Alle Beiträge von Michael Matzer

Lebt in der Nähe von Stuttgart. Journalist und Buchautor.

C. J. Cherryh – Yeager. Ein Alliance-Union-Roman

Am Rande der Schlacht und der Existenz

Caroline Cherryh erhielt 1981 für ihren Roman „Downbelow Station“ (dt. bei Heyne als „Pells Stern“) den begehrten HUGO Award, weil sie das Leben an Bord einer Raumstation so realistisch geschildert hatte, als habe sie dort schon einmal selbst gelebt. „Yeager“ („Rimrunners“, 1989) ist mindestens ebenso realistisch, aber noch weit härter und desillusionierter in seinen Schilderungen.
C. J. Cherryh – Yeager. Ein Alliance-Union-Roman weiterlesen

C. J. Cherryh – Tripoint. Ein Alliance-Union-Roman


Cherryhs „Schatzinsel“: die Fehde der Sternenkauffahrer

Man schreibt das 24. Jahrhundert im Allianz-Union-Universum. Wie bereits „Kauffahrers Glück“ und „Pells Ruf“, so ist auch „Tripoint“ ein Roman, der im Umfeld der Kauffahrer spielt, die mit ihren Familienschiffen die Verbindungen zwischen den Welten herstellen. Diese Familien stehen miteinander in hartem Wettbewerb um Transportkontrakte, und Tom Hawkins von der „Sprite“ gerät zwischen die Fronten, denn er wird von der „Corinthian“ gekidnappt, so dass er seinem Vater gegenübersteht – und einer ziemlich abgefahrenen Crew. Aber welchen finsteren Herren dient die „Corinthian“ wirklich?
C. J. Cherryh – Tripoint. Ein Alliance-Union-Roman weiterlesen

Stroud, Jonathan – Bartimäus – Das Amulett von Samarkand

Ist dieser Jugendroman ein weiterer „Harry Schotter“-Klon? Zum Glück nicht, denn „Bartimäus“ ist weitaus respektloser, tiefgründiger und einfallsreicher als die Rowling-Blockbuster. Dennoch – oder gerade deswegen – wird die anstehende Verfilmung wohl nicht zu umgehen sein.

_Der Autor_

Jonathan Stroud wurde im englischen Bedford geboren. Laut Verlag schreibt er bereits seit seinem siebenten Lebensjahr Geschichten. Während er als Lektor für Kindersachbücher arbeitete, verfasste er seine ersten eigenen Kinderbücher. Nach der Publikation seiner ersten beiden Jugendbücher widmete er sich ganz dem Schreiben. Er wohnt mit seiner Frau Gina, einer Grafikerin und Kinderbuchillustratorin, und der gemeinsamen Tochter Isabelle in St. Albans nördlich von London.

„Das Amulett von Samarkand “ ist der erste Band in der „Bartimäus“-Trilogie.

_Handlung_

Zauberlehrling Nathanael macht das, was alle übermütigen Zauberlehrlinge tun und unter allen Umständen unterlassen sollten: Er hext einen Dämon herbei. Dies ist der 5000 Jahre Bartimäus, der schon bei Ägyptern und Assyrern Unruhe stiftete und in der glorreichen Schlacht von El Arisch das Dämonenheer Pharao Thutmosis III. verstärkte. Doch Bartimäus, so viel muss man über die Hierarchie der Dämonen wissen, ist nur ein Dschinn der 14. Ebene, also nur von mittlerer Stärke. Er kann es keineswegs mit den mächtigen Afrits und Mariden aufnehmen, die mächtigeren Magiern zu Gebote stehen.

Es ist ein Wunder, dass der zwölfjährige Nathanael die Beschwörung überlebt, doch er hat sich gut geschützt. Das Pentagramm, in dem er steht, gehört zum Standard, er ist ja nicht blöd. Für sein Alter ist er schon ganz schön weit in seinen Fähigkeiten. Sein Meister, der Minister Arthur Underwood – alle 300 Minister der Regierung in London sind Magier – unterschätzt ihn jedenfalls beträchtlich. Nathanael hat nicht mal einen offiziellen Magiernamen und muss sich gegenüber Bartimäus hüten, ihm nicht seinen wahren Namen, Nathanael, zu verraten, denn dieses Wissen verliehe dem Dämon Macht über ihn. Merke: In der Magie dreht sich alles um Macht.

Der Dschinn Bartimäus, der uns seine Sicht der Dinge erzählt, erhält einen schwierigen Auftrag: dem Magier-Minister Simon Lovelace das Amulett von Samarkand stehlen und herbringen. Leichter gesagt als getan, seufzt Bartimäus, der uns nun von seinem Versuch erzählt, das Amulett wohlbehalten und lebendig bei seinem Herrn abzuliefern. Schließlich gebietet Lovelace über zwei große Dämonen, ein mächtiges Schutzfeld und Dutzende von Suchkugeln, die nach dem Dieb Ausschau halten. Zu guter Letzt wollen Barti sogar gewöhnliche Menschen das Amulett entreißen, aber er belehrt sie eines Besseren. Nachdem der große Diebstahl gelungen ist, fängt jedoch der Ärger für Nathanael und Bartimäus erst richtig an.

Denn Simon Lovelace will nicht mehr nur stellvertretender Handelsminister sein. Sein Ehrgeiz gilt Höherem: dem Posten des Premierministers. Er lässt diverse magische Objekte von seinen Schergen stehlen, darunter das Amulett, über dessen Eigenschaften Nathanael noch nicht Bescheid weiß. Die ihres magischen Schutzes beraubten Ministerkollegen fallen unerklärlichen Anschlägen zum Opfer. Der schlimmste davon findet allerdings direkt unter Nathanaels Augen statt: Im Londoner Parlament von Westminster lässt der Premierminister gerade eine Regierungserklärung zum Krieg vom Stapel, als ein junger Mann von der Terrasse hereinstürmt und eine Elementenkugel auf den Regierungschef schleudert. Während sich der Obermagier schützen kann, sind viele seiner Begleiter und Gäste nicht so glücklich dran.

Worauf hat sich Nathanael da nur eingelassen? Er wollte eigentlich nur seinem allzu gestrengen Meister Underwood und dem fiesen Lovelace eins auswischen. Nun wächst ihm die Sache allmählich über den Kopf. Schon bald gerät Bartimäus, der sich nach den Eigenschaften des Amuletts erkundigen soll, in Gefangenschaft der Polizei – diese verflixten Afriten!

Nach seiner unverhofften Befreiung lässt sich seine Spur, die direkt zu Nathanaels Heim führt, leicht verfolgen. Simon Lovelace taucht daher schließlich bei Arthur Underwood auf, der aus allen Wolken fällt. Dreimal darf man raten, was Lovelace zurückhaben will. Und was er mit dem Dieb machen wird…

Doch dann ist natürlich noch lange nicht aller Tage Feierabend. Nach einer längeren Durststrecke, auf der Nathanael gar nicht gut aussieht, schlägt das dynamische Duo zurück – und versucht, die Herrschaft von Simon Lovelace, dem Unbarmherzigen, zu verhindern…

_Mein Eindruck_

Mit „Bartimäus 1“ etabliert Jonathan Stroud eine ausgetüftelte Alternativwelt, in der es zwar keine Hogwarts-Zauberschule gibt, aber viel fehlt nicht. Doch diese Welt ist grimmiger, weniger verspielt. Zauberer haben ständig mit Macht und Herrschaft zu tun. Dämonen und sämtliche sonstigen dienstbaren Geister, so glaubt Nathanael zunächst, sind alle hinter ihm her. Kein Wunder, dass er sich verfolgt glaubt, sich übernimmt und nur bei Mrs. Underwood Trost und Verständnis findet.

Dennoch bietet diese Welt jungen Lesern ab 12 Jahren mit Nathanael eine ideale Identifikationsfigur, denn sicherlich wollen auch sie die Welt zu einem besseren Ort machen, als sie selbst vorfinden. Dass das nicht so einfach ist, wie ihre wilden Träume ihnen vorgaukeln, demonstriert ihnen Nathanael anschaulich. Dieser Held muss einiges durchmachen, um schließlich Erfolg haben zu können.

Wofür er am längsten braucht und was am wichtigsten ist: Er kann einen Dämon zum Freund haben. Das stellt alles, was er aus Underwoods Büchern gelernt hat – und von der Welt hat er praktisch nichts gesehen – komplett auf den Kopf. Es widerspricht allen Lehrsätzen und natürlich auch Underwoods Lehren. Die anderen Instruktoren sind relativ unwichtig, lediglich eine Lehrerin, eine „Gewöhnliche“ zumal, vermag ihm etwas über die Welt der normalen Menschen beizubringen. Leider verschwindet sie sofort, sobald Underwood Nathanaels „Verrat“ aufgedeckt hat.

Es geht also um die Paranoia der Macht. Und ihr steht der Triumph gegenüber, den das Vertrauen bringt, das aus der Zusammenarbeit mit Bartimäus erwächst. Quod erat demonstrandum: Die Zaubererkaste und ihre Herrschaft sind menschenfeindlich und dem Untergang geweiht. Doch welche Alternative bieten der Gesellschaft dann individuelle Bündnisse wie zwischen Nathanael und Bartimäus? Wir wissen es noch nicht, werden es aber hoffentlich bald erfahren.

Neben jener der Zauberer gibt es in „Bartimäus“ noch eine zweite Gegenwelt, und das ist natürlich die der Geister. Die Zauberer betrachten sie sozusagen als herrenlose Sklaven, die es sich gefügig zu machen gilt. Ihre Bücher und Hilfsmittel liefern ihnen das Wissen über die Geisterwelt, aber ist das etwa schon alles, was es über Geister zu wissen gibt? Die Befehle, die ihnen ihr Wissen verleiht, vermögen alle möglichen Geister zu bannen und herbeizurufen, aber die resultierende Machtbeziehung ist von Angst geprägt – siehe oben.

Bartimäus ist der erste Geist, der uns demonstrieren kann, wie es ist, ein Dämon aus der Anderswelt zu sein. Wenn ihn beispielsweise ein magischer Ruf erreicht, dann fühlt es sich an, als würden ihm die Eingeweide rückwärts herausgezogen. Sicher nicht angenehm. Und der Aufenthalt in einer körperlichen Hülle scheint ebenfalls sehr unbequem zu sein. Schließlich sind Geister aus anderem Stoff gemacht. Geister wollen bekanntlich frei sein.

Dieser Dämon ist eine famose Erfindung des Autors. Damit ist er in der Lage, Zauberer und ihr Verhalten ebenso süffisant zu kommentieren wie andere Geister, und mit denen kennt sich ein so alter Dämon wie Barti hervorragend aus. Seine Fußnoten sind oftmals eine Freude, triefen sie doch vor Ironie. Und dass er dabei immer gut wegkommt, erklärt sich von selbst.

Was werden wohl die nächsten Bände bringen? Eine recht interessante Perspektive bietet der „Widerstand“ der Gewöhnlichen. Die Untergrundkämpfer haben sich ja schon als schlagkräftig erwiesen. Und sie erkennen etwas Magisches, wenn sie es sehen, beispielsweise Bartimäus in harmloserer Verkörperung. Außerdem wird es höchste Zeit, dass sich Nathanael verliebt.

_Unterm Strich_

„Das Amulett von Samarkand“ etabliert als Startband einer Zauberer-Trilogie mehrere Gegenwelten, die sich von Universen wie dem eines gewissen Harry Schotter deutlich unterscheiden. Während Schotters Magiewelt von Angst dominiert ist, entwickelt der Zauberlehrling Nathanael bei Stroud etwas Revolutionäres: Freundschaft zu einem Dämon. Das kann ja heiter werden!

Bis es soweit ist, vergehen aber etliche Seiten spanennder und vergnüglicher Lektüre. Nathanael und Bartimäus stehen abwechselnd im Blickpunkt des Geschehens, so dass für Variation gesorgt ist. Das Treiben dieses dynamischen Duos betrifft nicht nur ihren Privatbereich, sondern hat, wie sich allmählich zeigt, direkten Einfluss auf das Schicksal des Reiches und der Regierung. Na, wenn das keine hilfreiche Nutzanwendung von Magie ist!

Meine Leseerlebnis war zunächst von leichter Skepsis geprägt: Schon wieder ein Roman über einen Zauberlehrling? Doch wenn der Auftaktband der Trilogie schon so unterhaltsam mit einem grandiosen Finale endet, was mögen dann erst die Folgebände bieten? Doch wem all dies noch zu ernst ist, der greife einfach zu Terry Pratchetts Zauberer-Parodien, insbesondere zu dem wundervollen „Eric“.

Gerritsen, Tess – Todsünde

In einer Klosterkapelle wird eine Nonne erschlagen, eine zweite kommt knapp mit dem Leben davon. Wenige Tage später muss die Pathologin Dr. Isles eine zweite Frauenleiche untersuchen: Die „Rattenfrau“ hatte Lepra. Erstaunlicherweise haben die beiden Verbrechen miteinander zu tun.

_Die Autorin_

Tess Gerritsen war eine erfolgreiche Internistin, bevor sie mit dem Medizinthriller „Kalte Herzen“ einen großen Erfolg errang. Es folgten mehrere mittelmäßige Thriller wie „Roter Engel“, die durchaus spannend zu unterhalten wissen.

Mit dem Bestseller „Die Chirurgin“ ist ihr auch der Durchbruch in Deutschland gelungen, denn dieser Thriller ist noch eine ganze Klasse härter: Der Mörder entfernt seinen weiblichen Opfern die Gebärmutter. Die Fortsetzung trägt den Titel „Der Meister“, und „Todsünde“ ist der dritte Roman mit Detective Jane Rizzoli vom Boston Police Department.

Gerritsen lebt mit ihrem Mann, dem Arzt Jacob Gerritsen, und ihren beiden Söhnen in Camden, im US-Bundesstaat Maine.

_Handlung_

Die ersten Schneefälle lösen in Boston, Massachusetts, ein mittleres Verkehrschaos aus, und die Weihnachtsvorbereitungen tragen sicher nichts dazu bei, das Chaos zu verringern. Deshalb ist die Gerichtspathologin Dr. Maura Isles, von ihren Kollegen liebevoll „Königin der Toten“ genannt, auch heilfroh, lebendig an einem neuen Tatort anzukommen statt im Graben zu landen.

In der alten Graysones Abbey, einem Nonnenkloster am Stadtrand, soll Maura die Leiche einer Novizin namens Camille Maginnes untersuchen; der jungen Frau wurde in der Kapelle des katholischen Klosters brutal der Schädel eingeschlagen. Eine weitere Nonne, Schwester Ursula, überlebte den Überfall schwer verletzt und liegt auf der Intensivstation. Pater Brophy von der katholischen Gemeinde hat ebenfalls keine Erklärung. Maura fühlt sich unerklärlich zu ihm hingezogen. Sie ist einsam.

Die Befragung der wenigen verbliebenen Nonnen erbringt nichts, erst als Maura und Detective Jane Rizzoli vom Boston PD die freche Tochter der Haushälterin befragen, ergeben sich ein paar Anhaltspunkte. Auf dem Dachboden der Quartiere befinden sich nicht nur Dutzende von Spielzeugpuppen, sondern auch Löcher, durch die man in die Stuben der Nonnen spähen kann. Und die kleine Noni erzählt, die junge Camille habe sich stets gegeißelt und ihre Stube wie besessen geschrubbt und in einem Buch zu Sankt Brigitta von Irland gebetet.

Ein scheinbar unwichtiger Hinweis, doch Brigitta ist die Schutzheilige der Neugeborenen… Als Maura die Autopsie an Camille vornimmt, stellt sie erstaunt fest, dass die junge Frau, die ihre Brüste so fest abband, dass es geschmerzt haben musste, kurz zuvor ein Kind zur Welt gebracht hatte. Da auch Nonnen ebenso wie Priester an das Keuchscheitsgelübde gebunden sind, ist dies ein sehr verwunderliches Ergebnis. Und wer war dann der Vater? Pater Brophy vielleicht?

Rizzoli ordnet die Durchsuchung des Klostergeländes an. Wieder liefert Noni den wichtigsten Hinweis: Im Ententeich versenkte die unglückliche Camille ihren Säugling. Als Maura das Baby aus seiner Decke wickelt, um die Autopsie vorzunehmen, bricht Rizzoli vor Entsetzen zusammen. Sie hat selbst vor wenigen Stunden festgestellt, dass sie schwanger ist – von ihrem Ex-Freund Gabriel Dean, FBI (vgl. „Der Meister“) – und weiß nicht, ob sie das Kind behalten soll.

Nachdem Mauras Ex-Mann Victor Banks, ein vielbeschäftiger Koordinator für Entwicklungshilfeprojekte von „One Earth“, wieder aufgetaucht und sie seinem Charme erneut verfallen ist, wird sie schon zum nächsten Tatort gerufen. In einer ziemlich grausigen, rattenverseuchten Umgebung unweit von Graystones Abbey hatte ein Drogenfahnder zufällig eine Frauenleiche entdeckt. Dem Körper fehlen jedoch das Gesicht, die Hände und die Füße. Um die Identität zu verschleiern, muss man aber keine Füße amputieren, oder? Maura rätselt auch über zahlreiche Hautpusteln. Nach Hinzuziehung einer Expertin steht der schlimme Befund fest: Diese Frau hatte Lepra.

Und da Schwester Ursula mal fünf Jahre in Indien an einer Lepraklinik gearbeitet hatte, besteht möglicherweise ein Zusammenhang. Als Jane Rizzoli und Maura von Gabriel Dean Fotos erhalten, die diese Leprakolonie nach einem verheerenden Massaker – alle Leprakranken sowie die behandelnden Schwestern wurden verbrannt – zeigen, stellt Maura beklommen fest, dass es sich um eine Klinik von |One Earth| handelt. Ist ihr Lover Victor Banks etwa in die Vorgänge verwickelt?

_Mein Eindruck_

Ich habe diese 400 Seiten innerhalb nur eines Tages gelesen, so flott sind sie zu lesen – es lag nicht nur an der großen Schrift. Aber das wundert mich nicht, denn auch schon die beiden anderen Rizzoli-Romane „Die Chirurgin“ und die direkte Fortsetzung „Der Meister“ waren ebenfalls superspannend und leicht zu lesen.

„Todsünde“ unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von seinen Vorgängern. Zum einen steht diesmal nicht Jane Rizzoli im Mittelpunkt des Geschehens, sondern Dr. Maura Isles, die „Königin der Toten“. Sie muss sich mit ihren eigenen Lebenszielen auseinandersetzen, als ihr Ex Victor entgegenhält, er selbst kümmere sich lieber um die bedürftigen Lebenden – und deshalb sei wohl ihre Ehe gescheitert. Sie hingegen weiß, dass er nie für sie da war, denn er musste sich ja um seine superwichtigen Entwicklungsprojekte kümmern. Deshalb weiß sie nicht, was sie von seinem Versuch halten soll, sie zurückzugewinnen. Sex ist zwar gut für das Wohlbefinden, aber was verbindet sie sonst noch?

