Sternmut, Norbert – Marlies

|Marlies ist wieder da!|
So beginnt der zweite Teil der (Krimi-)Trilogie von Norbert Sternmut (nach „Der Tote im Park“). |Ich| beginne: Norbert Sternmut ist wieder da. Erneut sprachlich prägnant, mit teilweise kurzen minimalistischen Sätzen, keinem Einheitsblabla, mit viel Liebe zum sprachlichen und szenischen Detail und immer noch – oder noch mehr? – mit einer gewohnt exzentrischen Mischung aus Sex, Crime und einem Hauch von Entrücktsein, Anderssein.

Ich leugne es nicht, ich habe ein Faible für Norbert Sternmuts Texte, weil sie so anders sind. Weniger vom Stil her, als vielmehr von der Umsetzung seiner Themen, seiner Plots, seiner Figuren. Sternmuts Charaktere haben etwas Alltägliches, etwas, das in uns allen steckt, uns sofort mit ihnen vertraut macht. Aber auch – und das macht die interessante Mixtur aus – etwas, das uns fremd ist, uns teilweise erschreckt, das wir – vor allem – nicht sehen wollen, das uns aber auch einen Spiegel vorhält. Etwas über uns Menschen, unsere Gesellschaft, unser eigenes Verhalten und unsere Bigotterie.

Norberts Sternmuts Romane sind keine reinen Unterhaltungstexte. Wenn man sie auf sich wirken lässt, erkennt man darin vielschichtige psychologische Aspekte, besonders dort ,wo wir als Menschen an unsere Grenzen stoßen. So ist es in „Marlies“ ein Mann, der z. B. erst dann erkennt, dass er das wahre Glück, die wahre Liebe längst an seiner Seite hat, nachdem er sie betrogen und hintergangen hat und jener Frau, Marlies, die ihm schon einmal zum Verhängnis wurde, wieder erliegt, sich ihrem sexuellem Reiz nicht entziehen kann. Nicht entziehen will. Aber auch seine Selbstzweifel, sein offensichtliches menschliches Versagen ist uns nicht fremd, wenn wir ehrlich in uns horchen.

Wieder wird in diesem Krimi – wie in dem Vorgänger – nicht klar: Ist die Handlung real oder fiktiv, ist sie nur dem Gehirn des Schriftstellers entsprungen oder nicht? Und genau das macht einen zusätzlichen Reiz dieses Buches aus! Es lässt uns Raum für unsere eigene Interpretation und Phantasie. Daher: lesen, lesen, lesen!

Nun muss ich leider, so ist das im Leben, auch zum Negativen kommen. Wie immer hat jede Medaille zwei Seiten – schauen wir uns daher das Handwerkliche an:
Zuerst ist es von Verlagsseite nicht optimal gewählt, eine Trilogie in gänzlich abweichender Aufmachung zu präsentieren. Band eins kam als recht unscheinbares Paperback daher – preislich für einen Kleinverlag angemessen. „Marlies“ präsentiert sich nun als Hardcover zum entsprechend stolzen Preis von 18,80 €. Da erwarte ich als Käufer natürlich auch eine erstklassige Lesekost. Leider ist schon das Cover nicht optimal gewählt, aber darüber ließe sich ja noch streiten, |aber| – das große ABER – über den Satz lässt sich nicht streiten! Da werden Szenen, sogar Dialoge auseinandergerissen und man fragt sich: Wird hier auf Seitenzahl geschunden? Was letztendlich ärgerlich ist, umso mehr, da dies auch noch erheblich den Lesefluss stört. Ganz katastrophal ist aber, wenn dann auch noch Hurenkinder, Hammellücken und Ähnliches den Satz verunzieren. Da war kein Meister seines Fachs am Werke. Auch das Lektorat – soweit überhaupt eines erfolgt ist – hat keine gute Arbeit geleistet. Da hat der Verlag ganz offensichtlich am falschen Ende gespart. Er hätte besser ein gutes Paperback mit noch besserem Inhalt angeboten. So ist es eine Mogelpackung geworden, was mich gerade im Falle Norberts Sternmuts ärgert, denn ich wünsche einem Ausnahmeautor wie ihm bessere Verlagsarbeit. Er hat es verdient!

Fazit: Ein äußerst lesenswertes Buch mit verlegerischen Mängeln, die dem Autor nicht angelastet werden sollten. Also: |Kaufen!|

http://www.wiesenburgverlag.de/
http://www.sternmut.de

Elrod, P. N. – Blutjagd. Ein Vampir-Krimi

Auf die Idee muss man erstmal kommen: Ein Vampir als Detektiv. Bereits 1990 hatte die amerikanische Autorin P. N. Elrod den Einfall für diesen genialen Kunstgriff. (Und war damit dem vampirischen Detektiv Nick Knight in der gleichnamigen Serie um zwei Jahre voraus.) Im Auftaktroman zu ihrer Serie um den „Vampirdetektiv Jack Fleming“ machte sie Jack kurzerhand zum Vampir und ließ ihn im Chicago der 30er Jahre mit Hilfe seines neu gewonnenen Freundes Escott seinen eigenen Mord aufklären. Da Jack sich in Luft auflösen und Menschen durch Hypnose beeinflussen kann und darüber hinaus ziemlich unverwüstlich ist, wäre Escott – der eigentliche Detektiv – ein Dummkopf, würde er sich nicht Jacks Hilfe bei einigen brenzligen Fällen bedienen.

Doch ein klassischer Fall präsentiert sich in der Fortsetzung „Blutjagd“ zunächst nicht. Stattdessen beobachten wir Fleming dabei, wie er es sich in seiner vampirischen Existenz gemütlich macht. Bobbi, die Barsängerin aus dem Vorgängerroman, ist nun Jacks Freundin und erfreut sich an den speziellen Zuwendungen, die man von einem untoten Bettgenossen erfährt. Jack fühlt sich so wohl in dieser neuen Beziehung, dass er die Zeit für gekommen hält, seine Suchanzeige in den großen Zeitungen des Landes zu stoppen und Maureen aufzugeben. Sie war nämlich die Vampirin, die Jack durch ihren Biss verwandelt hat. Die beiden verband eine heiße Affäre, bis Maureen sich plötzlich absetzen musste. Seit fünf Jahren nun sucht Jack per Annonce nach ihr – bisher ohne Erfolg. Nun jedoch beschließt er, diesen Abschnitt seines Lebens als erledigt zu betrachten und die wöchentlichen Anzeigen einzustellen.

Doch offensichtlich hat er nicht damit gerechnet, dass dies einigen windigen Gestalten auffallen würde. So hängen sich plötzlich zwei unfähige Vampirjäger à la „Tanz der Vampire“ an seine Fersen, fuchteln mit Holzkreuzen vor seiner Nase herum und belästigen seine Familie. Außerdem taucht ganz plötzlich Maureens Schwester auf – mittlerweile über 70 Jahre alt und ebenfalls auf der Suche nach Maureen. Wie soll Jack die Vampirjäger loswerden, ohne sie zu töten? Und sagt Maureens Schwester tatsächlich die Wahrheit? Man kann sich sicher sein, dass Elrod im Verlauf einige Kehrtwendungen für den Leser parat haben wird. Langweilig wird es also garantiert nicht!

Wer zu Beginn des Romans den echten und geradlinigen Mordfall vermisst, der wird schnell entschädigt. P. N. Elrod legt mit „Blutjagd“ zwar erst den zweiten Teil ihrer Serie um Jack Fleming vor, doch schon hier taucht sie tief in die Geschichte der Vampirliteratur ein und flicht viele mehr oder minder auffällige Anspielungen in ihre Handlung ein. So verschlägt es (einen noch menschlichen) Jack Fleming in New York in den Buchladen eines Spinners, der okkulte Bücher sammelt. Fleming ist auf der Suche nach „Varney, the Vampire“ und zwischen ihm und dem Buchhändler entspinnt sich ein unterhaltsames Gespräch über die Existenz von Vampiren, die Frage, ob es Dracula wirklich gab und diverse Klassiker der Vampirliteratur. Ein echtes Fest für Fans des Genres!

Ebenso erheiternd ist das Zusammentreffen von Jack mit den beiden Vampirjägern, die offensichtlich Ted Brownings „Dracula“ einmal zu oft gesehen haben und vor Theatralik nur so strotzen. Vermutlich können sie es Jack auch nicht verzeihen, dass er nicht ständig im Theatercape herumläuft. Die beiden heften sich wie zwei Zecken an die Fersen des Vampirs, der eher amüsiert als wirklich verängstigt ist. Die Attacken des dynamischen Duos wehrt er mit Sarkasmus und Gutmütigkeit ab, doch die selbst ernannten Retter der Menschheit geben einfach keine Ruhe und schrecken schließlich auch nicht davor zurück, Unschuldige mit in den Tod zu reißen. Elrod rechnet hier mit dem Bild des Vampirjägers nach dem Muster von van Helsing ab. Für sie ist der Vampir nur ein Mensch mit besonderen Eigenschaften. Der Jäger aber ist das eigentliche Monster – nur fähig zu zerstören, was nicht so ist wie er, anstatt das Potenzial in dieser Andersartigkeit zu erkennen, wie z. B. Jacks Freund Escott es tut.

Und schlussendlich wird der treue Elrod-Leser auch den Protagonisten ihrer anderen, ebenfalls bei |Festa| veröffentlichten, Vampirserie hier wiederfinden. Jonathan Barrett nämlich, der sensible Gentleman-Vampir aus Long Island, taucht in den Erinnerungen von Maureens Schwester auf, da er bei Maureens Vampirwerdung eine entscheidende Rolle spielte. Man darf hoffen, dass er auch in zukünftigen Romanen kleine Auftritte haben wird, trägt dies doch zu der Attraktivität beider Romanserien bei.

P. N. Elrod ist ein echtes Phänomen. Jeder ihrer Romane ist ein Treffer mitten ins Schwarze und jedes Mal denkt man aufs Neue, dass man so gut schon lange nicht mehr unterhalten worden ist. Doch mit jedem Roman übertrifft sie sich selbst. Ihre Charaktere sind farbenfroh und nicht ohne Humor, ihre Handlung flott und immer vorwärts strebend. Neben Laurell K. Hamilton ist Elrod wohl die amerikanische Autorin, die dem Vampirgenre im Moment die meisten neue Impulse gibt. Es gilt hier also nicht, eine Leseempfehlung auszusprechen. Nein, stattdessen gibt es einen Lesebefehl! Kaufen, lesen, lieben!

|P. N. Elrod bei Buchwurm.info:|

[„Der rote Tod“ 821

[„Der endlose Tod“ 863

[„Der maskierte Tod“ 1582

[„Vampirdetektiv Jack Fleming“ 432

http://www.festa-verlag.de/

Armin Rößler (Hrsg.) – Golem & Goethe

»Golem & Goethe« ist die vierte Science-Fiction-Anthologie aus dem Wurdack-Verlag. Hier soll neuen Talenten die Möglichkeit gegeben werden, neben erfahrenen Autoren veröffentlicht zu werden. Angesichts der Schwierigkeiten auf dem Buchmarkt und in der Science Fiction, speziell im Sektor der Kurzgeschichten, ist allein die Regelmäßigkeit und steigende Qualität der Reihe bewundernswert und zu würdigen. Denn die Vorlieben deutscher Leser liegen ganz klar bei allem anderen als bei Kurzgeschichten. Schade, ist doch gerade dieses Forum eine wichtige Spielwiese für neue Autoren, um ihre Fertigkeiten zu testen.

In »Golem & Goethe« melden sich 21 Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz zu Wort. Hören wir, was sie zu sagen haben:

Golem & Goethe – Stefan Wogawa
Die Titelstory lebt von ihren unwahrscheinlichen Zufällen, aus denen sich neue Wendungen ergeben. Allein schon die Darstellung des Verhältnisses zwischen dem Frachterkommandanten und seinem Schiffsrechner ist ungewöhnlich und lädt zum Schmunzeln ein. Auf diesem guten Einstieg findet die Erzählung eine sichere Basis. Unterhaltsame Zerstreuung für zwischendurch.

