz der weit reichenden Thematik so entspannt, dass man mit Freuden darin eintauchen kann.

Paul Stewart, Chris Riddell – Rook und Twig, der letzte Himmelspirat (Die Klippenland-Chroniken V)

Buch I: Twig im Dunkelwald
Buch II: Twig bei den Himmelspiraten
Buch III: Twig im Auge des Sturms
Buch IV: Twig – Fluch über Sanktaphrax

Neue Helden braucht das Land, diese alte Weisheit gilt wohl auch für das sagenumwobene Sanktaphrax, die Heimat der Himmelspiraten, durch die einst der beliebte Twig reiste. Mit dem fünften Teil der „Klippenland-Chroniken“ ist es dann auch schließlich so weit: Ein neuer Hauptcharakter wird eingeführt, nämlich der junge Rook, der zu den Ausgesandten gehört, die Sanktaphrax vor dem erneut drohenden Untergang bewahren sollen. Doch die Trennung von Twig als zentraler Figur kann natürlich nur funktionieren, wenn dieser auch in „Rook und Twig, der letzte Himmelspirat“ einen wichtigen und letztendlich entscheidenden Gastauftritt hat.

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Jonathan Latimer – Rote Gardenien

Das geschieht:

Ein neuer Fall für William Crane, der in der Detektivagentur des knurrigen Colonel Black arbeitet. Der Industriemagnat Simeon March will den mysteriösen Tod seines Sohnes aufgeklärt wissen. John March wurde tot in der Garage gefunden, erstickt an den Abgasen seines Wagens, den er angeblich reparieren wollte. Leichtsinn, meint die Polizei, die nicht irritiert, das auch Johns Cousin Richard einem ähnlichen ‚Unfall‘ zum Opfer fiel.

Simeon March scheut den Skandal, den ein Mord in der Familie bedeuten würde. Er verdächtigt Carmel, seine Schwiegertochter, die mit John keine gute Ehe geführt hat. Auch mit Richard war sie sehr vertraut, und jetzt zieht sie die Aufmerksamkeit von Peter, dem jüngeren March-Sohn, auf sich. Zu denken gibt March sr. auch, dass über den Leichen von Richard und John deutlich der Duft von Gardenien schwebte, die in Carmels Lieblingsparfüm reichlich Verwendung finden. Jonathan Latimer – Rote Gardenien weiterlesen

Remin, Nicolas – Venezianische Verlobung

Nicolas Remin schaffte mit seinem Debütroman [„Schnee in Venedig“ 1987 auf Anhieb den Weg auf die deutschen Bestsellerlisten. Seine Erfolgsfaktoren waren sicherlich einmal sein sympathischer und verarmter Krimiheld Commissario Tron, aber auch Remins netter Schreibstil und die wunderbar romantische Szenerie haben sicherlich sehr zum Erfolg des Buches beigetragen. So verwundert es nicht weiter, dass Nicolas Remin in der „Venezianischen Verlobung“ auch wieder auf diese verkaufsträchtigen Komponenten zurückgreift, um seine Leser erneut gut zu unterhalten und mit seinem Roman in das Venedig des 19. Jahrhunderts zu entführen.

In Remins zweitem Roman dreht sich alles um die venezianische Verlobung zwischen Commissario Tron und seiner Angebeteten, der Principessa di Montalcino. Die beiden sind zwar offiziell ein Paar, doch wird die Hochzeit immer weiter aufgeschoben, sodass Trons Mutter es langsam mit der Angst zu tun kriegt. Der Palazzo Tron befindet sich in seiner Auflösung, es kann nicht mehr richtig geheizt werden und es regnet durch das undichte Dach hinein, sodass Trons Mutter keine andere Möglichkeit sieht, als Nutzen aus der geplanten Hochzeit zu ziehen und sich dadurch einen Kredit bei der Bank zu besorgen. Doch die Principessa plagen auch Geldnöte, wie sie ihrem Verlobten bald anvertraut. Helfen kann ihr wiederum der gute Name der Trons mitsamt der jahrhundertealten Tradition der Familie Tron.

Doch dies ist nur das schmückende Beiwerk, das die eigentliche Kriminalhandlung abrundet und das Buch noch unterhaltsamer macht. Im Zentrum der Geschichte steht der Mord an Anna Slataper, der politischen Hintergrund zu haben scheint, da Anna die Geliebte des Erzherzogs Maximilian war, also des Bruders des Kaisers von Österreich, der nun selbst Kaiser von Mexiko werden soll. Der Fall wirkt sonnenklar, denn Maximilian scheint sich seiner Geliebten entledigt zu haben, als sein eigener politischer Aufstieg bevorstand. Doch so geradlinig ist Remins Romanhandlung nicht, denn er fügt seiner Geschichte weitere Komponenten hinzu:

Wir lernen das arme Waisenmädchen Angelina Zolli kennen, das Commissario Tron zunächst bestiehlt, ihm dann aber aus Mitleid seine Geldbörse zurückgibt, weil Angelina merkt, dass er selbst nicht viel Geld besitzt. Angelina wird Zeugin des Mordes an Anna Slataper, erkennt von dem Mörder zunächst aber nur sein Hinken. Erst später kann sie sich an weitere Details erinnern und versucht auf eigene Faust, den Täter zu stellen. Im Laufe der Romanhandlung treffen wir auf zwielichtige Gestalten, die alle scheinbar etwas zu verbergen haben, auch Erpressung ist im Spiel, denn Anna Slataper hat zusammen mit einem berüchtigten Fotografen zusammen kompromittierende Fotos erstellen lassen, die nun zu Geld gemacht werden sollen. Aber was wirklich hinter dem Mord an Anna Slataper steckt, das erfahren wir erst ganz am Ende, wenn Nicolas Remin seine einzelnen Handlungsfäden für uns entwirrt.