Auch die drei neuen Fälle halten sie in Atem. Diesmal geht es nicht um Sex- und Todesspiele mit Reichen wie in „Der Meister“ oder um verstümmelte Frauen wie in „Die Chirurgin“, sondern um zwei eher entlegene Gebiete, nämlich Nonnen und Lepra. Allerdings wird sich noch ein weiterer Abgrund auftun, der viel näher an der aktuellen Realität liegt.

Stichwort Nonnen: Die Novizin Camille hat in den Augen der anderen Nonnen eine Todsünde begangen, als sie mit einem Mann zusammen war und ein Kind bekam. Aber ist sie wirklich der Sünde schuldig? Ist es möglicherweise Pater Brophy, der von sich selbst zugibt, hin und wieder Momente der Schwäche zu erleben? Wie jeder in Boston weiß, haben sich Priester an kleinen Jungen und Mädchen sexuell vergangen. Ist er einer von ihnen? Als Rizzoli den extrem reichen Vater von Camille, Randall Maginnes, besucht, wird ein weiterer Verdacht geweckt. In dieser Familie gingen rätselhafte Dinge vor.

Aber war nicht auch der Überfall auf die Leprastation in Indien eine Todsünde? Nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere wurden getötet und auf Scheiterhaufen verbrannt. Das soll ein politisch oder religiös motivierter Terroranschlag gewesen sein? Bullshit, denkt Maura Isles, als sie den Schriftzug „One Earth“ auf dem Foto der Lepra-Klinik entdeckt…

Während sich die Spannungen in den Privatleben der beiden Hauptfiguren zu einer Krise steigern, kommt es auch in den Untersuchungen zum Finale – und dabei gerät Maura in Lebensgefahr. Auffällig sind dabei die Parallelen zu Novizin Camilles traurigem Schicksal. Und auch Schwester Ursulas Leben steht offenbar auf dem Spiel: Sie war die einzige Zeugin am Tatort in der Kapelle. Doch warum hat sie überlebt und Camille nicht?

_Unterm Strich_

Trotz des etwas abgedroschenen Titels hat dieses Buch rein gar nichts mit einem Thriller à la „Sieben“ zu tun, in dem ja auch die sieben Todsünden den Anlass für die Handlung abgeben. Der Begriff „Todsünde“ wird bei Gerritsen viel weiter gefasst und uminterpretiert. Es gibt Sünden der Neuzeit, die sich nicht ohne weiteres aufdecken, bestrafen und „abwaschen“ lassen. Camilles angebliche Sünde fällt dagegen richtig altmodisch aus – und ist leider allzu verbreitet. Der Originaltitel „The Sinner“ kann sowohl eine Frau als auch einen Mann meinen. Das hat die Autorin sicherlich listigerweise beabsichtigt.

|Verschmelzung der Themen|

Ich fand die Lektüre diesmal befriedigender als „Der Meister“, wenn auch nicht so schockierend wie „Die Chirurgin“. Die Zufriedenheit beruht vor allem auf der nahezu vollkommenen Verschmelzung des Themas der Verbrechensaufklärung durch Rizzoli und Maura mit dem Thema der privaten Selbstverwirklichung durch Bewältigung akuter Probleme (Mauras Ex-Mann, Rizzolis Schwangerschaft). Die zwei Welten sind so perfekt miteinander verwoben, dass kaum noch die Trennung wahrnehmbar ist.

|Die Klippen der Klischees|

Der besonders kritische Leser wird aber merken, dass das Thema „katholische Kirche“ von der Autorin mit Samthandschuhen angefasst wird, weil hier nämlich sämtliche Klischees lauern, die die Medien durchgehechelt haben (Missbrauch etwa) – und diese Klippen gilt es zu umschiffen, um nicht abgedroschen zu wirken. Zum Glück haben Maura (aufgezogen in der Klosterschule) und Rizzoli (eine Italienerin) genügend eigene Erfahrung mit der katholischen Kirche, dass der Eindruck vermieden wird, hier würden nur Klischees neu aufgewärmt, im Gegenteil. Es sind genau diese Erfahrungen, die Pater Brophy und die Nonnen für uns so interessant machen – ein wichtiger Pluspunkt für das Buch.

|Ein Weihnachtsmärchen|

Ganz, ganz clevere Leser werden nicht übersehen, dass es sich bei „Todsünde“ um eine moderne Variante von Charles Dickens‘ „Christmas Carol“ handelt. Doch nicht drei „Geister der Weihnacht“ treten auf, um einen Sünder zu bekehren, sondern mehrere Sünder und Heilige tauchen auf – ausgerechnet zu jener Zeit des Jahres, da die Geburt des Jesuskindes gefeiert werden soll. Leider entpuppen sich mitunter die Sünder als die Opfer und die Heiligen als Schuldige.

In diesem Erkenntnis- und Erfahrungsumfeld müsssen sich unsere beiden Heldinnen entscheiden. Will Jane Rizzoli ihr ganz privates Jesuskind behalten oder es wie Camille umbringen? Und Maura muss über ihren Ex-Mann urteilen, ob er er ein Heiliger (Entwicklungshelfer etc.) und Dreamlover oder doch ein Sünder ist. Spannend ist dies allemal.

C. J. Cherryh – Kauffahrers Glück. Ein Alliance-Union-Roman

Kleine Space Opera ganz groß: spannend, menschlich, sympathisch

„Kauffahrers Glück“ ist ein für Cherryhs Verhältnisse relativ kurzer Roman (nur rund 290 Seiten) aus ihrem Allianz-Union-Universum, eine Romanze mit politisch-kriegerischen Verwicklungen. Man sollte zuvor „Pells Stern“ (Downbelow Station) gelesen haben.

C. J. Cherryh – Kauffahrers Glück. Ein Alliance-Union-Roman weiterlesen

Lewis, Clive Staples – Prinz Kaspian von Narnia (Die Chroniken von Narnia)

_Spannend: Im Wald der verborgenen Wesen_

Hochverrat! Der Thronfolger soll beseitigt werden. Miraz, der diktatorisch über Narnia herrscht und das Land allein den Menschen unterordnen will, beansprucht die Krone für sich und seinen erstgeborenen Sohn. Sein Neffe Kaspian, der wahre Erbe, und sein Mentor Dr. Cornelius befürchten den Untergang Narnias. Sie ahnen, dass ohne Hilfe die entscheidende Schlacht der sprechenden Tiere und der Zwerge gegen Miraz nicht zu gewinnen ist. Mit dem Wunderhorn rufen sie Hilfe herbei – doch statt der legendären Könige und Königinnen tauchen vier Schulkinder aus England auf: Peter, Edmund, Lucy und Suze. Was können die schon ausrichten? (abgewandelte Verlagsinfo)

_Der Autor_

Clive Staples Lewis, der von 1898 bis 1963 lebte, war ein Freund und Kollege Professor J.R.R. Tolkiens (mehr dazu weiter unten). Dass dieser zufällige Umstand ihn auszeichnen soll, lässt darauf schließen, dass er im Bewusstsein der gegenwärtigen Leser hinter seinem bekannter gewordenen Kollegen zurückgetreten, wenn nicht sogar fast verschwunden ist. Tolkiens Stern leuchtet heller.

Dabei hat Lewis sowohl in der Fantasy als auch Science-Fiction Spuren hinterlassen. Auch in der Philosophie und Theologie schrieb er bekannte und gelobte Werke. Doch lediglich die „Chroniken von Narnia“, Fantasy für kleine und große Kinder, wurden auch verfilmt. Die Science-Fiction-Trilogie „Perelandra“, ein ambitionierter Weltentwurf, ist eben zu sperrig und dialoglastig für den heutigen Geschmack.

Viel ist in die Narnia-Romane hineingedeutet worden. Dies muss nicht alles wiederholt werden. Feststeht aber, dass die Narnia-Chroniken seit über 50 Jahren in Großbritannien zum Standard der Jugendliteratur gehören, und das sicher nicht ohne Grund – sie verbinden Abenteuer und Wunder mit einer christlichen Botschaft.

Hier kommen altbekannte Fantasythemen zum Tragen, so etwa der Gegensatz zwischen Gut und Böse. Außerdem ist Narnia eine Parallelwelt, die durch ein Tor erreicht wird; es gibt sogar Zeitreisen und andere Dimensionen. Die Bücher werden als christliche Allegorien interpretiert, aber das würde ihnen wenig gerecht: Sie sind hervorragende und bewegende Geschichten – wenn auch mit sprechenden Tieren.

Die Narnia-Chroniken in der richtigen Reihenfolge und mit aktuellem Titel:

1. Das Wunder von Narnia
2. Der König von Narnia
3. Der Ritt nach Narnia
4. Prinz Kaspian von Narnia
5. Die Reise auf der „Morgenröte“
6. Der silberne Sessel
7. Der letzte Kampf

Mehr Infos sind auf http://www.narnia.com und http://www.narnia-welt.de/ zu finden.

_Der Sprecher_

Philipp Schepmann, Jahrgang 1966, erhielt seine Ausbildung als Schauspieler an der renommierten Folkwang-Schule in Essen. Er ist laut Verlagsangaben verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Bergisch Gladbach bei Köln. Schepmann arbeitet als Sprecher und Schauspieler für Film, Funk und Theater. Schepmann liest wie immer bei den Narnia-Hörbüchern eine ungekürzte Fassung.

_Handlung_

Vier englische Schulkinder warten auf dem Bahnhof auf den Zug, der sie zurück ins Internat bringen soll: Peter, Edmund, Lucy und Suze müssen sich nach Mädchen und Jungs trennen. Die Sitten im Jahr 1950 sind streng. Sie erinnern sich, wie gut sie es doch als Könige und Königinnen von Narnia hatten. Das waren noch Zeiten! Und das war erst vor einem Jahr …

Plötzlich fühlen sie sich durch etwas angezogen, das sie aus ihrer Zeit herausreißt, dann verschwinden sie in eine andere Dimension. Sie finden sich an einem Waldrand wieder, der am blauen Meer liegt, über dem die Sonne lacht. Es ist wie bei Robinson Crusoe. Ob dies wirklich eine Insel ist? An einem Bach finden sie Wasser, das sie trinken können. Nach den Frühstücksrationen gibt es auch Früchte aus einem Apfelhain. Dahinter stoßen sie auf eine verfallene Mauer, dann auf einen freien Platz und schließlich auf eine Schlossruine.

Wie seltsam: Das Schloss sieht aus wie damals ihr eigenes Schloss Feeneden, aber die Ruine wirkt, als wäre das vor hunderten von Jahren gewesen. Sie brauchen also Beweise. Die finden sie in etwas, das wie eine Schatzkammer aussieht. Hier finden sie ihre alten Wunderwaffen wie den Bogen und das Schwert. Nur das Wunderhorn, mit dem sie Aslan rufen konnten, fehlt. Wo mag es sein?

Am nächsten Morgen kommt ein Boot mit drei seltsamen Gestalten in Sicht. Zwei Soldaten bewachen einen gefesselten Zwerg. Suze schießt mit ihrem unfehlbaren Bogen und trifft einen der Soldaten, der zweite springt ins Wasser und schwimmt weg. Der befreite Zwerg ist ein kratzbürstiger Zeitgenosse, zwar nur einen Meter groß, aber temperamentvoll. Er stellt sich als Trumpkin, Bote von König Kaspian X, vor, das ist zumindest der gegenwärtige König der Altnarnianen. Der tatsächlich über diesen Landstrich herrschende König ist Miraz, und der ist eigentlich Telmarer. Zu kompliziert? Deshalb erzählt Trumpkin den Kindern eine Geschichte.

|Über Prinz Kaspian|

Kaspian wächst als Waise bei seinem Onkel Miraz in Narnia auf. Miraz und seine Königin haben keine Kinder, deshalb soll Kaspian Thronerbe sein. Doch Kaspians Kinderfrau hat ihm von den gute alten Zeiten erzählt, als vier Kinder in Feeneden herrschten und die Tiere von Narnia sprechen konnten. Miraz verbietet ihm solch ketzerische Reden und lässt die Kinderfrau vom Hof verbannen. Er gibt Kaspian einen neuen Hauslehrer, den Weisen Dr. Cornelius. Der bringt Kaspian die ganze Ahnenreihe bei, von Kaspian dem Ersten aus Telmar bis zu König Miraz, der den vorherigen König Kaspian irgendwie auf dem Thron ablöste.

Auf einem hohen versteckten Turm vertraut Dr. Cornelius Kaspian sein Geheimnis an: Er sei kein Telmarer, sondern ein Mischling aus einem Zwerg und einem Menschen. Und ein Zwerg ist eines der verbotenen Fabelwesen. Kaspian will ihm helfen, Wesen zu suchen, mit denen das goldene Zeitalter der vier Könige von Feeneden wiederhergestellt werden könnte. Dr. C ist ein minderer Zauberer, doch er setzt Kaspians Ausbildung nach Kräften fort. Bis eines Tages die Königin einen Sohn zur Welt bringt. Nun ist Kaspian nicht mehr der Thronerbe, sondern bloß noch ein gefährlicher Rivale. Dr. C drängt ihn zur Flucht und verrät ihm, dass er der wahre König sei. Miraz hat den Thron geraubt und ermordete Kaspians Vater. Nun müsse der Prinz fliehen.

|Die Geschöpfe im Verborgenen|

Wie geheißen, flieht Kaspian mit dem Wunderhorn, das ihm Dr. C gegeben hat, gen Süden nach Archenland. Ein Dachs, ein Schwarz- und ein Rot-Zwerg schlagen ihn nieder und beraten, ob sie ihn gleich umbringen sollen oder erst später. Kaspian erwacht und wundert sich, dass Tiere sprechen können. Dann erklärt er, wer er ist. Das rettet ihm sein Leben, denn der Dachs will wieder einen Adamssohn auf dem Thron von Altnarnia sehen, und der Rotzwerg Trumpkin hat nichts dagegen einzuwenden. Nur der finstere Schwarzzwerg traut Kaspian nicht.

Im Wald von Archenland stellt Kaspian eine Armee von sprechenden Tieren auf, die Narnia zurückerobern soll. Wenn die Bäume nur auch gehen könnten – so einen Wald als Soldaten könnte Kaspian gut gebrauchen. Beim Kriegsrat taucht auch Dr. Cornelius auf. Aufgeregt berichtet er, man habe ihn verraten und der König Miraz sei mit seinem Heer bereits im Anmarsch!

|Der Aufstand|

Alle begeben sich zu Aslans Mal, am Rande des Waldes, wo die Geister wohnen und wo die Ruine von Feeneden liegt. Doch die kleine Tiertruppe verliert die ersten Kämpfe gegen Miraz und beratschlagt, was zu tun ist. Sie müssen Hilfe herbeiholen. Aber von woher? Da wird empfohlen, Kaspians Wunderhorn zu blasen. Jeder weiß, was es damit auf sich hat. Doch während das Horn erklingt, hat der Schwarzzwerg sein Vertrauen bereits auf eine andere Macht gesetzt: auf die Weiße Hexe des Nordens, die den vier Kindern besser als Schneekönigin bekannt ist.

Das Horn ruft die vier Kinder nach Narnia, so viel ist klar. Jetzt sind sie durch Trumpkins Geschichte voll im Bilde. Doch werden sie noch rechtzeitig eintreffen, um Kaspians seltsamer Truppe beistehen zu können?

_Mein Eindruck_

„Prinz Kaspian von Narnia“ ist ein schlagendes Beispiel dafür, dass sich auf nur zweihundert bis zweihundertfünfzig Seiten – bzw. in 300 Minuten – ein unterhaltsames und spannendes Kinderbuch realisieren lässt, das bis zum Rand mit Abenteuer und Action voll gepackt ist, ohne dabei an Zauber und Hoffnung einzubüßen. Prinz Kaspians Fabelwesen-Truppen reichen nicht aus, um gegen die königliche Armee zu bestehen. Er ruft Beistand herbei, und dieser besteht quasi in Agenten des göttlichen Aslan. Es sind die vier Kinder Peter, Edmund, Suze und Lucy. Erst sie rufen Aslan herbei, und dies wird die Schlacht entscheiden. Denn die Ungläubigen haben sich mit der Gegenseite eingelassen: mit der Hexe des Nordens.

|Gretchenfrage: Wie hältst du’s mit Gott?|

Die zentrale Frage ist die nach dem Wesen von Aslan, dem Löwen, der Narnia erschuf und es hütete, bis er wieder verschwand. Wenn Aslan eine Inkarnation Gottes ist und er hinter all diesen Geschehnissen heimlich die Fäden gezogen hat, wo bleibt dann der freie Willen des Menschen? Das ist eine eminent wichtige theologische Frage, die Konsequenzen für Ethik und Moral hat. Aslan manipuliert zwar die Ereignisse, doch rechnet er stets mit dem inneren Wesen des oder der Menschen, dass diese sich ihre eigenen Antriebe in die gewünschte Richtung bewegen bzw. lenken lassen. Ist Gott also eine Art Motivationshilfe?

Diese Frage lässt sich eindeutig mit „ja“ beantworten. Der Glaube an Aslan versetzt in der Tat Berge und verhilft den Gläubigen zum Sieg. Doch zuvor gibt es ein kleines Problem. Nicht jeder ist bereit, Aslan zu erkennen und an ihn zu glauben. So gehen die vier Kinder, geholt vom Zwerg, zwar an Land, aber sie müssen die Armee Miraz’ umgehen. Da behauptet Lucy, sie könne Aslan sehen und er würde ihnen bestimmt den Weg zeigen, wie sie die Soldaten umgehen und zu Prinz Kaspian gelangen könnten.

Doch ihre drei Geschwister können Aslan nicht sehen und bestehen darauf, ihren eigenen Weg zu gehen. Dieser erweist sich als ebenso beschwerlich wie nutzlos. Sie laufen beinahe den Soldaten in die Arme. Schließlich hören sie doch noch auf Lucy. Diese folgt einfach ihrem „Gefühl“ beziehungsweise ihrem Glauben. Der Weg ist schmal und verborgen, führt aber direkt zum Ziel. Nun sind die drei Geschwister ebenfalls bereit, an Aslan zu glauben und beginnen, ihn in all seiner Majestät zu sehen.

|Glaube macht frei|

Prinz Kaspian entspricht der häufig vorkommenden Märchenfigur des „wahren Erben im Exil“, dem Entrechteten, durch dessen Verbannung das „Land an sich“ unter einem Unglücks-, weil Unrechts-Stern steht. Um die Dinge wieder ins Lot zu bringen und alles wieder zu-Recht-zurücken, muss der Ursurpator verjagt und der Recht-mäßige Erbe auf den Sitz der Macht gesetzt werden. Leichter gesagt als getan. Die Lügen des Usurpators und seiner Helfer unterdrücken nicht nur die Rechtgläubigen und Rechtmäßigen, sie unterdrücken auch das Wissen, dass es jemals anders gewesen sei. Nachkommende Generationen nehmen daher den Unrechtszustand als gegeben hin und bekämpfen ihn nicht. Simples Propagandadenken.