Ball des Anstoßes – Axel Wichert
Phantastische Konflikte zwischen Menschen und Nicht-Menschen, Wichert bezeichnet sie als »Virtuelle« (möglicherweise Roboter, Androiden, …) – ein Meister dieses Themas war zweifellos Isaac Asimov. Schon lange kommt es immer wieder zu Verdrängungen von Arbeitskräften durch Werkzeuge. Was geschieht mit den Menschen in so einem Fall? Wichert gewährt uns einen Blick in die Zukunft hinsichtlich dieses Details: »Virtuelle hielten sich an Vorschriften, aber die besten Hacker blieben die Menschen.« Hervorragend gezeichnete Entwicklung.

Interferenz – Bernhard Schneider
Was mit der harmlosen Zerstreutheit eines Quantenphysikers zu beginnen scheint, entwickelt sich schnell zu unglaublichen Interferenzerscheinungen, die sich die Protagonisten über Paralleluniversumstheorien zu erklären versuchen. Entgegen Einsteins »Gott würfelt nicht!« reichen wissenschaftliche Erklärungen nicht aus. Möglicherweise hat Gott doch seine Finger im Spiel, wenn es um die letzten Geheimnisse des Universums geht. Die Frage bleibt nur, wie durch Interferenzen die Erkenntnis verhindert werden kann.

Berechtigte Fragen – Arnold H. Bucher
Tatsächlich ist völlig unwichtig, was ein Kesslok ist. Und warum man ihn weder beschäftigen noch unterbringen darf. Wichtig sind allein die Berechtigungsnachweise, die uns unsere deutsche Zukunft im Bürokratenland aufzeigen. Absolut vorstellbar, gar so weit weg sind wir davon nicht mehr. Vor einigen Tagen ging die »Berliner Hundehölle« durch die Medien. Ein deutliches Beispiel für die Aktualität der Problematik, selbst wenn die mediale Aufschauklung des Höllenthemas offensichtlichen BILD-Charakter hatte.

Echos – Heidrun Jänchen
SETI ist ein Begriff. Damit im Zusammenhang ergibt der Titel allein schon einen Sinn und bewirkt die Einbildung des Storyverlaufs. Immerhin erweist sich die Assoziation teilweise als Trugschluss und die fragmentarische Erzählweise bewirkt gleichzeitig eine Spannung, so dass es doch noch den Aha-Effekt am Ende gibt. Wie schon bei Jänchens Beitrag zum Vorgänger »Überschuss« ist das Stückwerk der Geschichte etwas schwierig lesbar, summiert sich aber endlich zu einem sinnvollen Gesamtbild.

Trichterbecher wachsen – J. Th. Thanner
Nachbarskonflikte sind die eine Sache, der sich Thanner widmet. Tragisch sind ihre Auswirkungen. Interessant ist die Darstellung der anderen Sache, der Konflikte zwischen Spezies, die sich zumindest einseitig nicht als intelligent erkennen.

Die heilige Mutter des Lichts – Frank W. Haubold
Haubold entwirft eine erschreckende Zukunftsvision, die nur allzu logisch die Fehler der menschlichen Entwicklung ausmerzen will. Nach einer großen Katastrophe kommt es zu einem Neuanfang. Welche menschliche Unart führte zu allem Elend? Krieg. Darum organisiert die PACEM das Leben der Überlebenden. Aber wäre diese Vision mehr als eine Utopie? Ist wirklich der Schrecken aller Kriege nur auf Männer zurück zu führen? Man erinnert sich vielleicht nur des Nibelungenlieds, in dem Krimhild aus Rachegelüsten ein grausiges Gemetzel verursacht. Haubolds Vision liest sich drastisch und zeigt mit unwahrscheinlich kalter Logik einen möglichen Weg.

Die Abteilung für kosmische Täuschungen – Uwe Hermann
Belustigende Unterhaltung für zwischendurch, eine auf die absolute Spitze getriebene Verschwörung.

Kontrolle – Petra Vennekohl
Das alte Lied in neuem Gewand: Privilegierte Gruppen versuchen immer und überall, ihre Privilegien zu verteidigen – um jeden Preis. Was sich als Lösung anbahnt, ist im Vorfeld spürbar, aber durch die Erkenntnis der Protagonisten erhält die Geschichte eine dramatische Note.

Der Schwamm – Axel Bicker
Diese Geschichte kann richtig berühren in ihrer Ausdrucksstärke: Aus Todesangst geborener Forscherdrang führt zu brutalen Methoden und ethischer Unverantwortlichkeit, im Endeffekt doch aus Selbstsucht. Bicker lässt uns an dieser Entwicklung aus der Sicht des Opfers teilhaben. Es scheint wie eine lebendige Abstraktion von Tragödien, die sich in Verbindung von Wissenschaft und Habsucht unter Menschen abspielen.

Weiße Elefanten – Marlies Eifert
Was nicht sein darf, ist nicht. Und nach gegenteiliger Erkenntnis die historische Ausrichtung auf einen völlig nebensächlichen Aspekt. Tragisch.

Roda – Edgar Güttge
Äußerst unterhaltsam, mit viel Witz und Kreativität geschrieben! Güttge wird den Erwartungen voll gerecht. Sein Hang zur Übertreibung macht aus seinen Geschichten wundervolle Komödien, die sich doch an gesellschaftlichen Eigenarten orientieren.

Zwischenstopp auf Prox – Armin Möhle
Gut erzählte Geschichte über Beziehungen – leider kommt ihre Pointe nicht klar zum Ausdruck.

Tod einer Puppe – Nina Horvath
Die Handlungsumgebung ist etwas unvollständig, das tut der Geschichte aber keinen Abbruch: Hier entsteht eine aufwühlende Stimmung. In ihrer Kürze ist die Geschichte perfekt.

Redpointer – Alexander Kaiser
Eine umfangreiche Geschichte, deren Knackpunkt sich in der Darstellung gegen Ende befindet. Die Handlung der Erzählung dient eher der Verschleierung als der Auflösung, es werden aber gleichzeitig gute Einblicke in die Aufgaben der Protagonisten gewährt. Im Endeffekt ordnet sich also die Verschleierung der Erkenntnis unter, so dass eine sehr spannende Geschichte entsteht, deren Umfeld großräumig ausbaufähig ist. Hervorragende Ideen stapeln sich hier.

Hinaus in die freie Natur – Olaf Trint
Nachdem sich die Menschheit vor einer vergifteten Umwelt zurückziehen musste, gelingt Wissenschaftlern die Erneuerung außerhalb der von Menschen bewohnten Bereiche. Dem normalen Menschen ist ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände inzwischen unvorstellbar geworden. Ist er so anpassungsfähig, wie immer behauptet wird? Würde er sich nicht eher von einer völlig fremden Umgebung überfordert sehen? Trint zeigt ironisch und mit guter Erzähltechnik, was eine Flucht vor der Natur nach sich ziehen könnte. Dabei geht er noch radikaler vor als sein großer Vorgänger Isaac Asimov in seinen »Baley«-Romanen.

E T A 7 – Christian Savoy
Die Bedeutung von E T A 7, »Estimated Time of Arrival: sieben Jahre«, geht ziemlich unter in der kompakten Erzählung. Davon abgesehen, entwickelt Savoy die Menschheit unter dem Druck einer potenziellen, unaufhaltsamen Bedrohung und wirft dabei Streiflichter auf Persönlichkeiten der Entwicklung und auf wegweisende Geschehnisse. Sehr fesselnd geschrieben und mit einem der Menschheit entsprechenden dramatischen Ende.

Reproduktion – Melanie Metzenthin
Knackige Geschichte über das Thema der Akzeptanz künstlicher Menschen als echte Individuen.

Cinema Mentale – Thomas Kohlschmidt
Dramatischer Verlauf eines Versuchs, mit einer andersartigen, blutrünstigen außerirdischen Intelligenz Kontakt aufzunehmen. Die thematische Ähnlichkeit zu Bickers »Schwamm« ist erstaunlich und nicht zu übersehen. Fehlgeschlagene Erstkontakte beschäftigen uns anscheinend stark – ein Zeichen unserer unvollkommenen Bereitschaft oder unserer Angst? Eindrucksvoll geschrieben.

Die nach uns kommen – Birgit Erwin
Ein Endzeitszenario aus der Sicht eines Kindes. Das Mädchen versteht nicht die Beweggründe seines älteren Bruders, der die Welt noch vor dem Krieg kannte. Aber durch ihre Augen erhaschen wir einen Hauch der neuen Welt und der brutalen Ausweglosigkeit. Bedrückend.

Der Gravo-Dom – Armin Rößler
Geradlinige Story, deren Entwurf höchst interessant ist. Lowes Gedanke »Ich habe Zeit« widerspricht allerdings seiner Infektion durch die Auftraggeber. Was genau ist mit ihm passiert, als er seinem Ziel so nahe war? Der Umschwung ist schwer verständlich. Unterhaltsam ist die Story aber allemal.

Fazit

Was in dieser Anthologie an Ideenvielfalt und technischen Fertigkeiten zusammenkommt, ist beachtenswert. Dieses Mal gibt es keinen einsamen Favoriten, alle Geschichten sind auf einem sehr hohen Niveau angesiedelt. Fünf Erzählungen heben sich nochmals ein wenig ab. Sie berühren den Leser richtig und stehen für den jeweiligen Charakter ihrer Art: Schneiders »Interferenz« für die Wissenschaft, Bickers »Schwamm« für den Erstkontakt, Güttges »Roda« für überbordenen Humor, Horvaths »Tod einer Puppe« für erschreckende Versuche, Savoys »E T A 7« schließlich für das Kosmische.

Nicht zu vernachlässigen ist das Vorwort zu diesem Band! Selten war ein Vorwort so lesenswert wie dieses; damit hat Rößler scharf vorgelegt, was schwer zu toppen sein wird.

Insgesamt bietet die Sammlung spannende, tief gehende, lustige, düstere und ergreifende Unterhaltung, der sich niemand entziehen sollte. Zwar bleibt das Gefühl von vorwiegend pessimistischen Visionen geprägt, wird aber von humor- und wundervollen Erzählungen gut aufgelockert. Mehr davon!

broschiert, 196 Seiten
ISBN-13: 978-3938065136

Der Autor vergibt: (4/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)

Dash, Mike – Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Welt

Eine kleine Blume, hübsch anzusehen, als Bote des Frühlings geschätzt und selbst ohne grünen Daumen leicht zum Erblühen zu bringen: Das ist die Tulpe, die in ihrer farbenprächtigen Unschuld vergessen macht, dass sie vor knapp drei Jahrhunderten eine ganze Nation in den Ruin zu reißen drohte.

So verzaubert waren die Niederländer einst von der noch seltenen Blume, dass in den Jahren 1633 bis 1637 ein regelrechter Tulpenwahn ausbrach, der Reich und Arm, Bürger, Bauer, Kauf- und Edelmann in den Handel mit Blumenzwiebeln investieren und spekulieren ließ, bis schließlich Preise von umgerechnet bis zu 1,5 Mio. Euro pro Knolle erzielt werden konnten!

Noch spektakulärer war der anschließende Zusammenbruch des Zwiebel- und Schwindel-Imperiums. Wie eine Seifenblase zerplatzte der Traum vom schnellen Geld ohne Arbeit und Risiko und hinterließ nicht nur Katzenjammer, sondern eine Gesellschaft, die vor dem Ruin stand.

Der Historiker Mike Dash erzählt diese seltsame Geschichte vom großen Tulpenwahn. Weil sich später sogar die Betroffenen fragten, wie es so weit hatte kommen können, holt der Verfasser weit aus. „Tulpenwahn“ ist auch eine Geschichte der Tulpe. Wer weiß schon, dass sie, die heute in jedem europäischen Frühlingsbeet zu finden ist, aus den Steppen und Hochtälern Zentralasiens kommt? Ausgerechnet die kriegerischen turkmenischen Nomaden, die zum Erobern und Plündern nach Asien kamen, fanden Gefallen an den damals noch schlichten, aber schon bunten „Ur-Tulpen“. Sie nahmen sie mit, um 1050 wurden sie schon in persischen Gärten gezogen, und dann rückten sie mit den Osmanen (oder Türken) über Kleinasien nach Nordafrika und Südeuropa vor.