In ähnlicher Manier wie auch schon in „Schnee in Venedig“ beweist Nicolas Remin erneut, dass er nicht nur über eine wunderbare Beobachtungsgabe verfügt, sondern auch über ein beachtliches Erzähltalent. Seine Dialoge wirken herzerfrischend und stecken voller Wortwitz, sodass wir beim Lesen nicht selten ein Lächeln auf den Lippen haben, weil wir uns die beschriebenen Situationen bildlich vorstellen und dabei einfach amüsiert sein müssen. Bis ins kleinste Detail entwickelt Remin seine Figuren und Szenerien, er erzählt uns von Commissario Tron, der die Zeitschrift mehrfach abonniert hat, die er selbst herausgibt, nur um den Verkaufserfolg voranzutreiben. Doch dann fällt seinem Vorgesetzten Spaur ein, dass er mit „selbst geschriebenen“ (also vielmehr abgeschriebenen) Gedichten seine Geliebte beeindrucken kann. So kommt es schließlich, dass Tron in seiner geliebten Zeitschrift, dem Emporio della Poesia, neben Gedichten von Baudelaire auch die zusammengestückelten Verse seines Chefs abdrucken muss. Zeitgleich muss Tron sich mit seiner Mutter herumquälen, die seine bevorstehende Hochzeit schamlos für ihren finanziellen Vorteil ausnutzen will und Tron damit in eine peinliche Situation zu bringen droht. Die gesamte Rahmenhandlung wirkt insgesamt sehr durchdacht und ausgefeilt; Nicolas Remin zeigt uns, dass ein Kriminalroman mehr ist als nur ein brutaler Mord mit einer anschließenden Hetzjagd.

Besonders Remins Charaktere gefallen äußerst gut. Die meisten von ihnen haben wir bereits in „Schnee in Vendig“ kennen gelernt, doch nun erfahren wir neue Facetten dieser Personen, außerdem kommen neue Figuren hinzu, die ebenfalls ihren Raum in der Geschichte erhalten. Remin füllt seine Figuren aus, haucht ihnen Leben ein und macht sie uns dadurch unglaublich sympathisch. Obwohl das gesamte Geschehen im 19. Jahrhundert spielt, ist Commissario Tron jemand, mit dem man gerne einen Kaffee trinken gehen würde, weil er einfach nett und freundlich auftritt.

Leider kann die eigentliche Krimihandlung nicht ganz mit der Rahmengeschichte mithalten. Während die Geschichte zunächst geradlinig beginnt und klar zu sein scheint, welche Motive und welcher Täter hinter dem Mord an Anna Slataper stecken, so kommen nach und nach immer neue Verdächtige ins Spiel, sodass sich die Spekulationen irgendwann ziemlich im Kreise drehen. Die Verdächtigungen werden wie ein Ball hin- und hergeworfen; hier kommt man gedanklich kaum hinterher, zumal man Remins Gedankengänge nicht immer nachvollziehen kann. Zum Ende hin scheint Nicolas Remin sich in einem unübersichtlichen Wust von gegenseitigen Verdächtigungen zu verlieren, der kaum entwirrbar scheint. Das Romanende wirkt daher alles andere als überzeugend, die Motive werden uns nicht ganz klar, sodass das befriedigende Aha-Erlebnis am Ende leider ausbleibt.

Dennoch kann Nicolas Remin auch mit seinem Folgeroman überzeugen, da er erneut beweist, dass er herrliche Charaktere und Dialoge voller Wortwitz und Situationskomik entwerfen kann. Das Lesen eines Remin macht einfach Spaß, sodass man dem Autor wieder einmal kleine logische Ausrutscher in der eigentlichen Krimihandlung verzeiht.

Frenz, Lothar – Riesenkraken und Tigerwölfe. Auf der Spur mysteriöser Tiere

Auf die Spur mysteriöser Tiere begeben sich Autor und Leser dieses Bandes, der sich binnen weniger Seiten als echte Überraschung und Kleinod des deutschen Sachbuch-Marktes entpuppt. Dabei scheinen sich hier zunächst nur die üblichen Verdächtigen zu tummeln: Nessie, Bigfoot & Yeti und – die Königsfrage für Kryptozoologen (1) in der Endrunde von „Wer wird Millionär?“ – Mokéle-mbêmbe, der trompetende Miniatur-Brontosaurus im Tele-See (!) des düsteren Kongo-Dschungels.

Dort, wo solche Fabelwesen schnauben, sind auch die Fliegenden Untertassen niemals fern. Die hartnäckige Weigerung der UFO-Jünger, regelmäßig die ihnen verschriebenen Medikamente einzunehmen, sichert zwar allerlei über- und außerirdischen Kreaturen ihre Präsenz auf den „Lone Gunmen“-Websites dieser Welt („Elvis & Bigfoot rocken auf Alpha Centauri“), lässt aber den neugierigen Durchschnittsbürger vor der Kryptozoologie eher zurückschrecken.

Glücklicherweise gehört Lothar Frenz eindeutig zu jenen Vertretern dieser Zunft, deren Kopf sich dort befindet, wo er hingehört: auf seinen Schultern nämlich, statt irgendwo haltlos im esoterischen Gewaber zu treiben. So gibt es statt mystischen Gefasels Fakten oder gut begründete Thesen, die dort, wo es sich der Sache wegen ziemt, mit der nötigen Vorsicht präsentiert werden.

Überhaupt ist Frenz‘ Ansatz ein anderer als der, den der Titel zunächst suggeriert: Dem Autoren geht es nicht um die Sensation um jeden Preis; damit kann er ohnehin nicht dienen: Was bisher verschwunden blieb, taucht auch nach der Lektüre der „Riesenkraken und Tigerwölfe“ nicht auf. Aber das ist völlig unwichtig, denn gar zu rasch und fest hängt der Leser am Kanthaken, wenn Frenz damit beginnt, von ’neuen‘ Tieren zu erzählen, die immer und überall auf dieser Welt gefunden werden, die doch angeblich längst bis in den letzten Winkel vermessen, untersucht und zu allem Überfluss aus dem Weltall unter ständiger Beobachtung gehalten wird.

Doch entscheidend ist, was man mit seinen Daten anfängt. Mit Hilfe moderner Satelliten ist es zwar möglich, ahnungslose Zeitgenossen zu überraschen, die sie sich in Moskau auf dem Roten Platz in der Nase bohren. Dennoch könnte es durchaus möglich sein, dass großfüßige Affenmenschen in der nordamerikanischen Provinz direkt neben McDonalds-Filialen hausen: Es hat sie dort halt noch nie jemand wirklich intensiv gesucht!

Erstaunlich ist es schon: Unbekannte Kreaturen verbergen sich nicht zwangsläufig in tiefen Höhlen, auf arktischen Hochplateaus oder 20.000 Meilen unter dem Meer, sondern häufig direkt um die Ecke. Wer hätte beispielsweise damit gerechnet, dass ausgerechnet Mallorca die Heimat einer Krötenart ist, von der bis 1980 kein Mensch jemals gehört hatte? Ganze Legionen hirntoter Ballermänner haben jahrelang praktisch zu Häupten der kostbaren Lurche ahnungslos Sangria aus Plastikeimern in sich hineingeschüttet!