Wäre da nicht der alte Glaube, dem wieder zum angestammten Recht zu verhelfen ist. Allein schon die Voraussetzung, dass überhaupt wieder jemand an ihn glaubt, ruft Aslan zurück in die Existenz und verhilft seinen Gläubigen zum Sieg. Dass auch Kaspian an ihn zu glauben lernt, versteht sich von selbst. „In hoc signo vinces!“, möchte man ihm wie einst Kaiser Konstantin zurufen und ihm zum rechtmäßigen Thron verhelfen.

|Tolkien|

Genau wie in Tolkiens „Herr der Ringe“ muss das Recht erkämpft werden: Nur so gelangt Aragorn auf den Thron. Selbst noch als die vier Hobbits nach Hause zurückkehren, finden sie dort nicht alles, wie es sein soll. Da Saruman das Kommando über das Auenland übernommen hat, sind Frodo & Co. plötzlich selbst Prinzen im Exil. Sie müssen die Recht-Gläubigen sammeln und gegen Sarumans Schergen eine Schlacht führen, die sie erfolgreich für sich entscheiden. Das Häufchen Macht, das Saruman noch geblieben ist, löst sich folglich in Luft auf – genauso wie sein Körper.

Ein Aslan kommt bei Tolkien allerdings nicht vor. Obwohl er ein strenggläubiger Katholik war, lehnte er Allegorien in Erzählungen ab. Aber er hatte nichts gegen Metaphern und Symbole einzuwenden. Wenn jedoch Aslan eins-zu-eins für den christlichen Gott stehen sollte, dann hatte Tolkien damit ein Problem. Zunächst lehnte er deshalb die Narnia-Romane seines Freundes C.S. Lewis ab (vgl. dazu Colin Duriez: „Tolkien und C.S. Lewis“, Brendow-Verlag 2005, Moers). Später akzeptierte er sie doch. Sie hatten eben nichts mit den von ihm geliebten alten Epen aus Island, Irland, Wales, Finnland, Altengland, Schweden und Dänemark zu tun (Eddas, „Beowulf“, „Kalevala“ usw.).

_Der Sprecher_

Philip Schepmann verfügt über eine ähnlich große Fähigkeit, seine Stimme zu verstellen, wie Rufus Beck. Jede Figur erhält so ihre eigene charakteristische Stimmfärbung, um sie kenntlich zu machen. Und das sind eine ganze Menge unterschiedlichster Stimmen: Löwen, junge Frauen, Zentauren, piepsige Mäuse, brummige Bären, selbstverständlich auch Zwerge und Faune.

Außerdem kommt dem Sprecher die moderne Technik zu Hilfe. Mal erklingen die Stimmen unisono, mal stereo (oder trio), dann wieder mit einem Halleffekt. So ist für eine Menge Abwechslung gesorgt. Bei nur vier CDs kann man in dieser Hinsicht nicht viel falsch machen. Aber es ist trotzdem eine Menge Text: fast fünf Stunden.

Das Booklet …

… weist nicht nur ein schönes neues Cover auf, sondern enthält auch eine Tracklist mit den Titeln der 17 Kapitel sowie Informationen über den Autor und den Sprecher. Dass sich auch jede Menge Werbung für weitere Narnia-(Hör-)Bücher findet, dürfte wohl nicht verwundern. Übrigens wird das Cover-Motiv auf den CDs selbst wiederholt, was das Einlegen und Abspielen auch zu einem optisch schönen Erlebnis macht.

_Unterm Strich_

Für Kinder ist dieses Hörbuch ein ideales Geschenk, das es durchaus mit Tolkiens „Kleinem Hobbit“ aufnehmen kann. Die Interpretation durch den Sprecher macht das Zuhören zu einem Erlebnis, dem man mit Spannung folgt. Der Text ist übrigens ungekürzt.

„Prinz Kaspian“ ist ein unterhaltsames und spannendes Kinderbuch, das bis zum Rand mit Abenteuer und Action voll gepackt ist, ohne dabei an Zauber und Hoffnung einzubüßen. Es wartet mit zahlreichen Überraschungen, einer veritablen Schlacht und einem packenden Zweikampf zwischen König Miraz und Peter auf. Diesmal kommt der Humor aber etwas zu kurz. Sicher – es gibt jede Menge putzige und heroische Tierhelden, über die sich Kinder amüsieren können. Doch das Thema von Kampf, Verrat und Sieg erscheint mir diesmal zu vorherrschend, als dass viel Vergnügen aufkommen könnte.

Philipp Schepmann macht das Hörbuch wieder zu einem Hör-Erlebnis. Ihm gelingt es, unter Einsatz verschiedener Aufnahmetricks und den zahlreichen Stimmlagen, die ihm zur Verfügung stehen, die unterschiedlichsten Figuren zur Geltung zu bringen. Da wird das Hörbuch schnell kurzweilig, und die Zeit vergeht wie im Fluge.

|Originaltitel: The Chronicles of Narnia – Prince Caspian, 1951
300 Minuten auf 4 CDs
Aus dem Englischen übersetzt von Lena Lademann-Wildhagen (1977)|

Vance, Jack – Emphyrio

_Wahrheit und Freiheit: die Vorrevolution als Jungs-Abenteuer_

Ghyl Tarvoke lebt mit seinem Vater auf Halma, einer abgelegenen Welt mit einem Raumhafen. Schon in frühester Jugend lernt Ghyl die Unterdrückung durch die mysteriösen LORDS kennen, die das Volk von Halma, das auf Gutscheine angewiesen ist, rücksichtslos ausbeuten. Als sein Vater durch das herrschende System stirbt, wird Ghyl zum Rebellen.

Mit einem gekaperten Raumschiff verlässt er Halma, um das wohlgehütete Geheimnis der LORDS zu ergründen und seinem Volk die Freiheit zu bringen. Schließlich erreicht er die Erde, den Planeten der Vorfahren. Hier, so hofft er, liegt der Schlüssel der Freiheit … (Gekürzte Verlagsinfo)

_Handlung_

Die Folterknechte der LORDS quälen den gefangenen Ghyl Tarvoke bis aufs Blut, um herauszufinden, wie es ihm in den Sinn kommen konnte, gegen die LORDS zu rebellieren. Ghyl der Rebell erzählt ihnen seine Geschichte. Sie beginnt auf dem friedlichen Planeten Halma …

|Ghyls Geschichte|

Hier lebt mit seinem Vater in einer der mittelalterlich anmutenden Städte. Sein Vater Amiante ist ein Schnitzer von Wandschirmen aus edlem Holz. Wie das Gesetz der Schnitzergilde es vorschreibt, darf es immer nur ein Exemplar davon geben, denn Duplikate sind streng verboten. Damit alle ihre Gutscheine von der Wohlfahrt bekommen, müssen sie sich an die Gesetze halten, sonst gibt es Abzüge. Auf diese Weise werden „brave Bürger“ kurzgehalten. Die Lords aber bekommen ohne Gegenleistung stets 1,18 Prozent aller Gewinne. Das sehen manche nicht ein.

Als Ghyl mit seinem Vater eine Theatervorstellung besucht, erfährt er erstmals von der Legended es Rebellen Emphyrio und fragt sich, wie es geschehen konnte, dass Emphyrios Vermächtnis inzwischen völlig überwunden ist. Mit seinem Jugendfreund Floriel begibt er sich auch mal heimlich in den Raumhafen. Dort stehen die prächtigen Weltraumjachten der LORDS praktisch unbewacht herum – zu einladend, um sie zu ignorieren. Wie prächtig das Innere ausgestattet ist! Ghyl schwört sich, selbst einmal in den Weltraum zu fliegen. Doch da werden sie von einer LADY des Schiffs verwiesen.

Die Agenten der Wohlfahrtsbehörde sehen es gar nicht gern, dass Ghyls vater den Jungen nicht in den Tempel schickt, damit der dort das Springen lernt. Erst sehr spät schließt sich Ghyl den Gleichaltrigen an, doch sein Denken bleibt in selbständigen Bahnen. So kommt es, dass er sich mit den jungen Non-Kos einlässt, Leuten, die nicht mit der Wohlfahrtsbehörde kooperieren und Gutscheine ablehnen. Die Dinge nehmen eine schlimme Wendung, als der bisherige Agent durch einen gestrengen Beamten abgelöst wird, der andere Saiten aufzieht.

Nachdem man Amiante beim Anfertigen von Duplikaten erwischt hat, wird er peinlich verhört, d. h. gefoltert. Das bringt Ghyl auf die Schnapsidee, bei der anstehenden Bürgermeisterwahl als Emphyrio zur Kandidatur anzutreten. Wie zu erwarten, sind die Agenten empört über diese Unbotmäßigkeit. Und überhaupt: Der Bürgermeister habe doch gar nichts mehr zu sagen. Doch Ghyls Vater weiß es anders. Bevor die Behörde die Macht übernahm, gab es eine Charta des Volkes, die dem Bürgermeister Vollmachten übertrug.

Entgegen den Erwartungen der Behörde erringt Ghyl mit Hilfe seiner Freunde und vieler Gegner aus der Behörde den dritten Platz. Das macht die Repressionen nur noch härter. Bis Amiante den Agenten schließlich mit einem Hammer fast erschlägt. Die als Strafe verhängte „Rehabilitation“ entzieht ihm jede Lebenskraft – bis ihn schließlich tot entdeckt.

Nach zwei darauffolgenden Jahren des Wohlverhaltens zieht es Ghyl wieder zu seinen ehemaligen Freunden. Er findet sie unten am Fluss. Sie sind alle Nicht-Kos geworden, also Aussteiger. Aber wie verdienen sie sich dann ihren Lebensunterhalt, fragt Ghyl. Offenbar drehen Floriel, Nion und ihr Kreis irgendwelche krummen Dinger. Auf einem Ball, zu dem sie ihn einladen, spähen sie ihre nächsten Opfer aus: LORDS. Während sich Ghyl mit LADY Shanne, jener Raumjachtbesitzerin aus Kindertagen, amourös vergnügt, schmieden die anderen bereits einen Kidnappingplan. Sie wollen die LORDS einer Raumjacht entführen und gegen Lösegeld freilassen. Der Haken: LORDS zahlen per Gesetz niemals Lösegeld.

Auch Ghyl schließt sich dem verwegenen Plan an, denn er sieht endlich die Chance, die Wahrheit über das Geheimnis der LORDS und des ungerechten Wohlfahrtssystems er erfahren, indem er mit der geklauten Raumjacht zu anderen Welten fliegt. Zunächst klappt alles wie am Schnürchen. Doch erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt…

_Mein Eindruck_

„Die Wahrheit macht euch frei“, heißt es in der Bibel (im Johannes-Evangelium, Kap. 8, Vers 32), und diese Prophezeiung erfüllt sich auch in „Emphyrio“. Befreiung und Wahrheit sind die zwei großen Themen dieses Abenteuerromans für zwölfjährige Jungs. Diese Kombination ist zwar nicht selten, aber auch nicht gämgig, denn gerade der Begriff der Wahrheit ist höchst subversiv.

Freiheit ist das Ursprungsthema der Vereinigten Staaten, schon seit die Pilgerväter im 17. Jahrhundert zwecks Religionsfreiheit in die Neue Welt auswanderten. Dass es bei der Gründung der USA und im Bürgerkrieg um Freiheit (vom Mutterland) und Befreiung (der Sklaven) ging, bedarf wohl kaum der Erwähnung.

Die Gesellschaft der Wohlfahrtsempfänger von Ambroy ist zwar stabil, aber ausgebeutet. Es ist Ghyl Tarvoke, der zwei entscheidende Faktoren erlebt, für die sein Vater verantwortlich ist: die „duplizierten“ Dokumente aus der Vergangenheit des Planeten Halma – und das Puppenspiel über die Legende von Emphyrio. Wie aber kann eine Legende auf die Wahrheit hindeuten, fragt sich Ghyl. Die Welt der Gegenwart wirkt nicht so, als habe es jemals einen Freiheitshelden wie Emphyrio gegeben. Aber Ghyl ist fest überzeugt, dass die Legende ein Körnchen Wahrheit enthält. Diese Wahrheit zu finden, ist all sein Sehnen und Sinnen.

Nach den Abenteuern mit den entführten LORDS kann sich Ghyl tatsächlich auf die Suche nach dem Ursprung Emphyrios machen. Was er findet, sind lediglich Bruchstücke auf historischen Ruinen – sowie Ruinen, die ein menschliches Skelett enthalten. Immerhin: Der Totenschädel weist ein Loch in der Mitte der Stirn auf. Genau wie in der Legende. Doch was die Bruchstücke bedeuten, weist auf einen Betrug so ungeheuerlichen Ausmaßes hin, dass es eines sehr humorvollen Verstandes bedarf, um deshalb nicht verrückt zu werden. Deshalb begibt sich Ghyl schließlich in die Höhle des Löwen …

|Die Romanstruktur|

Der Prolog mit der Folterszene löst eine lange Rückblende aus, die schließlich mit neuer Handlung abgeschlossen wird. So entsteht in einer Rahmenhandlung eine Klammer, die die ersten zwei Drittel der Handlung zusammenhält. Zufällig sind das genau die zwei Drittel, die die meisten Längen des Romans aufweisen. In den bisherigen Ausgaben verwundert es daher nicht, dass sie radikal weggekürzt wurden. Um eine actionreiche Abenteuergeschichte zu bestreiten, reichen die Seiten zwischen S. 210 und 317 völlig aus.

Doch der Kürzende steht vor der Aufgabe, die Revolte Ghyls zu motivieren. Welche Gründe gibt es dafür in einer nur skizzenhaft beschriebenen Gesellschaft? Natürlich ist da der Tod des Vaters, und Rache ist immer ein schönes Motiv. Aber das begründet nicht die Suche nach der Wahrheit, der sich Ghyl verschrieben hat. Folglich müssen Geheimnisse, Rätsel und vor allem die Emphyrio-Legende beschrieben werden. Diese aber ergeben sich auf natürliche Weise nur aus der Gesellschaft und ihren eklatanten Widersprüchen.

Die Gesellschaft auf Halma ähnelt nicht von ungefähr der des vorrevolutionären Frankreich zu Ende des 18. Jahrhunderts. Die LORDS entsprechen der hauchdünnen Schicht des Adels, die ohne einen Finger zu krümmen nicht nur 90 Prozent aller Vermögen besitzt, sondern auch noch 1,18 Prozent aller Gewinne als Abgabe einstreicht. Aufgrund welchen Rechts, fragt sich Ghyl. Und sein Vater sagt ihm klar, dass es dieses Recht nicht aufgrund demokratischer Entscheidungen gibt, sondern weil es aufgezwungen wurde. Vor langer Zeit, nach einem grausamen Krieg.

Man sieht also, dass eines zum anderen führt. In der Langversion nimmt Ghyls Vater eine erheblich wichtigere Stellung ein, denn er ist die Quelle alternativer Wahrheit. Ghyl erfährt später, dass Amiante der Korrespondent des Historischen Instituts auf der Erde war. Kein Wunder also, dass er über manche historischen Ereignisse besser Bescheid wusste als der Rest der Bürger. Diese Wahrheit ist aber nur ein Körnchen des Rests, den Ghyl zusammentragen muss.

Doch was tun mit der Wahrheit, sobald man sie einmal kennt? Ganz einfach: Man muss sie verbreiten. Schon dieser Entschluss ist so gefährlich, dass er eine Revolution auslöst. Die Revolution auf Halma hat große Ähnlichkeit mit dem Sturm auf die Bastille. Nur dass diesmal die ehemals Unterdrückten in der Lage sind, ihren Unterdrückern Wiedergutmachung abzupressen – für 2000 Jahre Betrug und Ausbeutung. Denn dieser Betrug hatte von Anfang an auch wirtschaftliche Gründe. Auch das wird in der ungekürzten Fassung viel deutlicher.

|Liebe und Spiel|

In einer Welt des Scheins kann es keine echte Liebe geben, muss Ghyl erfahren. Lady Shanne mag zwar gut aussehen und gut in der Liebe sein, aber sie hat leider auch ein äußerst kurzes Gedächtnis. Wenige Tage später erinnert sie sich kaum noch an ihren Lover. Wie soll da echte Romantik und Liebe aufkommen, fragt sich der Leser. Doch dieses Manko hat einen guten Grund. Denn Shanne ist wie alle Lords und Ladies in diesem Buch von einer ganz besonderen Machart – und mit diesen Wesen lässt man sich als Mensch besser nicht ein.

|Achtung, Spoiler!|

Die Lords und Ladies sind lebende Puppen, die die ehemaligen Sieger, die Damarer, herstellten, um die Halmaner zu betrügen und auszubeuten. Die Beute dient dazu, die unterirdischen Paläste auf Halmas Mond Dalmar auszustatten – mit enormen Schätzen, die es jeweils nur ein einziges Mal gibt. Bis Ghyl einen Trick findet, um diese Kette zu zerbrechen.

Dass die Lords solche Puppen sind, legt der Autor raffinierterweise schon in dem anfänglichen Puppenspiel dar. Denn Holkerwoyds Puppen sind durchaus lebendig und verfügen über einen eigenen Willen, so dass sie sogar ihren Schöpfer überleben werden. Wer diesen ironischen Hinweis ernstnimmt und ein wenig weiterspinnt, kann den Bezug zu den Lords herstellen.

In letzter Konsequenz trifft die Metapher des Puppenspiels auch auf diese Geschichte zu. Denn der Autor ist der Schöpfer der fiktiven Figuren, die er wie Puppen im Geist des Lesers tanzen lässt. Und vielleicht ist sogar der Leser selbst nur eine Puppe, an deren Fäden gerade gezogen wird… Die Ebenen dieses Vergleichs sind viele. Und dem Autor mag es gefallen haben sich vorzustellen, wie sich der Leser, seiner Fäden bewusst, selbst ein wenig auf die Suche nach der Wahrheit seiner Welt macht. Immerhin erschien der Roman im wilden Jahr 1969, als Woodstock stattfand und die Attentate auf Martin Luther King und Robert Kennedy, den Justizminister der USA, nur wenige Monate zurücklagen.

_Die Übersetzung_

Dies ist die erste vollständige Übersetzung in deutscher Sprache. Obwohl der Roman in den ersten zwei Dritteln erhebliche Längen aufweist, werden sie alle getreulich wiedergegeben. Das verleiht dem Inhalt einen anderen Schwerpunkt.

Nur selten tauchen Flüchtigkeitsfehler auf, so etwa „mir“ statt „mit“.

_Die Illustrationen_

Die Schwarzweißgrafiken des Künstlers Johann Peterka sind gewöhnungsbedürftig. Plakativ, unruhig, meist detailreich, strahlen sie eine Dynamik aus, die den winzigen Rahmen eines Taschenbuchs schier sprengt. Da muss der Betrachter zweimal hinsehen, um alle Details erfassen zu können.

_Unterm Strich_

In den ersten beiden Dritteln entspricht „Emphyrio“ einem Entwicklungsroman, im letzten Drittel erst wird daraus ein gewohntes Jugendabenteuer. Nur wenn man die beiden teile zusammen anschaut, wird daraus der Roman einer persönlichen Revolte, die auf konsequente Weise zur gesellschaftlichen Revolution führen muss.

„Die Wahrheit euch frei“, dieser Bibelspruch nimmt hier konkrete Gestalt an, denn Ghyls Wahrheitssuche beendet nicht nur die Legende um Emphyrio, indem er die Verkörperung des Helden wird. Sondern auch die (bislang unterdrückte) Botschaft der Legende bringt Wahrheit und Freiheitsanspruch zusammen.