Den gewickelten Turban – oder „dulbend“ – auf dem Kopf, kultivierten und veredelten türkische Gärtner die nun benamte Blume. Reisende aus dem Abendland fanden Gefallen an ihr. 1559 wuchsen Tulpen im bayrischen Augsburg. Drei Jahre später hatten sie Antwerpen in den Niederlanden erreicht – und dort beginnt unsere eigentliche Geschichte …

Die soll an dieser Stelle nicht vorab erzählt werden. Stattdessen rät Ihr Rezensent eindringlich, sie selbst nachzulesen. Sie beginnt trügerisch harmlos und entwickelt rasch eine Dynamik, der man sich schwer entziehen kann. Der Tulpenwahn ist ein Exempel, wie sich bodenständige und vernünftige Menschen in eine Lemminghorde verwandeln, die ihr Vermögen und ihre Zukunft auf Gedeih und Verderb an eine zerbrechliche Blumenzwiebel ketten, ohne die geringste Ahnung von dem zu haben, was sie da in Gang setzen.

Mike Dash gelingt das Kunststück, die scheinbar trockene Materie zum Leben zu erwecken. Geld verdient man gern, aber wenige Menschen verstehen wirklich, wie dies funktioniert, und kaum jemand interessiert sich dafür. Deshalb ist es dem Verfasser hoch anzurechnen, dass er ein Kapitel Wirtschaftsgeschichte in ein Kriminalstück verwandeln kann, ohne darüber die Fakten zu vernachlässigen. „Tulpenwahn“ ist ein rundum überzeugendes Sachbuch. Es legt die Fakten schlüssig und spannend dar, räumt mit überlieferten Irrtümern auf (Die Niederländer überwanden den Wahn schneller als dies den Moralaposteln und Sensations-Historikern lieb war), erklärt und begründet, wieso ein solcher Irrwitz beinahe unvermeidlich war, überrascht mit historischen Parallelen vom „Hyazinthenwahn“ bis zum Run auf eine eher exotische Blume, die noch im 20. Jahrhundert diverse chinesische Landstriche erfasste.

Ein Abbildungsteil hilft dem Leser, den Tulpenwahn zu verstehen. So macht der Anblick wunderschön abgemalter Tulpen deutlich, dass die Zucht damals einen Standard besaß, der heute längst nicht mehr erreicht wird. Die niederländischen Tulpen des 17. Jahrhunderts waren Meisterwerke einer vergessenen Blumenzuchtkunst.

Weitere Bilder zeichnen den Siegeszug der Tulpe durch das Osmanische Reich nach, zeigen zeitgenössische Gemälde und Stiche, die verraten, wie präsent diese Pflanze nicht nur im Alltag, sondern auch in der Kultur war. Faszinierend auch die Kommentare der Künstler, als der Tulpenwahn in sich zusammenbrach. Wer den Schaden hatte, musste schon damals für den Spott nicht sorgen – das übernahmen jene, die sich „klüger“ dünkten bzw. nicht den Mut aufgebracht hatten, sich an der Zwiebel-Spekulation zu beteiligen und nun gut Moralpredigen halten oder lachen konnten.

Immer wieder flicht Dash historische Anekdoten ein, die seine Darstellung meisterhaft kommentieren. Der Obergärtner am osmanischen Herrscherhof ist traditionell auch der Henker; ein hungriger Unglückswurm wird vor Gericht gezerrt, weil er eine Ladung unbezahlbarer Tulpenzwiebeln verspeist hat; vorsichtige Blumenhändler übernachten in ihren Beeten: Das sind die Randbemerkungen, die ein informatives Sachbuch zusätzlich veredeln.

Ian Rankin – So soll er sterben

Das geschieht:

Das Revier St. Leonard‘s im schottischen Edinburgh wurde umstrukturiert, die Kriminalpolizei ausquartiert. Detective Inspector John Rebus hat es nach Gayfield Square verschlagen. Dort ist er im Grunde überflüssig, denn seine Vorgesetzten möchten den querköpfigen Ermittler, der innerhalb der traulichen Filzokratie der Stadt immer wieder für Unruhe sorgt, endlich loswerden und aus dem Job ekeln. Wenigsten ist Detective Sergeant Siobhan Clarke, Rebus‘ Vertraute, mit ihm versetzt worden.

Sein aktueller Fall bringt Rebus nach Knoxland, ein heruntergekommenes Stadtviertel von Edinburgh. Die Ärmsten der Armen hausen in verkommenen Betonbauten. Noch weiter unten in der gesellschaftlichen Hackordnung stehen die Einwanderer und Asylanten, die von einer überforderten und gleichgültigen Verwaltung mit Rassisten und Fremdenhassern zusammengepfercht werden. Einen der ungeliebten Fremdlinge hat es erwischt: Stef Yurgii, ein kurdischer Regimekritiker, der vor der Ausweisung stand, wurde erstochen. Niemand hat etwas gesehen, will der Polizei etwas sagen oder wagt dies zu tun. Ian Rankin – So soll er sterben weiterlesen

Koch, Boris – Dionysos tanzt

_Boris Koch_, Jahrgang 1973, debütierte als Schriftsteller mit einer Erzählung in der Anthologie „Der Alp“ (Hrsg.: Jörg Bartscher-Kleudgen). Das war 1993. Inzwischen hat er mehrere Bücher publiziert, darunter „Ein Mann ohne Gesicht“ (|Festa|-Verlag, 2004) und „Dionysos tanzt“ (|Medusenblut|, 2003). Mit seinem Beitrag „Der Tod im Maisfeld“ ist er in der deutsch-italienischen Anthologie „Psycho Ghost“ vertreten (hierzulande 2004 im |UBooks|-Verlag erschienen).

Boris Koch hat sich auf unheimliche, groteske und sciencefictoide Geschichten spezialisiert. Zwei davon – „Terraforming“ und „Der Tod im Maisfeld“ – haben ihm viel Lob und Anerkennung gebracht (Deutscher Phantastik-Preis, Kurd-Laßwitz-Preis, Deutscher Science-Fiction-Preis). Er ist das Herz des kleinen Phantastikverlags |Medusenblut|, sitzt in der Redaktion des Magazins [Mephisto]http://www.dunkle-welten.de und spielt in der Dada-Pop-Combo AKW zusammen mit Eddie M. Angerhuber und Thomas Wagner.

Koch lebt als freier Autor in Berlin. Näheres auf http://www.boriskoch.de und http://www.medusenblut.de.

„Dionysos tanzt“ ist die dritte Sammlung mit phantastischen Erzählungen von Boris Koch.

_Storys:_
Dionysos tanzt
Ich war dabei
Monoleben
Lesen bildet
Manneskraft
Jo
Die Knochenfrau
Spiegel
Psiegel II – Epilog
Martina

_“Dionysos tanzt“_ war der erste komplexe Band von Boris Koch, den ich gelesen habe. Er startet mit einer „Art Vorwort“, das sich als Titelstory entpuppt und den Leser sofort an den Band fesselt. Dionysos ist der griechische Fruchtbarkeitsgott, aber auch der des Rausches, der Lust & der Musik, der Antagonist von Apollon, der sich für Intellekt und Vernunft verantwortlich zeichnet. Der sehr gelungener Auftakt einer erfreulich unterhaltsamen Kurzgeschichtensammlung.

Dionysos tanzt … mit ihm der Leser in einen Band, der seinen ganz eigenen „Rhythmus“ hat. Geschickt verquickt Boris Koch dabei alte Mythen mit der Moderne, die Plots sind voll aus dem Leben gegriffen, ebenso die Protagonisten. Sie sind keine Helden à la Hollywood, sondern Menschen wie du und ich, mit allen Fehlern und Schwächen, in allen Facetten geschildert. Denn Boris Koch vermag es vortrefflich, mehrdimensionale Charaktere zu erschaffen. Seine Protagonisten sind lebendig, fast greifbar, was zeigt, dass hier ein Autor am Werk ist, der zu schreiben versteht und von dem man gern mehr lesen möchte.

Boris Koch schreibt kurz und fesselnd, was mich persönlich besonders erfreut. Hier ist kein schwafelnder Seitenfüller am Werke, hier sitzt (fast) jedes Wort, hier schreibt einer mit viel Liebe zum Detail. Seine erotischen Szenen sind freimütig und dynamisch, ebenso die übernatürlichen Passagen. Dennoch wirkt nichts an seinem Stil „aufgesetzt“ oder „bemüht“ oder „betont forsch“. Er ist eigenwillig, geprägt von manchmal recht grotesken Ideen, mit einer Prise skurrilem Wortwitz. Und er ist eindeutig |gut|.

Für mich zählen „Manneskraft“, „Jo“ und „Die Knochenfrau“ zu den besten Geschichten, aber im Grunde – und auch das macht die Qualität dieses Bandes aus – gibt es keine wirklichen Schwächen.

In „Manneskraft“ greift der Autor zwar ein gängiges Thema auf: den Pakt mit dem Teufel, verbindet es aber – mit einem Augenzwinkern – mit einem Problem, das jeden Mann in die Bredouille bringen kann: dem vorzeitigen Samenerguss. Was dem Protagonist nach dem Pakt, der bezeichnenderweise mit Sperma und nicht mit Blut geschlossen wird, bleibt, ist eine Dauererektion, die ein fast noch größeres Problem wird und zu einer Lösung führt, die sich als ganz persönliche Hölle für den „Heimgesuchten“ entwickelt …

„Jo“ ist der etwas „eigenartige“ Freund von Tom, der beim Sex seine Frauen durch Halsbisse tötet und somit ein Vampir ist. Aber keiner, der nur auf das Blut seiner Opfer bedacht ist, sondern dessen spezieller Kick der Sex ist. Tom setzt mehr als einmal sein Leben aufs Spiel, als er versucht, seinen Freund davon abzuhalten, bei Vollmond weiteren Opfern ans Leben zu gehen – auf seine ganz spezielle Art und Weise. Das Besondere dieser unterschwellig homoerotischen Vampirgeschichte ist, dass selbst das Böse darin menschlich wirkt.

„Die Knochenfrau“ ist eine völlig „durchgeknallte“ Traumwelt-Geschichte, in der es um den Wunsch nach der wahren sexuellen Befriedigung geht. In dieser Story stellt Boris Koch meines Erachtens seine außerordentliche Phantasie am deutlichsten unter Beweis. Ich will nichts vorwegnehmen, man muss sie einfach |lesen|!

Fazit: Der Kurzgeschichtenband ist großartig und hebt sich durch seine lebendige Erzählkraft von vielen anderen Titeln dieses Genres ab. Kaufen – und vor allem |lesen|!!!

Crouch, Blake – Blutzeichen

Zu schade, dass ich den ersten Teil von „Blutzeichen“, „Bruderherz“ betitelt, noch nicht kenne. Ein Umstand, den ich nach dem Konsum von „Blutzeichen“ schleunigst ändern werde, da die literarische Niederschrift seelischer Abgründe aus der Feder von Blake Crouch fesselnder nicht sein könnte. Meine Herren! Selten zuvor habe ich ein Buch derart verschlungen und dabei mehr als nur Blut und Wasser geschwitzt.

Andrew Thomas, Schriftsteller, geriet im Erstling in die psychopathischen Fänge seines Zwillingsbruders Orson, denen er nur mit viel Glück entrinnen konnte. Orson ist tot und Andrew mittlerweile in Alaska abgetaucht, da er für die begangenen Morde verantwortlich gemacht und polizeilich gesucht wird. Eines Tages erfährt Andrew, dass seine Ex-Freundin bestialisch ermordet wurde und in ihm keimt ein böser Verdacht: Orsons Helfer muss zurück sein, um die Arbeit seines Mentors zu vollenden. Luther Kite ist wieder da, und er wird seinen Weg unbarmherzig zu Ende gehen, wenn sich ihm niemand in selbigen stellt.