Der Gedanke hat etwas Tröstliches: Wir Menschen kommen mit dem Ausrotten der alten Arten kaum nach, so schnell entdecken unsere fleißigen Wissenschaftler Nachschub … Fast noch interessanter ist die Regelmäßigkeit, mit der die Forscher Tiere, die sie längst kennen gelernt haben, wieder ‚verlieren‘, bis sie Jahrzehnte später erneut ‚entdeckt‘ werden. Wie Frenz nachweist, kann sich dieses Spiel durchaus mehrfach wiederholen. Seltsam auch, mit welcher Hartnäckigkeit sich angeblich ausgestorbene Wesen zurückmelden. Irgendwie scheinen sie alle ein Eckchen zu finden, in das sie sich flüchten und verschnaufen können, die Quastenflosser, Seychellen-Riesenschildkröten oder Kongopfauen dieser Erde, bis sie erneut das Licht der Öffentlichkeit suchen. Und den wohl endgültig Dahingeschiedenen wie dem Moa, dem Beutelwolf oder dem Zwergelefanten diverser Mittelmeerinseln (gab es tatsächlich!) verhilft immerhin das kollektive schlechte Gewissen ihrer menschlichen Meuchler zu einem geisterhaften Nachleben, wie Frenz ebenso überzeugend wie kurzweilig deutlich macht.

Überhaupt tut es gut, ein Buch zu lesen, das diesen Titel schon rein formal für sich beanspruchen kann! Dieser Stoßseufzer ist im Zeitalter des E-Books und der Kleinstverlage, die wirklich jedem Mist zumindest die Gestalt eines Buches verleihen, sofern dafür nur bezahlt wird, durchaus angebracht. Lothar Frenz ist Naturwissenschaftler (sogar ein studierter) und Journalist (dito); für „Riesenkraken und Tigerwölfe“ erweist sich das als ideale Mischung. Ob sich sein Werk deshalb so flüssig liest, weil er regelmäßig Drehbücher für die ZDF-Kinder-Dokumentar-Filmreihe „Löwenzahn“ verfasst, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Auf jeden Fall versteht Frenz sein Handwerk; die Biografie nennt zwei weitere Buchveröffentlichungen zu den Themen Störche bzw. Sterbehilfe; größer kann die thematische Bandbreite eines Wissenschaftsjournalisten eigentlich nicht sein …

Anlass zur Kritik geben höchstens die Illustrationen: Uralte Kupferstiche, Zeichnungen aus Urvater Brehms „Thierleben“ und Schwarzweiß-Fotos in miserabler Wiedergabe-Qualität, nicht selten digital-dilettantisch aus der Vorlage ‚ausgestanzt‘, ohne Hintergrund jeglichen Aussagewertes beraubt und lieblos irgendwo in den Text montiert, lassen zumindest in der Gestaltung den Verdacht aufkommen, der Verlag habe das Manuskript von einem an Selbstüberschätzung leidenden, autodidaktisch ‚ausgebildeten‘ (und billigen) Grafiker am heimischen PC in Form bringen lassen. Sparsamkeit hin, Preiskalkulation her: So geht es jedenfalls nicht!

Damit ist es aber auch schon genug der Kritik an einem Sachbuch, das kundig und unterhaltsam, nicht mit wissenschaftlichem Anspruch (doch diesen auch gar nicht erhebend), sondern neugierig und ohne den in Deutschland stets präsenten erhobenen Zeigefinger in sein Thema einführt: kein Wunder, dass sich eine renommierte Naturwissenschaftlerin wie Jane Goodall nicht nur als Kryptozoologin ‚outet‘, sondern auch gern dazu bereit erklärte, „Riesenkraken und Tigerwölfe“ durch ein Vorwort zu adeln – nicht, dass dieses Buch darauf angewiesen wäre!

Anmerkung:

(1) Die „Krytozoologie“ – übrigens kein ‚offizieller‘ i. S. von anerkannter Zweig der Naturwissenschaften – widmet sich dem Studium von (d. h. in der Realität primär der Suche nach) Lebewesen, auf deren Existenz zwar Spuren hindeuten, ohne dass diese letztlich jedoch (bisher) bewiesen werden konnte.

Tonke Dragt – Das Geheimnis des siebten Weges

Bei meiner Recherche zu diesem Titel habe ich erfahren, dass es seinerzeit bereits eine TV-Serie namens „Das Geheimnis des siebten Weges“ gegeben haben muss. Keine Stunde später erzählte mir mein Bruder, dass er die Serie damals im Ersten Deutschen Fernsehen gesehen hat und recht begeistert war. Für all diejenigen, die das damals verpasst haben, trotzdem aber interessiert sind, gibt es nun zwei Möglichkeiten. Entweder man schreibt sich im Internet auf der TV-Wunschliste für diese Serie ein und wartet oder man wählt die schnellere Variante und greift nun das gleichnamige Hörbuch ab, in dem die Geschichte um den beliebten Lehrer Franz van der Steeg neu belebt wird.

Story

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Frankfurt, Harry G. – Bullshit

In dem Buch mit dem sehr prägnanten Titel „Bullshit“ befasst sich der Autor Harry G. Frankfurt, seines Zeichens Professor für Philosophie an der Universität von Princeton, mit dem Phänomen des „Bullshits“. „Bullshit“ meint in diesem Kontext, vereinfacht formuliert, Gerede von äußerst fragwürdiger oder völlig fehlender inhaltlicher Substanz. Um sich dem Begriff des „Bullshits“ zu nähern, zitiert er im Laufe der insgesamt 65 Seiten dieses Büchleins diverse Auszüge aus dem Oxford English Dictionary sowie eine Anekdote über Wittgenstein und auch eine Passage aus dem Werk „Die Lüge“ von Augustinus, um nur die bekanntesten Namen zu nennen.

In zumindest augenscheinlich wissenschaftlicher Weise geht der Autor daran, den „Bullshit“ genauer zu bestimmen. Dies tut er vor allem anhand sprachwissenschaftlicher Überlegungen. Im Zuge dessen grenzt er beispielsweise den „Bullshit“ vom „Humbug“ und der ordinären Lüge ab. Wenngleich es nur etwa eine Stunde dauern dürfte, dieses Buch zu lesen, so erscheint es dennoch überwiegend langatmig. Die wenigen originellen Lichtblicke werden sogleich wieder von jenem Schwadronieren überdeckt, welches sich leider in vielen philosophischen Auseinandersetzungen finden lässt. Dieses Buch als Philosophie zu beschreiben, wäre jedoch wesentlich zu hoch gegriffen. Es erscheint vielmehr als ein Gedankenspiel über ein Thema, dessen Signifikanz für die Philosophie eindeutig in Frage gestellt werden muss. An der Qualifikation und Reputation des Autors ist indes keineswegs zu zweifeln, allerdings muss man sich vor Augen führen, was dieses Buch ist oder vielmehr sein soll. Es ist ein einzelner Gedanke, der sehr weitschweifig ausgeführt wird und dessen Bedeutsamkeit, wie erwähnt, höchst strittig ist. „Bullshit“ ist ein Essay, über das man sich zumindest an einigen wenigen Stellen amüsieren kann, insofern man diese Form des Humors teilt.