Das letzte Drittel ist deshalb durchaus unterhaltsam zu lesen, wohingegen ich für die ersten zwei Drittel mehrere Wochen brauchte, abgelenkt durch spannendere Bücher. Das Buch setzt zwei Appelle des Autors an den Leser um: 1) Du solltest dich als Marionette der „Lords“ erkennen und etwas dagegen unternehmen. 2) Genauso wie die Heldenlegende eine Verkörperung (Ghyl als Emphyrio) hervorbringen kann, so kannst auch du eine Legende finden, die dir zusagt und die du umsetzen kannst. Nur kommt es darauf an, eine verlogene Legende zu erkennen und auszusortieren. Und von denen haben die Lords leider jede Menge anzubieten. Deshalb ist die Erkenntnis der Wahrheit die Voraussetzung für jede Aktion und Revolution. Leichter gesagt als getan, wie Ghyls Geschichte deutlich illustriert.

Jack Vance hat einige solcher Befreiungsgeschichten geschrieben, so etwa „Die blaue Welt“ und den ANOME-Zyklus (s. u.). Actionreicher und spannender sind seine Planetenabenteuer und seine Weltraumkrimis aus der „Dämonenprinz“-Serie.

_Der Autor_

Jack Holbrook Vance wurde 1916 in San Francisco geboren und wuchs im idyllischen San Joaquin Valley auf. Das prägte seine Liebe für das Land, die selbst in abgewandelten Polizeithrillern wie der „Dämonenprinz“-Serie immer wieder aufscheint.

Vance studierte Bergbau, Physik und schließlich Journalismus. Im Zweiten Weltkrieg war er Matrose bei der Handelsmarine und befuhr den Pazifik. Er wurde auf zwei Schiffen Opfer von Torpedoangriffen. Ansonsten weiß man wenig über ihn: Er lebt in Oakland, liebt alten Jazz, spielt Banjo und bereist unermüdlich die Welt.

Seine Karriere begann 1945 mit der Story „The World Thinker“ in dem Magazin „Thrilling Wonder Stories“. Bis 1955 schrieb er abenteuerliche Science-Fiction, bereits durch farbig geschilderte Schauplätze und spannende Handlungsbögen auffiel. Es war das Goldene Zeitalter der Magazin-Science-Fiction. 1950 wurde sein erstes und berühmtestes Buch publiziert, der Episodenroman „The Dying Earth“. Die Episoden spielen in einer fernen Zukunft, in der die Wissenschaft durch Magie abgelöst wurde. Dadurch spannt sich die Handlung zwischen reiner Science-Fiction und einer Spielart der Fantasy, die nicht ganz von der Logik aufzulösen ist.

Hervorstechende Stilmerkmale sind bereits die Ironie in Sprache, Handlungsverlauf und Figurenbeschreibung, aber auch schon der Detailreichtum darin. In der Science-Fiction wurde Vance selbst zu einem „world thinker“, der exotische Kulturen mit ulkigen Bräuchen und Sitten erfand, so etwa in der wunderbaren Novelle „Die Mondmotte“ (Musik und Masken als Formen der Kommunikation).

Vance schrieb ab 1957 etwa ein Dutzend Kriminalromane, darunter auch unter dem bekannten Pseudonym Ellery Queen. Er bekam sogar für einen Roman, „The Man in the Cage“, einen Edgar verliehen. Dieser kriminalistische Einschlag findet sich in mehreren von Vances Hauptfiguren wieder, darunter bei den galaktischen Spürhunden Magnus Ridolph, Miro Hetzel und Kirth Gersen. Gersen ist der Held der Dämonenprinz-Serie, der Rache an fünf grausamen Sternkönig-Aliens nimmt.

Vances Stärke ist sein Prosastil. Er baut in wenigen beschreibenden Details eine Atmosphäre, eine Stimmung auf, die er dann immer wieder mit wenigen Schlüsselwörtern aufrufen kann. Insofern ist Vance, fernab von jeglicher Hard SF, der farbigste und barockeste Autor im Genre, dessen charakteristische Sprache in jedem beliebigen Absatz erkennbar ist. Leider verstand es in seinen Werken bis in die 80er Jahre nicht, eine Geschichte durch eine Konstruktion zu stützen, die wenigstens einen kompletten Roman getragen hätte: Er schrieb meistens Episodenromane oder Fix-up-Novels. In ähnlicher Weise ließ auch sein Interesse an Fortsetzungen nach, so dass spätere Romane in einer Serie in der Regel schwächer ausfielen als der Anfangsband.

Vance hat die Kunst der Namensgebung zu wahrer Meisterschaft getrieben: Seine Namen sind phantasievoll und haben stets den richtigen Klang. Ich weiß nicht, woher er seine Einfälle nimmt: aus dem Mittelalter, aus exotischen Kulturen der Erde oder sonst woher. Im 1. Band der Dämonenprinz-Serie sind dies beispielsweise die Namen „Attel Malagate“, „Lugo Teehalt“ und „Hildemar Dasce“, im 3. Band „Jheral Tinzy“ und „Viole Falushe“ bzw. „Vogel Filschner“.

Da Vance aber kein einziges Buch geschrieben hat, das ihn durch seine Thematik weltberühmt gemacht hätte – so wie es George Orwell mit „1984“ gelang -, ist er immer ein Geheimtipp, ja ein Kultautor der Science Fiction-Szene geblieben. Das bedeutet nicht, dass Vance unkritisch oder unaktuell gewesen sei: Er griff Themen wie Religion, Sprachwissenschaft, Social Engineering und Ökologie auf, um nur ein paar zu nennen.

|Taschenbuch: 349 Seiten
Originaltitel: Emphyrio (1969)
Aus dem US-Englischen von Rainer Schumacher
ISBN-13: 978-3404242825|
http://www.luebbe.de

_Jack Vance bei |Buchwurm.info|:_
[Grüne Magie 696
[Durdane 740
[Freibeuter des Alls 1369
[Der Palast der Liebe 2181 (Die Dämonenprinzen #3)
[Das Buch der Träume 2197 (Die Dämonenprinzen #5)
[Das Weltraum-Monopol 2188
[Staub ferner Sonnen]http://buchwurm.info/book/anzeigen.php?id__book=2201

Hohlbein, Wolfgang – Paulus-Evangelium, Das

_Trash as trash can: Wildwest in Jerusalem_

Der Garten Gethsemane am Vorabend von Jesu Kreuzigung: Jehuda verrät Jehoschua von Nazareth, den Messias …

Marc und Guido hacken sich in den Zentralrechner des Vatikans. Doch sie können nichts mit der Computersimulation von Jehudas Verrat an Jesus anfangen, die plötzlich über ihren Bildschirm flimmert. Ganz im Gegensatz zu Kardinal di Milani, der in den verborgenen Kellern der päpstlichen Sommerresidenz Castelgandolfo die gleiche Szene zum ersten Mal zu Gesicht bekommt. Als der Kardinal die elektronische Präsenz der beiden deutschen Hacker bemerkt, lässt er sie jagen. Sie sind unvermittelt in eine unglaubliche Intrige verstrickt und müssen erkennen, dass es noch Geheimnisse gibt, die zu kennen Kopf und Kragen kosten kann.

_Der Autor_

Wolfgang Hohlbein, geboren 1953 in Weimar, hat sich seit Anfang der Achtzigerjahre einen wachsenden Leserkreis in Fantasy, Horror und Science-Fiction erobert und ist so zu einem der erfolgreichsten deutschen Autoren geworden (Auflage: 35 Millionen Bücher laut |Focus| 40/2006). Zuweilen schreibt er zusammen mit seiner Frau Heike an einem Buch. Er lebt mit ihr und einem Heer von Katzen in seinem Haus in Neuss.

_Der Sprecher_

Sascha Rotermund, geboren 1974 in Westfalen, studierte an der Hochschule für Musik und Theater in Hannover Schauspiel und hatte sein erstes festes Engagement am Theater Magdeburg. Auch auf den Bühnen in Bremen, Lübeck und Hannover gastierte er. Rotermund hat sich laut Verlag als Synchronsprecher bereits einen Namen gemacht, zum Beispiel als Michael Bluth (Jason Bateman) in der Serie „Arrested Delvelopment“.

_Handlung_

In dem Keller unter der päpstlichen Sommerresidenz Castelgandolfo ist es erst 16:04 Uhr, doch in dem Film, der über den wandbreiten Flachbildschirm flimmert, ist es bereits Nacht. Eine Kohorte römischer Soldaten rückt unter dem Kommando des Zenturio Malchus in den Garten Gethsemane bei Jerusalem vor. Ihr einheimischer Führer ist ein gewisser Jehuda, auch als Judas bekannt, den ein greiser jüdischer Priester begleitet. An einer Hausmauer gibt Malchus Jehuda 30 Silberlinge, der Priester muss zurückbleiben.

Die Soldaten ziehen die Waffen und betreten den Innenhof des Hauses, in dem derjenige, der den Frieden predigt, mit seinen Jüngern zusammensitzt. Jehuda bezeichnet den, der Jesus genannt wird, mit einem Kuss. Malchus stellt „Jesus“ zur Rede, der ihm jedoch Widerrede gibt. Er widersetzt sich der Festnahme und droht Malchus sogar. Als der Zenturio ihn mit dem Schwert angreift, wehrt „Jesus“ den Angriff ohne Mühe ab und entwaffnet Malchus. Zwei Legionären ergeht es nicht besser. Dieser angeblich friedliebende Prediger scheint ein ausgebildeter Krieger zu sein! Erst unter der Attacke von drei weiteren Legionären geht „Jesus“ zu Boden und wird von Malchus zusammengeschlagen. Das Bild verblasst …

Kardinal Di Milani ist zufrieden. Aber er sorgt sich, dass irgendjemand den computeranimierten Film, den er gestalten ließ, woanders sehen könnte. Sein PC-Techniker Ramón beruhigt ihn, dass das System, das der NSA-Techniker Forsythe installiert habe, absolut zugriffssicher sei. Beruhigt fliegt Di Milani nach Herkulaneum, wo er den deutschen Archäologen Beresch trifft. Dieser hat ein Pergament gefunden und entziffert, das in einer längst ausgestorbenen Sprache abgefasst ist, die nur er lesen kann. Als Di Milani verlangt, dass dieses Paulus-Evangelium geheimgehalten werden müsse, protestiert Beresch, indem er erwidert, die Öffentlichkeit habe ein Anrecht auf die Kenntnis von diesem Pergament. Einen Bestechungsversuch lehnt Beresch verächtlich ab. Als Di Milani geht, gibt er seinem Assistenten Alberto einen Wink. Beresch soll schweigen, und zwar für immer …

In einem Vorort von Köln speichern zwei Mitarbeiter einer Internet-Sicherheitsfirma namens |NetProtect| den Film DiMilanis auf eine DVD. Der gewissenhafte Mark Schreiber, 28, und der chaotische, aber kreative Guido Senner haben mittels Spyware die Datenbank des Vatikans in Castelgandolfo geknackt. Dass das Eindringen über das Stromnetz so einfach sein könnte, hätten sie auch nicht gedacht. Während Guido von den Millionen träumt, die er mit dem Film verdienen könnte, trabt er mit Mark zur Kostüm-Party, die ihr Kumpel Joachim alias „Lars der Wikinger“, in der WG von Johannes veranstaltet. Erst in Guidos Zimmer begutachten sie ihre Beute.

Der Film ist mit dem dreidimensionalen Wappen des Vatikans geschmückt und verschlüsselt, aber das bereitet Guido keine Schwierigkeiten. Im Film selbst reden die Leute unverständliches Zeug, nämlich Latein seitens der Römer und Aramäisch seitens der Juden. Über diese Tatsache werden sie von Johannes höchstselbst aufgeklärt, der mittlerweile eingetroffen ist. Er hat eine dunkelhaarige Frau namens Jezebel, seine Halbschwester, vom Flughafen abgeholt. Erst scherzt sie, sie sei eine Mossad-Agentin, gibt dann aber zu, bloß im Hospiz ihres Vaters Tobias zu arbeiten. Guido zeigt den beiden seinen geklauten Film. Dies ist der Moment, für den er gearbeitet hat, denn er will Johannes, der Priester werden will, eins auswischen, indem er seinen künftigen Arbeitgeber, den Vatikan, bloßstellt. Johannes‘ kühle Reaktion enttäuscht ihn. Später, als er allein ist, dringt er deshalb noch einmal in den Vatikanrechner ein. Was er dort findet, brennt er auf DVD und schickt sie per Post an Johannes in Jerusalem.

Leider wird Guido keine Gelegenheit haben, sich an Johannes‘ Reaktion zu ergötzen, denn am nächsten Tag melden sich bei ihm zwei Herren, die sich sehr für seine illegale Nebentätigkeit interessieren. Der eine nennt sich Alberto, der andere Forsythe …

Nachdem Mark Schreiber am Tag nach der Party eine telefonische Warnung von „Lars“ erhalten und Johannes‘ Wohnung verwüstet vorgefunden hat, geht er ziemlich nervös wieder in die Firma |NetProtect|. Deren Geschäftsführer Stephen Bathory wird gerade von zwei Polizisten über Guido Senner befragt, denn der sei tot aufgefunden worden. Einer der Polizisten nennt sich Kommissar Dalberg. Als sie wieder verschwinden, löchert Bathory sofort Mark. Mark gibt zu, sie hätten die Datenbank des Vatikans geknackt, schiebt aber alle Verantwortung auf Guido ab. Dass sie über das Stromnetz eingedrungen sind, kann Bathory kaum fassen und will sofort Guidos Software haben. Sie sei Gold wert. Er beauftragt einen Experten, eine Sicherheitskopie von Guidos Festplatte anzufertigen. Bis der Experte eintrifft, baut Mark diese Festplatte aus und ersetzt sie durch eine ältere Kopie. Auf dieser ist Guidos Spyware noch defekt. Die Endversion versteckt er.

Gerade noch rechtzeitig, bevor zwei unbekannte Männer zuerst bei Bathory auftauchen und dann auch bei ihm. Alberto tötet Bathory ohne jede Vorwarnung und zielt bereits auf Mark, als Polizeisirenen zu hören sind. Die beiden verduften und lassen einen völlig verängstigten Mark zurück. Als Kommissar Dalberg eintritt, fleht Mark ihn an, die zwei Verbrecher zu verfolgen. Doch der Polizist tut alles andere als das. Er verhaftet Mark. Wegen dreifachen Mordes: an Stephen Bathory, Guido Senner und Joachim Thedor, genannt „Lars“ …

_Mein Eindruck_

Schon dieser kurze Handlungsabriss dürfte klarmachen, dass der Plot völlig an den Haaren herbeigezogen ist. Aber das hat Hohlbeins Bibel- und Klerikalthriller ja mit vielen ähnlichen Romanen, die sich auf die Erfolgsspur des „Da Vinci Codes“ setzen, gemeinsam. Was mich immer wieder frustrierte, ist die Unverfrorenheit, mit der mir hier Logiklücken, zweidimensionale Pappfiguren und mieser sprachlicher Stil zugemutet werden.

Fangen wir mit den Figuren an, denn damit gelangt man automatisch zur fehlenden Logik. Kardinal Di Milani strebt wie so viele fiktive Kardinäle vor ihm nach dem Stuhl des Papstes. Wir erfahren nicht, woher Di Milani kommt, noch für was er überhaupt zuständig ist, sondern nur dass er ein ganz schlimmer Finger ist, der den Papst absetzen will, so als gehe es um eine ganz gewöhnlich Palastrevolution in einer Bananenrepublik.

Aber Di Milani ist offenbar mit Geschichtsfälschung befasst. Dabei soll ihm das in Herkulaneum – also ausgerechnet unter megaheißer Vulkanasche! – gefundene Pergament eines ominösen Paulus-Evangeliums verhelfen. Dass es solche Evangelien massenweise gegeben hat, ist ja mittlerweile Allgemeinwissen. Inwiefern allerdings ein computergenerierter Film die Öffentlichkeit über das wahre Geschehen um Jesu Tod aufklären und den Papststuhl wackeln lassen soll, ist ein derart vage herbeigeführter Kausalzusammenhang, dass wohl nur der Autor selbst ihn ernst nehmen kann.

Ebenso hanebüchen, aber um einiges interessanter ist die Hypothese, dass die Römer statt des wahren Jesus von Nazareth einen anderen Jünger verhafteten. Zenturio Malchus wunderte sich ja gleich, warum sich ein Friedensprediger wie ein Krieger wehren kann. Der Grund ist simpel: Judas hat ihn getäuscht und sie verhafteten und kreuzigten Petrus, so dass der wahre Jesus überlebte. Dummerweise haben die kanonisierten vier Evangelisten nie ein Sterbenswörtchen von einem überlebenden Jesus, der sein Werk fortsetzte, verlauten lassen. In den weiteren Videoclips aus Di Milanis Werkstatt beschwert sich Jesus bestürzt über diesen Verrat seiner Jünger. Offenbar haben sie nicht viel von seiner Gottgesandtheit gehalten, sonst hätten sie ihm wohl gehorcht, als er sie bat, ihn den Römern auszuliefern. Dumm gelaufen, Mann! Alles muss man selber machen.

Wie der Gernegroß-Hacker Guido diese Story für Millionen verscherbeln will, ist mir ebenfalls schleierhaft. Wer sollte sein Abnehmer sein? Das erinnert mich an den Millionär Kaun in Eschbachs [„Jesus-Video“, 267 der mit seinem vermeintlich brisanten Fund den Vatikan erpressen will. Dumm für Guido, dass er sich ausgerechnet mit einem skrupellosen Vatikanbewohner wie Di Milani angelegt hat. Mark Schreiber ist anfangs nur ein Mitläufer, aber nachdem er des mehrfachen Mordes verdächtigt wird, muss er ausbaden, was Guido angestellt hat. Und dass auch Johannes auf der Abschussliste steht, obwohl er weder die Spyware noch die Video-DVDs besitzt, kann man wohl unter Kollateralschaden abhaken. Es sorgt jedenfalls für gute Actionszenen, wenn Johannes draußen in der Wüste verfolgt wird. Ob es irgendeinen Sinn ergibt, war für den Autor offensichtlich zweitrangig. Genauso wie die Spyware, die über den Stromkreis Computer knacken soll – völliger Unsinn.

Überhaupt sind die meisten Männer hinter dem her, was die anderen Männer haben: entweder Guidos „supergeniale“ Software, die rattenscharfen Bibelvideos oder auch nur den falschen Namen, das falsche Wissen oder was auch immer. Dass ein gestandener Kölner Kommissar wegen des Mordes an seiner Tochter, einer Polizistin, zum rachedurstigen Folterknecht und Meuchelmörder wird, ist nur ein weiterer hanebüchener Aspekt des Plots, der unter dem Etikett „Schundliteratur“ abzuheften ist.

Worauf dies alles hinausläuft, kann sich der erfahrene Trashleser an zwei Fingern abzählen: auf einen blutigen Showdown. Doch Hohlbein reicht dies nicht: Es wird ein allgemeiner Shootout wie beim O.K. Corral daraus. Wildwest in Jerusalem. Damit der geneigte Leser bzw. Hörer auch wirklich nach vollbrachter (wahlweise auch akustischer) Lektüre ruhigen Gewissens zu Bett gehen kann, muss dann auch der Schurke im Stück zur Rechenschaft gezogen werden. So ist’s brav.