So weit die Rahmenhandlung des schweißtreibenden Nervenkitzlers, uns spätestens nach dem ersten Drittel des Buches nicht mehr aus seinen Pranken entlässt. Dabei lässt die Eiseskälte, mit der Luther seine Arbeit verrichtet, ein ums andere mal die Magensäfte brodeln. Es sei also zartbesaiteten Personen abgeraten, sich auf „Blutzeichen“ einzulassen.

Nach einem relativ besinnlichen Beginn dreht Crouch im Verlauf des Buches erbarmungslos an der Spannungsschraube. Wann und wie wird der Psychopath zuschlagen? Was wird Andrew dem entgegen setzen können und wird er am Ende sein Leben lassen müssen? In düsterer, nein, abgrundtief finsterer Atmosphäre graben sich die Seiten ins Gedächtnis und man kämpft unweigerlich gegen den inneren Schweinehund an, der einem das Ende des Tages befiehlt, da man am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrüh zur Arbeit muss. Ich konnte den Kampf eigentlich immer gewinnen, verschlang „Blutzeichen“ gierig bis zum Ende der Storyline. Und die hat es in sich …

Blake Crouch versteht es blind, eine psychologisch bedrückende Atmosphäre zu erschaffen, die im filmischen Sinne Meisterwerken wie etwa David Finchers „Sieben“ in nichts nachsteht. Desillusionierende Alltagsszenarien, Düsternis, Regen und ein Held, der scheinbar übermächtigen Gegebenheiten immer einen Schritt hinterherzuhinken droht. Nichts kann Luther aufhalten! Oder etwa doch?

„Blutzeichen“ ist eines dieser Bücher, die ich Thrillerfans blind ans Herz legen kann. Die Zeichen und Worte spielen geschickt auf der Klaviatur des Grauens und wälzen sich flächendeckend in der Bildsprache des Ekels. Hier ist ein kleiner Minuspunkt zu verzeichnen. Denn auch wenn ich die plastische Darstellung von exzessiver Gewalt als durchaus sinnvoll und dramaturgisch wirksam empfinde, denke ich dennoch, dass „Blutzeichen“ für das Gros der Leserschaft eine deutliche Spur zu heftig ist. Denn „Blutzeichen“ ist ein Paradebeispiel für literarische Grausamkeit und Brutalität in Wort und Schrift.

Wer einen starken Magen hat, nachts gut schlafen kann und mal wieder Bock auf eine wirklich deftige Thriller-Schlachtplatte hat, sollte die paar Kröten auf jeden Fall ausgeben und sich in eine Parallelwelt des Grauens schießen lassen, der man am besten in einem Lesemarathon am Stück erliegt. Ein Tipp noch am Rande: Kauft euch auch gleich noch den Erstling „Bruderherz“. Selbiges werde ich jetzt jedenfalls auch tun!

http://www.ullsteinbuchverlage.de/ullsteintb/

Schnett, Beverly – Völker der Sonne. Der Aufbruch der Menschheit in das Sonnensystem

Edition Kaitain ist ein Verlag für Erotik, Phantastik und Wissenschaft. Eine seltsame Kombination, wie sicher nicht nur ich finde, und beim Blick in das dort erschienene Werk „Völker der Sonne“ werde ich auch darin bestätigt, dass das Buch von Beverly Schnett aufgrund der skurillen Verbindungen aus erotischer Freizügigkeit und moderner Science-Fiction nicht ganz so funktioniert, wie man sich dies vielleicht gewünscht hätte.

Im Mittelpunkt des Geschehens stehen bei diesem Buch verschiedene Figuren, die infolge von aneinandergereihten Episoden in den Themenbezug eingeflochten werden. Da wäre als Erste Amal, ein Mädchen deutsch-arabischer Abstammung, das als erste schwerelose Tänzerin Karriere macht. Ihre Geschichte ist recht zügig erzählt. Sie trifft einen guten Freund, tanzt vor ihm, zieht sich aus und schläft mit ihm. Davon selber schwer beeindruckt, startet sie eine Reise in den Weltraum, wo sie ihrer Begabung weiter nachgehen und Karriere machen möchte.

Im nächsten Kapitel wird der Schwerpunkt der Brisanz anderweitig verlagert: Maurice und Manuel leben irgendwo in der Gegend um den Planeten Merkur. Maurice hat sich in seinen Freund verliebt und lässt, um desen Gunst zu erlangen, eine Geschlechtsumwandlung an sich vollziehen. Gemeinsam bekommen sie den Sohn Mari Jose. Während dieser erwachsen wird, geht andernorts der wilde Beischlaf weiter. Mal hier, mal da eine Runde Sex, aber alles total billig dargestellt und wenig sinnlich – von knisternder Erotik keine Spur!

Wie auch immer, Mari Jose wird zum Hauptakteur des nächsten Plots und angelt sich eine recht alte Dame als Partnerin. Aber dies hält nicht für lange, denn wiederum wenige Zeit später unterwirft er sich einem Mann, der vorher schon eine ‚Sicherheitskopie‘ bzw. einen Klon von Mari Jose erstellt hat …

Oh Mann, das hier ist wirklich kein Buch, das man einfach so mal liest. Ziemlich durchgeknallt, was die Autorin hier so alles zusammenschmeißt. Im Grunde genommen geht es allerdings nur um eins, nämlich billige Effekthascherei in Form von vielen bildlichen Sexszenen, die im Endeffekt jedoch mehr abschrecken als antörnen – oder was immer der Zweck dieser Handlungen sein soll. Jeder darf hier mal mit jedem in die Kiste, Tabus gibt es keine. Und dementsprechend wird die komplette, immer wieder zweirangige Handlung vollkommen in den Hintergrund gedrängt, weil gerade wieder Figur A ein Techtelmechtel mit Person B hat.

Ich habe echt keine Ahnung, wer so etwas ernsthaft gut finden soll, denn warum sollte man sich als Liebhaber pornographischer Inhalte die Mühe machen, dieses wirre Buch zu lesen? Die rein visuelle Variante ist da doch weitaus leichter konsumierbar und erforder viel weniger Mühe. Und außerdem: Meistens ist dort die Handlung auch noch sinniger …

Tut mir Leid, aber Beverly Schnett bekleckert sich hier ganz und gar nicht mit Ruhm und überantwortet das eh schon bizarre Thema der vollkommenen Absurdität. Das Ganze dann auch noch mit schlechter Science-Fiction zu mischen, schlägt dem Fass schließlich den Boden aus und zerstört auch noch das letzte bisschen Atmosphäre. Nein, nein, das hier zu lesen gleicht purer Zeitverschwendung – und diese vertane Zeit bereue ich im Nachhinein ganz deutlich!

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Walters, Minette – Im Eishaus

Dieser Roman wurde 1992 ausgezeichnet mit dem |John Creasey Memorial Dagger|. In diesem Jahr erschien die Originalausgabe unter dem Titel „The Ice House“. Die deutsche Ausgabe erschien erstmals 1994 bei |Goldmann|. Die Übersetzung ins Deutsche stammt von Mechtild Sandberg-Ciletti.

|Handelt es sich bei der Leiche im Eishaus des englischen Landsitzes Streech Grange um die sterblichen Überreste des Hausherrn David Maybury? Seit zehn Jahren fehlt von ihm jede Spur und für die Dorfbewohner gibt es nur eine Erklärung: Phoebe Maybury hat ihren Mann umgebracht. Dass sie sich seit damals mit zwei Freundinnen zu einer geheimnisvollen Lebensgemeinschaft auf dem Landsitz zurückgezogen hat, erhöht das Misstrauen der Leute noch zusätzlich. Und auch Inspector Walsh ist überzeugt, Phoebe endlich den Mord von damals nachweisen zu können. Doch schon bald stellt sich heraus, dass der Fund der Leiche nicht genügt, um das dunkle Geheimnis von Streech Grange zu lüften.|

Minette Walters bewies bereits in diesem Debütroman „Im Eishaus“ ihre Fähigkeit, mehrdimensionale Charaktere zu erschaffen, und lässt darüber hinaus immer wieder geschickt Überraschungsmomente einfließen. Die Lebendigkeit ihrer Texte wird auch durch die Dialoge untermauert, die humorvoll immer eine Prise Ironie erkennen lassen.

„Im Eishaus“ war – nach [„Die Bildhauerin“ 1908 – der zweite Krimi von Minette Walters, den ich las, und hatte daher nach dem großartigen Bildhauerin-Band einen schweren Stand. So gut „Im Eishaus“ auch ist, er hat mich nicht gleichermaßen gefesselt. Dabei fängt er routiniert an:

Ein geheimnisvoller Leichenfund im alten Eishaus raubt den Bewohnern des Landsitzes Streech Grange die Ruhe. Ist der bis zur Unkenntlichkeit verweste Tote etwa David Maybury, der Gutsbesitzer, der vor zehnn Jahren spurlos verschwand und nie mehr auftauchte? Der seinerzeit ermittelnde Inspektor Walsh vermutete, dass die Ehefrau, Phoebe Maybury, ihren Gatten ermordete, konnte ihre Schuld aber nicht beweisen – eben weil keine Leiche gefunden wurde. Nun aber scheint er Phoebe Maybury endlich überführt zu können. Zur Seite steht ihm sein Assistent Sergeant Andy McLoughlin, der gerade von seiner Frau verlassen wurde.

Die Gerüchte um Mrs. Maybury werden immer weitgreifender. So soll sie nicht nur ihren Ehemann, sondern auch ihre Eltern beseitigt haben und mit ihren Freundinnen, der Innenarchitektin Diana Goode und der Journalistin Anne Cattrall, die seit knapp zehn Jahren mit in ihrem Haus leben, eine lesbische Beziehung haben. Auch gottlose Praktiken wie Hexenrituale und Satanskult werden den Frauen nachgesagt.

Einer Vorverurteilung steht also nichts im Wege. Die Dorfbewohner glauben allzu bereitwillig das, was sie glauben wollen. Nur die Aussage des Dorfplayboys passt nicht in das konstruierte Bild. McLoughlin beginnt an der Schuld der Verdächtigten zu zweifeln. Zu undurchsichtig ist das Gutachten des Gerichtsmediziners und zu einseitig sind die Ermittlungen seines Vorgesetzten Walsh. Als wäre das nicht genug, verliebt sich der Sergeant auch noch in die eigenwilligste der drei Frauen. Doch er behält den Überblick. Mit Verstand und Spürsinn gelingt es ihm in letzter Sekunde, einen Mord zu verhindern, und er entdeckt, welches Geheimnis Streech Grange verbirgt.

Dieser spannende, psychologisch vielschichtige Roman enthält alles, was der Leser von einem Krimi erwarten kann. Minette Walters weiß es vortrefflich zu unterhalten und den Leser auf falsche Fährten zu locken. Mal webt sie Indizien ein, die zu beweisen scheinen, dass der Tote der verschollene Maybury ist. Dann aber kommen Fakten ans Tageslicht, die genau das Gegenteil beweisen. Das hält den Spannungsbogen des Romans weitgehend konstant. Und das ohne bluttriefende Knalleffekte.

Die Charaktere sind interessant und mehrdimensional, besonders die Freundinnen, die unterschiedlicher nicht sein könnten! Ihre Stärken und Schwächen beleben den Roman zusätzlich. Aber auch McLoughlin ist ein wandlungsfähiger Charakter. Anfangs verspürt man noch ständig Lust, ihm die spitzen High-Heels in den Allerwertesten zu rammen, so verquer ist sein Auftreten. Und er hat den Spitznamen, den ihm Diana Goode gibt, redlich verdient. Er ist in der Tat ein „Muffel Macho“ – doch dem „Schrumpfhirn“ steht er tapfer entgegen. Denn gerade der Sergeant entpuppt sich als besonders gelungene Schlüsselgestalt der Handlung und wird immer mehr zur Hauptfigur, was dem Plot außerordentlich gut bekommt – besonders als McLoughlin beginnt, Walshs Arbeit kritisch zu beäugen, auch dessen Versuch, ihn zu manipulieren.