„Ist der Bullshitter seinem Wesen nach ein geistloser Banause? Ist sein Produkt in jedem Fall grob und unsauber gearbeitet? Das Wort |shit| verweist natürlich darauf. Exkremente sind niemals in besonderer Weise gestaltet und gearbeitet.“ „Während |heiße Luft| ein von jeglichem Informationsgehalt entleertes Reden darstellt, sind Exkremente Stoffe, denen jeglicher Nährstoffgehalt entzogen worden ist.“

Angesichts solcher Textstellen darf man sich doch fragen, ob es wirklich eines Professors für Philosophie bedarf, um solche Vergleiche anzustellen. Ebenso lässt sich hieran besonders deutlich veranschaulichen, wie gering der Grad an Wissenschaftlichkeit ist, der von Seiten des Autors an den Tag gelegt wird. Dies hat allerdings Methode, wie man annehmen kann. Zunächst möchte ich dem potenziellen Leser dieses Buches eine verschwendete Stunde und die Vergeudung von 8 € ersparen. Das Büchlein hat im Endeffekt nur zwei Kernaussagen, die ich aus besagten Gründen an dieser Stelle zitieren möchte:

1. „Bullshit ist immer dann unvermeidlich, wenn die Umstände Menschen dazu zwingen, über Dinge zu reden, von denen sie nichts verstehen.“
2. „In Wirklichkeit sind wir Menschen schwer zu packende Wesen. Unsere Natur ist notorisch instabiler und weniger eingewurzelt als die Natur anderer Dinge. Und angesichts dieser Tatsache ist Aufrichtigkeit selbst Bullshit.“

Das zweite Zitat stellt übrigens gleichzeitig den Abschluss von „Bullshit“ dar. 65 Seiten Wortklauberei kulminieren also in diesen drei Sätzen, die inhaltlich weder neu noch besonders originell sind. Für einen Leser, der sich noch nie mit Philosophie befasst hat, mag das eine bemerkenswerte Schlussfolgerung des Autors sein, allerdings kann ich nachdrücklich versichern, dass dem, objektiv betrachtet, nicht so ist. Jeder Philosophiestudent im Grundstudium wäre in der Lage, eine solche These aufzustellen. Zudem ist die Frage, ob ein Mensch überhaupt zu gesicherter Kenntnis über sich oder seine Umwelt gelangen kann, grundlegender Bestandteil jeglicher erkenntnistheoretischer Philosophie. Wer sich allerdings für das Thema der Erkenntnis und des Irrens interessiert, dem kann ich als Einstieg nur René Descartes’ „Meditationen“ wärmstens ans Herz legen. Allerdings ist dies nur eines der vielen Bücher zum Thema, die allesamt gehaltvoller und faszinierender sind als „Bullshit“.

Natürlich wird dem Leser des Buches nicht entgehen, dass der Autor sich ein offenkundig triviales Thema gesucht hat und dieses mit großem Aufwand bespricht. Der „Clou“ des Buches soll offensichtlich darin bestehen, dass gesicherte Aussagen durch die instabile Beschaffenheit des eigenen Ichs in äußerstem Maße schwierig erscheinen. Dies bedeutet, wenn man den Gedanken auf die Spitze treibt, dass der Autor seinen Leser am Ende des Buches mit dem Eindruck zurücklässt, die soeben gelesenen 65 Seiten seien in der schlussendlichen Konsequenz ebenfalls „Bullshit“. Und zumindest in diesem Punkt stimme ich eindeutig mit dem Autor überein. Somit scheint der alte Satz „Nomen est omen!“ für das Buch „Bullshit“ durchaus zutreffend zu sein.

Crowe, Cameron – Hat es Spaß gemacht, Mr. Wilder?

Während einige wenige Schauspielerinnen und Schauspieler aus Hollywoods „Goldenem Zeitalter“, das Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre endete, noch unter uns Normalsterblichen weilen, sind die Regisseure jener Ära, die ihnen einen guten Teil ihres Glanzes verdankt, längst in den Zelluloid-Himmel eingegangen. Billy Wilder, geboren 1906 in einem vergessenen Flecken irgendwo in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, einer der größten Drehbuchautoren und Filmemacher überhaupt, hat sie alle überlebt! Zwar ließ ihn Hollywood seit 1981 keine Filme mehr drehen, doch der bärbeißige Meister hat den Kontakt zur Kinowelt niemals abreißen lassen. Bis kurz vor seinem Tod im biblischen Alter von 96 Jahren behielt Wilder am berühmten Hollywood-Boulevard ein eigenes Büro, in dem er sich als sein eigener Nachlassverwalter die Zeit vertrieb und voller Groll auf die Rechenschieber und Bilanzenreiter schimpfte, die seiner Karriere ein unrühmliches und vorzeitiges Ende bereitet hatten.

Seit Mitte der 1920er Jahre war Wilder im Filmgeschäft; zunächst in Deutschland, dann nach 1933 – Wilder war Jude – für kurze Zeit in Frankreich und schließlich in den Vereinigten Staaten, wo er zunächst als Drehbuchautor und dann als Regisseur über vier Jahrzehnte Filmgeschichte schrieb. Die Liste seiner Klassiker ist eindrucksvoll: „Das verflixte 7te Jahr“ gehört ebenso dazu wie „Manche mögen’s heiß“, „Das verlorene Wochenende“, „Das Appartement“ oder „Irma la Duce“.

Dass dieser Mann über das Filmemachen eine ganze Menge weiß, liegt auf der Hand. Es war hoch an der Zeit, dieses Wissen zu dokumentieren. Wilder wollte biografisch nie zur Feder greifen; er habe nie etwas geschrieben, für das man ihn nicht im Voraus bezahlt habe, ließ er verlautbaren. Leider ist unter der Knute der globalisierten Ignoranten die Ehrung der alten Meister aus der Mode gekommen. Wilder war – nicht zuletzt aufgrund seiner niemals verwundenen Kaltstellung – in seinen späten Jahren zudem ein schwieriger Interviewpartner. Zur Bitterkeit gesellte sich ein guter Teil Altersstarrsinn. Dumme Fragen – oder was er dafür hielt – reizten ihn und fehlende Fachkenntnis bei seinem Gegenüber weckten seinen ausgeprägten Sinn für Sarkasmus.