Was nun die einzige relevante Frau im Stück angeht, so hat Jezebel zwar einen vielversprechenden Namen, aber leider auch ein bedauerliches Schicksal. Sie darf zwar in Marks Bettchen liegen und mit ihm schmusen, aber auf keinen Fall mit ihm die Sünde des Beischlafs begehen, sonst wäre das Abendland in Gefahr. Versteht sich fast von selbst, dass sie vor lauter Dankbarkeit, dass sie weiterhin Jungfrau sein darf, ihrem Liebsten das Leben rettet. So ein Schuss mit einem Colt muss denn auch den Richtigen treffen, und ich schätze, der finstere Alberto hat die Kugel verdient. Dass er zuvor Jezebels Halbbruder Johannes das Leben gerettet hat, zählt ja eigentlich nicht. Nicht wirklich jedenfalls. Oder so.

Damit der ganze Showdown auch die richtige historische Dimension erhält, müssen Mark und Alberto nach dem Willen des Autors nach uralten Schwertern greifen, die bereits vor 1000 Jahren die Kreuzritter in den Kampf trugen. Aufgrund seiner entstellenden Narbe ist für jeden Trashfan ersichtlich, dass Alberto, der Killer, der Böse sein muss. Folglich ist Mark der Gute. Blöd nur, dass er Alberto unterliegt. Gut, dass Jezebel kein Schwert heben muss, um Alberto allezumachen. Eine blaue Bohne tut es auch.

Eigentlich fehlt nur die Killerspielversion dieses Romans. Vielleicht sollten wir uns dafür vertrauensvoll an Di Milanis technische Zauberkünstler wenden. Der hohe Bodycount des Games sollte sie eigentlich auch reizen. Ich habe elf Leichen gezählt.

|Der Sprecher|

Sascha Rotermund hat eine tiefe Stimme, mit der es ihm am leichtesten fällt, Männerrollen zu interpretieren. Wenn die Kerle also brüllen, rufen, flüstern oder einfach nur miteinander reden (was selten genug vorkommt), dann hängt sich Rotermund voll rein. Damit die Lautsprecherboxen des Hörers dabei nichts abbekommen und |Lübbe Audio| keinen Schadensersatz zahlen muss (auf der CD ist kein Haftungsschluss vermerkt), werden alle Rufe und dergleichen entsprechend in der Laustärke zurückgenommen. Das wirkt etwas im Gesamteindruck etwas uneinheitlich, hat aber seine guten Gründe – siehe oben. Uneinheitlich ist auch das akustische Timbre des Sprechers, das mitten im Absatz zwischen zwei Sätzen wechseln kann. An diesen Stellen wurde offenbar eine Pause in der Aufnahme eingelegt.

|Die Musik|

Geräusche gibt es zwar keine, aber dafür umso mehr Musik. Die Hintergrundmusik ist denn auch das einzige Element, das den kompetenten Vortrag und den Inhalt der Story aufwertet und die ganze Sache genießbar macht. Das Prinzip für den Einsatz der Hintergrundmusik ist simpel. An spannenden Stellen und dem Anfang eines Kapitels erklingt dynamische Musik, die mit flotten Beats vorantreibt.

Das genaue Gegenteil sind traurige und sanfte Kadenzen, die ruhigeren Stellen unterlegt sind. Dazwischen gibt es noch die unheimlichen Stellen. Sie sind von überzogenen Tonintervallen gekennzeichnet und aus jedem Horror-Hörspiel bestens vertraut. Die schönste Musikstelle erklingt, als Jezebel mit Mark durch den restaurierten Garten Gethsemane in Jerusalem schlendern. Diese schwebenden, aber leichten Akkorde erinnerten mich etwas an die frühen Pink Floyd um 1970.

_Unterm Strich_

Was ist von einem Thriller zu halten, dessen Handlungslogik so große Löcher aufweist, dass ein Zeppelin hindurchpassen würde? Relativ wenig, aber wer weiß, welche Hohlbein-Fans dieses neuerliche Werk ihres Meisters verschlingen werden. Auch wenn der Bodycount mit mindestens elf Leichen reichlich hoch ausfällt, bietet sich das Buch vom sprachlichen Niveau her bereits für Zwölfjährige an. (Jungs vermutlich.) Die Lektüre ist nicht anstrengender als die eines durchschnittlichen „Hexer“-Groschenromans, und ich fand noch Muße, meine Bibliothek neu zu sortieren, während ich dem Fortgang der banalen Handlung folgte.

Im Hörbuch wird die Handlung durch den Vortrag Sascha Rotermunds halbwegs erträglich gemacht, aber durch die Hintergrundmusik beträchtlich aufgewertet. Denkt man sich diese Elemente weg, bleibt vom Plot eigentlich nichts mehr übrig als der von Hohlbein gewohnte Groschenroman.

Fazit: Die ordentliche Produktion hebt die Gesamtwertung gerade noch auf mittelmäßiges Niveau.

|429 Minuten auf 6 CD|
http://www.luebbe-audio.de

|Siehe ergänzend dazu unsere [Rezension 2630 zur Buchausgabe bei |Egmont vgs|.|

Antal Szerb – Reise im Mondlicht (Lesung)


Selbstfindung: Odyssee des traurigen Narren

Was als Hochzeitsreise durch Italien beginnt, endet als Entdeckungsfahrt zum eigenen Ich. Erzählt wird die von heimtückischer Komik durchsetzte „éducation sentimentale“ eines Mannes, der während der Flitterwochen seine Frau verliert, weil er den Zug verpasst.

Der Autor

Antal Szerb, geboren 1901 in Budapest, studierte Hungarologie, Germanistik und Anglistik. 1937 wurde er Professor für Literatur an der Uni Szeged. Bis heute ist er in Ungarn einer der meistgelesenen Schriftsteller. Szerb starb 1945 im KZ Balf in West-Ungarn. In seinen wenigen Lebensjahren hat er viele Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht, u. a. eine „Ungarische Literaturgeschichte“.

Der Sprecher

Heikko Deutschmann war nach seinem Schauspielstudium Ensemblemitglied an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Thalia-Theater, im Schauspiel Köln und Schauspielhaus Zürich. Mittlerweile ist er in zahlreichen Film- und Fernsehrollen zu sehen gewesen, so etwa „Der Laden“, „Operation Rubikon“, „Der Aufstand“ oder „Die Affäre Kaminski“.

Bei dieser gekürzten Lesung führte Margrit Osterwald Regie und für den guten Ton sorgte Ansgar Döbertin.

Handlung

Der Ungar Mihaly, 36, und seine neue Frau Erzy machen auf ihrer Hochzeitsreise Anfang der 1930er Jahre auch in Venedig Station. Er hat schon in Großbritannien und Italien gelebt, aber in Venedig ist er das erste Mal. Für Erzy, die von der Kunstgeschichte der Stadt begeistert ist, ist Mihaly der zweite Mann, nach einem gewissen Zoltan Pataki. Warum hat sie Zoltan bloß ziehen lassen, fragt sie sich. Mihaly ist ein Hypochonder, ein Angsthase, schwach, wirkt wie gehetzt. Sein Geheimnis: Er hat eine besondere Form der Agoraphobie, der Furcht vor weiten Plätzen. Wie in einem Anfall erblickt er einen Wirbel im Boden, der ihn einsaugen und in die Tiefe zerren will …

In Ravenna stolpert Mihaly über einen ungarischen Bekannten, doch von Janos, diesem „Hochstapler“, will er nichts wissen, obwohl der ein ehemaliger Klassenkamerad ist. Er glaubt, dass Janos ihm eine Uhr gestohlen hat. Janos erzählt, er habe den Klassenkameraden Erwin in einem Kloster nahe Rom gefunden. Man stelle sich vor: Erwin als Mönch!

Budapest, 1914 bis ca. 1933

Um seiner Frau seine Reaktion zu erklären, muss Mihaly ihr des Langen und Breiten von seiner Jugend in Budapest erzählen. Ich muss das nicht tun, aber es gibt ein paar enge Freunde, die zu erwähnen sind, weil Mihaly sie im Verlauf der Geschichte wiedersehen wird.

In der alten Burg von Buda lebte damals, während des 1. Weltkriegs, das Geschwisterpaar Tomás und Eva Ulpius. Sie standen einander so nah, dass sie sogar im gleichen Zimmer schliefen! Aber sie sind auch eifersüchtig aufeinander und kabbeln sich ständig. Mihaly betrachtet Tomás als seinen Freund und spirituellen Lebensretter, weil er ihn vor einem dieser imaginären Wirbel gerettet hat.

Gerne schließt er sich der kleinen Theatergruppe der Geschwister an, mit denen er die Commedia dell’arte pflegt. Alle diese improvisierten Stücke enden mit einem gewaltsamen Tod. Tomás gab den tragischen Prinzen, Eva natürlich die edle oder auch weniger edle Dame und Mihaly liebte es, das Opfer aus erotischen Gründen zu spielen. Wobei seine Liebe natürlich Eva gehörte, denn sie war sehr schön. Doch Tomás war sein Ideal. Dies war Mihalys „glücklichste Zeit in seinem Leben“.

Aber der achten Klasse kamen auch Erwin, 16, ein zum Katholizismus konvertierter Jude, und der schon erwähnte Janos hinzu. Doch der poetische Erwin ist auch ein Rebell und Casanova. Als er Eva anbaggert, macht er sich Mihaly zum Feind. Erst nach dem Abitur versöhnen sich alle wieder und spielen Theater. Ein Jahr vergeht, dann fällt alles auseinander. Getrennt von Eva, begeht Tomás seinen zweiten Selbstmordversuch, doch auch dieser misslingt. Er wollte halt wissen, wie es ist. Mittlerweile sind sie 20 Jahre alt, müssen arbeiten oder studieren. Das ist so frustrierend, dass Tomás mit Mihaly einen erneuten Suizid versucht, diesmal mit Morphium, das Eva besorgt. Aber sie ruft auch die Ambulanz rechtzeitig, und deshalb überleben beide.

Als Evas Vater Erwins Antrag um die Hand Evas ablehnt, geht Erwin ins erwähnte Kloster bei Rom. Die sitzen gelassene Eva wird von Janos mit kriminellen Mitteln ausgehalten. Zu diesen Mitteln gehörte offenbar auch, Mihalys goldene Uhr, ein Erbstück, zu klauen. Sie fuhr dann mit Tomás zur Kur nach Hallstatt, wo sich Tomás umbrachte, diesmal aber erfolgreich. Eva kehrte nie zurück, denn angeblich holte ein ausländischer Offizier sie ab. Ihr Vater starb bald danach.

Jetzt kann der Leser bzw. Hörer endlich verstehen, warum um Mihaly stets der Atem des Todes weht. Er sehnt sich nach der verschwundenen Eva, und die in Venedig präsente Erzy ist sein Versuch, bürgerliche Respektabilität zu erlangen, besonders in den Augen seiner Familie. Aber ob das auf Dauer gut geht?

Florenz ff.

Nicht lange danach kommt es dann zur Katastrophe. In Florenz erhält Mihaly einen Brief von Erzys Ex, der ihm nicht nur nur gute Ratschläge bezüglich der sorgsamen Behandlung des kostbaren Frauenzimmers – Pataki liebt sie immer noch – erteilt, sondern auch die Stirn besitzt, ihm, Mihaly, ein Darlehen anzubieten! Um sich als Mann und Gatte zu bestätigen, liebt Mihaly seine Frau in dieser Nacht besonders heftig. Dennoch will sie weiterreisen, nach Capri, zur Erholung. Klammheimlich klaut er ihr einen Scheck. Sie ist weitaus betuchter als er.

In Terontola trinkt er kurz mal einen Kaffee und steigt dann wieder in den Zug, der gerade abfährt. Zu blöd – es ist der falsche Zug! Dieser hier fährt nach Perugia statt nach Rom. Nun beginnt für Mihaly, der immerhin sowohl Geld als auch Pass besitzt, eine kleine Odyssee durch Mittelitalien: Assisi, Spoleto – lauter schön Städtchen. Aber keine Erzy. Er ahnt nicht, dass er nach ein paar Tagen von den faschistischen Polizeibehörden des Duce steckbrieflich gesucht wird. Erzy lässt ihn in ganz Italien suchen.

Doch Mihaly hat sich selbst verloren und sucht sich auf seiner Odyssee, die ihn schließlich bis nach Rom und zu Eva führt. Erst dann kann er sich wieder nach Ungarn begeben. Aber ob er dann von seiner Todessehnsucht geheilt ist, sei hier nicht verraten.

Mein Eindruck

Antal Szerbs Roman müsste eigentlich „Eros und Thanatos“, die Liebe und der Tod, heißen. Diese beiden Pole des Lebens sind es, zwischen denen Mihaly gefangen ist. In den Theaterstücken, die er mit Tomás und Eva improvisierte, spielten Eros und Thanatos stets eine wichtige Rolle, und er ergab sich gerne dem Tod, solange er damit der Liebe dienen konnte. Doch nach dem Auseinanderfallen dieser Dreieinigkeit findet Mihaly nichts mehr, in dem sich seine Sehnsucht erfüllen könnte.

Deshalb sucht er nach Tomás’ Tod hartnäckig nach den alten Gefährten, allen voran natürlich Eva. Während Erwin als Pater Severinus der Welt entsagt hat, tritt Janos immer noch als gauklerischer Mephisto-Verschnitt auf. Er verkuppelt Mihaly mit dem italienischen Mädchen Vanina, die im Armenviertel Romas lebt. In dieser tief verwurzelten Kultur bekommt Mihaly, der ja Religionsgeschichte studiert hat, eine Ahnung davon, wie früher die einfachen Leute dem Rad des Lebens gegenüber standen: Tod und Geburt waren nur Stationen in einem natürlichen Zyklus.

Und wie ihm Mihalys Studienfreund Lorenzo Waldheim bei einem Museumsbesuch erklärt, waren Eros und Thanatos schon immer sehr eng miteinander verbunden. Thanatos, der Tod, war in der Frühzeit und der Antike nicht tabuisiert wie heute. „Sterben ist ein erotischer Akt“, weiß Waldheim. Das kapiert Mihaly jedoch nicht, weshalb sein Freund weiter ausholen muss.

Für den archaischen Menschen – wie auch für Vanina – war der Tod ständig präsent. Für den Mann war er eine Hetäre (Prostituierte) mit einer großen Vagina, in welche der Mann wie in einer Umkehrung des Geburtsvorgangs zurückkehrte (der Unbirth-Mythos). Frauen sehnten sich nach dem Tod wie nach einem Mann und träumten von Todesdämonen. Diese nannte man später Satyrn, dargestellt mit Bocksbeinen und großem Phallus. Um den Todestrieb – hier wird Waldheim freudianisch – zu betäuben, habe der moderne Mensch den Tod tabuisiert – außer in Zeiten der Dekadenz, beispielsweise in Ungarn. Mihaly fühlt sich angesprochen und wird bleich.

In Rom hat Mihaly mehrere Erlebnisse des Realitätsverlustes, so etwa, als ihm eine adrette englische Familie wie eine Schar Puppen vorkommt. Als Janos auftaucht, ihn zu Vanina bringt und diese ihn zu dem Patenonkel eines Kindes macht, wird Mihaly ganz blümerant. Nur so ist zu erklären, dass er sich von Janos’ Intrige aufs Kreuz legen lässt. Janos will ihn Patakis Auftrag Mihaly dazu bewegen, Erzy zu entsagen. Dafür solle er eine finanzielle Entschädigung erhalten. Das ist Mihaly recht, denn er hat sowieso vor, sich demnächst umzubringen. Eva soll ihm dabei helfen. Doch dann läuft alles schief: Mihaly ist zum Leben verdammt. Ganz besonders dann, als auch noch sein Vater auftaucht, um ihn abzuholen.

Mihalys Problem der Nostalgie und der Todessehnsucht ist damit natürlich nicht gelöst. Er kann sich einfach nicht mit dem Verlust von Idealen und Mysterien abfinden, die er in der Verbindung zu Eva und Tomás ja zum Leben erweckt hatte. Doch leider ist das Leben kein Theaterstück, auch wenn es manchmal als eine Tragödie oder Komödie bezeichnet wird. Letzten Endes, findet Mihaly, obsiegt immer die Banalität des Absurden.

Erzys Odyssee

Es soll aber nicht der Eindruck vermittelt werden, in dieser Geschichte ginge es ausschließlich um die Leiden eines Hypochonders aus Ungarn. Nein, die Geschichte verfolgt den weiteren Lebensweg von Erzy in gleicher Weise. Sie reist nach Paris zu einer Bekannten, bei der sie unterkommt. Hier trifft sie auf Janos, der als Handelsreisender des Dritten Reiches unterwegs sei, wie er behauptet. Aber was macht er dann im Filmgeschäft?

Wie auch immer: Erst versucht er, sie an einen persischen Opiumschmuggler und Filmproduzenten zu verkuppeln. Das kapiert sie gerade noch in letzter Sekunde und findet es gar nicht witzig. Dann übermittelt Janos auch gewisse Briefe von Zoltan Pataki, in denen dieser ihr wieder seine Liebe anträgt und sie bittet, zu ihm zurückzukommen. Wie sich herausstellt, kann sie dieses Angebot nach einem gescheiterten Wiedersehen mit Mihaly in Rom nicht zurückweisen. Besonders dann, als Janos und Zoltan ihr Mihalys Brief vorlegen, in dem er sich mit seiner Scheidung einverstanden erklärt …

Eine Frage der Haltung

Diese Geschichte kommt einem vielleicht besonders traurig vor, aber der Schein trügt. Das Buch funkelt und wirbelt vor Abwechslung, und ständig bieten sich den zwei Hauptfiguren neue Chancen und Herausforderungen. Der Autor hasst seine Figuren in keiner Weise, sondern stellt sie uns als liebenswerte Menschen mit allen Schwächen vor. Dass uns Mihaly als der Schwächere vorkommt, liegt natürlich an seinem lädierten Innenleben. Aber er erlebt erotische Abenteuer und trifft Eva wieder, so dass er über Erwin, Tomás und sogar Eva hinwegkommt. Als er „schicksalsergeben“ nach Hause fährt, gesteht er dem Leben zu, dass „man, solange man lebt, nicht weiß, was noch geschehen kann“.

Der Sprecher

Heikko Deutschmann ist ein kongenialer Sprecher dieses szenenreichen Textes. Was die Flexibilität seines stimmlichen Ausdrucks angeht, kann er es ohne weiteres mit Rufus Beck aufnehmen. So fällt es ihm leicht, die einzelnen Figuren zu charakterisieren und unverwechselbar zu machen. Der Franziskanermönch Pater Severinus alias Erwin hat beispielsweise eine heisere Stimme, denn er ist lungenkrank durch die einfachen Verhältnisse, unter denen er im Kloster lebt.