Minette Walters zeigt deutlich die menschlichen Abgründe auf, die wohl in jedem von uns schlummern – mehr oder weniger. Auch, wie schnell der „gute“ Nachbar von nebenan mit Verleumdungen und Vorurteilen bei der Hand ist. Ebenso bekommt die Yellowpress ihr Fett weg. Was mir bei Minette Walters immer wieder gefällt, ist die Tatsache, dass sie sich einer leicht verständlichen, wortwitzigen, aber nicht wortverliebten Sprache bedient. Dafür haben es ihre Handlungen und Charaktere umso mehr in sich. Und so sollte es sein.

Wer intelligente Krimilesekost konsumieren möchte, ist bei Minette Walters und somit auch bei diesem Titel an der richtigen Adresse!

Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das geschieht:

Dendales in der englischen Grafschaft Yorkshire, Sommer 1982: In dem abgelegenen entsteht ein Staudamm; in dem See wird der kleine Ort untergehen. Die Einwohner haben sich lange gewehrt, mussten letztlich aufgeben. Ihr Unmut wird jedoch nebensächlich, als in kurzem Abstand drei junge Mädchen spurlos verschwinden und ein viertes angegriffen wird. Angst und Misstrauen wachsen zu Panik und offenem Zorn, als es der Polizei nicht gelingt, die Kinder zu finden.

Für die Dorfbevölkerung ist der Schuldige bald gefunden: Benny Lightfoot, ein eigenbrötlerischer, wunderlicher junger Mann, der sich abseits der Gemeinschaft hält. Die Polizei vernimmt ihn, kann ihm aber nichts nachweisen. Wieder in Freiheit, setzt Benny sich ab. Niemand hat ihn seither gesehen. Dendales wird wie geplant geflutet. Die Einwohner ziehen in den Nachbarort Danby. Langsam gerät die Tragödie in Vergessenheit. Reginald Hill – Das Dorf der verschwundenen Kinder weiterlesen

Lehr, Thomas – 42

Die 42 ist eine Zahl, mit der man gerne Gutes verbindet. Man denkt unweigerlich gleich an Douglas Adams, bei dem 42 die Antwort auf die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest ist, wenngleich diese sonderbare Antwort natürlich ganz neue Fragen aufwirft. Ironischerweise wohnt auch Agent Mulder aus der Mystery-TV-Serie „Akte X“ in Appartement Nr. 42. Sinnbildlich kann man die 42 also auch für die Suche nach dem Unbekannten, nach den unbeantworteten Fragen der Menschheit sehen. Und nun hat der deutsche Autor Thomas Lehr sein eigenes Stück zum Mythos der 42 beigetragen – einen Roman mit eben diesem Titel, in dem es ebenfalls um ein unerklärliches Phänomen geht.

Das Szenario, das Lehr in „42“ entwickelt, ist faszinierend: An einem wunderschönen Sommertag besichtigt eine Gruppe von Wissenschaftlern, Journalisten und Politikern das Schweizer Forschungszentrum CERN, vor den Toren von Genf. Doch es ist kein gewöhnlicher Sommertag. Als die Besuchergruppe um genau 12:47:42 Uhr aus dem Fahrstuhl des DELPHI-Schachtes tritt, ereignet sich ein erschreckend verstörender Störfall: Die Zeit bleibt stehen.

Die Welt rund um die Besuchergruppe wird zur Ewigkeit, alles wirkt wie eingefroren. Nur unsere Besuchergruppe bleibt von den Auswirkungen verschont und kann sich weiter bewegen. Auf die Verwirrung erfolgt schon bald die Ernüchterung. Der Stillstand der Welt ist kein vorrübergehender. Auch am nächsten Tag, in der nächsten Woche, im nächsten Monat hält dieser Zustand an. Fünf Jahre verbringt die Gruppe der „Chronofizierten“ in der Mittagshitze des ewigen 14. August 2000, bevor die Welt sich für magische drei Sekunden weiterdreht, um dann wieder wie erstarrt anzuhalten.

Die Jahre vergehen, die Wissenschaftler des CERN suchen nach einem Grund für den temporalen Kollaps, versuchen zu verstehen und rückgängig zu machen, was die Welt ins Stocken brachte. Derweil richten sich die übrigen Mitglieder der Gruppe ein, lernen mit Stille und Einsamkeit umzugehen. Menschen sterben, Kinder werden geboren. Die „Chronofizierten“ lernen mit der Macht und Ohnmacht der Situation umzugehen. Doch dann sorgt eine Reihe von Mordanschlägen für Unruhe und Seuchen kommen auf …

Der Stillstand der Zeit, das Gefangensein in einer eingefrorenen Wirklichkeit und die Suche nach einem Ausweg, das ist eine für sich genommen faszinierende Vorstellung. Man stelle sich vor, die Zeit würde wirklich, zumindest für einen Moment, still stehen. Alles wäre in der Bewegung eingefroren, alle Menschen in einer Art Wachkoma gefangen, nur man selbst könnte sich durch die Welt bewegen und sie anfassen – als würde man durch eine Fotografie wandeln.

Dass bei Thomas Lehr dieser Zustand obendrein über mehrere Jahre anhält, wirft neben der wissenschaftlichen Begreifbarkeit einige weitere interessante Fragen auf, die sich vor allem auch auf sozialer Ebene stellen. Wie gehen die Bewegungsfähigen mit ihrem Schicksal in einer bewegungsunfähigen Welt um? Wie arrangieren sie sich mit ihrer komatös erstarrten Umwelt? Wie entwickeln sie sich als Gruppe? Und wie fühlt man sich, wenn nach fünf Jahren der lange herbeigesehnte Ruck einsetzt, der die Welt wieder in Gang setzt, nur um drei Sekunden später wieder alles anzuhalten? Es sind die wissenschaftlichen und sozialen Fragen, die das Ereignis aufwirft, die „42“ so faszinierend machen. Zumindest, solange man sich nur mit dem grundlegenden Ereignis und dem Klappentext befasst.

Lehr erzählt die Geschichte aus der Sicht des Journalisten Adrian, der einerseits die Versuche der Wissenschaftler beobachtet, die Zeitpanne rückgängig zu machen, und andererseits auch seine eigenen Wege durch die im Dornröschenschlaf liegende Welt geht. Ganz wissenschaftlich erzählt er den Werdegang der Gruppe und den Verlauf der Ereignisse anhand von fünf Phasen, die die Gruppe durchlebt:
|“1. Schock
2. Orientierung
3. Missbrauch
4. Depression
5. Fanatismus“| (S. 18)
Diese Phasen bestimmen ganz wesentlich die Entwicklung der Gruppe auf sozialer Ebene und zeichnen den Handlungsverlauf vor.

Ein großer Teil der Faszination des Ereignisses verliert sich aber leider schon nach wenigen Seiten. Die aufgeworfenen Fragen beschäftigen uns als Leser weiterhin, doch die Art, wie Lehr den Leser mit seinen Figuren, dem temporalen Kollaps und der daraus resultierenden Handlung konfrontiert, dürfte so manchen Interessierten ziemlich vor den Kopf stoßen. Lehr macht es dem Leser alles andere als leicht, in die Handlung einzusteigen und seinen Schilderungen zu folgen.

Ich persönlich war schon gleichermaßen erstaunt und verwirrt, als ich den Anfang des Buches, für den Lehr bereits 2002 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis ausgezeichnet wurde, hinter mich gebracht hatte. So richtig begreifen konnte ich nicht, was Lehr dort schildert. Vieles ergibt erst wesentlich später Sinn, denn im Grunde wirft Lehr dem Leser die Puzzleteile zum Verständnis nur bröckchenweise hin. Der Klappentext lobt „42“ gerade auch wegen der |“funkelnden und souveränen Sprache“|. Aus meiner persönlichen Sicht wirkt das schon fast ironisch, denn für mich ist gerade die Sprache die größte Barriere zwischen Leser und Autor – eine Barriere, an der so mancher Leser scheitern dürfte.

Die ganze Geschichte wirkt wie durch eine halbtransparente Gardine betrachtet. Der Leser steht draußen vor dem Fenster und versucht einen Blick auf die drinnen sich im Licht bewegenden Figuren zu erhaschen. Schattenhafte Schemen lassen sich erkennen, Bewegungen und Aktivitäten erahnen, aber so sehr man sich die Nase auch an der Fensterscheibe platt drücken mag, die Gardine schluckt sämtliche Blicke und die Handlungen bleiben diffus. Diese halbtransparente Gardine ist Lehrs |“funkelnde und souveräne Sprache“|.

Er wirft mit Fremdwörtern um sich, konstruiert verschachtelte Sätze, die in der Literaturgeschichte ihresgleichen suchen und sich auch schon mal über Zweidrittel der Seite erstrecken, um an anderer Stelle dann mit unvollständigen Dreiwortsätzen daherzukommen. Obendrein verwirrt er den Leser mit seiner abstrakten Symbolik. Manche Passagen muss man zwei- oder dreimal lesen, nur um sie dann immer noch nicht so ganz verstanden zu haben.

Es wirkt so, als wäre es Lehr gar nicht so wichtig, ob der Leser ihn versteht oder nicht. Er scheint in irgendeiner abgehobenen Sphäre sprachlicher Selbstverliebtheit seinem Ego zu frönen. Und so kann man es eigentlich keinem Leser verübeln, wenn er das Buch nach wenigen Kapiteln bereits entnervt aus der Hand legt. Lehr verlangt dem Leser enorm viel ab, sowohl mit seinen sprachlichen Mitteln und dem verwirrenden, ironischerweise in der Zeit sprunghaften Erzählstil, als auch mit den vielen unverständlichen Begriffen, für die er nicht einmal ein Glossar anhängt. Während der Lektüre hin und wieder den Fremdwörterduden zu konsultieren, ist also durchaus ratsam.

Was den potenziellen Leser sprachlich erwartet, sei an einem Beispiel verdeutlicht: |“Dass ich für Karins Aufenthalt die gesamte deutsche Ostseeküste in Erwägung ziehen musste, gab ich den anderen preis, nicht aber – und wie auch? -, dass ich ein zerrissener Mann war, verschlagen auf die calvinistische Insel der Zeitschiffbrüchigen mitsamt einem befreundeten Arbeitskollegen und dessen Frau, die ich wenige Wochen zuvor in einem Fotolabor aus beruflichen Gründen aufgesucht und unversehens geküsst hatte in einem diffus glättenden, plötzlich mitleidlosen und pornografischen Rotlicht, das uns die Geschlechtsorgane freilegen ließ und hastig bearbeiten, für beide Seiten wohl erschreckend professionell, wie routinierte Lustnotfallhelfer, die vor nichts zurückschrecken dürfen (das aus der Hülle gleitende stumpfe Skalpell, der Tränengeschmack deiner klaffenden violetten Wunde, später, auf meinen Fingerkuppen) und keine Zeit zu verlieren zu haben, zu Recht, denn wir hatten nur wenige Minuten, bevor Annas Handy uns zur Vernunft brachte oder zur Feigheit bis auf den heutigen Tag, an dem uns kein elektrisches Klingeln mehr aufschrecken kann und nichts an Zeit mehr zu versickern oder wegzudriften scheint, wenigstens in dem enormen räumlichen Außerhalb jenseits unserer Körper.“| (S. 102/103) Das war in der Tat nur ein einziger Satz …

Lehrs sprachliche Mittel erschaffen in jedem Fall eine Distanz zum Leser. Man tut sich nicht nur schwer, die Handlung nachzuvollziehen, auch die Figuren rund um die Hauptfigur Adrian bleiben einem seltsam fremd, fast schon gleichgültig. Man fiebert nicht mit, staunt höchstens über die Welt, durch die die Protagonisten wandeln. In manchen Momenten kommt man nicht umhin, Lehrs Umschreibungen der eingefrorenen Welt als treffend zu bezeichnen. In Momenten, in denen man ihm folgen kann, geht von seinen Worten in der Tat eine gewisse Sprachgewalt aus. Doch das sind eher seltene Glanzpunkte in einem ansonsten oft fast hoffnungslos verworrenen Erzählstil.