Unter solchen Voraussetzungen war es naturgemäß denkbar schwierig, Wilder als Interviewpartner zu gewinnen. Cameron Crowe unternahm in der zweiten Hälfte der 90er Jahre den schwierigen Versuch. Auch er schien rasch zum Scheitern verurteilt zu sein, doch dann setzte sich Wilders Neugier durch: Crowes Werdegang wies erstaunliche Parallelen zur eigenen Karriere auf. In den frühen 1920er Jahren begann Wilder (damals noch „Billie“) als Reporter (der fragwürdige Gipfelpunkt dieser „Karriere“ bestand darin, vom interviewunwilligen Sigmund Freud höchstpersönlich vor die Tür gesetzt zu werden …). Crowe war in dieser Hinsicht als Journalist und Mitherausgeber des renommierten „Rolling Stone“-Magazins ungleich erfolgreicher, bevor er sich nach Hollywood begab und sich dort wie Wilder an der seltenen Kombination Drehbuchautor/Regisseur versuchte – mit durchschlagendem Erfolg: Crowes dritter Film – „Jerry Maguire“ mit Tom Cruise – entwickelte sich zu einem der erfolgreichsten Filme der 90er Jahre und sicherte seinem Schöpfer gleich zwei „Oscars“.

Billy Wilder konnte beruhigt sein: Hier bemühte sich ein „Ebenbürtiger“ um seine Aufmerksamkeit. 1995 begann Crowe mit seinen Interviews, die sich aufgrund der Eigenwilligkeiten des Befragten zunächst mühsam anließen. Doch je besser sich Crowe und Wilder kennen lernten, desto besser kamen sie in den drei Jahren, über die sich das Projekt schließlich (mit großen Pausen) hinziehen sollte, miteinander zurecht. Crowes orientierte sich grob an einem berühmten und bewährten Konzept: Dreißig Jahre zuvor hatte der Regisseur und Filmhistoriker François Truffaut den großen Alfred Hitchcock befragt. Dies geschah im Rahmen einer längeren Reihe ausführlicher Interviews, die zum ersten Mal einen einzigartigen Einblick in das Werk und das Leben des vom Publikum geschätzten, von der Kritik aber bisher weitgehend unbeachteten Meisters der Suspense ermöglichten. Den roten Faden bildeten die Filme, die lückenlos ange- und besprochen wurden.

Genauso gingen nun Crowe und Billy Wilder vor, was Letzteren nicht immer begeisterte, gibt es doch in seiner Filmografie Werke und in seinem Leben Vorfälle, über die er zu gern den Mantel des Vergessens breiten wollte. Zudem war Wilder ein Meister der Finte und des Ausweichens. Festnageln konnte man ihn nur schwer. Doch bei aller gebotenen Ehrfurcht ließ Crowe nicht locker. Noch größeres Vergnügen als die hochinteressanten filmhistorischen Informationen bereitet die Beobachtung der rhetorischen Scharmützel, die er und sein Wild(er) sich lieferten, denn Crowe beschreibt immer wieder, wo und unter welchen Umständen er sich mit Wilder traf und was sich dabei jenseits des Aufnahmemikrofons ereignete. Über die späten Jahre prominenter Männer und Frauen zeigen sich die Quellen oft ziemlich schweigsam. Das ist auch verständlich, denn im Alter verlieren sie mit ihrer Kraft gewöhnlich das, was sie für ihr Publikum so faszinierend machte. Doch Wilder war zum Zeitpunkt der Crowe-Interviews zwar alt, nicht mehr gesund und oft melancholisch, doch geistig völlig auf der Höhe und von daher eine Persönlichkeit, die der Welt etwas zu sagen hatte.

„Conversations with Wilder“, wie der vorliegende Band im Original viel schöner und auch treffender betitelt wurde, ist nicht nur bis zum Rand angefüllt mit klugen Anmerkungen zur Filmgeschichte und zahllosen Anekdoten über die Schauspieler/innen, Studiochefs, Kameramänner und Autoren, mit denen (oder gegen die) Wilder im Laufe seiner langen Karriere gearbeitet hat. Der großformatige Band prunkt außerdem mit einer Unzahl begleitender Schwarzweißfotos. Doch hier muss die einzige echte Kritik ansetzen: Für den modischen, aber für eine Dokumentation ungeeigneten „Sechzigerjahre-Retro-Schick“ mit seinen direkt vom Fernsehbildschirm abgenommenen und folgerichtig konturschwachen und verschwommenen Filmbildern opfert Crowe die klare Linie seiner ansonsten über die gesamte Distanz unterhaltsamen Quasi-Werkschau und -Biografie. Bei einem Buch, das ziemlich teuer verkauft wurde, hält sich das Verständnis für pseudo-künstlerische Stückchen dieser Art in Grenzen! Das ist aber auch der einzige Einwand, der sich gegen Crowes meisterhafte Darstellung erheben lässt, die dem Bücherschrank jedes Filmliebhabers zur Zierde gereichen wird.

Merlau, Günter – Schloss der Schlange, Das (Die Schwarze Sonne, Folge 1)

Das junge Hörspiel-Label |Lausch| hat erst kürzlich mit der Erstveröffentlichung von [„Caine“ 2050 einen echten Volltreffer gelandet, da startet auch schon die nächste Serie mit dem Titel „Die schwarze Sonne“. Und wieder ist alles bestens: tolle Story (sehr frei interpretiert nach der Romanvorlage von Bram Stoker), exzellente Sprecher, herrliche Atmosphäre und eine wunderschöne Aufmachung mit tollen Zeichnungen und Illustrationen im Booklet. Kurzum – man darf es vorwegnehmen – ein Optimalfall von einem Hörspiel und ein weiteres wichtiges Standbein, mit dem sich das Label endgültig etabliert haben sollte.

_Story_

England 1885: Nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern kehrt der junge Adam Salton in seine Heimat zurück. Dort wird er schon von seinem Onkel Richard sowie dessen Gefährten Nathaniel de Salis erwartet. Besonderes Letzterer ist Adam von Anfang an sympathisch, hat er doch ein Faible für das Mystische, ähnlich wie Adam selber, der seit einiger Zeit von grausamen Visionen und erschreckenden Tagträumen heimgesucht wird.