Was mir dabei auffiel, ist der Eindruck, dass Deutschmann Mihalys Abenteuer und Missgeschicke mit einem Schmunzeln wiedergibt, so als wären sie ein Anlass, sich ein wenig über diesen „Jammerlappen“ zu mokieren. Dazu mag manchmal Anlass bestehen, aber Mihaly beweist angesichts des nahen Todes seines Freundes Erwin doch eine erstaunliche Seelenstärke – und da hat er nichts von einem Jammerlappen an sich. Wichtig ist aber, dass Szerb seinen Antihelden mit Sympathie schildert.

Wunderschön erzählt Deutschmann die absonderliche und beinahe schon makabre Geschichte von der Dame (Eva) und der Totentür, die sich in Erwins Kirchensprengel Gubbio abspielt. (Diese Story hier wiederzugeben, würde zu weit führen.)

Über Musik und Geräusche verfügt diese Lesung nicht, so dass ich sie nicht weiter zu erwähnen brauche. An Geräusche erinnert allenfalls Deutschmanns Methode, auch in die Sprechweise der dargestellten Figuren gewisse Befindlichkeiten einfließen zu lassen. So lallt beispielsweise ein Besoffener allerliebst, und jemand, der gerannt ist, keucht und hechelt. Aber der Sprecher gibt auch eindeutige Gefühle wieder, so etwa, als Mihaly Eva anfleht, ihm beim Sterben zu helfen.

Ansonsten sind ungarische, französische, italienische, deutsche (sowieso) und englische Namen und Titel alle korrekt ausgesprochen, so dass ich Deutschmann ohne weiteres Mehrsprachigkeit attestieren kann.

Unterm Strich

„Reise im Mondlicht“ schildert ein Europa unter dem institutionalisierten Faschismus in Deutschland und Italien. Ungarn hingegen ist eine junge Republik, die auch von Sandor Marai als noch unsicher und wirr porträtiert wird. Von Szerbs Figur Waldheim wird Ungarn sogar als „dekadent“ bezeichnet, als handle es sich noch um die k.u.k. Monarchie der Habsburger. Die drei Gesellschafts- und Kulturformen entsprechen drei Zeitschichten, die allesamt in diesem Roman miteinander verwoben sind. Das kann die Lektüre bzw. das Anhören der Geschichte ein wenig verwirrend machen.

Aber da der Autor von vornherein kein Unterhaltungsautor ist, der Schund verkauft, kann er durchaus einen gewissen Anspruch erheben. „Reise im Mondlicht“ ist keine Geschichte, um sich abzulenken, sondern um genau hinzuhören, denn es sind die ungesagten Zwischentöne, in denen die Bedeutung der Geschichte erfassbar wird. Diese Bedeutung habe ich in den Abschnitten über „Eros und Thanatos“ deutlich zu machen versucht. Dem ist nichts mehr hinzuzufügen: Sowohl Liebe (vulgo „Sex“ genannt) als auch Tod kommen reichlich vor. Mir hat die Geschichte in ihrer ungewohnten Eigenart gut gefallen. Was ich jedoch vermisse, sind Action und Spannung. Es gibt zwar eine dramatische Zuspitzung, als Mihaly sich mit Evas Hilfe ins Jenseits befördern will, doch auch das stellt sich als halb so wild heraus.

Der Sprecher

Heikko Deutschmann macht den Text zu einem lebhaften akustischen Erlebnis. Wem „Die Reise im Mondlicht“ gefallen hat, sollte auch „Die Pendragon-Legende“ lesen oder hören.

Originaltitel: Utas és holdvilág, 1937
398 Minuten auf 5 CDs
Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Viragh

http://www.hoerbuch-hamburg.de

Ergänzend dazu: Dr. Maike Keuntjes [Rezension der Buchfassung 1292

Michael Connelly – The Fifth Witness

Mickey Haller ist wieder zurück in seinem alten Job als Strafverteidiger und vertritt vor Gericht insolvente Hausbesitzer, denen die Enteignung droht. Seine Klientin Lisa aber hat noch weit größere Sorgen als nur ihre Hypothek. Sie ist des Mordes angeklagt, weil sie den Chef ihrer Gläubiger-Bank erschlagen haben soll.

Für Mickey deutet alles darauf hin, dass in Wirklichkeit jemand anderes hinter Gitter gehört. Als er überfallen und zusammengeschlagen wird, begreift Mickey, dass seine unbekannten Gegenspieler wenig Skrupel kennen. Doch wie kann er die erdrückenden Beweise gegen Lisa entkräften? Und was, wenn Lisas Unschuldsmiene trügen sollte? (dt. Verlagsinfo)

Michael Connelly – The Fifth Witness weiterlesen

Mark Brandis – Blindflug zur Schlange (Folge 24)

Unter Weltraumpiraten: Action und Spannung

2133: Mark Brandis ist seit einem halben Jahr außer Dienst, als ihn die Nachricht von der Zerstörung des Patrouillenschiffs unter Grischa Romens Kommando erreicht. Als Zivilist hat Brandis keine Raumfluglizenz mehr. Zusammen mit Pablo Torrente macht er sich inkognito auf den Weg zu den Galapagosinseln. Von dort aus wollen sie versuchen, eine Passage zum Asteroidengürtel zu bekommen – in der Hoffnung, irgendwo in der von Piraten kontrollierten Region den Freund doch noch lebend zu finden … (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 12 Jahren.

Mark Brandis – Blindflug zur Schlange (Folge 24) weiterlesen

Patterson, James – Rosenrot Mausetot

Eine Reihe von Banküberfällen und Geiselnahmen hält den Washingtoner Polizei-Psychologen Dr. Alex Cross und das FBI in Atem. Doch jeder, den sie als Verantwortlichen fangen und festnehmen, sagt ihnen: „Sie haben den Falschen erwischt!“ Denn der Drahtzieher befindet sich unsichtbar in nächster Nähe der Ermittler.

_Der Autor_

James Patterson, Jahrgang 1949, ist einer der am effektvollsten erzählenden Krimiautoren der Welt. Seine Romane wurden mittlerweile in 30 Millionen Exemplaren gelesen (besser: verschlungen). Am besten gefallen mir seine Romane um den Washingtoner Polizei-Psychologen Dr. Alex Cross.

_Der Sprecher_

Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken.

_Handlung_

Eine Reihe von Banküberfällen hält Dr. Alex Cross und das FBI in Atem. Bei den Überfällen finden regelmäßig unschuldige Menschen den Tod, offenbar mit voller Absicht. Die Skrupellosigkeit, Präzision und Brutalität der Ausführung schreiben sie einem „Superhirn“ genannten Planer und Leiter zu. Die eigentlichen Ausführenden, die Handlanger, leben meist nicht allzu lange nach ihrer Tat. Das Superhirn ist darauf bedacht, keine Risiken einzugehen. Will es sich nur an den Banken für ungerechte Behandlung rächen? Die Ermittler tappen im Dunkeln.

Bis das Superhirn eines Tages seinen größten Coup landet. Mitten in Washington, D.C., lässt es von seinen Handlangern einen Touristenbus entführen. Im Bus befinden sich die Kinder und Gattinnen der Manager einer Versicherung aus Hartford, Connecticut. Das Superhirn fordert 30 Millionen Dollar Lösegeld, zum Teil in Diamanten. Die Übergabe des Geldes artet zu einem demütigenden Katz-und-Maus-Spiel für die FBI-Agenten und Alex Cross aus. Doch sie haben Glück: Wenig später wird der Touristenbus in Virginia gesichtet, die Geiseln können – oh Wunder! – unverletzt geborgen werden und wenig später sind sogar die Täter in New York City ausgemacht. Was sollte das alles?

Das Superhirn ist leider nicht darunter, doch die geschnappten Täter geben Hinweise auf sein Aussehen und sogar auf seinen Aufenthaltsort. Und so kommt es, dass Alex Cross und seine Polizisten in einer psychiatrischen Anstalt Dienst tun. Nach mehreren Verfolgungsjagden haben sie zwei Verdächtige ausgemacht: Der eine hat die Banken auf dem Kieker, und der andere hat möglicherweise das Ding in Washington, D.C., durchgezogen. Doch sind sie auch das Superhirn? Denn beide behaupten: „Sie haben den Falschen erwischt.“

Alex Cross gerät heftig ins Schwitzen, als jemand beginnt, seine Kollegen vom FBI umzubringen, einen nach dem anderen, und alle waren an der Jagd auf das Superhirn beteiligt. Und dies berührt ihn ganz persönlich.

Denn wie stets in Pattersons Romanen um den Polizeipsychologen Dr. Alex Cross spielt auch dessen Privatleben eine bedeutende Rolle. Seine Familie bewahrt Cross praktisch davor durchzudrehen. In dem Vorgänger-Roman hat Cross‘ Freundin Christine Johnson schwere seelische Schäden davongetragen. Dies führt dazu, dass sie nach ihrer Befreiung und Wiedereingliederung in Job und Familie ihre Beziehung zu Cross nicht aufrechterhalten kann. Die Belastung, die Furcht durch seine Arbeit ist ihr zu viel. Lediglich ihr Sohn Alex junior darf bei ihm bleiben, doch sie selbst verschwindet.

Beim FBI lernt Cross die fähige Agentin Betsey Buccieri kennen, die die Jagd auf das Superhirn leitet, eine ebenso taffe wie humorvolle Frau. Die beiden verlieben sich ineinander, und es ist bewegend mitzuerleben, wie die beiden ihre Beziehung vertiefen. Doch die Serie der Morde an Betseys Kollegen reißt nicht ab, und so kommt, was kommen muss: Alex Cross‘ schwerste Stunde.

_Mein Eindruck_

Dieser von der ersten Szene an mit Schockeffekten gespickte Roman endet mit einer Szene, die man sich nur aus Thomas Harris‘ Hannibal-Romanen vorstellen könnte. Die Sätze kommen daher wie Hammerschläge. Und so bleibt der Leser voll Begierde zu erfahren, wie es weitergeht (in „Violets are blue“) – ein echter Cliffhanger-Schluss.

Patterson hat seine patentierte Methode, pro Minikapitel nur eine Aussage oder eine Handlung zu schildern, vervollkommnet. In wenigen Minuten erzählt er das, worauf es ankommt. Sicher entsteht dadurch zuweilen der Eindruck, dem Leser würde etwas Wichtiges vorenthalten. Doch dieser Eindruck beruht lediglich auf der Weigerung, die eigene Vorstellungs- und Einfühlungskraft zu aktivieren. Es wäre schon sehr auffällig, wenn Patterson bzw. der von sich selbst berichtende Dr. Cross auf einmal anfangen würde, seine Gefühlswelt zu sezieren und vor unserem gelangweilten Auge auszubreiten.

Dennoch bewirkt diese Erzählmethode eine Art blinden Fleck im Informationsstand des Lesers bzw. der Protagonisten. Ich habe mich mehrmals gefragt: Wenn Cross oder Betsey nur einmal für fünf Minuten nachdenken würden, dann kämen sie bestimmt endlich auf die zündende Idee. Denn an Hinweisen besteht ja kein Mangel. Man kann Cross & Co. lediglich zugutehalten, dass Superhirns Aktionen sie ständig auf Trab und derart unter Stress halten, dass sie nicht zum Nachdenken innehalten können. Auch Cross‘ Privatleben ist ja nicht ganz stressfrei. Signifikanterweise hat er seinen rettenden Geistesblitz, als er und Betsey eine Art Auszeit nehmen und es sich gut gehen lassen.

|Der Sprecher|

Ulrich Pleitgen spricht nuancenreich, mit feiner Betonung der wichtigen Satzelemente (etwa Namen) und mit einem Gespür für das richtige Tempo und den nötigen Rhythmus einer Szene. Familien- und Liebesszenen, die Alex Cross selbst erzählt, sind in einem meist heiteren oder gar zärtlichen Ton vorgetragen. Seine Ermittlungen tragen die Handschrift des unbarmherzigen Alltags. Die Verfolgungsjagd nach der Washingtoner Entführung ist atemlos, hastend. Dem steht wieder der überhebliche Monolog des Superhirns gegenüber, das Cross‘ Aktionen spöttisch verfolgt und so für ahnungsvolle Schauder sorgt. Pleitgens flexibler Vortrag zwingt zum Zuhören. Ich habe die 356 Minuten auf fünf CDs an einem Stück angehört, weil ich einfach nicht warten konnte. Klasse.

_Unterm Strich_

Ich kann nur sagen, dass mich kaum einer der anderen Cross-Romane derartig bewegt und erschüttert hat wie „Rosenrot Mausetot“. Die Szenen aus dem Familien- und Liebesleben sind emotional und humorvoll, der Oberschurke unglaublich zynisch, das Finale hingegen packend und hammerhart – genau deshalb wohl, weil man es nicht erwartet.

_James Patterson auf |Buchwurm.info|:_

[„Das Pandora-Projekt“ 3905 (Maximum Ride 1)
[„Der Zerberus-Faktor“ 4026 (Maximum Ride 2)
[„Das Ikarus-Gen“ 2389
[„Honeymoon“ 3919
[„Ave Maria“ 2398
[„Wer hat Angst vorm Schattenmann“ 1683
[„Mauer des Schweigens“ 1394
[„Stunde der Rache“ 1392
[„Wenn er fällt, dann stirbt er“ 1391
[„Wer sich umdreht oder lacht“ 1390
[„Die Rache des Kreuzfahrers“ 1149
[„Vor aller Augen“ 1087
[„Tagebuch für Nikolas“ 854
[„Sonne, Mord und Sterne“ 537
[„Rosenrot Mausetot“ 429
[„Die Wiege des Bösen“ 47
[„Der 1. Mord“ 1361
[„Die 2. Chance“ 1362
[„Der 3. Grad“ 1370
[„4th of July“ 1565
[„Die 5. Plage“ 3915

John Crowley – In der Tiefe

Die Scheibe auf dem Pfeiler: einfallsreicher Weltentwurf

Nach der Schlacht finden die Plünderinnen den nackten Mann, der behauptet, aus einer fremden Welt zu kommen. Er sei im Himmel gemacht worden, mit seinem Ei gelandet, habe aber seine Mission vergessen. Aus seiner Wunde sickert so etwas wie Öl: Er ist kein Mensch. Er tritt in die Dienste der Menschen und lernt ihre Welt kennen, eine Welt der Kriege zwischen Feudalherren. Die Welt, nur von ein paar tausend Menschen bevölkert, liegt wie eine Schale in einer Hand, die auf einem ausgestreckten Arm ruht, der aus der Tiefe emporgestreckt wird. Doch die Tiefe hat noch niemand ergründet – bis der Besucher gekommen ist: Nun hat er seine Mission. Doch was wird er in der Tiefe finden?
John Crowley – In der Tiefe weiterlesen

Deaver, Jeffery – Insektensammler, Der

Menschenjagd mit Hindernissen

Dies ist in der Tat ein „komplexer psychologischer Thriller“, wie es der Klappentext verspricht: Nichts ist wirklich so, wie es auf den ersten Blick erscheint. Die unscheinbare Kleinstadt im Hinterland der amerikanischen Ostküste ist ein wahres Hornissennest. Überraschungen tauchen dann auf, wenn man sie am wenigsten erwartet oder gebrauchen kann – bis zur letzten Seite.

Der Autor

Jeffery Deaver ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Thriller-Autoren. Seine wichtigste Figur ist der querschnittsgelähmte Ermittler Adrian Lyme, so etwa in dem verfilmten Krimi „Der Knochenjäger“ (mit Denzel Washington & Angelina Jolie).

Deaver hat aber auch Polit- und Technik-Thriller geschrieben sowie diverse Pseudonyme benutzt. Zuletzt erschienen von ihm der Thriller [„Der faule Henker“ 602 im August 2004, ein klassisches Locked-Room-Mystery, und „Todesreigen“ im Mai 2005.

Die Lincoln-Rhyme-Reihe

1997 The Bone Collector. – Die Assistentin. dt. von Hans-Peter Kraft: Goldmann, München 1999, ISBN 3-442-41644-2. – auch als: Der Knochenjäger. dt. von Hans-Peter Kraft: Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-43459-9.

1998 The Coffin Dancer. – Letzter Tanz. dt. von Thomas Müller und Carmen Jakobs: Goldmann, München 2000, ISBN 3-442-41650-7.

2000 The Empty Chair. – Der Insektensammler. dt. von Hans-Peter Kraft: Blanvalet, München 2001, ISBN 3-7645-0128-6.

2002 The Stone Monkey. – Das Gesicht des Drachen. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2003, ISBN 3-7645-0160-X.

2003 The Vanished Man. – Der faule Henker. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2004, ISBN 3-7645-0179-0.

2005 The Twelfth Card. – Das Teufelsspiel. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2006, ISBN 3-7645-0201-0.

2006 The Cold Moon – Der gehetzte Uhrmacher. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2007, ISBN 3-7645-0202-9.

2008 The Broken Window – Der Täuscher. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2009, ISBN 978-3-7645-0296-6.

2010 The Burning Wire. – Opferlämmer. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2011, ISBN 978-3-7645-0335-2.
2014 The Kill Room. – Todeszimmer. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2014, ISBN 978-3-7645-0482-3.

2014 The Skin Collector. – Der Giftzeichner. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2015, ISBN 3-7645-0538-9.

2016 The Steel Kiss – Der talentierte Mörder dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2017, ISBN 3-7645-0592-3.

2017 The Burial Hour – Der Komponist. dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, München 2018, ISBN 978-3-7645-0646-9.

2018 The Cutting Edge Hodder, ISBN 978-1-4736-1876-3 – Der Todbringer dt. von Thomas Haufschild: Blanvalet, 2019, ISBN 978-3-7645-0714-5.

_Handlung_

Amerikanische Ostküste, Bundesstaat North Carolina. Im ausgedehnten Sumpfgebiet am Paquenoke-Fluss wurde die junge Archäologin Mary Beth O’Connnell entführt. Dringend verdächtig ist der 16-jährige Darrett Hanlon, der schon einiges auf dem Kerbholz zu haben scheint und in der Gegend nur „Der Insektensammler“ genannt wird. Er ist ein sonderbarer Einzelgänger, der im Sumpf lebt und sich obsessiv mit „Ungeziefer“ beschäftigt. Selbst vor Hornissen hat er keine Angst, denn er setzt ihre Nester manchmal als Waffe ein.

Hornissenstiche haben einen Deputy Sheriff von Tanner’s Corner so vergiftet, dass er ins Koma fiel. Er konnte die junge schwarze Krankenschwester Lynda Johanson daher nicht mehr beschützen, als sie von dem Insektensammler entführt wurde. Merkwürdig ist es schon ein wenig, dass eine Krankenschwester sich an die Stätte eines Mordes begibt, um Blumen niederzulegen. Nun ist die Polizei unter Sheriff Jim Bell reichlich verzweifelt. Und sie greift daher zum letzten Strohhalm.

Lincoln Rhyme aus New York City und seine Assistentin Amelia Sachs sind nach North Carolina gekommen, damit er sich dort in einer Spezialklinik (wo auch Lynda Johanson arbeitet) an der Wirbelsäule operieren lassen kann. Rhyme ist seit einem Dienstunfall in New York City fast vollständig gelähmt. Seinen Spezial-Rollstuhl fährt er mit Hilfe einer „Strohhalmsteuerung“, die er mit dem Mund bedient. Nur den beredsamen Kopf und den linken Ringfinger kann er noch bewegen.