Auch der Spannungsbogen hat darunter zu leiden. Ist es erst noch die Betrachtung der Menschen, die teils auf wirklich groteske Weise erstarrt sind, die den Leser fasziniert, so verliert sich dieser Effekt mit der Zeit und die Handlung dahinter tut sich etwas schwer damit, in Fahrt zu kommen. So wenig, wie der Leser anfangs in die Handlung eintauchen kann, so wenig wird er auch durch einen spannenden Handlungsverlauf bei der Stange gehalten.

Das ist alles sehr bedauerlich, in Anbetracht eines preisgekrönten Autors, eines prämierten ersten Kapitels und eines immerhin für den Deutschen Buchpreis 2005 nominierten Romans. „42“ ist in jedem Fall ein Paradebeispiel dafür, wie Lesereindruck und hochrangige Literaturkritik in ihrer Einschätzung divergieren können.

„42“ dürfte die Meinungen sehr stark spalten, denn entweder man bewegt sich als Leser in der gleichen Sphäre wie der Autor und kann ihm folgen, oder man findet erst gar keinen Zugang zu seinem Werk. Hier scheint es nur diese beiden Extreme zu geben (wie beispielsweise auch ein Blick auf die Kundenrezensionen bei Amazon.de offenbart) und in meinem Fall ist bedauerlicherweise das Letztgenannte zutreffend. Schade, denn das gesamte Szenario ist für sich genommen außerordentlichen vielversprechend.

[Verlagsseite zum Buch]http://www.aufbauverlag.de/index.php4?page=28&show=5326

Diociaiuti, Walter & franc´O´brain (Hrsg.) / Gruber, Andreas / Koch, Boris / von Aster, Christian / – Psycho Ghost

|Diese Anthologie mit Horrorgeschichten deutscher und italienischer Autoren hat es in sich. „Psycho Ghost“ vereint einige der wohl bekanntesten und vielversprechendsten Schriftsteller aus diesem Genre mit zum Teil exklusiven Geschichten in einem Buch.|

Die Anthologie „Psycho Ghost“ war der erste Titel, den ich von |UBooks| unter die Lesefuchtel bekam, und ich muss sagen: Er ist sehr ordentlich geraten! Diese Horroranthologie mit deutschen und italienischen Autoren ist besser als manch andere, die ich in letzter Zeit lesen „durfte“. Dafür verbürgen sich vor allem die deutschen Autoren wie u.a. Andreas Gruber, Boris Koch, Jörg Bartscher-Kleudgen, Thomas Wagner, Christian von Aster, Malte S. Sembten, Eddie M. Angerhuber, frank’O’brain …

Allzu häufig denke ich beim Rezensieren einer Anthologie, in der der Herausgeber auch als Autor auftritt: „Hätte er sich das doch erspart“ (und den Lesern!). Da mache ich künftig auch bei meinen selbst herausgegebenen Anthologien keine Ausnahme. Aber auch hier ist „Psycho Ghost“ eine Ausnahme. Die Story „Villa Süßertod“ des Herausgebers frank’O’brain brilliert mit dem interessantesten Plot über eine sehr sexhungrige und mordlustige Pipi Langstrumpf. Aber auch „Nachtfalter“ von Christian von Aster weiß zu faszinieren. „Geistzeit“ von Jörg Bartscher-Kleudgen, ein Meister des filigranen Grusels, ist zwar nicht unbedingt der pure Horror, aber die Story bringt eine melancholische Stimmung und Aura herüber, die mich an den „Schimmelreiter“ erinnerte.

„Ein Wurm namens Ewigkeit“ von Thomas Wagner ist vielleicht die beste Story des Bandes. Da stimmt einfach alles: Stil, Plot, Atmosphäre … „Kein Netz“ von Jörn Zander war die erste Story, die ich von dem Autor gelesen habe, und sie ist wirklich gelungen und macht Lust auf mehr. „Rock the Road“ von Malte S.Sembten erinnerte mich zwar ein wenig an „Christine“ von Stephen King, aber die Story ist grandios erzählt! Hier beweist Sembten einmal mehr, dass er zu schreiben versteht. „Die Enthüllungen des Raupenwolfs“ von Eddie M. Angerhuber verdeutlicht die morbide Erzählkunst der Autorin.

Die Geschichten der italienischen AutorInnen sind teilweise vom Plot her interessant, aber hier hätte bei einigen ein strengeres Lektorat gut getan. Positiv dabei: Das Lektorat ist zwar nicht fehlerfrei (aber welches Buch ist das schon?), aber im Vergleich mit Titeln anderer Kleinverlage, die ich in der letzten Zeit rezensiert habe, deutlich sorgfältiger. Dennoch hätte aus den ausgezeichneten Storys ein strengeres Lektorat noch mehr gemacht. Dazu kann ich |UBooks| für zukünftige Veröffentlichungen nur raten – es würde sich bezahlt machen!

_Unterm Strich_: Ein lesens- und kaufwertes Buch, das manch andere Horror-Anthologie locker in den Schatten stellt.

_Übersicht:_

„Krähenschreie“ von Kathleen Weise
„Superbaby“ von Walter Diociaiuti
„Medusa“ von Andreas Gruber
„Durchsichtige Welten“ von Riccardo Coltri
„Der Tote im Maisfeld“ von Boris Koch
„Unendliche Liebe“ von Gianfranco Nerozzi
„Geistzeit“ von Jörg Bartscher-Kleudgen
„Bissige Küsse“ von Andrea G. Colombo
„Kein Netz“ von Jörn Zander
„Yuri“ von Massimo Perissinotto
„Ein Wurm namens Ewigkeit“ von Thomas Wagner
„Komm mit uns!“ von Gaetano Ristretta
„Nachtfalter“ von Christian von Aster
„Ein Kinderspiel“ von Nicola Lombardi
„Der Pool“ von Ulla Schill
„Beghy“ von Massimo Ferrara
„Rock the Road“ von Malte S. Sembten
„Die Graue“ von Barbara Becheroni
„Der Auftrag“ von Thomas Gleich
„Villa Süßertod“ von franc´O´brain
„Die Enthüllungen des Raupenwolfs“ von Eddie M. Angerhuber
„Der Würmertanz“ von Paolo Di Orazio

http://www.ubooks.de

Taavi Soininvaara – Finnisches Requiem

Auch Taavi Soininvaara zählt zu den glücklichen Preisträgern eines bekannten Buchpreises, denn sein Roman „Finnisches Requiem“ wurde als bester finnischer Kriminalroman ausgezeichnet. Zugegebenermaßen verliere ich langsam den Überblick über die verliehenen Kriminalpreise, auch wenn mich derlei Werbung auf den Buchdeckeln immer wieder zum Kauf eines Buches überzeugt. Doch „Finnisches Requiem“ zeigt einmal mehr, dass Autoren oft völlig zu Recht ausgezeichnet werden. Der vorliegende Roman stellt allerdings keinen herkömmlichen Kriminalroman dar, Soininvaara präsentiert uns eher einen packenden politischen Thriller, in welchem er aktuelle Probleme und Meinungen im Zusammenhang mit der EU-Erweiterung diskutiert.

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Ellery Queen – Das Geheimnis der weißen Schuhe

Queen Geheimnis kleinDas geschieht:

New York City in den „Roaring Twenties“ des 20. Jahrhunderts: Das „Dutch Memorial Hospital“ zählt zu den modernsten Krankenhäusern der Stadt, weil eine reiche Frau vom geradezu unamerikanischen Drang zur Nächstenliebe beseelt wird. Abigail Doorn, seit einigen Jahren Witwe, schaut oft und gern in ‚ihrem‘ Hospital nach dem Rechten. Dort schätzt man die freundliche Gönnerin, auch wenn sie manchmal ein wenig launisch ist.

Daher ist die allgemeine Bestürzung groß, als Abigail bei einem Sturz im „Dutch Memorial“ schwer verletzt wird. Zufällig anwesend ist Ellery Queen, Berater der Kriminalpolizei von New York sowie Verfasser gern gelesener Kriminalromane. Eigentlich wollte er nur einen alten Freund besuchen, aber der führt Ellery als Ehrengast in den OP. Aus der blutigen Vorstellung wird freilich nichts, denn als Abigail Doorn hineingerollt wird, ist sie bereits mausetot: erdrosselt mit einem Stück Blumendraht. Ellery Queen – Das Geheimnis der weißen Schuhe weiterlesen

March, Hannah – Lied der Ringeltaube, Das

Nachdem mich Hannah March’s zweiter Roman um den Lehrer und Erzieher Robert Fairfax wirklich umgehauen hatte, beschloss ich, mir auch die Vorgänger-Story zu besehen, auf die die Autorin in [„Als wär’s der Teufel selbst“ 1763 des Öfteren zurückblickt. Leider jedoch ist „Das Lied der Ringeltaube“ bei weitem nicht so stark wie das Zweitwerk der in Peterborough (England) geborenen Schriftstellerin. Es will einfach nicht vorangehen, und wenn dann endlich mal ein Anflug von echter Spannung auftaucht, befindet man sich auch schon auf den letzten Seiten – aber dazu später mehr.

_Story:_

Ein neuer Auftrag für Robert Fairfax: Der wohlhabenede Ralph Hemsley möchte, dass sein Sohn Matthew den letzten Feinschliff in seiner Erziehung bekommt und wendet sich an den erfahrenen Fairfax. Dieser nimmt den Auftrag an und reist zusammen mit Matthew nach London, um ihn dort mit der Kultur und der Administration der Hauptstadt bekannt zu machen. Allerdings verlaufen die Dinge zu Beginn ganz anders, als der alte Hemsley es für seinen Sohn vorgesehen hatte.

Matthew erblickt auf einem Flugblatt das Bild der jungen und gerade aufstrebenden Theater-Schauspielerin Lucy Dove und ist sofort fasziniert von dieser schönen Dame. Als er dann auch noch zufällig einen Bekannten aus seiner Schulzeit trifft, der Kontakte zu Doves Bruder hat, ist Matthew wie verzaubert und bekommt alsbald die Chance, Lucy im Theater selber kennen zu lernen. Fairfax ist zwar anfangs nicht begeistert von Matthews Hingabe, lenkt aber schließlich ein und begleitet seinen Schützling. Für diesen jedoch besteht die Welt nur noch aus Luca Dove; der junge Hemsley hat sich Hals über Kopf in die Schauspielerin verliebt, und als er später auch noch ein Attentat auf die Angebetete vereiteln kann, hat er auch ihre Freundschaft gewonnen.

Einen Abend später sitzen Doves Bruder (ein ehemaliger Kapitän der britischen Marine), Matthew, sein Freund Mallinson und Fairfax beim gemeinsamen Kartenspiel in der Wohnung des Captains, als unerwartet ein Brief für Matthew eintrifft. Von seinem anschließendem Gang zum Abort kehrt Hemsley nicht mehr zurück, und die anderen (bis auf den betrunkenen Mallinson) machen sich auf die Suche nach ihm. Er wird schließlich völlig niedergeschlagen vor Lucys Wohnung gefunden, in der die Schauspielerin von ihm tot aufgefunden wurde. Und da Matthew sich des Schocks wegen nicht mehr an die Geschehnisse in Lucys Wohnung erinnern und sich so auch nicht verteidigen kann, wird er letztendlich auch beschuldigt, seine Geliebte umgebracht zu haben. Das Gericht lässt Matthew einsperren, und Fairfax macht sich an die Arbeit, die Unschuld seines Schützlings zu beweisen – auch um selber nicht als Versager dazustehen.