Doch auch die Realität ist voller Entsetzen: Bereits bei seiner Ankunft stoßen die drei Männer auf eine brutal zugerichtete Leiche, deren zunächst prognostizierte, natürliche Todesursache heftig umstritten ist. Als es dann nicht bei dem einen Leichnam bleibt, entschließen sich Nathaniel und Adam, dem Spuk auf den Grund zu gehen. Beiden ist bewusst, dass die Bewohner von Derbyshire irgendetwas verheimlichen, doch noch kann sich niemand einen Reim darauf machen, wie es zu den plötzlichen Todesfällen gekommen ist. Dann jedoch machen die beiden eine furchtbare Entdeckung: In den Mooren von Derbyshire haust ein mythologisches Schlangenwesen, das von einem seltsamen Kult gedeckt wird. Langsam kommt Licht ins Dunkel, doch eine Frage steht weiterhin im Raum: In welchem Zusammenhang stehen die jüngsten Morde mit dem Tod von Adams Eltern?

_Meine Meinung_

Natürlich wird ein Hörspiel in erster Linie im Hinblick auf die Rahmenhandlung bzw. die eigentliche Geschichte bewertet. Ohne einen spannenden Plot läuft nunmal gar nichts. Und dennoch ist „Die schwarze Sonne“ in seiner genialen Umsetzung nicht nur auf die eigentliche Story zu beschränken. Es sind die fantastischen Bedingungen, unter denen dieses Hörspiel auftritt, die letztendlich für die hier entfachte Begeisterung sorgen. Alleine schon der Soundtrack dieser ersten Episode ist Gold wert. Mit vielseitiger Klassik hebt Hörspielautor Günter Merlau die verschiedenen Stimmungen perfekt hervor. Düstere Gruselstimmung, plötzliche Euphorie, gesteigerte Theatralik – alles zu seiner Zeit und alles unheimlich toll inszeniert. Lausch bieten nicht nur eine erzählte Geschichte, sondern Kino für die Ohren! Bärenstark, wie die Atmosphäre immer wieder ruckartig umschlägt. Ängste, Liebe, Harmonie, Schrecken, Freude, Grusel, Verwirrung, was will man mehr?

Dazu dann die Sprecher: Das Label kann wirklich auf eine erlesene Auswahl erstklassiger Akteure zurückgreifen. Besonders hervorzuheben sind hier die beiden Hauptdarsteller Christian Stark in der Rolle des Adam Salton und Harald Halgarth als der wissensdurstige Nathaniel de Salis. Stark kann dabei besonders an den Stellen, in denen die Handlung aus seiner Sicht erzählt wird, auftrumpfen. Die Beschreibung seiner schrecklichen Visionen sowie das Erleben der abenteuerlichen Ermittlungen rund um die Moore von Derbyshire sind darstellerische Extraklasse, oder, um beim Klischee zu bleiben, ganz großes Kino!

Die eigentliche Story soll bei all dem äußeren Glanz natürlich nicht unter den Tisch gekehrt werden. Günter Merlau nimmt sich alle Freiheiten, die ihm seine Arbeit bietet, hält sich aber inhaltlich komplett an die Vorlage. Der wesentliche Unterschied besteht in der frischen, lebhaften Präsentation. Der verstaubte Stoker wird neu belebt, das alte England durch die moderne Aufarbeitung ins neue Jahrtausend transferiert. Dennoch geht dies nicht auf Kosten der Spannung. Und, nicht unwichtig, das Ganze wirkt auch nicht wie die kitschige Auferweckung verschollener Klassiker. Denn gerade erst durch den tollen Soundtrack und die herrliche Grundstimmung bekommt das Hörspiel die zweifellos vorhandene Authentizität zugesprochen; erst hierdurch entsteht das teils gruselige, teils abenteuerliche Flair, in dem sich die Geschichte bewegt. Außerdem begeht man nicht den Fehler, die Story an sich zu modernisieren. Jugendliche Plattitüden sind den Machern fremd, Gepflogenheiten des 19. Jahrhunderts hingegen willkommen.

Was kann ich mehr sagen? Es passt einfach jedes einzelne Puzzlestück dieser Produktion wie die berüchtigte Faust aufs Auge. „Das Schloss der Schlange“ ist ein wunderbarer Auftakt einer neuen, viel versprechenden Reihe, mit der wir in Zukunft garantiert noch sehr viel Freude haben werden. Leider wird die Fortsetzung erst im Herbst erscheinen, doch bis dahin ist dann wenigstens genügend Zeit, um die Kunde von diesem neuen, fantastischen Label für phantastische Unterhaltung weiterzugeben! Mit einem Wort: Super!

http://www.die-schwarze-sonne.de/
http://www.merlausch.de

Weißmann, Karlheinz – Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus

Vor 30 Jahren starb der bedeutende Anthropologe Arnold Gehlen, der zu Lebzeiten sehr bekannt war und heiß diskutiert wurde, mittlerweile aber fast vergessen scheint. Der Göttinger Historiker Karlheinz Weißmann, der auch an der anspruchsvollen Vierteljahresschrift „Sezession“ mitwirkt, will in seinem Buch „Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus“ diesen Kopf wieder in Erinnerung rufen und einer – durchaus kritischen – Diskussion zuführen. In Zeiten, die durch Terrorismus, große politische Verwirrung bis in die Regierungen und strukturelle Arbeitslosigkeit geprägt sind (einige Medien sprechen gerne vom „Ende der Spaßgesellschaft“), scheint auch die Nachfrage nach den völlig unromantischen und unpopulären Ideen Gehlens zum Menschen und seiner Gemeinschaftsordnung zu steigen. Weißmanns Buch ist der zweite Band aus der Reihe „Perspektiven“, die Denker vorstellt, die von der Mainstream-Debatte gerne übersehen werden. Es gliedert sich in einen biographischen Abriss, vier Kapitel zu zentralen Begriffen aus Gehlens Denken und einen Abschnitt über das Dilemma politischer Philosophen, Gedanken zu veröffentlichen, denen zu viel Öffentlichkeit schaden könnte.

Die biographischen Angaben beschränken sich überwiegend auf Gehlens akademisches Leben, seine Lehrstühle, seine Lehrer und Schüler. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Kapitels ist sein zwiespältiges Verhältnis zum Nationalsozialismus. Bei äußerer Anpassung behielt er in seiner Lehre eine Eigenständigkeit, die regimetreuen Kritikern oft ein Dorn im Auge war. Auch später in der BRD wurde er vom offiziellen akademischen Betrieb eher misstrauisch beäugt, während sich Wirtschaft und Verbände um seine Vorträge rissen. Der Mensch Gehlen bleibt in diesem Kapitel jedoch etwas blass.