Sheriff Bell, der von seiner Anwesenheit erfahren hat, tritt an ihn heran und bittet Rhyme um Hilfe bei der Lösung des Hanlon-Falles. Rhyme sieht eine Chance, sich die Langeweile vor der Operation zu vertreiben und willigt ein, unter der Bedingung, die Untersuchung kriminalistisch leiten zu können.

Mit Rhymes‘ analytischem Verstand und seiner akribischen Spurensuche gelingt es ihm schon nach kurzer Zeit, mit Amelias Suchtrupp den Jungen in den Sümpfen aufzustöbern, ihn in die Enge zu treiben und schließlich in einer dramatischen Aktion zu verhaften. Lynda Johanson wird fast unversehrt befreit. So weit, so gut. Doch wo ist die Geisel des Jungen versteckt: Mary Beth McConnell? Muss sie etwa verdursten? Der Junge weigert sich im Gefängnis, dazu eine Aussage zu machen. Er sagt, er wolle Mary Beth nur beschützen. Und Amelia, die Muttergefühle in sich spürt, merkt, dass der Junge Angst hat.

Unvermittelt erhält der Fall eine unerwartete Wendung: Amelia Sachs wechselt die Seiten. Sie flieht mit dem befreiten Jungen zurück in die Sümpfe, wobei sie clever ihre Verfolger in die Irre führt (gelernt ist gelernt: Amelias Vater war Streifenpolizist). Plötzlich sieht sich Mr. Rhyme einem äußerst intelligenten Gegner gegenüber. Wird es ihm gelingen, Amelia und den Jungen zu finden und die verschwundene Mary Beth zu retten?

Doch retten muss er sie alle, wie er zu seinem Entsetzen herausfindet: Er ist von Anfang benutzt worden, um Zeugen großer Verbrechen in Tanner’s Corner zu finden, die von den Schergen eines mächtigen Hintermannes unschädlich gemacht werden sollen. Eine Wettlauf gegen die Zeit beginnt, als nicht weniger als drei Trupps Jagd auf Amelia und Garrett machen. Die Menschenjagd führt zu einem bleihaltigen Showdown im Sumpf.

Das ist natürlich noch nicht das Ende, denn der Leser fragt sich ja, ob Amelia Sachs für ihre Untat in die Gaskammer geschickt wird. In den Südstaaten sollte man offenbar damit rechnen, legt der Autor nahe.

_Mein Eindruck_

Am Anfang hatte ich meine Mühe, mit der leicht überheblich wirkenden Art des Chefermittlers Lincoln Rhyme zurecht zu kommen. Doch der Junge hat wirklich was auf dem Kasten, wie das Fortschreiten der Untersuchung zeigt. Seine Kompetenz bei der Spureninterpretation wird allgemein akzeptiert, doch Amelias Verhalten zeigt auch Rhyme, dass Spuren alleine nicht ausreichen: Sie können so und so gedeutet werden. Psychologie muss hinzukommen, damit aus den Hinweisen eine Geschichte wird. Und nicht einmal das muss zunächst die ganze Wahrheit sein – die Wirklichkeit hat Falltüren, wie Rhyme erkennen muss.

Mit dem Insektensammler Garrett Hanlon hat der Autor eine interessante Figur geschaffen. Der einsam lebende Waisenjunge selbst würde einem Schnüffler wie Rhyme kein Paroli bieten könne. Doch mit dem Wissen, das er sich aus Fachbüchern über Insekten angelesen hat, und der praktischen Erfahrung, die er sich erworben hat, schafft er es, Taktiken aus dem Insektenreich in sein Verhalten zu integrieren – so entkommen er und Amelia dem Zugriff der gesammelten Verfolgertrupps. Amelia staunt, wie viel sie selbst von Garrett lernen kann, um zu überleben.

Vertrauen zwischen ihr und dem Jungen entsteht vor allem durch eine Szene. Sie fordert ihn auf, sich einen leeren Stuhl (siehe Originaltitel!) mit jemandem darin vorzustellen, dem er gerne etwas sagen möchte. Dieser Akt der Vorstellungskraft ist Teil der Gestalttherapie und dient dazu, einen „Patienten“ zum Aussprechen seiner Sorgen und Anliegen zu bringen. Es funktioniert hervorragend, denn nun weiß Amelia, wer am Tod von Garretts leiblichen Eltern schuld ist. Vielleicht lebt sie lange genug, um es Rhyme sagen zu können.

Hornissennester sind nicht nur Waffen in diesem Buch, sondern auch ein Symbol. Rhyme und Amelia sehen die Mitglieder der sie umgebenden Verschwörung erst, als sie angegriffen werden – sogar noch auf dem Operationstisch! Ich finde es wenig glaubhaft, wenn Deaver eine gesamte Kleinstadt und somit die Südstaaten als amoralisch, korrupt und selbstmörderisch hinstellt. Logisch, dass dann die rettende Kavallerie aus dem Norden kommen muss. – Tennessee Williams und John Grisham haben weiter an diesem Bild gestrickt. Und Patricia Cornwell hat sogar einen Roman mit dem Titel „Die Hornisse“ veröffentlicht. Ihre Geschichten spielen bekanntlich in der alten Hauptstadt des Südens: nein, nicht in Atlanta, sondern in Richmond, Virginia.

_Unterm Strich_

Es wäre sicherlich unfair zu sagen, dass die Romanhandlung im Grunde aus lediglich zwei Menschenjagden (jedesmal auf den Titelhelden) bestünde. Das hieße, die Psychologie und die Kriminalistik unter den Tisch zu kehren.

Aber andererseits bezieht der Roman seine Spannung hauptsächlich aus dieser Action. Und zwar in solchem Maße, dass man die entsprechenden Seiten nur so durchrast, um herauszufinden, wie Amelias Flucht mit dem Jungen endet. Wie gesagt: Deaver hält danach noch einige Überraschungen bereit.

Jeffery Deaver: Diesen Namen sollte man sich merken.

|Originaltitel: The empty Chair, 2000
Aus dem US-Englischen übertragen von Hans-Peter Kraft|

Baldacci, David – Abgrund, Der (Lesung)

Web London: Top-Mann in einem Top-Team des FBI. Gestern waren sie noch „Die Sieger“, doch heute sind alle tot – bis auf einen: Web London. Was ist der Grund für sein Überleben?

_Der Autor_

David Baldacci ist der Verfasser u. a. von „Der Präsident“, das Clint Eastwood unter dem Titel „Absolute Power“ verfilmt hat. Der frühere Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist lebt in Virginia, USA.

Weitere Baldacci-Hörfassungen bei Lübbe: „Das Labyrinth“, „Die Versuchung“, „Die Verschwörung“ und „Die Wahrheit“, „Das Versprechen“, „Im Bruchteil der Sekunde“ (September 2004). Die Hörbuchfassung von „Der Abgrund“ ist gekürzt und 465 Minuten lang, also knapp acht Stunden auf sechs CDs.

_Der Sprecher _

Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken.

_Handlung_

Web London ist ein knallharter Typ, aber was ihm da letzte Nacht passiert ist, haute selbst ihn um. Er gehört einem Hostage Rescue Team (HRT), also Geiselrettungsteam, des FBI an. Dementsprechend hoch qualifiziert war seine Ausbildung. Zusammen mit seinem Team schickte man ihn nach Richmond, Virginia, um ein Fabrikgebäude zu stürmen. Das Haus sollte angeblich einem Drogenbaron als Einsatzzentrale dienen und bis obenhin mit Unterlagen vollgestopft sein. Das Einzige, was sich darin befand, waren ein Dutzend Maschinengewehre. Und die nahmen seine nichts ahnenden Teamkollegen sofort unter Feuer.

Durch einen Zufall gelangt London als Letzter zu dem Schauplatz des Blutbads. Auf dem Weg dorthin kommt er an einem Jungen vorbei, der zu ihm das Wort „Donnerhall“ sagt. Fortan kann sich London kaum bewegen, er weiß nicht wieso. Mit größter Mühe gelingt es ihm, die Maschinengewehre eines nach dem anderen auszuschalten und sogar den Jungen wieder aus der Gefahrenzone wegzuschaffen. Er überlebt als einziger seines Teams. Natürlich fallen sowohl seine Vorgesetzten als auch die Medienfritzen über ihn her. Überlebt zu haben, macht ihn schuldig; es lässt ihn wie einen Verräter aussehen.

Auch London macht sich schwere Vorwürfe. Was ist der Grund für sein Überleben? Um über das Trauma hinwegzukommen, begibt er sich, wie so viele seiner FBI- und HRT-Kollegen, in psychotherapeutische Behandlung bei Dr. Claire Daniels. Zuvor war er immer bei Ed O’Bannon in Betreuung gewesen, aber Dr. Daniels wollte seinen interessanten Fall übernehmen.

In der Praxis von Daniels und O’Bannon wird regelmäßige Hypnose als Mitteleingesetzt, um auf das zugreifen zu können, was das Bewusstsein im Gedächtnis weggesperrt hat. Bei diesen Sitzungen entdecken Dr. Daniels und London eine unglaubliche Tatsache: Am Tatort waren zwei Jungen, und sie wurden gegeneinander ausgetauscht. Der Junge, der „Donnerhall“ sagte, war nicht der, den Web rettete. Doch auf die Frage, warum sich in dem angegriffenen Gebäude statt einiger harmloser Büros eine Batterie tödlicher MGs befand, hat auch Web keine Antwort. Der Gedanke an Verrat in den eigenen Reihen liegt nahe, und der Undercover-Agent Randall Cove, der den Angriff vorzubereiten half, bestätigt den Verdacht. (Das wäre in einem Baldacci-Thriller wahrlich nichts Neues.)

Zunächst sieht es so aus, als stecke eine sektiererische Miliz namens „The Free Society“ unter einem gewissen Ernest B. Free dahinter, die zugleich auch den Drogenhandel an der Ostküste kontrolliert. Doch dann bekommen Web und sein bester Teamkamerad Paul Romano den Auftrag, einen reichen Pferdezüchter im Umland von Washington, D.C., zu beschützen. Billy Kenfield hat eine sehr schöne Frau, Gwen, und ein paar merkwürdige Gestalten als Ranchverwalter. Als ein Handy explodiert, scheint Web am richtigen Ort zu sein, um zu helfen.

Er ahnt nicht, dass auf dieser wie auch auf der Nachbarranch nicht alles so ist, wie es aussieht. Wie tief der Schlamassel ist, in den er hier geraten ist, ahnt er erst, als es schon fast zu spät ist. Unterdessen macht Claire Daniels in der Praxis ihres Kollegen O’Bannon eine erschütternde Entdeckung, und sie erkennt die Wahrheit über Web London selbst.

_Mein Eindruck_

Wie so viele Romane von David Baldacci ist auch „Der Abgrund“ eine Kombination von Psychothriller und Actionroman, garniert mit einer recht heftigen Verschwörung, die den Helden in ein frühes Grab führen soll. Wieder einmal kommt er gerade noch mit dem Leben davon.

Für die Action sorgen die spezialtrainierten HRT-Angehörigen mit ihren massenhaft eingesetzten Waffen, seien es nun Knarren oder Blendgranaten. Bis zum Showdown kann Web London also beweisen, was er draufhat. Und das ist eine ganze Menge.

Dumm nur, dass er trotz allem doch kein Terminator, sondern ein menschliches Wesen ist. Das macht ihn zum Beispiel für posthypnotische Befehlswörter wie etwa „Donnerhall“ anfällig und setzt ihn außer Gefecht. Das macht ihn aber auch fähig zur Liebe: zu Claire Daniels, zu Gwen Kenfield. Und die Hypnose legt offen, dass er in seiner Kindheit den gewaltsamen Tod seines Vaters zu ertragen hatte.

|Das ist alles schön und gut, aber funktioniert das auch in einem Hörbuch?|

Leider nur unter bestimmten Bedingungen. Wie alle Baldaccis ist auch dieses Buch mit einer Vielfalt von Personal vollgestopft, und dies erfordert vom Leser erhöhte Konzentration auf die Namen, die von Szenen zu Szene wechseln. Die erhöhte Aufmerksamkeit kann leicht zu Kopfschmerzen führen. Um damit nicht so große Mühe zu haben, sollte man sich also frühzeitig eine Liste der auftretenden Figuren mit ihren Namen anlegen. (Schon in meiner Zusammenfassung habe ich etliche Nebenfiguren weggelassen, um euch nicht zu verwirren.)

Um den Zusammenhang nicht zu verlieren, sollte man, anders als ich, keine längeren Pausen zwischen den einzelnen CDs machen, sondern sich alles in einem Stück anhören. Und dann noch ein zweites Mal. Nur dann, so glaube ich, kommt man dahinter, wer die wahren Drahtzieher hinter dem HRT-Hinterhalt in Richmond sind (Tipp: die Free Society ist es nicht).

|Der Sprecher|

Ulrich Pleitgen muss diesmal eine breite Palette von Figuren abdecken. Mit den meisten Männerstimmen hat er keine Schwierigkeiten, und auch die Frauen bekommt er meist gut hin. Aber wenn er den Vorgesetzten von Web London, einen Bürohengst namens Percy Bates, spricht, meine ich immer, einem falschen Fuffziger zuzuhören, der den Helden aufs Kreuz legen will. Bates hat eine hohe Männerstimme und spricht auch noch hastig – nicht ganz koscher.

|Die Musik|

… stammt von Michael Marianetti und wird immer dann eingesetzt, wenn es spannend oder bewegend oder irgendwie besonders wird. Außerdem am Anfang jeder der sechs CDs. Und natürlich ganz besonders beim Showdown und am Schluss des Hörbuchs. Die Musik muss nicht anspruchsvoll sein, um gut zu wirken, und das tut sie. Einmal erklingt sogar eine recht fetzige Rockgitarre.

|Die Übersetzung|

… ist ein richtiges Ärgernis. Einer der Profis hat sie angefertigt: Uwe Anton. Er ist schon seit über 20 Jahren im Geschäft und selbst Autor von Jugendromanen. Aber er hatte wohl zu wenig Zeit, um sein Werk zu überarbeiten, und so kamen zuweilen recht auffällige sprachliche Schnitzer zustande. Was zum Beispiel hat man sich unter einem „Laserpfeil“ vorzustellen“? Auf den ersten Blick sieht das okay aus, aber wenn man darüber nachdenkt, ergibt es keinen Sinn. Entweder ein Laserstrahl existiert oder er existiert nicht. Aber keine Waffe verschießt Pfeile aus Licht! Außer natürlich in irgendwelchen billigen Science-Fiction-Filmen, wo sie zu den Spezialeffekten gehören. Allerdings ist Baldacci kein Science-Fiction-Autor. Und da er sich scheut, wie ein Dichter irgendwelche Metaphern einzusetzen, taugt „Laserpfeil“ auch als Metapher nicht. Es ist schlicht und ergreifend falsch ausgedrückt.

Es gäbe noch etliche weitere misslungene Übertragungen ins Deutsche aufzuzählen, aber dieses Beispiel mag genügen. Aufmerksame Leser und Zuhörer werden ohne Weiteres auf sie stoßen.

_Unterm Strich_

Die Mischung aus Actionabenteuer und Psychothriller plus Verschwörungstheorie macht auch aus diesem Baldacci-Roman eine kurzweilige, unterhaltsame Sache. Allerdings macht es die Fülle der auftretenden Figuren nötig, eine Liste anzulegen, oder man verliert den Überblick und Zusammenhang. Ratsam ist es daher auch, das Hörbuch an einem Stück und dann noch einmal anzuhören, um alles mitzubekommen. Es könnte sonst vorkommen, dass man die Pointe nicht mitbekommt. Erschwerend kommt hinzu, dass das Hörbuch eine gekürzte Fassung des Buches wiedergibt. Hilfreiche Szenen könnten fehlen.

Ulrich Pleitgen macht wie so oft einen guten Job, allerdings habe ich ihm eine oder zwei stimmliche Interpretationen nicht abgenommen. Er klingt eben am besten bei tiefen Männerstimmen. Die manchmal etwas schiefe Übersetzung durch Uwe Anton hat mich ebenfalls gestört. Aber da heutzutage Deutsch sowieso kaum noch jemand korrekt gebraucht, dürfte dieser Umstand nicht allzu vielen Leuten auffallen. Die Musikbegleitung wird einfach, aber wirkungsvoll eingesetzt. Insgesamt eine solide und lohnenswerte Veröffentlichung.

Ace Atkins – Robert B. Parker’s Wonderland. A Spenser Novel

Stilechter Spenser-Krimi: Casino-Krieg in Boston

Henry Cimoli und Spenser sind seit Jahrzehnten Freunde, doch der alte Boxtrainer hat den Privatdetektiv noch nie um einen Gefallen gebeten – bis jetzt. Eine Immobilienfirma will das Mietshaus, in dem Henry seit zehn Jahren wohnt, kaufen und alle Bewohner rauswerfen – wer nicht will, wie Henry, der wird von lokalen Schlägern bedroht.

Spenser nimmt sich mit seinem Lehrling Zebulon Sixkill, einem waschechten Cree-Indianer, der Sache an. Eine skrupelose Britin hat offenbar die Schläger geschickt. Sie arbeitet für einen Casiono-Tycoon aus Las Vegas, der neben Henrys Mietshaus auf der alten Hunderennbahn „Wonderland“ einen Casino-Komplex errichten will. Alle seine Freunde warnen Spenser davor, sich mit der dunklen Seite des Tycoons einzulassen, aber das spornt ihn nur noch mehr an …

Ace Atkins – Robert B. Parker’s Wonderland. A Spenser Novel weiterlesen

S. L. Huang – Nullsummenspiel. SF-Thriller

Als Mathegenie zur Superheldin

Cas Russell ist eine Wiederbeschafferin. Diesmal hat sie den Auftrag, die Schwester ihrer Auftraggeberin Dawna Polk, die scheinbar naive Courtney, zurückzuholen – aus den Fängen eines Drogenkartells. Cas‘ besondere Fähigkeit: Sie nimmt ihre Umgebung als Gleichungen und Vektoren wahr und ist so scheinbar schneller als eine Kugel.

Als sie den Weg des Privatdetektivs Arthur Tresting kreuzt, behauptet dieser, Courtney sei eine Serienmörderin – und dass es eine Dawna Polk überhaupt nicht gebe. Widerwillig muss Cas einsehen, dass ihr eigenes wunderbares Gehirn von einer unbekannten Macht manipuliert worden sein muss. Steckt diese hinter dem Codenamen „Pithica“, den sich irgendein US-Geheimdienst ausgedacht hat und der bislang jedem Schnüffler zum Verhängnis geworden ist? Cas ahnt nicht, dass sie an den Fäden des „Puppenspielers“ tanzt…
S. L. Huang – Nullsummenspiel. SF-Thriller weiterlesen

John Brunner – Träumende Erde

Verschwindibus: Endlösung Weltflucht?

Die Welt ist überbevölkert. Die Menschen sind in Wohnsilos zusammengepfercht, Lebensmittel und Trinkwasser sind knapp, die Lage ist deprimierend und hoffnungslos. Da taucht plötzlich eine neue Droge auf, ein Rauschmittel, das euphorische Glücksgefühle hervorruft. Die Droge ist billig und überall zu haben. Ein Glücksrausch erfasst die Massen; die drückenden Probleme sind vergessen. Doch das Mittel hat einen merkwürdigen Nebeneffekt: Leute, die völlig abhängig davon sind, verschwinden spurlos.