Im Grunde genommen ist die Geschichte sehr gut und bietet auch hinsichtlich der Spannung ein gehöriges Potenzial. Einige in Frage kommende Mörder, ein wirklich sehr gut inszenierter Schauplatz für die Geschichte und charismatische Akteure – das alles spricht für diesen Roman. Das Problem ist lediglich, dass March fast die Hälfte der Zeit für die Einleitung verschwendet. Bevor die Geschichte erst mal ins Rollen kommt – sprich, bis der Mord geschehen ist – vergehen mal eben 130 Seiten, in denen nichts Wesentliches passiert. Gut, man erhascht einen Blick auf das Umfeld der Ermordeten und lernt auch Matthew und Fairfax kennen, aber die hierbei vorangeschobenen Informationen sind zu vielen Teilen recht belanglos und bringen weder die Geschichte noch die Entwicklung der CHaraktere sonderlich voran. Außerdem sind es einfach zu viele zufällige Bekanntschaften, die das Gespann Fairfax/Hemsley in London machen, das wirkt irgendwann nicht mehr realistisch.

Nach dem Wendepunkt durch den Mord an Lucy Dove schreitet das Erzähltempo dann endlich im gewohnten Maße voran, allerdings hat die Autorin sich für diesen Part nicht mehr besonders viel Raum gelassen, um die Handlung noch ausschmücken zu können. Folglich ist Hannah March also bemüht, die verloren gegangene Zeit wieder aufzuholen und überschlägt sich quasi auf den letzten Seiten.

Es hätte in diesem Falle also zwei Optimallösungen gegeben: Entweder hätte March die Seitenzahl strecken und die eigentliche Handlung weitaus fokussierter beschreiben sollen; oder aber sie hätte nicht so viel Wert auf die Darstellung der einzelnen Charaktere gelegt und sich stattdessen einzig und allein auf den Plot an sich konzentriert. Beides ist nicht der Fall, so dass die Spannung letztendlich über weite Strecken ausbleibt und dies den Roman schließlich verblassen lässt. Im Vergleich zu „Als wär’s der Teufel selbst“ jedenfalls ist „Das Lied der Ringeltaube“ nur ein nettes Büchlein für zwischendurch, während das Zweitwerk durchaus als Weltklasse-Krimi bezeichnet werden darf. Auch wenn sich der Hauptdarsteller Robert Fairfax im zweiten Buch wieder blicken lässt, so braucht man den ersten Teil deswegen nicht dringend gelesen zu haben. Im Gegenteil, dies birgt die Gefahr, dass man das Interese an der Autorin vrliert und so „Als wär’s der Teufel selbst“ als Lektüre gar nicht mehr in Erwägung zieht. Mein Rat daher: Einfach mit dem zweiten Buch beginnen und dann selber entscheiden, ob dem Leser das nicht wirklich geglückte Krimi-Debüt der Britin die Zeit wert ist. Ich persönlich fand die Geschichte um die ermordete Schauspielerin nicht ganz so prickelnd …

Büchner, Barbara – toten Weiber von Wien, Die

|Was hat Dr. Strunzl mit dem toten Adonis vor?

In Sonja Roths Villa am Stadtrand von Wien kommt es zu seltsamen Vorfällen, seit die Autorin von Heftromanen ihr Hinterhaus einem verschrobenen Historiker vermietet hat. Dieser Dr. Heribert Strunzl führt offenbar Experimente durch, die nicht jeder sehen soll. Dazu braucht er die Asche berühmter toter Wienerinnen – sowie die Überreste des gefeierten Musical-Stars Adonis Götterl. Strunzls geheimer Plan ist grausig – doch er hat die teuflische Rechnung ohne Sonja und ihren Hausfreund Harry gemacht …|

_Barbara Büchner_ wurde 1950 in Wien geboren. Seit 1972 ist sie als freie Journalistin und Schriftstellerin tätig. 1985 Ausbildung zur Dokumentarin. Ihr Hobby: künstlerische Grafik. Zahlreiche Publikationen: Kurzgeschichten, Kriminalgeschichten, Romane und Jugendbücher. 1977 Verleihung des Staatspreises für journalistische Leistungen im Interesse der Jugend durch das Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Wien. Für „Abenteuer Bethel – Das Recht auf Leben“ wurde die Autorin in die Ehrenliste zum österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis aufgenommen, ebenso in die Ehrenliste zum Katholischen Kinderbuchpreis 1993.

Barbara Büchner versteht zu schreiben. Das wissen die Leser ihrer Bücher. „Die toten Weiber von Wien“ ist wieder einmal ein Werk der Wiener Autorin, das die ganze Bandbreite ihres schriftstellerischen Könnens in sich vereint: Humor, filigrane Schreibkunst, Spannung, ungewöhnliche Plotstrukturen und vieles mehr.

Der Titel handelt von einem verschrobenen Historiker (Dr. Heribert Strunzl), der das Gartenhaus der Villa der über fünfzigjährigen Heftromanautorin (Sonja Roth) mietet, um dort höchst morbide Experimente durchzuführen. Doch Sonja, die zuerst erfreut über den vermeintlich älteren und ruhigeren Wissenschaftler war, und ihr Hausfreund (Harry, ein gescheiterter Englischlehrer mit Hang zu Drogen, der sich von betuchten älteren „Damen“ aushalten lässt) bemerken sehr schnell, dass mit dem Professor, der ständig dick vermummt herumläuft, irgendetwas nicht stimmt, versuchen ihm auf die Schliche zu kommen, decken auf, dass es wohl einen Zusammenhang zu Grabschändungen der Vergangenheit gibt und geraten in tödliche Gefahr …

Was Barbara Büchner wie keine andere beherrscht, ist die hohe Kunst, verschiedene Plotelemente zu verknüpfen; so geschickt, dass sie einen nahtlosen Übergang hinbekommt. So auch in diesem Roman. Das ist die wahre Größe, die diese Autorin ausmacht.

Zum einen folgt der Leser Sonja und Harry auf den Spuren des nekrophilen und okkulten Wiens und erfährt so eine Menge über die Geschichte der Stadt. In die spannend erzählte Gruselkrimistory hat die Autorin geschickt Lokalgeschichte, Sagen, Anekdoten und historische Kriminalfälle der Stadt Wien in die Handlung eingeflochten. Das macht eine Besonderheit dieses Buches aus.

Aber nicht nur das. Auch die ganze „spezielle“ Beziehung zwischen der Protagonistin Sonja Roth und ihrem erheblich jüngeren Liebhaber verleiht der Erzählung eine besondere Note. Obwohl ihr sehr wohl bewusst ist, dass er sich finanziell von ihr aushalten lässt – |“Unglaublich, was ein Mann alles aus seinen Lenden herausholen kann, wenn er befürchten muss, mitten im eiskalten Wasser auf die Straße gesetzt zu werden!“| ­– und er im Bett nicht unbedingt der „Bringer“ ist – |“und die Leistungen im Bett ließen ebenfalls sehr zu wünschen übrig. Ein Mann, der im Geist mit Dämonen kämpft, kann sich nicht auf seinen Schwanz konzentrieren.“| –, präsentiert sich die Beziehung durchweg positiv. Und gerade diese beschreibt die Autorin so sympathisch – |“… aber Männer neigen sehr schnell dazu, sich für unersetzlich zu halten, sogar Männer wie Harry, und eine kleine Beunruhigung hin und wieder tut ihnen nur gut …!“| – und humorvoll, dass der Leser das ungewöhnliche Paar sofort ins Herz schließt. Besonders amüsant sind die erotischen Szenen, weil die Autorin in ihnen ihren besonderen Humor unter Beweis stellen kann. Offen, aber nicht bis ins kleinste Detail, genau die Dosierung, die gute Unterhaltung ausmacht.

An diesem Buch stimmt einfach alles, und Barbara Büchner zeigt damit wieder einmal, dass sie eines wirklich kann: |schreiben|! Einen Satz der Autorin kann ich nur unterstreichen, habe ich ihn mir auch längst auf die Fahne geschrieben: |“Ich finde, eine wirklich emanzipierte Frau hat es gar nicht nötig, ständig auf ihre Stärke zu pochen. Nur die Starken haben den Mut, sich beschützen zu lassen.“|

Pinternagel, Stefan T. – Fragmente

Stefan T. Pinternagel, den Namen wird man sich merken müssen. „Fragmente“, seine ultimative Huldigung an die Abgründe der menschlichen Seele, ist das bei weitem bewegendste und beängstigendste Buch, das ich seit langem in die Finger bekommen habe. Zweiunddreißig Kapitel enthält dieses Kleinod der Gewalt, in dem der Erzähler durch seine tägliche Arbeit führt. Diese besteht zum größten Teil aus der Säuberung der Menschheit, durch des Erzählers – er nennt sich selbst den „Holiday-Killer“ – Hand. Es zeigt sich bereits in der Einleitung des Buches, dass dieser Schinken nichts für Zartbesaitete werden wird. Mit eiskaltem Gemüt berichtet der Killer über sein Treiben, seine Motivation, die anonyme Masse der alltäglichen Menschenflut zu durchdringen, einzelne, frei Erwählte darunter zu kennzeichnen, um dann schlussendlich seine gnadenlose Jagd zu einem befriedigendem Abschluss zu bringen. Allein die Einleitung lässt uns ob der seelischen Erstarrtheit und des Rechtsempfindens des fiktiven Erzählers frösteln und ein Buch erwarten, das im besten „Natural Born Killers“-Stil von der Lust am Töten erzählt, der Motivation zu reinigen.

Pinternagel versetzt sich erschreckend tief in diese Seele hinein und legt die Taten des „Holiday-Killers“ in der krassesten Bildsprache dar. Zermalmte Knochen, platzende Augäpfel, quellende Eingeweide, Erniedrigung bis hin zu Vergewaltigung, Blut, Ekel, Erbrochenes und Menschen, die sich in der grüngelben Pampe züngeln. Wer meint, er hätte bereits seinen Meister in Sachen literarischer Härte gefunden, wird nun eines Besseren belehrt.
Das Brutalste an dem Buch ist dennoch sicherlich, dass der Killer aus der Ich-Perspektive erzählt und so seine Taten und vor allem seine abstrakte Motivation erschreckend greifbar werden. Die Bilder schießen einem zwangsläufig durch den Kopf und was man sieht, lässt den Leser in einem Strudel gänsehäutigen Ekels erstarren.
Der Killer schlägt erzählerische Haken, vergleicht seine „Arbeiten“ mit denen seiner großen Vorbilder, den größten Serienkillern aller Zeiten, denen er in charmanter Art und Weise kleine Kapitelchen widmet.

Der Stolz, mit dem er über tausend seiner Morde berichtet, bildet die Grundlage dieses Buches, das lose von einer Rahmenhandlung, oder besser, von den beiden Hauptfiguren Jutta und Hans-Peter, einem deutschen Pärchen, zusammengehalten wird. Diese beiden sind eigentlich null wichtig, agieren als praktische Anschauungsobjekte der Handlungen und werden gerade aufgrund ihrer Normalität und Anonymität zu Opfern wie es auch du und ich hätten sein können. Ziellos erwählt, hat es diesmal die beiden getroffen. Doch der Killer lässt keine Seite aus, daran zu erinnern, dass es das nächste Mal auch dich treffen könnte.

Der Killer ist, wie auch häufig in der grausamen Realität, charmant, ein Nobody, gesichts- und konturlos. Er passt sich dem an, was er am meisten hasst und kann so unenttarnt seiner Arbeit nachgehen. Er verschwindet in der breiten Masse, indem er zu einem Teil von ihr wird und sich gibt, wie sich vertrauenswürdige Menschen geben sollten. Vertrauen ist ihm ins Gesicht geschrieben, auch wenn man nur zu schnell merkt, dass man mit seiner Einschätzung merklich auf dem Holzweg war.

„Fragmente“ zeichnet ein einzigartiges Psychogramm, dessen Umsetzung dem Autor selber einige schlaflose Nächte bereitet haben dürfte. Denn so abgründig, wie sich Pinternagel in die kranke Psyche seines „Helden“ hineinversetzt, könnte man glatt meinen, er hätte einen Tatsachenbericht geschrieben.