Die thematischen Kapitel beruhen auf zentralen Begriffen und Hauptwerken Gehlens. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darlegung seiner eigenen Hauptgedanken. Vorgänger und Anregungen werden unterschiedlich intensiv behandelt. In jedem Kapitel folgt darauf die Vorstellung der unterschiedlichen – zustimmenden wie ablehnenden – Reaktionen, die von verschiedenen Seiten vorgetragen wurde. Dass der Kritik so viel Platz eingeräumt wird, ist berechtigt, da Gehlen sich von sachlicher, konstruktiver Kritik durchaus beeindrucken ließ und daraufhin manchmal seine Schriften in jüngeren Auflagen umformulierte.

Ausgangspunkt in Gehlens Denken ist die rein analytische Betrachtung des Menschen in der Welt, wie er sie vor allem in seinem Hauptwerk „Der Mensch“ (zuerst 1940) formulierte. Er gilt als einer der Mitbegründer der modernen Anthropologie. Für ihn war der Mensch einerseits das gegenüber dem Tier instinktarme und schwache „Mängelwesen“ und andererseits der intelligente, d. h. der berechnende und sein eigenes Verhalten steuernde „Prometheus“. Es wird erläutert, wie seine Vorstellungen vom „Mängelwesen“ – vermutlich der bekannteste Begriff Gehlens – von antiken Philosophen und Herder angeregt war. Weißmann legt hier dar, wie Gehlen sich u. a. auf neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse stützte und dabei von der (schulmäßigen) Philosophie abwandte. Obwohl Professor für Philosophie, sah er seine Anthropologie schließlich ausdrücklich als Abkehr von der Philosophie, so wie sie die Naturwissenschaften bereits wenige Jahrhunderte zuvor vollzogen hatten.

Seine Institutionenlehre hat Gehlen vor allem in „Urmensch und Spätkultur“ ausgebreitet. Schon an diesem Buchtitel wird deutlich, dass Gehlen die Institutionen, angefangen bei Ehe, Familie und religiösen Riten, als Hervorbringungen des prähistorischen Menschen sieht, der noch sehr stark den Mächten der Natur ausgeliefert ist und mit den Institutionen eine Entlastung im Kampf ums Überleben aufbaut. Der späte Mensch in diesen Institutionen entfremdet sich der ursprünglichen Lage, verliert den Bezug zu ihnen und verkennt ihre Bedeutung. Wieder gelingt es Weißmann, Gehlens Ansätze von den Naturwissenschaften und der Psychologie und seine Abwendung von einer spekulativen Philosophie deutlich zu machen. Es wird dabei klar, dass man sich hier auf einer Stufe befindet, auf der nichts mehr endgültig bewiesen oder widerlegt, sondern allenfalls noch in schlüssigen Theorien formuliert werden kann. Nicht zuletzt deswegen ist dieses Kapitel sicher das stärkste des Buches, denn Weißmann schafft es sehr gut, Entwicklung, Aufbau und Systematik von Gehlens Vorstellungen zu vermitteln.

Im letzten thematischen Kapitel werden Gehlens Intellektuellenkritik sowie seine Begriffe „Kristallisation“ – für Gehlen die Versteinerung eines durch Technik und Wirtschaftstätigkeit geprägten Systems, die ein völlig neues Zeitalter einläutet – und „Moral und Hypermoral“ (so sein letztes Werk von 1969) vorgestellt. Erst durch die wieder klar verständliche Darlegung dieser Gedanken wird deutlich, warum das Ganze unter der Überschrift „Die Geschichte“ läuft. Durch eine kurze Erläuterung dieser Zuordnung zu Beginn wäre klarer geworden, dass Arnold Gehlen diese Gedanken in und für eine ganz bestimmte Epoche entwickelt hat. Wie der Verfasser ausführt, hat die ständige Auseinandersetzung des Gegenwartsdenkers Gehlens noch im Alter zu Änderungen in seinem Weltbild geführt.

Abschließend enthält das Buch eine Bibliographie einschließlich Sekundärliteratur und eine Zeittafel zu Gehlens Leben und Werk.

Weißmann wird seinem Anspruch, Gehlen als „Vordenker eines neuen Realismus“ vorzustellen, in zweierlei Hinsicht gerecht: Einmal zeigt er ihn als einen Gegner jeglicher Utopien und Idealismen, zum anderen als äußerst eigenständigen Kopf, der ungewöhnliche Gedanken entwickelt und sich quer zu irgendwelchen Denktraditionen stellt, wenn er sich damit auf der richtigen Spur zur Erfassung der Wirklichkeit glaubt.

Diese Schrift ersetzt mit ihren knapp 120 Seiten natürlich keine umfangreiche Monographie, ist aber als kurze und prägnante Einführung sehr zu empfehlen. Hier wird ein Denker, der nicht gerade zu den ständig zitierten Köpfen gehört, kompetent, verständlich und kritisch vorgestellt.

Bilal, Enki – Bilal – 32. Dezember

|Enki Bilal gehört seit Jahren zu den Großen der französischen Comic-Szene. Sein Zyklus »Legenden der Gegenwart« und die Geschichten um Alexander Nikopol und Jill Bioskop haben ihn zu einem der tonangebenden Zeichner der achtziger und neunziger Jahre gemacht. Nach einem kurzen Blick auf Bilals Biographie werden an dieser Stelle zwei seiner Comic-Alben vorgestellt, die vor einiger Zeit auf Deutsch im |Ehapa|-Verlag erschienen sind: »Exterminator 17« und »32. Dezember«.|

Enki Bilal wurde am 7. Oktober 1951 in Belgrad geboren. Als er zehn Jahre alt war, beschlossen seine Eltern, nach Frankreich auszuwandern. Die Familie fand in Paris ein neues Zuhause. Schon früh entdeckte Bilal seine Faszination für das Zeichnen. Mit einer seiner Arbeiten gewann er 1971 einen Talentwettbewerb für Nachwuchszeichner, den die Jugendzeitschrift »Pilote« veranstaltet hatte. Es folgte eine erste Veröffentlichung in Heft 645 von »Pilote«. Nach diesem ersten Erfolg blieb Bilal dem Magazin viele Jahre lang treu verbunden. In den siebziger Jahren schrieb und zeichnete er für »Pilote« viele kleine Szenarios. Er entwickelte dabei seine so genannte Runzeltechnik und übte sich in Direktkolorierung, was damals noch eine eher ungewöhnliche Methode war.