Das Rauschgiftdezernat der Vereinten Nationen setzt seinen besten Mann auf das Problem an: Nicholas Greville. Er geht den Spuren dieser Verschwundenen nach – und stößt dabei auf recht merkwürdige Dinge, die sich zu einem verrückten Puzzle zusammenfügen. (Verlagsinfo)
John Brunner – Träumende Erde weiterlesen

Connelly, Michael – Im Schatten des Mondes

Ein äußerst spannender Thriller um eine Profi-Diebin und ihren kaltblütigen Verfolger – im Mittelpunkt das Spielerparadies von Las Vegas. Im Unterschied zu Connellys anderen Roman fehlen diesmal Polizisten fast völlig: Diese Geschichte schildert die Schattenseite des Verbrechermilieus – und wie man ihm entkommt.

_Der Autor_

Michael Connelly arbeitete einige Jahre als Polizeireporter für die Los Angeles Times. In den meisten seiner Romane spielt der L. A. Police Detective Harry Bosch (von Hieronymus Bosch ist auch der Name von Connellys Firma Hieronymus Inc. abgeleitet) die Hauptrolle. Connelly schrieb u. a. die Bestseller „Der Poet“, „Das zweite Herz“ (das Clint Eastwood unter dem Titel „BloodWork“ verfilmt hat), „Schwarze Engel“ und „Dunkler als die Nacht“. Connelly lebt in L.A.

_Handlung_

Die auf Bewährung freigelassene Cassie Black schaut nicht gerne zurück, aber sie muss. Jahrelang hatte sie erfolgreiche Spieler in Las Vegas, der Hauptstadt des Glücksspiels, ausgeraubt. Am Schluss verlor sie ihren Geliebten und Mentor Max Freeling, danach verbrachte sie fünf elende Jahre im Knast.

Jetzt verkauft Cassie Luxusautos an Hollywoodgrößen wie etwa erfolgreiche Drehbuchautoren. Ihr streng gehütetes Geheimnis hat ihr ermöglicht, die schwärzesten Stunden der Hoffnungslosigkeit zu überstehen. Doch mittlerweile hat Cassie die Nase voll vom ehrenhaften Leben. Sie nimmt Kontakt zu ihrem alten Helfer Leo Renfro auf, der ihr einen „Job“ in Vegas verschafft. Natürlich sofort. Cassie muss nämlich möglichst schnell an Geld kommen, um ihr Geheimnis weiterhin bewahren zu können, das in Gefahr ist aufzufliegen …

In Vegas sieht der Job zunächst wie ein Kinderspiel aus: Ein erfolgreicher Baccarat-Spieler namens Hernandez wird ihr als Zielobjekt zugewiesen. Sie erhält seine Zimmerschlüssel und ein Zimmer direkt neben seinem. Offenbar steckt in der Hotelorganisation ein Maulwurf. Obwohl sich Cassie nicht hundertprozentig wohl in dem Hotel, dem (fiktiven) Cleopatra, fühlt, in dem ihr Geliebter Max starb, zieht sie den Job durch. Alles verläuft nach Plan, bis sie den Aktenkoffer ihres auserkorenen Opfers öffnet: Mafiageld!

In diesem Moment fällt ihr die Warnung des Strohmannes Leo Renfro ein, der ihr diesen „Job“ vermittelt hat: Sie solle sich vor jenen Minuten in der Tatnacht in Acht nehmen, in denen der Mond sein altes astrologisches „Haus“ verlässt, um in ein neues zu wechseln: vor dem „kritischen Mond“ (O-Titel: „Void Moon“).

Nun beginnt die Jagd nach dem Mafiageld – für Cassie und ihren kaltblütigen Jäger ein Rennen gegen die Zeit …

_Mein Eindruck_

Bis Seite 160 dachte ich, dass dieses Buch doch ein wenig spannender sein könnte. Ich meine: Es ist zwar recht kitzlig, in einem fremden Hotel einen Raubüberfall durchzuziehen, ohne dass weder der Überfallene noch der Sicherheitsdienst etwas davon merken. Das erinnert ein wenig an die seligen Zeiten von Forsyths „Der Schakal“.

Aber dann, ab Seite 160, kam Jack Karch ins Spiel, und das ist ein mindestens ebenso interessanter Charakter wie Cassie. Jack ist ein korrupter Privatdetektiv, hat aber sehr viel mit der Geschäftsleitung des Cleopatra-Casinos zu tun. Und wie es scheint, war er an Max Freelings Tod nicht ganz unschuldig.

Was diesen psychopathischen Killer – man nennt ihn „Jack of Spades“ wegen seines Geschicks im Umgang mit dem Spaten – so unheimlich macht, sind seine zwielichtigen Taschenspieler- und Zauberertricks, die er von seinem Vater erlernt hat (der aber schon lange unter der Erde ist). Außerdem verfolgt Jack seine eigenen Pläne mit dem Cleopatra.

Ab Jacks Auftritt wird das Leben für Cassie, Leo und alle, die ihnen nahe stehen, reichlich ungemütlich. Natürlich kommt es nach etlichen Scharmützeln zu einem ordentlichen Showdown in Vegas.

Doch im Verlauf von Cassies Verfolgung durch Jack und dieses Finales ergeben sich zahlreiche Überraschungen. Wir erfahren endlich von Cassies Wünschen, Träumen und ihrem Geheimnis. Der Autor bringt uns dazu, dieser Diebin sämtliche Daumen zu drücken. Und wir erfahren endlich, was in jener verhängnisvollen Nacht vor sechs Jahren wirklich passierte. Auch Jack fällt aus allen Wolken – und dann noch etwas tiefer …

_Unterm Strich_

„Im Schatten des Mondes“ fängt langsam an, denn es ist sorgfältig erzählt. Der Erzähler gerät nie ins Schwafeln, wenn er seine Figuren vorstellt, schon gar nicht, wenn sie allmählich in eine spannende Handlung verwickelt werden.

Gegen Schluss wird eine rasante und höchst überraschende Katz-und-Maus-Jagd zwischen Jack und Cassie, seiner hübschen Widersacherin, inszeniert, bei der nicht nur viel Geld auf dem Spiel steht, sondern mehrere Menschenleben. Der Thrillerfreund kann absolut zufrieden sein. Ich war es jedenfalls. Schade, dass das Buch nach 445 Seiten schon zu Ende ist.

|Originaltitel: Void Moon, 2000
Aus dem US-Englischen von Sepp Leeb|

Bradley, Rebecca / Sloan, Stewart – Temutma

„Ein Mörder wütet in Hongkong, Nacht für Nacht. Die Leichen tragen den Biss einer Fledermaus, das Blut bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt. Racheakte der Triaden, satanische Rituale oder gar ein Vampir? Langsam nur und mit wachsendem Grauen begreift Superintendent Michael Scott, womit er es zu tun hat. Die Spuren führen in die Ummauerte Stadt von Kowloon, in deren Kellern Temutma schlummert, ein uraltes Wesen, blutdürstig und unsterblich. Nur der weise Wong weiß, wie man es bezwingen kann. Temutmas Macht wächst, und sie richtet sich auf ein ganz besonderes Opfer: die junge Julia.“ (Verlagsinfo)

_Die Autoren_

Die Kanadierin Rebecca Bradley, geboren 1952, ist von Haus aus Archäologin, arbeitete dann als technische Redakteurin, bevor sie Anfang der neunziger Jahre mit dem Schreiben anfing. Eine Fantasy-Trilogie ist auch bei uns erschienen. In Hongkong schrieb sie zwei Horrorromane: „Kong Kong Macabre“ und „Hong Kong Grotesque“. 1997 kehrte sie nach Kanada zurück, wo sie heute in Calgary Archäologie lehrt. Sie schreibt weiterhin.

Stewart Sloan lebt als Nachfahre europäischer Einwanderer in der dritten Generation in Hongkong. Schon früh von der Horrorliteratur fasziniert, veröffentlicht er seit 1988 Storys. Er lernte Bradley kennen, sie wurden Freunde und Nachbarn. 1994 gründeten sie den Verlag |Hong Kong Horror Publishing|, in dem er den Roman „The Sorceress“ und die Novelle „The Isle of Rat“ herausgab, beides Geschichten, die in Hongkong spielen. Im Hauptberuf ist er Privatdetektiv.

_Die Sprecher & die Produktion_

Der WDR hat das Hörspiel 2002 produziert. Und weil der WDR eine Menge Geld hat, konnte er auch relativ hochkarätige Schauspieler anheuern, um die Rollen zu sprechen. Andrea Sawatzki etwa kennt man aus „Das Experiment“, Dietmar Mues (geb. 1945) aus unzähligen Theateraufführungen und dem „Herr der Ringe“-Hörspiel sowie Axel Milberg aus Film und Fernsehen. Sascha Icks, die „Julia“ des Hörspiels, nimmt sich dagegen mit ihren 35 Jahren richtig jung aus.

Jünger ist aber noch der Regisseur Leonhard Koppelmann, geboren 1970 in Aachen. Zwischen 1995 und 1998 führte er Regie am Hamburger Thalia-Theater. Inzwischen arbeitet er als Regisseur und Autor an Hörspielen mit, darunter an sämtlichen Camilleri-Bearbeitungen und dem Houellebecq-Hörspiel „Elementarteilchen“.

_Handlung_

Die Zeit des Geschehens: Anfang der neunziger Jahre. Kowloon ist der chinesische Teil der britischen Kronkolonie Hongkong. „Die Ummauerte Stadt“ Kowloons steht nun ganz im Zeichen von Unruhe und Veränderung. Denn dieses praktisch rechtsfreie Boowntown-Viertel soll abgerissen und durch ein Parkgelände ersetzt werden. Das Gängegewirr zwischen und unter den Wohnböcken bietet einen Nährboden für Kriminalität aller Art, den Justizbehörden ein Dorn im Auge.

Die Regierung der Kronkolonie entmietet die „Ummauerte Stadt“, indem sie die Mieter mit geringen Entschädigungen aus ihren Wohnungen vertreibt. In einem Kellergewölbe, das auf keinem Plan von Kowloon verzeichnet ist, stößt ein Kanalarbeiter auf ein seltsames Lebewesen. Er ahnt nicht, dass er beim Betreten des Raumes einen Schutzzauber außer Kraft gesetzt hat. Schon bald macht sich ein namenloser Schrecken über ihn und seinen Kollegen her.

Die junge Julia Ralston kehrt nach einem Abendessen mit ihrem Verehrer Simon nach Hause zurück. Was sie dort vorfindet, führt zu einem Nervenzusammenbruch: ihre Eltern, ein junger Mann und das Hausmädchen liegen tot in der Wohnung, aber keineswegs in ihrem Blut, wie man erwarten würde. Vielmehr entsetzt Julia besonders, dass ihre teilweise entblößten Körper so „fischbauchweiß“ sind. Etwas hat ihnen den letzten Blutstropfen ausgesaugt.

Sie wird ins Hospital eingeliefert. Dort liegt bereits ein uralter Mann von 152 Jahren mit einer Krankheit darnieder. Der weise Wang erzählt uns von sich, seinem überlangen Leben und seiner Funktion: Er ist der Wächter des Schreckens, der Julias Familie getötet hat. Und der Name des Schreckens lautet |Temutma|. Wangs Aufgabe ist es auch, den Vampir zu „füttern“. Er findet Julia Ralston äußerst interessant. Als Empath hat er Verbindung zu Temutma und erfährt, was dieser mit Julia vorhat: spielen.

Nach diesem Horror-Intro kommt endlich auch die Kriminalhandlung zu ihrem Recht. In Gestalt des Ermittlungsführers (Superintendent) Michael Scott und des Spurensicherungsspezialisten Albert Masters – Al und Mike also – treten zwei klassische Figuren auf. Als die beiden auch Julia befragen wollen, erleidet sie einen weiteren emotionalen Zusammenbruch, der sehr realistisch inszeniert ist.

Da Temutma inzwischen geistig mit Julia verbunden ist, erfährt er auch von den beiden Bullen. Er besucht Scotts Freundin in der Badewanne… Scott hört ihren Todesschrei leider zu spät, doch kann er Temutmas „Essenz“ verletzen. Immer noch weigert er sich, die Theorie Alberts zu akzeptieren, dass der Serienmörder ein Wesen mit Fledermausflügeln und extrem scharfen Zähnen sei.

Nachdem Mr. Wang aus dem Krankenhaus entlassen wurde und in die Ummauerte Stadt zurückgekehrt ist, statten die beiden Cops ihm und seiner Bibliothek einen Besuch ab. Zu ihrer nicht geringen Verblüffung zeigt er ihnen sein Tagebuch – aus dem Jahr 1894! Nicht genug damit, dürfen sie auch 4000 bis 5000 Jahre alte Papyri und ähnlich ausgefallene Dokumente begutachten. Allmählich lässt sich auch Scott überzeugen – womit sie es hier zu tun haben, ist ein sogenanntes |Kuang-shi|, ein Seuchendämon mit der Gestalt eines gelben Affen. Und Mr. Wang ist sein Wächter.

Endlich darf Julia Ralston wieder nach hause zurückkehren. Ihre Wohnung wird von mehreren Polizisten gut bewacht. Denkt sie. Doch schon bald erhält sie ungebetenen Besuch. Erst ein gelber Nebel, dann ein schwebendes Gesicht mit spitzen Zähnen.

_Mein Eindruck_

Anders als das Buch beginnt „Temutma“ wie eine klassische Horrorstory, die von King oder Koontz stammen könnte. Nach dem ersten Drittel taucht das klassische Ermittlerduo Scott und Masters auf, um den seltsamen Dingen auf den Grund zu gehen. Dem irrationalen Horror rückt die Vernunft zu Leibe, doch leider nur mit kläglichen Ergebnissen. Weitere Opfer folgen. Erst die Begegnung mit der Mythologie Kowloons in Gestalt des Wächters Wang Sen-bo bringt die Wende.

Das klingt fast wie ein Akte-X-Abenteuer, könnte man meinen. Auch wenn keine glotzäugigen Aliens auftauchen und der weibliche Ermittlerpart fehlt, so vereint „Temutma“ doch klassische Kriminalistik mit der fernöstlichen Variante des Vampirmythos. Das klingt vielleicht nicht sonderlich originell, doch auf die Umsetzung kommt es an.

|Die Inszenierung|

Das Hörspiel hat im Unterschied zum Hörbuch weitaus mehr Mittel zur Verfügung. Was 1926 als deutsches Radiospiel begann, hat sich mittlerweile zu einem Gesamtkunstwerk des akustischen Mediums gemausert. Lediglich das Bild fehlt noch, damit sich der Zuhörer in einem Film wähnt.

Eine ganz wichtige Rolle spielen die Musik von Henrik Albrecht sowie die dramaturgisch wichtigen Geräusche, wie etwa Schüsse oder das leise, nervende Ticken einer Uhr. Die Musik wirkt direkt auf die Gefühle des Zuschauers ein. Lediglich eine lieblich-romantische Pausenmusik im chinesischen Stil bringt Entspannung.

Nachdem der Erzähler mit Mr. Wangs Stimme (Hermann Lause) uns in die Geschichte eingeführt hat, hören wir bereits das Ungeheuer (Mues) raunen, als es geweckt wird. Der Schrecken, den es Julia (Icks) in geistigen Besuchen bereitet, entlädt sich erst in Schreien und Weinen, dann aber packt es Julias Seele, bis sich die junge Frau wollüstig dem Eroberer ergeben will. Sascha Icks legt derart viel Emotion in Julias unterschiedliche Äußerungen, dass ein rein rational orientierter Zuhörer damit ein Problem haben könnte. Eine Steigerung dieses Niveaus ist jedoch noch möglich: Die Szene in der Badewanne, als Temutma die Freundin von Michael Scott „besucht“, ist enorm erotisch.

Zum Glück gibt es hin und wieder Momente klarer Vernunft, in denen vor allem die beiden Ermittler ((Wolfram Koch und Jan-Gregor Kremp) als Ergründer des Rätsels hervortreten. Auch Andrea Sawatzki als Krankenschwester funkt Temutma dazwischen, allerdings auf pflichtbewusste statt intelligente Weise. Daraus entsteht eine ironische Spannung: Sie hat keinen Schimmer von Wesen wie einem Kuang-shi. Fröhlich trällert sie Mr. Wang das Geburtstagslied vor: zu seinem Neunzigsten, wie sie meint, doch in Wahrheit zu seinem 152. Jahrestag.

Es lohnt sich wirklich, das Hörspiel mehrmals hinterinander zu hören, die Augen zu schließen und sich in die Szenen hineinzuversetzen. In ihrer Vielschichtigkeit lassen sie immer weitere Entdeckungen zu, auch zu ihren – mitunter ironischen – Wechselwirkungen.

|Die Ausstattung von Booklet und Verpackung|

… ist vorbildlich. Man erfährt sehr viel über die Autoren, die Mitwirkenden und die Story. Außerdem gibt es eine ziemlich genaue Beschreibung des Ungeheuers: sein Alter, sein Name, seine Fähigkeit zur Telepathie, sein geistiges wie körperliches Eindringen in vorzugsweise weibliche Opfer, die es |lilitaks| nennt. Da könnte sich der gute alte Dracula noch eine Scheibe von abschneiden. Nur Coppolas Verfilmung lässt etwas von dieser immateriellen Zaubermacht ahnen.

Doch im Gegensatz zu dem lüsternen Langzahn aus Transsylvanien steht das Kuang-shi direkt für zwei weltweit verbreitete Phänomene: Es ist die Verkörperung von Verbrechen und Seuchen. Daher gibt es das Wesen bereits von alters her. Weit schlimmer: Es kann wie diese Phänomene nicht vernichtet werden, wie auch? Lediglich ein Blutzauber, erzeugt vom jeweiligen Wächter, vermag es in Schlaf zu versetzen und mit einem Bann zu belegen. Bis der nächste stolpernde Idiot es wieder aufweckt.

_Unterm Strich_

„Temutma“ funktioniert sowohl als Horrorstory wie auch als Krimi. Es hat mir ausnehmend gut gefallen, und beim zweiten Anhören sogar noch besser. Da gibt es viel Emotion, spannende Ermittlungen in unbekanntes Terrain, eine in sich geschlossene und konsequent zu Ende gedachte Logik der Mythologie des Kuang-shi. Und schließlich mündet dies in ein Action-Finale, dem eine wiederum plausibel erscheinende, von Anfang vorbereitete Entscheidung seitens Julias folgen muss. Mehr ist nicht nötig. Die schwarze Romantik, wie Meyrinks „Golem“ sie für das alte Prager Ghetto verkörperte, hätte nichts Besseres und Zeitgemäßeres hervorbringen können.

Leonhard Koppelmanns Regie, Henrik Albrechts Musik und alle Sprecher in ihrer Gesamtheit machen „Temutma“ zu einem akustischen Erlebnis, das vergessen lässt, dass es sich hier um die einfache Kombination von klassischem Krimi und fernöstlichem Vampirmythos handelt.

Umfang: 72 Minuten auf 1 CD

_Michael Matzer_ © 2004ff