Bei aller Perversion, aller Brutalität und allem negierten Rechtsverständnis, die es zweifellos in der Welt gibt, bleibt festzuhalten, dass Pinternagels „Fragmente“ eben nicht dieser Tatsachenbericht ist, sondern eine fragile, psychisch fordernde, fiktive Auseinandersetzung mit dem Wesen eines Monstrums. Die hohe Kunst des Buches ist der Brückenschlag zur Realität, die flächendeckend auf den Seiten mitschwingt. Denn trotz aller Fiktion sieht man ähnliche Geschichten der Perversion, medienwirksam aufbereitet, allabendlich in der Tagesschau.

Herr Pinternagel, ganz großes Kino! An all diejenigen, die sich nicht an Psychothrillern und Psychogrammen satt lesen können: Holt euch „Fragmente“, ihr werdet dieses Buch so schnell nicht vergessen können. Extraklasse!!!

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Arthur Conan Doyle – Der Hund der Baskervilles [Sherlock Holmes]

Für ein vor Jahrhunderten begangenes Unrecht wird das Geschlecht der Baskervilles von einem mörderischen Geisterhund gejagt. Nun soll der berühmte Detektiv Sherlock Holmes den Spuk bannen. Mit seinem treuen Gefährten Dr. Watson macht er sich auf in das Moor von Devonshire, wo des Nachts freilich nicht nur der Hund umgeht … – Berühmtester und mit Abstand bester der vier Holmes-Romane, gelungen in der Handlung, spannend, atmosphärisch unerhört dicht: jede Zeile mit Recht ein Klassiker des Kriminalromans.
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Walters, Minette – Bildhauerin, Die

|Olive Martin sitzt wegen eines grausamen Verbrechens im Gefängnis: Sie hat zugegeben, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester ermordet und dann zerstückelt zu haben. Unter ihren Mitgefangenen ist Olive wegen ihrer Ausbrüche gefürchtet, und ihre Beschäftigung mit Knetpuppen, in die sie Nadeln sticht, hat ihr den Namen „Die Bildhauerin“ eingetragen.
Rosalind Leigh ist gewarnt, als sie das Gefängnis betritt, um Olive zu treffen. Die Journalistin soll die Hintergründe des Falles ausleuchten. Schnell erkennt sie, dass es noch eine tiefere Wahrheit gibt als die in Geständnis und Urteil festgeschriebene. Zusammen mit der Bildhauerin tritt Rosalind eine gefährliche Reise an in eine Welt voller versteckter Leidenschaften und offenem Hass, schreiender Ungerechtigkeit und dunkler Geheimnisse …|

Die Londoner Journalistin Rosalind Leigh soll auf Druck ihres Verlegers die Hintergründe eines grausamen Verbrechens recherchieren: Die damals 23-jährige Olive Martin hat zugegeben, ihre Mutter und ihre jüngere Schwester ermordet und zerstückelt zu haben. Aufgrund ihres hässlichen Aussehens wurde auf Olive Martin von der Presse eine regelrechte Hetzjagd veranstaltet.

Sechs Jahre später soll nun Rosalind (Roz) ein Buch über diesen spektakulären Fall schreiben. Widerwillig lässt sie sich darauf ein, die Vorstellung, diesem menschlichen Ungetüm gegenübertreten zu müssen, flößt ihr größtes Unbehagen ein. Bei ihren Besuchen ist die Journalistin jedoch mehr und mehr fasziniert von der |Bildhauerin|, die im Zuchthaus für ihre Tobsuchtsanfälle bekannt ist und auch dafür, dass sie fortwährend Figuren kreiert, die sie mit langen Nadeln spickt.

Während ihrer Recherche erkennt Rosalind, die den Eindruck hat, dass die Inhaftierte, die selbst immer wieder ihre Schuld betont, lügt, dass hinter dem Verbrechen ein dunkles Geheimnis liegt und sie tut alles, um die Wahrheit an den Tag zu bringen. Daher stellt sie auf eigene Faust Nachforschungen an und stößt auf etliche Ungereimtheiten, auch bei den polizeilichen Ermittlungsarbeiten.

Darüber hinaus wird ihr Olive immer sympathischer, menschlich zugänglicher. Die „Tat“ wird für Rosalinde immer unverständlicher, denn Olives Geständnis und auch ihre Behauptung, nie eine enge Beziehung zu ihrer ermordeten Schwester gehabt zu haben, stehen in Widerspruch zu den Aussagen, die Rosalinde einholt. Da ist die Rede von Fürsorge und Zärtlichkeit, die Olive der kleinen Schwester entgegengebracht hat.

Und war Olives kleine Schwester Amber wirklich das reizende Mädchen, als das sie gesehen wurde? Mit jeder Information, die Rosalind einholt, wächst ihre Vermutung, dass alles anders ist, als der erste Eindruck vermuten ließ, und dass viele Alibis nicht stichhaltig sind.

Was das Buch so interessant macht, ist der Nebenplot über Rosalinds Vergangenheit, deren Schatten immer noch über ihr liegen und auf ihr lasten. Doch durch ihre Begegnung mit Olive kann Rosalind immer mehr mit ihrer Vergangenheit abschließen.

Ebenso geschickt hat Minette Walters den Charakter von Olive Martin angesiedelt. Auf der einen Seite ist diese abstoßend, undurchschaubar, niederträchtig – und verlogen. Auf der anderen aber auch intelligent, feinfühlig und äußerst verletzlich.

Was den besonderen Reiz des Romans ausmacht, ist das „offene“ Ende. Bis zur letzten Seite hat der Leser keine Gewissheit darüber, was an Olives Geschichte wahr ist oder nicht, ob sie die Täterin ist oder nicht. Vor allem bleibt die Frage: Warum hat sie bis nach dem Tod ihres Vaters – der der Einzige gewesen wäre, der Aufschluss hätte geben können – gewartet, bis sie ihr Schweigen gebrochen und ihre Geschichte erzählt hat?

Dieses Buch wurde zu Recht mit dem Edgar-Allan-Poe-Preis ausgezeichnet! Es war mein erster Roman von Minette Walters (erste |Goldmann|-Auflage 1995), der mich gefesselt und fasziniert hat. Besonders wenn man privat, aber vor allem auch beruflich sehr viel liest, wie ich, ist man dankbar für „Perlen“ der Literatur. Dieser Krimi ist mit Sicherheit eine! Die Autorin schreibt sehr detailliert, atmosphärisch, spannend und arbeitet mit psychologischen Charakterplots und Handlungsebenen, was ihre Romane deutlich von den seichten U-Romanen abhebt. „Die Bildhauerin“ fesselt von der ersten bis zur letzten Seite, ist meines Erachtens eines der besten Walters-Werke und für mich daher ein absolutes Muss!

Ein grandioses Buch, das ich jedem empfehlen kann – und das dieses Jahr als Sonderband neu bei |Goldmann| aufgelegt wurde.

_Minette Walters_ arbeitete lange als Redakteurin in London, bevor sie Schriftstellerin wurde. Sie gilt als die britische „Queen of Crime“ und hat eine Fangemeinde von Millionen Leserinnen und Leser. Viele ihrer bisher erschienenen Romane wurden mit wichtigen internationalen Preisen ausgezeichnet. Minette Walters lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Hampshire, England.

Miller, Frank – Sin City 2: Eine Braut, für die man mordet

_Millers dunkler Traum_

|Frank Miller gilt als Garant für knallharte Action. Daredevil bricht dem Kingpin die Nase, Batman prügelt den Joker durch ein Schaufenster – immer geht es handfest zur Sache. Die Werke aus der Feder des amerikanischen Autoren und Zeichners haben inzwischen Comic-Geschichte geschrieben. Nicht wegen ihrer Brutalität, sondern wegen ihrer Kohärenz und Tiefe. Jetzt legt Cross Cult nach und präsentiert Frank Millers Klassiker Sin City neu, in einer Luxus-Edition.|

Eigentlich ist Dwight McCarthy gerade dabei, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Er hat ein kleines Appartement, arbeitet als Privatdetektiv und ist seit geraumer Zeit trocken. Seine Vermieterin weiß, dass er Probleme mit Alkohol hatte und hofft für ihn das Beste. Dwights Chef Agamemnon kann mehr dazu sagen. Zwei Dinge haben Dwight immer die sichere Bahn verlassen und durchdrehen lassen: Alkohol und Frauen. Und im Augenblick sieht es so aus, als hätte er sein Leben einmal wieder gegen die Wand gefahren. Besoffen war er dabei nicht.

Der Grund für sein Unglück hat die Traummaße 90-60-90 und heißt Ava. Ihr Körper wirkt wie ein Vorgeschmack auf das Paradies und verwandelt Männer in winselnde Hündchen. Obwohl Dwight ihretwegen schwere Zeiten durchgemacht und sich gerade wieder gefangen hat, kommt er nicht von ihr los. Als eines Abends das Telefon läutet und Ava am Apparat ist, klingt ihre Stimme aufgewühlt, hilflos und verzweifelt. Der Grund ihres Anrufs lässt das Blut des Privatdetektivs aufwallen. Avas Mann, ein reicher Snob aus der Nachbarschaft, foltere und martere sie. Die Ehe mit ihm sei die Hölle, Ava fürchtet um ihr Leben. Noch wehrt sich Dwight und versucht, der einfühlsamen Schönheit nicht auf den Leim zu gehen. Nach einer exzessiven Liebesnacht ist es jedoch um seinen Verstand geschehen. Er muss Ava helfen und sie vor ihrem Ehemann beschützen – koste es, was es wolle.

Der Leser ahnt, dass die Sache nicht ganz koscher ist. Aber tragische Geschichten nehmen ihren Lauf, ob das Publikum nun will oder nicht. Vielleicht entwickelt man deswegen von Anfang an Mitleid mit Dwight McCarthy, der eigentlich nichts weiter als ein einfacher Kerl mit einem großen Herzen ist. Bald muss er erkennen, dass sich hinter Avas hilfesuchender Miene finstere Absichten verbergen. Doch da ist es bereits zu spät. Dwight liegt am Boden, blutet wie ein Schwein und ist sich sicher, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat …

Frank Millers Geschichte über den liebeskranken Dwight McCarthy und die Femme fatal Ava ist schlicht und gradlinig. Eigentlich handelt es sich um eine gewöhnliche hard-boiled Kriminalgeschichte, ohne große Schnörkel oder Rafinessen. Die Handlung rückt nach mehreren Seiten in den Hintergründ, und der Leser beginnt zu ahnen, dass stattdessen für etwas anderes Platz gemacht wird. Ein Trip durch die dunkle Hölle von Sin City.

Millers schneller, harter, punktgenauer Erzählstil verwebt sich mit den klaren Linien seiner Zeichenkunst. Rasant wechselnde Perspektiven in Schwarzweiß und dynamische, fließende Bilderfolgen leisten genau das, wozu Comics in der Lage sind: zu überzeichnen und zu stilisieren, um das Wesentliche herauszuarbeiten. Heraus kommt ein Werk, das genau auf der Grenze zwischen Comic und Graphic Novel liegt. Millers Geschichte heizt das Adrenalin an und ist spannend bis zur letzten Seite. „Eine Braut, für die man mordet“ ist absehbar, gradlinig und arbeitet mit Stereotypen. Dennoch zieht die Geschichte den Leser in ihren Bann. Man driftet von Detail zu Detail und versinkt in Millers dunklem Traum. Kohärenz und Tiefe beweisen sich auch hier als das Markenzeichen der amerikanischen Comic-Legende.

Zu guter Letzt sei den Herausgebern der deutschen Luxus-Edition von Sin City gedankt. Die Reihe besticht durch eine hohe Qualität. Darüber hinaus wurde die Gelegenheit wahrgenommen, Hintergrundmaterial zu Frank Miller und seiner Stadt der Sünde zu veröffentlichen. Im Anschluss an „Eine Braut, für die man mordet“ findet der Leser ein Interview zur Serie, das Miller im März 1993 gab. So sollten Comics sein. Da kann man nur viel Spaß beim Lesen wünschen.

http://www.cross-cult.de
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