Ebenso wichtig wie die Ausbildung seines Zeichentalents in jenen Tagen war wohl Enki Bilals Bekanntschaft mit Pierre Christin. Der langjährige Szenarist wollte politische Themen aufgreifen und konnte Bilals Hang zu Monstren und phantastischen Halbwesen nicht so recht teilen. Doch aus der gemeinsamen Arbeit dieses ungleichen Paares erwuchs der fünfteilige Zyklus »Legendes d’Aujourd’hui« (dt.: Legenden der Gegenwart), der in der Zeit von 1975 bis 1983 entstand. Bilal und Christin widmeten sich hier gesellschaftlichen Themen. Die Geschichten waren geprägt von einem stets skeptischen Blick auf die Machtstrukturen der Politik. Später kamen phantastische Einflüsse hinzu, die auf Bilals Konto gingen. Der grob als »Polit-Fiction« zu umschreibende Zyklus stellt Bilals erstes großes Werk dar und brachte ihn (trotz gewisser inhaltlicher Schwächen) voran in die erste Liga der französischen Comickünstler.

Wem Enki Bilal seitdem noch kein Begriff war, lernte ihn spätestens durch seinen zweiten Zyklus kennen. Der dreiteilige Nikopol-Zyklus, begonnen 1980, entstand allein unter Bilals Federführung. Sowohl als Autor als auch als Zeichner setzte er mit dem ersten Band »La foire aux Immortels« neue Maßstäbe. Die Geschichte teilt Seitenhiebe in Richtung von Politik, Kirche und Gesellschaft aus. Nicht zuletzt ist es ein phantastisches Science-Fiction-Abenteuer. Zeichnerisch ist Bilals Freude an offenen Formen, an großen Panels und an grafischer Ganzheitlichkeit kaum zu übersehen. Jede Seite ein Kunstwerk, könnte man seinen Anspruch formulieren.

_Exterminator 17_

Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Bei |Ehapa| erschien vor kurzer Zeit das Album »Exterminator 17« (frz.: Exterminateur 17), das Bilal 1976/77 mit dem Szenaristen Jean-Pierre Dionnet schuf. Das SF-Szenario stellt eine Präambel zu der späteren gleichnamigen Reihe dar und beleuchtet die Vorgeschichte der Hauptfigur, des Androiden Nummer 17. Es geht dabei um einen Kriegsandroiden der Generation 17, ein altes Modell, das zerstört werden soll. Sein Erfinder und Konstrukteur richtet es jedoch so ein, dass seine Seele bei seinem Tod auf die menschliche Maschine überwechselt. Fortan ist Exterminator 17 ein Android mit der Seele seines Erfinders, mit einem Bewusstsein seiner Selbst und mit Lebenswillen. Ein Rebell unter den Maschinen. Aus Angst vor einer Revolution machen die Menschen Jagd auf ihn.

Veröffentlicht wurde die Geschichte zum ersten Mal in dem ambitionierten SF-Comic-Magazin »Metal Hurlant« (Heft 13). Wer andere Arbeiten von Enki Bilal kennt, muss sich über »Exterminator 17« wundern. Gleichförmig angeordnete Panel, zusammenhanglose Bildsprünge, langweilige Hintergründe – weder Form noch Inhalt von »Exterminator 17« können überzeugen. »Exterminator 17« ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein schlechtes Szenario negativ auf die Zeichenqualität auswirkt. Was Enki Bilal später zu »Exterminator 17« zu sagen hatte, unterstützt diesen Eindruck: „Die ersten zehn Seiten hatten mich noch interessiert, aber plötzlich hakte ich die Sache komplett ab. Ich habe die Geschichte dann ohne Enthusiasmus zu Ende gezeichnet. Rein automatisch.“

_32. Dezember_

Ganz anders sieht es bei dem Album »32. Dezember« aus. Hier ist alles wieder da, was man als Leser des Nikopol-Zyklus geschätzt hat. Mutige, offene Bildformen, Direktkolorierung, unter der die einzelnen Linien zu verschwinden drohen, ein abwechslungsreicher Gesamteindruck. Durch unzählige grafische Gegensätze entsteht ein spannendes Werk: Kleine Panels stehen gegen große, farbige Doppelseiten gegen nahezu farblose, haargenau Details gegen unklare Eindrücke. Und nicht nur optisch ist Bilals »32. Dezember« ein außerordentlich empfehlenswertes Comic-Album. »32. Dezember« ist der zweite Teil einer Trilogie, die 1998 mit dem Band »Der Schlaf des Monsters« (frz.: Le Sommeil du Monstre) begann. Bilal wendet sich mit dieser dritten großen Arbeit wieder dem Medium Comic zu, nachdem er eine ganze Weile im Filmgeschäft aktiv war.

In »32. Dezember« erzählt Enki Bilal die Geschichte von Nike, Amir und Leyla, die in den neunziger Jahren als elternlose Säuglinge in den Ruinen von Sarajewo gefunden wurden. Inzwischen ist viel Zeit vergangen, über dreißig Jahre. Sie haben noch gelegentlich Kontakt miteinander. Auf unterschiedlichen Wegen schlagen sie sich durch die Welt des Jahres 2026. Es treffen also wieder Science-Fiction und persönliche Abgründe aufeinander. »32. Dezember« ist jedoch weitaus mehr. Themenschwerpunkte des Bandes sind Kunst und Religion. Optus Warhole, ein weltweit legendärer Künstler, kennt kein Maß und keine Form mehr. Er ist radikal bis zum Äußersten, schreckt vor inszenierten Massenmorden nicht zurück. Die Menschheit ist seine Leinwand, formbar. Bilal selbst sagt: „Manipulation ist das zentrale Thema meiner Bücher, was auch immer andere dazu sagen.“ Von diesem Standpunkt aus wird auch der Bogen zur Religion ersichtlich. Die kürzlich irgendwo in der Wüste entdeckte Adler-Stätte stellt die Führer aller Religionen vor neue Fragen über den Ursprung der Menschheit. Sind die phantastischen Relikte echt oder nur ein weiterer Spielstein in dem allumfassenden Werk von Optus Warhole? Die bezaubernde Melancholie, die Bilals Werke auszeichnet, ist in »32. Dezember« voll da. Eine schwer greifbare Seelenzerrüttung der Hauptfiguren, Grausamkeit und phantastische Höhenflüge treffen sich hier und formen ein facettenreiches Ganzes. »32. Dezember« bleibt nicht unpersönlich, und der Leser kommt nicht umhin, zu deuten und selber Überlegungen anzustellen. Ein herrlicher Comic, einhundert Prozent Enki Bilal, ein Album zum Immer-wieder-Lesen.

Wann der dritte Teil der Trilogie erscheint, ist noch nicht bekannt.